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Werner J. Egli

wurde in Luzern, Schweiz, geboren und lebt heute als freier Schriftsteller in Tucson (USA) und in Egg bei Zürich. Seine erfolgreichen und in viele Sprachen übersetzten Jugendbücher wurden unter anderem mit dem Friedrich-Gerstäcker-Preis, mit dem Preis der Leseratten (ZDF) und mit dem Jugendbuchpreis der Ausländerbeauftragten des Senats Berlin ausgezeichnet. Egli wurde für die Hans-Christian-Andersen-Medaille nominiert, der international höchsten Auszeichnung für Jugendliteratur.

Unter www.aravaipa.ch ist der Autor auch im Internet zu finden.

Werner J. Egli

Jamaica
Charlie
Brown

Roman

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eISBN 978-3-03864-218-3

Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form,
einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien,
der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung
und der Aufnahme in Datenbanken, sind ausdrücklich vorbehalten.

Lektorat: Horst u. Fritz Eibl (A)

Umschlaggestaltung: Agentur flin

Bildnachweis: Shutterstock/Tamarin60

Realisation: Brigitta Vasella

Copyright © 2019 by ARAVAIPA–Verlag,

Egg bei Zürich

ARAVAIPA im Internet: www.aravaipa.ch

Inhalt

KAPITEL1 Ein leerer Käfig

KAPITEL2 Der Amerikaner

KAPITEL3 Zwei linke Brüder

KAPITEL4 Matilda

KAPITEL5 Die hässliche Seite von Mo Bay

KAPITEL6 Schlechte Sichtverhältnisse

KAPITEL7 Jerome Harpers Geschichte

KAPITEL8 Morgen ist heute

KAPITEL9 Florida Sugar

KAPITEL 10 Ein gutes Leben

KAPITEL 11 Sonntag

KAPITEL 12 Das schwarze Monster

KAPITEL 13 Im Rohr

KAPITEL 14 Sharps Notizen

KAPITEL 15 Zwischen Himmel und Hölle

KAPITEL 16 Blutspuren

KAPITEL 17 Gejagt

KAPITEL 18 Nachtfeuer

KAPITEL 19 Zurück nach Jamaica

KAPITEL I

Ein leerer Käfig

Charlie wusste nicht, was ihn aufgeweckt hatte. Es war still in der Hütte. Es war still draußen. Mitten am Tag. Die Sonne schien durch die Spalte unter dem Wellblechdach, dort, wo sich einige Bretter von der Wand gelöst hatten. Charlie warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Sieben am Morgen. Das konnte nicht sein. Um sieben am Morgen war er nach Hause gekommen. Er hielt die Uhr gegen sein Ohr. Sie lief. Vielleicht lief sie zu langsam. Charlie schüttelte sein Handgelenk und lauschte dann noch einmal, ohne einen Unterschied feststellen zu können.

»Charlie!«

Die Stimme erklang von nebenan, gedämpft durch den bunten Vorhang, der von einem Deckenbalken hing und den Durchgang zwischen den zwei Räumen trennte. Charlie betrachtete den Sekundenzeiger der Uhr. Er rückte gleichmäßig voran.

»Charlie, weißt du, was für ein Tag heute ist?«

»Dienstag«, sagte Charlie.

»Das meine ich nicht.«

Charlie nahm die Uhr vom Handgelenk und legte sie auf die Teekiste neben seinem Bett, auf der ein Transistorradio und eine goldene Bodybuilding-Trophäe standen.

»Charlie, heute ist doch der Tag, an dem der Amerikaner kommt.«

Charlie streckte sich im Bett. Der Amerikaner. An den mochte er so früh am Morgen gar nicht denken.

»Hast du gehört, Charlie?«

»Schwesterchen, warum musst du mich ausgerechnet jetzt an den Amerikaner erinnern?«, fragte er und warf das Bettlaken, das zerknüllt über seinem ausgestreckten Körper gelegen hatte, zurück. Er blickte an sich hinunter. Alles, was er trug, waren seine zerrissenen Jeans. Auf den Muskeln seiner nackten Brust glitzerte Schweiß. Zu dieser Jahreszeit war es heiß und schwül. An diesem Morgen ging kein Wind. Deshalb war von den Schweinen nichts zu vernehmen. Sie lagen alle in ihren kühlen Drecklöchern im Pferch, ihre empfindliche Haut mit einer Schicht feuchter Erde vor der Sonne geschützt.

Neben der Teekiste, in der Ecke, stand Nairas Vogelkäfig am Boden, das Gittertürchen offen. Vor ein paar Tagen war Nairas Taube abgehauen. Jemand sagte, dass sie mit anderen Tauben unten in der Stadt herumfliege und sich zwischen ihren Flügen meistens auf dem Flachdach von McClellans Warenhaus aufhielte. Charlie hatte Naira versprochen die Taube einzufangen, falls es sich tatsächlich um ihre Taube handelte und nicht um eine Doppelgängerin. Nairas Taube war nämlich auf den ersten Blick ein ganz gewöhnliches Täubchen ohne besondere Merkmale, taubenblau und hellgrau, mit einem dunklen Kopf. Solche Tauben gab es wie Sand am Meer. Der einzige Unterschied zwischen Nairas Täubchen und der Mehrheit der anderen taubenblauen Tauben war, dass Nairas Taube nur ein Auge hatte, und zwar das linke.

Charlie setzte sich auf den Bettrand und blickte zu Bob Marley auf, den er vor einigen Jahren selbst mit Buntstiften auf einen Pappdeckel gemalt hatte, eingerahmt von einem dicken rot-gold-grünen Rahmen. Heute war der Tag, an dem der Amerikaner kam. Der Amerikaner!

»Weißt du noch, wie er heißt?«, fragte Charlie durch den Vorhang.

»Wie wer heißt?«, fragte seine Schwester.

»Der Amerikaner.«

»Mack.«

»Mack?«

Charlie schob den Vorhang einen Spaltbreit auf. Da stand seine Schwester im Licht, das durch die Türöffnung in die Hütte fiel, vor dem Spiegel an der Bretterwand. Sie war nackt. Schlank wie er selbst und groß gewachsen. Sie trug mehrere goldene Armreifen und eine goldene Kette um ihr rechtes Fußgelenk. Sie war schön. Bestimmt war sie schön. Wie hätte er das genau wissen können. Sie war seine Schwester.

»Was starrst du mich an, Charlie?«, sagte sie, ohne ihn anzusehen.

»Ich starre dich nicht an.«

»So, was tust du dann?« Sie zog das Laken von ihrem Bett, das sie mit ihrer kleinen Schwester teilte, und umhüllte sich damit. Lachend ging sie auf ihn zu und er ließ den Vorhang zurückgleiten, aber sie schlug ihn auf und trat in die kleine Kammer. Dicht vor ihm blieb sie stehen.

»Wann bist du nach Hause gekommen, Charlie?«

»Um sieben.«

»Ich habe dich nicht gehört.«

»Weil du noch nicht da warst.«

»Ich war noch nicht da? Um sieben?«

»Nein.«

Sie lachte auf und strich sich eine ihrer langen dunklen Haarsträhnen aus dem Gesicht.

»Ich habe im Royal Palms geschlafen. In einem wunderschönen Zimmer, das einen Balkon aufs Meer hinaus hat und einen großen Deckenventilator, der die ganze Nacht leise summte und mich kühlte und …«

»Reba, warum gehst du nicht weg von hier?«, unterbrach Charlie seine Schwester. »Warum gehst du nicht nach New York, wo du ein Fotomodell werden könntest?«

Sie setzte sich zu ihm auf den Bettrand und umarmte ihn.

»Glaubst du, dass ich schön genug dazu wäre, Charlie?«

Charlie löste sich von ihr und stand auf. Der Raum, in dem sein Bett stand, war so klein, dass er ihn hätte verlassen müssen, um sich mehr als zwei Schritte von Reba zu entfernen. Er hakte die Daumen in zwei Gürtelschlaufen an seiner Jeans und stellte sich vor sie hin, wie es früher James Dean getan hatte.

»Wie viele haben dir schon gesagt, dass du nach New York gehen sollst?«, fragte er sie.

»Viele!« Sie lachte. »Und viele wollten mich heiraten und mich in ein Paradies bringen, irgendwo in Amerika oder in Europa. Jeder Zweite meint, dass ich das nicht tun soll, was ich tue. Reba, ein Mädchen wie du ist zu schade dafür, sagen sie immer, wenn ich es mit ihnen getan habe.«

»Es stimmt«, sagte Charlie grimmig, während er sich bückte und das Türchen am Vogelkäfig vorsichtig schloss.

»Was stimmt, Charlie?«

»Dass es eine Schande ist, so wie du aussiehst.«

»Es geht mir gut, Charlie«, sagte Reba ernst. »Pass nur auf, dass dir nichts passiert in Florida!«

»Ich gehe nicht nach Florida«, murmelte Charlie.

»Was sagst du da?«

»Ich habe gesagt, dass ich nicht nach Florida gehe.«

Charlie begann das Türchen des Vogelkäfigs zu untersuchen, das Nairas Taube von innen geöffnet haben musste, wenn nicht Naira es aus Versehen offen gelassen hatte. Reba ließ den Oberkörper zurückfallen. Lang ausgestreckt lag sie auf Charlies Bett und verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf, während sie zum fleckigen Wellblech aufblickte.

»Das Flugzeug landet um halb drei«, sagte sie plötzlich. »Charlie, du kannst unmöglich nicht nach Florida gehen, jetzt, da der Amerikaner herkommt. Außerdem hat man dir ein Visum gegeben.«

Charlie sagte nichts.

»Charlie, es ist vier Jahre her, seit Vater nicht zurückgekehrt ist. Schau dich nur mal um. Diese Hütte ist verlottert. In den Hügeln steht ein angefangenes Haus, das nie fertig geworden ist. Und unsere Mutter kann nicht schlafen, weil sie nicht weiß, was mit Vater geschehen ist. Das macht sie ganz krank.«

»Sie hat Rheuma in den Gelenken, Reba. Es sind die Schmerzen, die sie nicht schlafen lassen.«

»Es sind die Gedanken an Vater, Charlie«, beharrte Reba.

»Und da soll ich nun auch nach Florida gehen?«

»Mutter will es. Dieser Amerikaner sagt, dass er der Wahrheit auf der Spur sei. Er will mit dem alten Jerome reden, der wahrscheinlich weiß, was damals passiert ist.«

»Jerome ist ein Schnitter. Warum geht nicht er mit dem Amerikaner nach Florida?«

»Weil er dazu zu alt ist. Und weil er sich fürchtet. Du bist jung und stark, Charlie. Aus dir wird ein ausgezeichneter Schnitter, glaube es mir.«

»Ich will kein Schnitter werden, Reba. Und du hast keine Ahnung von nichts. Schau mich an!« Charlie reckte sich und stellte sich in Positur. »Sehe ich etwa aus wie ein Schnitter? Man braucht Muskeln dazu. Kraft. Und die Hände. Erinnerst du dich noch an Vaters Hände? Jedes Mal, wenn er zurückkehrte, sahen seine Handflächen aus wie eine Hügellandschaft voll mit dicken Hornhautbuckeln und tiefen Rissen, und es hat immer Monate gedauert, bis er seine Hände wieder gebrauchen konnte. Und die ganze Zeit hatte er Schmerzen. Und einmal kam er nach Hause und hatte nur noch drei Finger an seiner linken Hand, und wir fürchteten alle, dass er deswegen im darauf folgenden Jahr kein Visum mehr kriegt, aber er hat doch eins gekriegt, und dann ist er nicht mehr nach Hause zurückgekehrt. Sag selbst, Reba, sehe ich vielleicht aus wie Vater?«

»Nein, aber du bist groß und stark, Charlie.« Reba nahm die goldene Trophäe von der Teekiste und betrachtete sie. »Hier auf der Insel treibst du dich nur die ganze Zeit rum. Außerdem wäre es gut zu wissen, was damals wirklich passiert ist, als Vater in das Zuckerrohrfeld rannte.«

»Wieso ist es gut, in der Vergangenheit herumzuwühlen? Vater hat einen Lebensmittelladen überfallen, und als die Polizei ihn verhaften wollte, flüchtete er.«

»Das glaubst du doch nicht wirklich, Charlie! Unser Vater war ein Schnitter und ein ehrlicher Mann. Man hat ihn für etwas beschuldigt, was er nicht getan hat.«

»Warum ist er dann vor der Polizei geflüchtet?«

»Das weißt du so gut wie ich. Es hat etwas mit dem Tod des Mädchens zu tun. Jerome weiß, was danach geschehen ist, aber bis jetzt fürchtete er sich die Wahrheit zu sagen.«

Reba erhob sich vom Bett. »Das Flugzeug landet um halb drei«, erinnerte sie ihn noch einmal an die Tatsache, dass dies für alle ein besonderer Tag war.

»Es ist erst sieben«, sagte Charlie mit einem Lächeln.

»Sieben? Es ist bald zwölf.«

»Dann schau auf die Uhr, Reba.«

Reba tastete nach der Uhr auf der Teekiste, ergriff sie und betrachtete sie von vorn und von hinten.

»Wo hast du diese Uhr her?«

»Lewis hat sie mir gegeben.«

»Chicago Lewis?«

»Ja.«

»Dann hat er sie einem Touristen geklaut.«

»Kann sein.«

»Die Uhr geht falsch.«

»Das ist, weil nicht Hochsaison ist.«

»Es ist Billigsaison« sagte Reba. »Niemand verdient gut. Ich habe zwar in einem schönen kühlen Zimmer geschlafen, aber ich habe nur zwanzig Dollar verdient.«

»Wenn du nur zwanzig Dollar die Nacht verdienst, könntest du auch in einem Bauxit-Bergwerk arbeiten.«

»Sag das lieber deinem Freund Chicago Lewis. Diese Uhr ist nämlich wertlos, weil sie fast fünf Stunden nachgeht. Das ist eine lange Zeit, Charlie. In fünf Stunden kann viel passieren.«

»Zum Beispiel könnte ich fünf Stunden lang schlafen, und wenn ich das nächste Mal aufwache, ist noch einmal Mittag.«

Charlie nahm den Käfig auf und ging hinaus. Der andere Raum der Hütte war größer. In ihm waren zwei Betten untergebracht, das Bett, in dem Reba und Naira schliefen, falls Reba mal eine Nacht zu Hause war, und Mutters Bett, außerdem eine alte Truhe, ein Schrank und ein Tisch mit zwei Stühlen. Neben dem Eingang standen der Kochherd und eine Plastiktonne, die einmal Pimiento enthalten hatte. An den Wänden hing allerlei Zeug: Pfannen und Bilder, Fahrradreifen und ein großes Poster, auf dem die Bobmannschaft von Jamaica abgebildet war, mit schneebedeckten Bergen im Hintergrund und den olympischen Ringen. Daneben hingen ein alter Hut, den Merril Brown, Charlies Vater, an Sonntagen getragen hatte, und darunter das Hochzeitsfoto mit der weißen Schleife, die im Laufe der Jahre fleckig geworden war.

Charlie stellte den Vogelkäfig mitten auf den Tisch, ging hinaus und streckte sich im weißen Licht der Mittagssonne. Der Himmel über den Hügeln war leer und aus irgendeinem Grund ging kein Wind. Sonst wehte fast immer ein angenehmer Wind hier in der weiten Bucht von Montego Bay. Doktor Brise nannten ihn die Jamaikaner, weil er ihnen Linderung von der Sommerhitze brachte. Entweder wehte er direkt vom Meer her, oder er kam von der anderen Seite der Insel über die Berge hinweg, die sich hinter den Hügeln dunkel in den wolkenlosen Himmel hoben.

Dort, in einem der Bergtäler, lebte ganz allein der alte Schnitter Jerome Harper mit seiner Geschichte, die er noch nie jemandem erzählt hatte und die er hoffentlich auch diesem Amerikaner nicht erzählte, der heute nach Jamaica kam. Wem nutzte das schon, so fragte sich Charlie, als er zum Klohäuschen ging, wenn Jerome Harper die Wahrheit erzählte und sein lang gehütetes Geheimnis preisgab.

Ein kleiner Hund lief ihm bis zu dem kleinen Bretterhäuschen, das sich etwa fünfzig Schritte von der Hütte entfernt befand, nach und wartete draußen auf ihn, bis er wieder erschien und zur Hütte zurückging.

Als Charlie die Hütte wieder betrat, war Reba angezogen. Sie trug enge Jeans und ein weißes eng anliegendes Leibchen mit dünnen Schulterträgern. Keinen BH, dafür aber Pumps mit bleistiftdünnen Absätzen. Das lange schwarze Haar umrahmte ungekämmt und wild ihr Gesicht.

»Wo gehst du hin?«, fragte Charlie seine Schwester.

»Joe holt mich ab. Wir fahren nach Ocho Rios.«

»Hat dir Joe auch versprochen, dass er dich heiratet? Oder ist er nur dein Zuhälter?«

Reba wirbelte herum und wollte ihn an den Haaren packen, aber er wich ihr schnell aus und sprang aus der Tür.

»Charlie, vergiss lieber nicht den Amerikaner vom Flughafen abzuholen, damit er nicht einem deiner Freunde in die Finger gerät!«, rief ihm Reba wütend nach.

Charlie blieb auf dem Platz in der stechenden Sonne stehen. »Vielleicht will er zuerst ein schönes kühles Zimmer mit Meerblick und ein hübsches Mädchen, das mit ihm schläft. Vielleicht solltest du ihn vom Flughafen abholen, Reba.«

»Bestimmt ist er zu hässlich, als dass ich mit ihm schlafen würde«, entgegnete Reba schnippisch und fuhr sich mit den gespreizten Fingern durch das Haar. Von der Straße drang Lärm herauf. Hinter dem Gestrüpp beim Schweinepferch stieg Staub auf und legte sich wie dünner Nebel über die Hänge. Der kleine Hund raste über den Platz, vorbei an einem Berg von Müll und dem Wrack eines Militärjeeps, der umgedreht und ohne Motor und Räder im Staub lag.

»Sag Joe, dass seine Karre nur noch auf sechs Zylindern läuft«, sagte Charlie, der dem knatternden Motorengeräusch zuhörte.

»Wisch dir den Rotz von der Nase, bevor du zum Flughafen gehst, Charlie«, entgegnete Reba und verschwand im Haus. Als sie wieder herauskam, hatte sie eine kleine schwarze Ledertasche bei sich, und ihre Lippen waren dunkelrot angemalt. Mit schwingenden Hüften ging sie auf die alte Karre zu, die in diesem Moment von der Straße abschwenkte und mit dem Auspuff am Boden aufschlug, als Joe sie durch den ausgetrockneten Wassergraben beim Toilettenhäuschen steuerte. Es schien fast, als würde die alte Karre hängen bleiben, aber dann vollführte sie einen Satz und blieb in einer Staubwolke mitten auf dem Platz neben dem Müllhaufen stehen.

Der kleine Hund rannte kläffend um die Karre herum. Hinter dem Steuer saß Joe Pike mit seiner verspiegelten Sonnenbrille und dem straff zurückgekämmten Brillantinehaar. Sein ganzer Stolz war das alte himmelblaue Kabrio, das keine Scheinwerfer und kein Verdeck mehr hatte, dafür aber auf der Fahrerseite eine senfgelbe, halb durchgerostete Tür.

»He, Charlie«, sagte Joe. »Was geht ab, Mon?«

»Fuck you, Mon«, sagte Charlie und drehte Joe und seinem Kabrio den Rücken zu.

»American Airlines!«, rief ihm Reba zu. »Und der Amerikaner heißt Mack. Kevin Mack. Er kommt aus New York. Über Miami.«

Charlie ging unter das Vordach der Hütte und legte sich auf die alte Fitnessbank, die sein Vater vor einigen Jahren aus Florida mit nach Hause gebracht hatte. Eine Zeit lang lauschte er dem Lärm von Joes Karre, als sie über das steile Straßenstück auf der anderen Seite des Hügels rumpelte. Lustlos absolvierte Charlie sein Übungsprogramm. Über ihm, am Wellblechdach, hing ein fleckig verblasstes Filmposter, das Arnold Schwarzenegger in seiner ganzen Muskelpracht zeigte. Mr. Universum, Weltmeister der Bodybuilder. Nach zehn Minuten lief Charlie der Schweiß in Strömen über den Körper, und es fehlte ihm die Kraft, die Gewichte noch einmal hochzustemmen. Er gab auf, ging zum Brunnen und wusch sich.

KAPITEL 2

Der Amerikaner

Noch im Flugzeug überlegte Kevin Mack, warum Amys Eltern ausgerechnet ihm den Auftrag gegeben hatten, den rätselhaften Tod ihrer Tochter aufzuklären. Immerhin gab es in New York und Umgebung knapp gerechnet mindestens hundertzwanzigtausend Privatdetektive, von denen sich Amys Eltern, bis auf einen oder zwei der ganz großen, jeden hätten leisten können. Sogar Merrick, zum Beispiel. Clifford M. Merrick, der unter zehntausend Riesen die Woche, plus Prämien und Spesen, nicht zu haben war. Im Vergleich zu Merrick machte Mack Trinkgeld. Das Einzige, was sie gemeinsam hatten, waren ein paar Buchstaben ihres Namens. Beide fingen mit einem M an und hörten mit einem ck auf.

Während jedoch Merrick seine Büros in einem der obersten Stockwerke eines Glaspalastes in der renommierten Park Avenue hatte, befand sich Kevin Macks Höhle in der 164. Straße im ersten Stock über einem Fischladen, mit Blick auf die schmutzige Backsteinmauer des Nachbarhauses, in dem ein Sargmagazin und eine Firma, die Knochenleim herstellte, untergebracht waren.

Über Macks Büro hatte sich vor kurzem ein Ire eingenistet, der illegal in die Staaten eingereist war und jetzt jeden Tag stundenlang wie ein Besessener auf Blecheimern herumtrommelte, weil er sich für ein noch unentdecktes Schlagzeug-Genie hielt.

Dem Büro direkt gegenüber befand sich die Toilette für die ersten drei Stockwerke, die Mack aus hygienischen Gründen nur einmal benutzt hatte, nämlich vor genau zwei Wochen, als der Besitzer des Fischladens von irgendwelchen ausgelaugten Straßenstrolchen mit Entzugserscheinungen regelrecht abgeschlachtet worden war. Sechzehn Messerstiche und zwei Schussverletzungen hatte die anschließende Autopsie ergeben, von denen mindestens sieben Messerstiche tödlich gewesen waren.

Damals war Mack der Erste gewesen, der die Treppe hinunterstürzte und mit schussbereiter Pistole durch die Hintertür in den Laden stürmte, wo Mr. Wong in einer riesigen Blutlache vor der rostigen Langnese-Kühltruhe lag, in der er seine Seezungen und Wolfsbarsche aufbewahrte. Mack kam gerade noch dazu, sich über Mr. Wong zu beugen und ihn zu fragen, wer denn diese Schweinerei angerichtet hätte. Eine Antwort erhielt er jedoch nicht mehr, denn bei Mr. Wong erlosch eben in diesem Moment das Lebenslicht.

Nachdem die Bullen vom nahen Revier endlich da waren, ging Mack die Treppe hinauf und wusch sich im Klo die blutigen Hände, und da tauchte ausgerechnet der Ire von oben auf, zerzaust wie ein vom Wirbelwind gebeutelter Apricot-Pudel, weiß in seinem sonst schon weißen Schlagzeugergesicht, und kotzte entnervt in die Ecke.

So betrachtet konnte Mack eigentlich froh sein, dass er in dieser DC 10 saß, Fensterplatz in Reihe 17, sodass ihm die karibische Sonne von schräg durch das kleine Fenster ins Gesicht schien, während er im Fremdenführer blätterte, den er kurz vor dem Abflug in einem Secondhandladen gekauft hatte.

Ja, er war nach Jamaica unterwegs.

JAMAICA.

Sanft ausgesprochen zerfloss der Name wie Honig auf seiner Zunge. Wie oft hatte er davon geträumt, einfach einmal den ganzen Krempel hinzuschmeißen, sich ins nächste Flugzeug zu setzen und irgendwohin zu fliegen, wo die Strände weiß waren wie Schnee und das Meer von einem kristallklaren Blau, wie er es zuvor noch nie gesehen hatte, außer vielleicht in Amys Augen auf dem Bild, das er seit dem Tag, als er ihre Eltern zum ersten Mal aufgesucht hatte, in seiner Brieftasche mit sich herumtrug.

Amys blaue Augen. Kevin Mack brauchte jetzt nur sein Gesicht ans Fenster zu drücken und am silbernen Flügel vorbei steil hinunterzublicken, um an sie erinnert zu werden. Unter ihm, etwa dreißigtausend Fuß tiefer, befand sich das Karibische Meer, und in der Ferne, im Dunst kaum zu erkennen, lag Kuba. Auf der anderen Seite hätte Mack, wenn er sich darum bemüht hätte, die Küstenlinie der mexikanischen Halbinsel Yucatan und den Golf von Honduras sehen können.

Es war Anfang Oktober.

Im Oktober reisten nicht viele Touristen nach Jamaica. Absolute Hochsaison war von Dezember bis Februar. Dann, so hieß es im Fremdenführer, wurde dieses letzte Stück des Paradieses von Touristen aus aller Welt besucht.

Die DC 10 war halb leer. Ein paar Reihen hinter Mack saßen drei Saufbolde, die entweder Deutsch oder Dänisch oder Schwedisch sprachen und es natürlich auf dem kurzen Flug von Miami nach Montego Bay nicht schafften, sich volllaufen zu lassen, obwohl sie Bier in sich hineingossen, als gäbe es auf Jamaica nichts als Ziegenmilch zu trinken. In der Reihe hinter Mack schnarchte ein katholischer Priester, und gegenüber, auf der Schattenseite des Flugzeuges, saß ein Schwarzer in einem Nadelstreifenanzug und mit einem Laptop vor sich auf dem Klapptischchen.

Unter den anderen Fluggästen war ihm nur ein älterer Mann aufgefallen, dessen zerfurchtes Gesicht von einer wulstigen Narbe entstellt wurde. Wie eine Säbelnarbe sah sie aus, aber Mack war sicher, dass der Alte mit den weißen Bartstoppeln am Kinn und dem kahlen Schädel seine Wunde nicht irgendwo auf einem Schlachtfeld abgekriegt hatte, sondern in den Zuckerrohrfeldern Floridas.

Kevin Mack hätte ihm gern ein paar Fragen gestellt. Zum Beispiel, ob er für die Ballantine Sugar Company gearbeitet hatte. Oder ob er Merril Brown kannte oder Jerome Harper. Der Alte saß jedoch mindestens sechs Reihen vor ihm, und als sich Mack einmal erhob und so tat, als vertrete er sich im Mittelgang die Beine, streifte ihn der Blick des Alten mit solchem Misstrauen, dass er sich gleich wieder an seinen Platz zurückbegab und den Fremdenführer zur Hand nahm.

Die Stewardess fragte ihn, ob er noch etwas trinken wolle, und er bestellte einen Bourbon mit Eis. Der Flugkapitän teilte den Passagieren über Bordradio mit, dass sich nun direkt unter ihnen die Cayman-Inseln befänden, und Mack konnte sie sogar mit bloßem Auge sehen — eine große und zwei kleine Inseln, die große kaum größer als eine Brotkrume.

Hinten bestellten die drei Saufbolde noch ein Bier. Und als Kevin Mack seinen Bourbon und ein Tütchen mit honiggerösteten Erdnüsschen erhielt, erhob sich der alte Mann von seinem Sitz und kam den Mittelgang entlang, wobei er sich links und rechts jeweils mit der einen oder der anderen Hand auf den Rücklehnen der Sitze aufstützte, als wäre die DC 10 gar kein Flugzeug, das still am Himmel schwebte, sondern ein alter Fischkutter auf hoher See.

Der Alte ging so krumm, als wären sämtliche Knochen in seinem Körper völlig verbogen. Die Narbe in seinem Gesicht zog sich von der Stirnmitte über das rechte Auge und die Wange in einem Bogen zum Mundwinkel. Entweder war die Wunde nie genäht worden oder sie hatte sich entzündet und war schlecht geheilt. Der Alte ging aufs Klo, als das »Fasten-Your-Seatbelt«-Licht anging. Sekunden später glaubte Mack zu verspüren, wie die DC 10 an Höhe zu verlieren begann.

»Der Kapitän hat das Fasten-Your-Seatbelt-Licht eingeschaltet«, meldete eine Frauenstimme durch das Bordradio. »Bitte kehren Sie an Ihren Platz zurück und schnallen Sie den Sicherheitsgurt an. Bitte stellen Sie die Rückenlehne in eine aufrechte Position und klappen Sie das Tischchen vor Ihnen zurück. Verstauen Sie ihr Handgepäck zu ihrer eigenen Sicherheit unter dem Sitz vor ihnen. Wir werden in zirka zwanzig Minuten in Montego Bay landen. Lokale Uhrzeit ist zwei Uhr fünfzehn. Der Himmel ist klar, die Temperatur liegt bei 45 Grad im Schatten.«

Der Schwarze von nebenan konsultierte seine goldene Armbanduhr, klappte seinen Laptop zu und verstaute ihn in einem schwarzen Aktenkoffer. Hinten grölten die drei Saufbolde, weil sie kein Bier mehr kriegten. Der Priester wachte auf, beugte sich über die Rückenlehne von Kevin Macks Sitz und hustete ihm ins Genick.

»Sie sollten Ihre Rückenlehne aufrichten, junger Mann«, sagte er, als er ausgehustet hatte.

Kevin Mack entschuldigte sich. Es war eine Ewigkeit her, seit ihn jemand mit »junger Mann« angeredet hatte.

Immerhin war er schon beinahe dreißig. Im November hatte er Geburtstag. Seine Mutter würde ihm Wollsocken schenken. Für den New Yorker Winter und weil die Heizung in seinem Büro meistens nicht richtig funktionierte.

Kevin Mack steckte sich die Erdnüsschentüte in die Hosentasche und stellte die Rückenlehne hoch. Wenn es ihm nur gelang, diesen Auftrag bis März hinauszuzögern. Sechs Monate. Kein Fall dauerte sechs Monate. Bei Merrick vielleicht, aber nicht bei ihm. Merrick hatte unter seinen Klienten bestimmt Dauerzahler. Politiker mit allerlei Dreck am Stecken und davon gab es mehr als genug. Damen der besseren Gesellschaft, die ihre fremdgehenden Ehemänner überwachen ließen. Rauschgiftbarone, Mafiaheinis, TV-Priester und andere Promis. Von solcher Kundschaft hatte Mack bis zu jenem Augustnachmittag, als in seinem Büro völlig überraschend das Telefon läutete, nur träumen können. Er hatte es läuten lassen: Die Miete war noch nicht bezahlt; Amanda wollte ihn unbedingt zwecks Entwicklung seines Kunstverständnisses in die Picasso-Ausstellung schleppen; er hätte seine Mutter in Columbus, Ohio besuchen sollen. Schließlich hob er ab.

»Mack«, sagte er und es klang fast wie ein Seufzer.

»Bin ich da richtig?«, fragte eine Männerstimme. »Ist das die Detektei von Kevin Mack?«

»Das bin ich«, erwiderte Mack widerwillig.

»Scott«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Sie wurden uns empfohlen, Mr. Mack. Es geht um unsere Tochter Amy, die vor vier Jahren in Florida ums Leben kam.«

»Vier Jahre?« Jetzt seufzte Mack wirklich.

»Ich weiß, das ist eine lange Zeit, Mr. Mack. Wir haben alles versucht, glauben Sie mir. Wir haben die besten Leute …«

»Merrick?«

»Den auch. Aber keiner konnte uns weiterhelfen.«

Mack holte tief Luft. Plötzlich fühlte er sich besser. Selbstsicher, bereit, den Stier, den Mr. Scott auf ihn loslassen würde, bei den Hörnern zu packen.

»Also, Mister Scott, was kann ich für Sie tun?«

»Wir, das heißt, meine Frau und ich, würden uns gern mit Ihnen treffen, Mr. Mack. Hier bei uns, wenn Ihnen das recht ist. Meine Frau geht ungern nach Manhattan.«

»Das verstehe ich, Mr. Scott.«

»Dann sind Sie bereit zu uns zu kommen?«

»Wenn's keine Weltreise ist«, scherzte Mack.

»Glen Cove, Mister Mack. Mit Ihrem Wagen sind es nicht mehr als zwei Stunden, wenn Sie den Long Island Expressway nehmen. Ich schlage Ihnen vor, das Wochenende hier bei uns zu verbringen. Segeln Sie?«

»Segeln? Mein Beruf lässt mir kaum Zeit, die schönsten Dinge des Lebens zu genießen, Mister Scott.«

»Nun, ich könnte Herbert sagen, dass er das Boot auf Abruf bereithält. Also, dann gebe ich Ihnen meine Adresse, obwohl Sie eigentlich nur in Glen Cove nach uns zu fragen brauchen. Man weiß, wo wir zu Hause sind.«

Kevin Mack nahm schnell einen Kugelschreiber zur Hand und begann die Adresse, die ihm Mr. Scott durchgab, aufzuschreiben, aber schon nach drei Buchstaben gab der Kugelschreiber den Geist auf, und er kramte fiebrig in der Schublade herum, bis ihm ein Filzstift in die Finger geriet. Er konnte gerade noch die Telefonnummer aufschreiben.

»Wir erwarten Sie dann am Freitag so gegen Abend, Mr. Mack«, sagte Mr. Scott zum Abschluss, und bevor ihn Kevin Mack fragen konnte, von wem er, in Gottes Namen, denn empfohlen worden sei, legte Mr. Scott auf.

Mack lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und starrte mindestens fünf Minuten still zur Decke hinauf. Dann stand er auf, warf den ausgeschriebenen Kugelschreiber in den Papierkorb und ging zum Fenster. Unten auf der Straße lud ein Mann mit einem gelben Gabelstapler Särge auf einen Lastwagen. Der Ire von oben erschien aus einer Seitenstraße. Für einen Moment flammte sein Haarschopf auf, als ihn ein Sonnenstrahl traf, der, von einer Fensterscheibe reflektiert, einen hellen Fleck auf die Straße warf. Der Ire blickte herauf und winkte freudestrahlend, als er Mack am Fenster entdeckte. Vielleicht hatte er das große Los gezogen. Mack verließ sein Büro und schloss hinter sich ab. Auf der Treppe kam ihm der Ire entgegen.

»Rate, Mann, was ich gewonnen habe.«

»Eine Wildwasserflussfahrt durch den Grand Canyon«, sagte Mack, während sie auf der schmalen Treppe aneinander vorbeigingen.

»Zwei Eintrittskarten für das U-2-Konzert«, triumphierte der Ire.

»Glückspilz«, sagte Mack.

Butch, der Taxifahrer, rempelte ihn an.

»Ich habe Nairas Vogel gesehen, Charlie«, sagte er.

»Wo?«, fragte Charlie.

Butch rührte mit einem Pinsel grüne Farbe in einer kleinen Büchse um.

»Dort drüben auf dem Platz beim Denkmal. Ich glaube, der Vogel deiner Schwester hat dem General auf die Mütze geschissen, Mon.«

»Bist du sicher, dass es Nairas Vogel war?«

»Absolut, Mon.«

Butch begann eine Palme auf die Kühlerhaube seines Taxis zu malen. Charlie blickte zum Denkmal des Generals hinüber. Dort auf dem Mäuerchen saßen Lord Randall und Little Jimmy Quinn, der Zwerg. Lord spielte auf seiner Gitarre. Seine Mütze lag vor ihm auf dem Pflaster. Jimmy saß einfach dort auf dem Mäuerchen und beobachtete die Leute, die vorbeigingen. Das war seine Lieblingsbeschäftigung. Charlie hätte sich gern zu ihnen gesellt.

»Fährst du mich zum Flughafen hinaus?«, fragte Charlie Butch.

Butch trat einen Schritt zurück und betrachtete seine Palme auf der orangefarbenen Kühlerhaube seines alten Dodge, den schon sein Vater zwanzig Jahre lang als Taxi gefahren hatte.

»Was meinst du, soll ich ein paar Kokosnüsse dranhängen, Mon?«, fragte er Charlie.

»Warum malst du diese schöne Palme auf die Kühlerhaube, Mann? Da kann man sie nur von oben sehen, wenn man mit einem Hubschrauber drüber fliegt.«

Butch presste den Deckel auf die Farbbüchse, umwickelte sie und den Pinsel mit einem Stück Plastik und legte sie in den Kofferraum.

»Fährst du mich nun zum Flughafen oder nicht?«, fragte Charlie.

»Ich muss dringend irgendwo Kokosnussfarbe auftreiben, Mon. Verschaff mir Kokosnussfarbe und ich fahr dich, wohin du willst.«

»Ich bring die Kokosnussfarbe. Am Nachmittag. Zuerst hol ich den Amerikaner vom Flughafen ab, und dann fang ich Nairas Vogel, und anschließend bring ich dir Kokosnussfarbe. Ich bin beschäftigt, Mann. Wenn ich nur zwischendurch mal Luft holen kann.«

Butch lachte. »Du bist beschäftigt, Mon. Jesus, ich steh hier schon den ganzen Tag rum. Los, steig ein, Mon.«

Sie fuhren durch die Stadt und den Queens Drive entlang zum Sangster International Airport. Butch schaltete das Radio an. Volle Pulle. Sister Carol.

»Wen holst du denn vom Flughafen ab, Mon?«, lärmte er Charlie von der Seite ins Ohr.

»Einen Amerikaner«, sagte Charlie.

»Was?«

»Einen Amerikaner, hab ich gesagt!« Dieses Mal brüllte er Butch an.

Butch drehte das Radio leiser und grinste.

»He, Mon, was ist das für ein Geschäft, das du betreibst?«

»Kein Geschäft.«

»Kein Geschäft? Charlie, verdammt, du weißt, dass du mir vertrauen kannst.«

»Das hat Chicago auch gesagt, als er mir die Uhr gab.«

»Chicago. Was hat der damit zu tun?«

»Nichts. Aber die Uhr geht nicht, verstehst du?«

»Chicago ist ein kleiner Gauner, Charlie. Seine Uhren gehen nie. Hier, schau einmal. Diese Uhr hier, die ist von Chicago, Mon. Sag mir, ob sie geht oder nicht.«

Butch hielt ihm den Arm vors Gesicht. Er trug eine goldene Uhr, die ziemlich teuer aussah. Nach Butchs Uhr war es fünf Minuten vor zwei.

»Mann, wir kommen zu spät«, sagte Charlie.

»Beruhige dich, Mon. Die Uhr geht zehn Minuten vor.

Aber ich kann ja mal ein bisschen Gas geben, obwohl ich natürlich nicht glaube, dass du nicht geschäftlich auf dem Flughafen zu tun hast.«

Den Rest des Weges fuhr er wie ein Irrer. Es war ein Wunder, dass der alte Dodge noch alle vier Kotflügel dran hatte, als sie vor dem Flughafenterminal hielten. Alle Taxiparkplätze waren voll. Butch parkte mitten auf der Straße.

»Soll ich warten?«, fragte er. »Ich meine, wenn der Amerikaner Geld hat, dann fahr ich ihn gern ein bisschen in der Stadt rum. Ich habe Beziehungen, wie du weißt.«

»Butch, der Amerikaner ist kein Tourist.«

»Was ist er dann, wenn er kein Tourist ist und kein Geschäftsmann?«

Charlie stieg aus.

»Ich bring dir Kokosnussfarbe, Mann.«

»Denk dran.«

»Sobald ich Nairas Vogel gefangen habe.«

»Mon, du bist beschäftigt«, sagte Butch.

Ein Polizist begann furchtbar laut in seine Pfeife zu blasen und Butch legte den ersten Gang ein und brauste davon.

Im Terminal war nicht viel los. Die meisten Charterflüge kamen übers Wochenende an, vollgeladen mit Pauschaltouristen. Eine Woche Jamaica. Vollpension. Inklusive Wassersport und Golf. Plus Inselrundfahrten zum Billigtarif, weil eben nicht Hochsaison war.

Der Amerikaner flog mit American Airlines. New York—Miami—Montego Bay. Mo Bay, wie die Leute hier sagten. Es war eine lange Zeit her, seit Charlie zuletzt auf dem Flughafen gewesen war. Der Terminal war inzwischen renoviert worden. Modernisiert. Die Uhren gingen richtig. Charlie konsultierte einen der Bildschirme mit den Ankunftszeiten. Flug Nr. 712 aus Miami war eben gelandet. Die Zeile blinkte. Gate 12. Charlie ging den Gang entlang. Neben der Herrentoilette hatte der alte Shiny Tim seinen Stand. Der Sessel auf der Kiste war leer. Shiny saß auf seinem Hocker und las in einer Zeitung.

»He, Shiny, was läuft?«

Shiny blickte ihn über den Rand seiner Nickelbrille hinweg an und runzelte die Stirn.

»Bist du das, Charlie?«, fragte er.

»Wie seh ich denn aus, Shiny?«, fragte Charlie lachend.

»Was willst du hier mit dem Vogelkäfig?«

»Naira ist der Vogel abgehauen.«

»Davon habe ich gehört. Aber hier auf dem Flughafen wird er sich kaum aufhalten.«

Charlie setzte sich auf den erhöhten Polsterstuhl und streckte Shiny seine Schuhe entgegen.

»Wo hast du die her?«

»Reba hat sie mir geschenkt.«

»Was macht deine Schwester, Charlie?«

»Keine Ahnung. Vielleicht heiratet sie eines Tages. Ich habe ihr gesagt, dass sie nach New York gehen soll. Oder nach Hollywood.«

Shiny legte die Zeitung weg und rückte seinen Hocker zurecht. Sein Kraushaar war schlohweiß und die Haut in seinem Nacken voller Runzeln. So lange sich Charlie zurückerinnern konnte, war Shiny mit seinem Schuhputzstand hier auf dem Flughafen. Zuletzt hatte ihn Charlie hier gesehen, als sein Vater zum letzten Mal nach Miami Beach geflogen war. Vier Jahre war das schon her. Oder fünf. In ein paar Wochen, da waren es wohl fünf.

Shiny öffnete seine kleine feuerrot angemalte Kiste, entnahm ihr zwei Bürsten und begann Charlies Schuhe zu putzen.

»Weißt du noch, Charlie, dein Vater hat sich jedes Mal von mir die Schuhe putzen lassen, wenn er nach Miami Beach flog. Keiner sonst hat das getan, sich die Schuhe putzen lassen.«