Fischer, Erica Feminismus revisited

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Anmerkung der Autorin

Ein Hinweis zur Schreibweise: Ich verwende in diesem Buch überwiegend das Gender-Sternchen (*), das sich zunehmend als Mittel der schriftlichen Darstellung aller sozialen Geschlechter und Geschlechtsidentitäten jenseits des herkömmlichen Zweigeschlechtersystems einbürgert. Das Sternchen verweist auf Menschen, die nicht in das binäre Frau-Mann-Schema passen oder passen wollen.

Im Kapitel »Gender-Outlaw« über Hengameh Yaghoobifarah verwende ich, weil sie es bevorzugt, den Gender-Gap, eine durch einen Unterstrich gefüllte Lücke (englisch gap). Er erfüllt eine ähnliche Funktion wie das Sternchen.

Feminismus hält jung

Am 1. Januar 2018 wurde ich fünfundsiebzig. Irgendwie unbegreiflich, wie es dazu kommen konnte. Ich blicke also zurück auf nahezu ein halbes Jahrhundert Feminismus. Nach der ersten Begeisterung der frühen Siebzigerjahre und einer längeren aktivistischen Phase in Wien zog es mich zu anderen Lebensthemen. Das Ausloten meines jüdischen Hintergrunds und des Schicksals meiner Großeltern und Eltern rückte in den Vordergrund. Die Arbeit an Aimée & Jaguar Anfang der Neunziger half mir dabei. Ich begriff, dass Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus / Rassismus in meiner Biografie nicht voneinander zu trennen sind.

Ich bin eine Frau, nach der neueren feministischen Sprachregelung eine Cisfrau, also eine, die sich eins fühlt mit dem bei der Geburt festgestellten Geschlecht. Nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, bin ich als Tochter einer jüdischen Mutter Jüdin. Während eine Menge »Frau« in mir steckt, bei meiner Geburt festgelegt und durch die Heteronormativität und den allgegenwärtigen Sexismus stets von neuem bestätigt, ist die Jüdin eher eine kulturelle Aneignung. Meine Mutter betonte stets, dass erst Hitler sie zur Jüdin gemacht habe. Das stimmt nur teilweise, denn das Jüdische war ihr schon früher angeheftet worden. In ihrem polnischen Abiturzeugnis ist ihre Religion als »mosaisch« eingetragen, obwohl meine Mutter niemals in der Religion ihrer Vorfahren unterrichtet wurde. Doch konfessionslos konnte man damals in dem katholischen Land nicht sein. Sie besuchte in Warschau sogar eine katholische Schule, die eine Quote für jüdische Schülerinnen hatte und in die sie nur aufgenommen wurde, weil ihre ältere Schwester die Quotenhürde vor ihr genommen hatte. Während ihres Studiums im Wien der späten Zwanzigerjahre ging es mit dem Antisemitismus weiter. Immer war es der Blick von außen, der aus meiner Mutter eine Jüdin machte.

Bei mir ist es umgekehrt. Ich habe mich freiwillig dafür entschieden, mich mit dem Schicksal meiner Vorfahren und aller anderen Jüdinnen und Juden zu identifizieren. Da ich mich in der österreichischen Mehrheitsgesellschaft nicht aufgehoben fühlte, entschied ich mich für die jüdischen Außenseiter*innen. Antisemitismus habe ich persönlich nie erfahren, denn ich habe weder eine »jüdische Nase«, noch trage ich Schläfenlocken. Aber ich spüre ihn immer mal wieder um mich herum.

Die Cisfrau hingegen war zwar körperlich vorgegeben, das meiste jedoch wurde mir von außen übergestülpt. Wie ich mich als Frau zu benehmen, zu bewegen, zu sprechen, zu denken, zu fühlen und zu kleiden und wie ich mir meine berufliche und private Zukunft auszumalen habe, wurde mir zugeschrieben. Es war wie eine Tarnkappe, die verbarg und verzerrte, was möglicherweise in mir steckte. Ich werde es nie erfahren. Für die Frau habe ich mich nicht entschieden, ich wurde zu ihr gemacht. Und zwar so sehr, dass ich durch den Einfluss der Frauenbewegung zwar einiges meiner inneren Textur auftrennen konnte, aber letztlich nur wenig. Auch mit fünfundsiebzig lebe ich mit meinem patriarchal geprägten kulturellen Erbe und habe es so weit verinnerlicht, dass ich mich darin relativ wohl fühle. Junge Frauen, die heute ebenso alt sind, wie ich es war, als ich mich aufmachte, meine Verwerfungen aufzuspüren, sind heute weiter. Vieles, was mich damals einschnürte und in Wut versetzte, ist nur noch Vergangenheit. Manches jedoch scheint schlimmer geworden zu sein. Aber die Frauen wehren sich, lauter, zahlreicher, selbstbewusster. Das immerhin.

Die zweite Welle des Feminismus, die mich geprägt hat, führte fort, was die erste eingeleitet hatte: Wahlrecht, Universitätsstudium, Berufstätigkeit und Karriere (bis knapp unter die gläserne Decke), freie sexuelle Partner*innenwahl, Empfängnisverhütung, gleichgeschlechtliche Liebe, Kinderlosigkeit und bis zu einem gewissen Grad auch der Schwangerschaftsabbruch können mehr oder weniger ungehindert gelebt und ausgelebt werden – in Deutschland und in einigen europäischen Ländern, aber keineswegs überall, wie wir von unserem Nachbarland Polen nur allzu gut wissen.

Dank der klugen Stimmen und Texte junger Frauen ist mein Interesse am Feminismus neu erwacht. Oft und mit Genugtuung totgesagt, entfaltet er heute eine erstaunliche Energie, wohl auch als Reaktion auf den sich immer stärker ausbreitenden Frauenhass, der mir jedoch wie ein verzweifelter Abwehrkampf gegen die zunehmende Ermächtigung der Frauen erscheint. Der westliche Feminismus hat sich aber auch verändert. Angesichts der verschärften Lebensbedingungen in Zeiten von Turbokapitalismus, Klimawandel und dem wachsenden Einfluss rechtsnationalistischer Tendenzen und Parteien haben junge Feminist*innen der dritten Welle (oder ist es schon die vierte?) weniger Aussicht auf ein sozial gerechtes Leben, als ich es in meinen Aufbruchsjahren hatte. Unter Bundeskanzler Bruno Kreisky gab es in Österreich ein soziales Netz, von dem wir heute nur noch träumen können. Laut Oxfam gingen 82 Prozent des globalen Vermögenszuwachses im Jahr 2017 an das reichste Prozent, während die ärmere Hälfte der Menschheit, rund 3,7 Milliarden Menschen, darunter ein Großteil Frauen, leer ausging.

Feminist*innen müssen in diesem Millennium umfassende Akzente setzen. Zwar stellt männliche Gewalt – in Kriegs- und Krisengebieten und für Nichtweiße und Transpersonen verstärkt – nach wie vor eine existenzielle Bedrohung dar, doch angesichts der sich national und global vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich und des zunehmenden Rassismus ist bei vielen Feminist*innen der Kampf gegen männliche Vorherrschaft zu einem Teil eines breiteren Kampfes gegen den globalisierten patriarchalen Kapitalismus geworden.

Einer der Gründe mag auch sein, dass Feminismus aus den sozialen Bewegungen heute nicht mehr wegzudenken ist. Mehr denn je ist also Feminismus, so wie ich ihn schon immer verstanden habe, zu einer Bewegung für eine gesamtgesellschaftliche Veränderung zum Wohle der Menschen statt des Kapitals geworden. Und er muss sich gegen den an die Stelle des Anti-Feminismus getretenen militanten Anti-Genderismus behaupten, dem es darum geht, den über den formalen Gleichheitsanspruch hinausgehenden Analysen des Feminismus die wissenschaftliche Legitimität abzusprechen.

Überall auf der Welt kämpfen Frauen um ihre Rechte, doch die Bandbreite der Anliegen ist enorm. Während es in Saudi-Arabien ein Triumph ist, wenn Frauen endlich Auto fahren dürfen, und in Afghanistan schon der Schulbesuch für Mädchen ein Privileg darstellt, geht es in Deutschland und Österreich um Fragen, die anderswo vermutlich als Luxus gelten. Notgedrungen beschränke ich mich in diesem Buch auf Deutschland, wo ich seit dreißig Jahren lebe, und auf Österreich, wo ich vierzig Jahre meines Lebens verbracht habe. Aber auch in diesen Ländern sind wir nicht kulturell abgeschottet. Feminist*innen mit Migrationshintergrund, wie man so sagt, und Frauen* of Color erheben schon lange ihre Stimmen.

Feminismus ist ohne einen intersektionalen Ansatz nicht mehr denkbar, also ohne verschiedene Diskriminierungsformen in einer Person zu berücksichtigen. Es gibt Unterschiede zwischen uns, erhebliche, nicht nur zwischen Deutschland und Saudi-Arabien. Sexismus kann nicht mehr ohne das Mitdenken von Rassismus, Islamhass und Homo- und Transfeindlichkeit diskutiert werden. Schon seit der in den 1980ern von Christina Thürmer-Rohr ausgelösten Mittäterschaftsdebatte wissen wir, dass Frauen keineswegs immer Opfer sind. Sie können auch zu Täter*innen werden, je nach Machtkonstellation. Unumstritten ist diese Erkenntnis in der Frauenbewegung allerdings immer noch nicht.

Genährt wird die Sicht auf Frauen als Opfer auch durch das grelle Licht, das die ekelhaften Taten des mächtigen Hollywood-Moguls Harvey Weinstein und aller, die ihm weltweit folgten und noch folgen werden, auf den männlichen Machtmissbrauch geworfen haben. Er drückt sich in sexueller Belästigung, sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung aus. Ans Tageslicht kommt trotz #MeToo nur die Spitze des gigantischen Eisbergs, von dem so gut wie alle Frauen weltweit betroffen sind. Aber der »Harvey-Effekt« zeigt Wirkung. Wenn Frauen nicht mehr aus Scham schweigen und man ihnen neuerdings sogar glaubt, wird der Schlaf von Männern, die Frauen als Beutegut sehen, unruhiger. Und kein Mann wird mehr sagen können, er habe nicht gewusst, wie er sich zu benehmen habe. Jede Revolution habe ihre eigenen Waffen, schreibt die amerikanische Kulturkritikerin Laura Kipnis; einst waren es Musketen und Guillotinen, heute sind es »Mitteilen« und mediale Offenlegung. Nicht erst neuerdings haben die Frauen zu sprechen begonnen, jetzt aber verstärkt und zahlreicher.

Die Frauen, die sich bezüglich sexueller Belästigung in EU-Gremien zu Wort meldeten, taten es vorerst überwiegend anonym. Noch immer müssen viele um ihren Job fürchten, wenn sie die Verletzung ihrer körperlichen Integrität zu einem öffentlichen Thema machen. Sogar die schwedische Außenministerin Margot Wallström gab an, bei einem EU-Abendessen Opfer einer Grapsch-Attacke geworden zu sein. Eine Frau im Zentrum der politischen Macht! Wenn es jenseits aller Unterschiede ein Verbindungsglied zwischen Frauen und Transpersonen weltweit gibt, dann ist es sexualisierte Gewalt und Einschüchterung durch sexuelle Belästigung und Verspottung. Zwischen dem Femizid in Mexiko und Ministerin Wallström besteht ein Zusammenhang, auch wenn Letzterer unvergleichlich mehr Möglichkeiten der Gegenwehr zur Verfügung stehen.

»Schaffen wir eine Welt ohne Harveys«, forderte der Dokumentarfilmer Michael Moore (der wie so viele andere vom Verhalten Weinsteins schon lange gewusst haben musste). Allzu bald wird das nicht gelingen. Mediale Aufmerksamkeit schafft zwar vorübergehend Ekel vor den Tätern und Solidarität mit den Opfern und bringt so manche Karriere zum (vorübergehenden) Stillstand, vermag aber keine gerechtere Welt zu schaffen. Das weiß auch Michael Moore, weshalb er von einer demokratischen Ökonomie spricht, die in der Lage wäre, Männer mit Macht einzuhegen. Solange ökonomische Ungleichheit herrscht, werden die auf das Wohlwollen Mächtiger und weniger Mächtiger Angewiesenen missbraucht und ausgebeutet werden. Solange sich die ökonomische Macht mehrheitlich in der Hand weißer Männer befindet, werden vor allem junge Frauen Opfer von Sexismus und Gewalt und in der medialen Darstellung kaum mehr als konsumierbare Körper sein. Das Patriarchat ist aber auch eine globale Kultur, die machtlosen Männern Macht über noch Machtlosere verleiht. Gene, Hormone und Biologie spielen dabei keine Rolle.

Wir leben in einer phallokratischen Ordnung, in einer Kultur, in der sogenannte männliche Werte einen höheren Status genießen als sogenannte weibliche Werte. Es ist ein Krieg gegen alles Weibliche, wobei die Binarität zwischen maskulin und feminin nicht naturgegeben ist, sondern erst geschaffen werden musste. Was als weiblich gilt, ist weniger wert, wird schlechter bezahlt, herabgesetzt, belächelt, belästigt, ausgezogen, vergewaltigt und mitunter getötet. Tätigkeiten, die zerstören und gewalttätig sind, sind höherwertig als jene, die den Menschen, den Kindern, der Kultur, der Liebe und dem sozialen Miteinander dienen.

Dieses patriarchale Wertesystem richtet sich auch gegen Männer. Genauso wie Frauen werden sie gewaltsam in Identitätsschubladen gezwängt. Erzieher, Grundschullehrer und Altenpfleger teilen überwiegend den niedrigen Status und die schlechte Bezahlung ihrer Kolleg*innen. Die Linguistin Senta Trömel-Plötz hat beobachtet, dass in Gesprächssituationen unter Männern der statusniedrigere Mann ebenso behandelt wird wie üblicherweise Frauen. Er kommt seltener zu Wort und wird häufiger unterbrochen.

Wegen des geringeren Werts, der Care-Tätigkeiten beigemessen wird, geht eine Frau, die sich kein Personal leisten kann, ein absehbares Risiko ein, wenn sie sich für ein Kind entscheidet. Auf einen allenfalls vorhandenen Partner sollte sie sich besser nicht verlassen. Kinder stellen im Kapitalismus eine Störung des reibungslosen Ablaufs der Profitmaximierung dar, auch wenn sie für den Fortbestand des Systems unumgänglich sind. Doch die Mutter hat sie zur Welt gebracht, die Mutter soll sich gefälligst um sie kümmern. Und meistens tut sie es auch. Kostenlos. Mutterschaft hält Frauen beschäftigt und erschwert ihnen, Männern im außerhäuslichen Bereich in die Quere zu kommen. Deshalb sollen Kinder Privatsache bleiben und nicht gesellschaftliche Notwendigkeit und Bereicherung für alle.

»Gender« meint soziales Geschlecht. Spätestens seit der Vierten Weltfrauenkonferenz von Beijing 1995 haben wir die starren Vorstellungen von Geschlecht hinter uns gelassen. Auch Männer und Jungen werden vergewaltigt und missbraucht. Junge Männer werden im Gefängnis zu Menschen gemacht, mit denen man umgehen kann wie mit einer Frau. Schwule Männer und Transpersonen ohne Zugang zur Macht werden überproportional häufig Opfer von Gewalt. Mit ihrer Verweigerung binärer Geschlechtlichkeit stören sie die »Natur der Dinge« und lösen Verwirrung und Ängste aus, die sich in Aggression Luft machen.

Von der Norm abweichende sexuelle Praktiken und Lebensweisen stellen die Stabilität von Geschlecht als nicht hinterfragbare Kategorie in Frage. Und auf dieser ruht unser gesamtes gesellschaftliches und kulturelles Gefüge. Schmälert diese Erkenntnis den Kampf der Frauen um Menschenrechte? Bedeutet die Betonung von Gender eine Missachtung jener Frauen, die einzig und allein wegen ihres Geschlechts gepeinigt und ihrer Rechte beraubt werden?

In mehreren europäischen Ländern und in den USA haben sich rechtsnationalistische Parteien und Bewegungen auf Migrant*innen, Muslim*innen, Geflüchtete, Nichtweiße, Transpersonen, Homosexuelle und Frauen eingeschossen, auf alle also, die vorgeblich marginal sind, in der Summe aber die Bevölkerungsmehrheit ausmachen. Die wahre Minderheit ist der weiße Mann. Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun weist darauf hin, dass sich gerade diese diskriminierten Menschengruppen durch soziale und ökonomische Mobilität auszeichnen und bei den Sitzengebliebenen Sehnsucht nach festen, »natürlichen« Verhältnissen nähren. Fremden- und Frauenfeindlichkeit vermengen sich zu einem Gebräu, dessen Ziel es ist, das seit Ende des letzten Weltkriegs mühsam aufgebaute demokratische Miteinander zu unterhöhlen; wobei dann »unsere« Frauen dazu benutzt werden, gegen die Männer der »anderen« in Stellung zu gehen, und Religionen missbraucht werden, um kriegerischen Terror unter die Menschen zu säen. Stets richtet sich die Gewalt gegen »Fremde« und Frauen*. Der jeweils herrschende Mann einer bestimmten Ethnie, Nation, Religion erhebt sich zum Maß aller Dinge.

Die Frauen* wehren sich mit den ihnen jeweils verfügbaren Möglichkeiten. Sie vernetzen sich im Internet, rotten sich zu Massendemonstrationen zusammen, unterlaufen das System durch individuellen Ungehorsam, bilden Vereinigungen und Lobbygruppen und haben schon längst den Marsch durch die Institutionen angetreten, wobei Deutschland im EU-Vergleich keine gute Figur abgibt. Oder sie flüchten. Und fahren fort, Kinder und Alte vor Hunger und Gewalt zu schützen, so gut sie können.

Dass Gleichberechtigung grundsätzlich ein erstrebenswertes Gut ist, wird im Westen nur noch selten in Frage gestellt, selbst wenn der Weg dahin – vor allem über die Quote – immer noch umstritten ist. Auch das Dilemma der Mutterschaft kann als bekannt vorausgesetzt werden, doch weder das organisierte Unternehmertum noch die Politik sind ernsthaft um eine Lösung bemüht. Das Desinteresse verweist auf die Perspektive des kapitalistischen Patriarchats. Warum sollten wir uns darum kümmern, wenn die Frauen es so gut hinkriegen?

Eine Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen, die das Leben von Frauen, Männern und nichtbinären Personen heute prägen, kann und will dieses Buch nicht leisten. Ebenso wenig ist es möglich, das vielfältige Spektrum feministischen Wirkens auch nur ansatzweise wiederzugeben. Viele Themen, die für das Leben aller Geschlechter von zentraler Bedeutung sind, streife ich nur oder behandle sie gar nicht. Hier geht es einerseits um mich selbst und meinen Weg als Frau und Feministin, andererseits – und das vor allem – um das Gespräch mit jungen Feminist*innen, deren Denken, Handeln und Leben meinen Blick für die aktuellen Konflikte und Genderthemen geschärft haben. Ich habe Unschätzbares von ihnen gelernt.

Vieles ist seit meiner Zeit als junge Feministin gleich geblieben und dreht sich wie eh und je um die Kontrolle des weiblichen Körpers mit dem Ziel, die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern zu erhalten und zu festigen: sexuelle Belästigung, Herabsetzung von Frauen in Witzen und in der öffentlichen Rede, sexualisierte Gewalt, Homo- und Transfeindlichkeit, Stigmatisierung der Sexarbeit, eingeschränkter Zugang zu Verhütung und Abtreibung, unerreichbare Schönheitsideale, Diskriminierung dicker und alter Frauen, um nur einiges zu nennen. Gleichzeitig sind einige ganz oben angekommen. Verändert haben sich vor allem das Selbstverständnis der Frauen und ihrer Verbündeten sowie die Debatte und die Aktionsformen. Wir erleben eine verfeinerte und erweiterte Fortschreibung dessen, was die zweite Welle des Feminismus angestoßen hat.

Verändert hat sich auch der negative Beigeschmack des Wortes »Feminismus«. Während man Feministinnen jahrzehntelang unterstellt hat, Männer zu hassen, lila Latzhosen zu tragen, BHs zu verbrennen und sich die Beine nicht zu rasieren, eröffnete Dior die Pariser Frühjahrsmodenschau 2018 mit einem T-Shirt mit der Aufschrift Why have there been no great woman artists?. Das Zitat ist der Titel eines Essays der im Oktober 2017 verstorbenen amerikanischen Kunsthistorikerin Linda Nochlin, die mit dieser Frage 1971 den Grundstein zu einer feministischen Kunstgeschichtsschreibung legte. Ein Fortschritt? In gewisser Weise schon. In manchen Kreisen ist es heute cool, sich als Feminist*in zu bezeichnen. Eine intelligente junge Frau kann es sich heutzutage kaum noch leisten, sich vom Feminismus zu distanzieren, ohne sich zu blamieren.

In Deutschland ist die feministische Community ungefähr zweigeteilt. Die Zeitschrift Emma, herausgegeben von einer Feministin meiner Generation, und die Zeitschrift Missy Magazine, herausgegeben von jungen Feminist*innen, haben annähernd dieselbe gedruckte Auflage: Emma 28 000, Missy 25 000 Exemplare. »Staunen ist kein geordnetes Betrachten, sondern die reine Freude an dem, was sich dem Auge bietet«, schreibt Aharon Appelfeld in seinem Roman Meine Eltern über seine Mutter. Mich interessieren die Autor*innen und Leser*innen von Missy. Stellvertretend für ihre Generation habe ich neun Frauen* befragt und mich ihnen auf ähnliche Weise genähert, wie Appelfeld seine Mutter beschreibt. Ich bin im Verlauf meiner Arbeit an diesem Buch immer glücklicher geworden – weil das Gespräch mit den jungen Frauen mich belebt hat wie eine Reise, aber auch weil ich nun definitiv weiß, dass es weitergeht. Und wie!

Während des Arbeitsprozesses begleitet haben mich nicht nur Laurie Pennys Bücher, aber die besonders. Laurie, I love your rage.

Bestandteile einer Feministin

An einem Sonntag Anfang Oktober 2017 wohnte ich in Berlin einem Gottesdienst bei. Mir ist zwar alles Religiöse fremd, aber am Ende sollte mein Mann im Chor ein Stück von Mendelssohn Bartholdy singen, das wollte ich mir nicht entgehen lassen. In meine wattierte Jacke gehüllt, trotzte ich der Erntedankstimmung und las auf meinem E-Book-Reader Marcel Reich-Ranickis Autobiografie Mein Leben. Das Desinteresse des Autors an jüdischer Religion gefällt mir, und doch blieb sein Judentum zeit seines Lebens an ihm kleben. Die Verfolgung durch die Nazis und der polnische und deutsche Antisemitismus nach dem Krieg erlaubten ihm nicht, seine Geburt zu ignorieren. Ähnlich erging es meiner Mutter, die von einer sozialistischen Revolution träumte, nach der es Rassismus und Antisemitismus nicht mehr geben würde. Mit dem Antisemitismus stalinistischer Prägung hat sie sich meines Wissens nie auseinandergesetzt.

Der Priester in seinem hübschen cremefarbenen Gewand mit hellgrünen Bordüren machte einen sympathischen Eindruck. Als er in seiner Predigt von der Bedeutung der Dankbarkeit sprach, horchte ich auf und unterbrach meine Lektüre. Ich ertappte mich dabei, mir zu überlegen, ob ich Grund habe, dankbar zu sein. Ja, doch. Bestimmt nicht einem Gott, sehr wohl aber den Umständen meiner privilegierten Geburt. Während meine Großeltern mütterlicherseits im Vernichtungslager Treblinka auf unvorstellbar grausame Weise zu Tode gebracht wurden, meine Eltern 1938 aus Österreich fliehen und mittellos in der Fremde ein neues Leben aufbauen mussten, wurde ich mitten im Krieg in einer friedlichen englischen Kleinstadt geboren, wurde gehätschelt, adrett gekleidet, fotografiert und geistig gefördert.

Nachdem meine Eltern nach Wien zurückgekehrt waren, lernte ich im Alter von fünf Jahren, ohne den Prozess überhaupt wahrzunehmen, meine zweite Sprache, ein geistiger Vorsprung, der hierzulande bei den Kindern der Migrant*innen immer noch nicht ausreichend gewürdigt wird. Ich besuchte das Gymnasium, machte die Matura und studierte. Niemals stand zur Debatte, dass ich Ehefrau und Mutter werden sollte. Im Gegenteil: Meine Mutter, deren Lebensumstände ihre künstlerischen Ambitionen ausgetrocknet hatten, tat alles, um dem in den trüben Fünfzigerjahren herrschenden Anspruch an ein Frauenleben entgegenzuwirken. Dafür bin ich ihr dankbar. Leider habe ich es ihr nie gesagt. Mehr noch als ihre Worte bestimmte mich aber das Negativbild ihres eigenen unerfüllten Lebens. Eine Existenz als Mutter und Hausfrau war wohl das Letzte, was sie sich nach dem Abitur in Warschau von ihrer Zukunft erwartet hatte. Knapp vor ihrem Tod bezeichnete sie ihr Leben einer Journalistin gegenüber als gescheitert, wohl das traurigste Fazit, das ein Mensch über seine Zeit auf Erden ziehen kann.

Dankbar bin ich für die Periode des Friedens, in der mein Leben dahinfließt, während so viele Menschen in anderen Teilen der Welt nichts als Krieg und Gewalt kennen. Ich bin auch dankbar für meinen bescheidenen Wohlstand, der in anderen Regionen purer Luxus wäre. Ich weiß, dass ich diesen Wohlstand der historischen und aktuellen Ausbeutung von Menschen anderswo zu verdanken habe. Und schließlich bin ich dankbar für das Privileg, in einem politischen System zu leben, das mir erlaubt, zu denken, zu schreiben, zu lieben und mich zu kleiden, wie es mir passt. Und das mich nicht daran gehindert hat, kinderlos zu bleiben. Ob ich dankbar dafür bin, eine weiße Haut zu haben, weiß ich nicht. Es ist mir unangenehm, einer Dominanzkultur anzugehören, die überwiegend nicht bereit ist, ihre Privilegien zur Kenntnis zu nehmen.

Und doch war ich innerhalb meiner kleinen österreichischen Welt als Frau benachteiligt. Warum, bedarf keiner Erklärung, so viel hat sich herumgesprochen. In den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren gab es noch Gesetze, die mich diskriminierten, und selbstverständlich war der Schwangerschaftsabbruch illegal. Die größte Hürde jedoch, die mir die Zukunft verbaute, war emotionaler und kultureller Natur. Nicht jeder Frau erging es wie mir. Zu allen Zeiten gab es robuste, willensstarke Frauen, die gesellschaftliche Konventionen ignorierten und sich durch noch so viele Gesetze und kulturelle Vorgaben nicht daran hindern ließen, durchzusetzen, was in ihnen steckte. Ihnen gilt meine unumschränkte Bewunderung. Ich war nicht so strukturiert, vielleicht auch weil ich trotz des emanzipatorischen Anspruchs meiner Eltern zu den Marginalisierten gehörte. In England waren wir Flüchtlinge, in Österreich waren die Rückkehrer*innen unerwünscht, hatten diese doch miterlebt, was man ihnen vor ihrer »Auswanderung« angetan hatte. Daran wollten die Einheimischen nicht erinnert werden.

Meine Mutter durfte ihr Studium an der Kunstgewerbeschule nicht abschließen und eilte nach dem »Anschluss« Österreichs an Nazideutschland auf der Suche nach einem Visum für irgendein Land mit wachsender Verzweiflung von Botschaft zu Botschaft. Ob ich diese Marginalisierung als Kind gespürt habe? Meine Mutter gewiss. Aber neuere Erkenntnisse aus der Neuro- und Molekularbiologie haben auch ergeben, dass wir die Erfahrungen erben, die unsere Eltern vor unserer Geburt gemacht haben. Erst allmählich lernte meine Mutter, in Wien nicht jedem Menschen jenseits des Kindesalters zu misstrauen, zu viele ehemalige Nazis waren im Umlauf. Was sie antwortete, wenn man ihr vorhielt, es in der Emigration besser gehabt zu haben als die »arischen« Wiener*innen, die den feindlichen Bomben ausgeliefert waren, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass sie den nervösen Tick entwickelt hatte, von Zeit zu Zeit ohne erkennbaren Grund die Hände aufeinanderzupressen und ihren Kiefer zu einer Grimasse erstarren zu lassen. Ich war daran gewöhnt. Über den abscheulichen Tod ihrer Eltern sprach sie nie. Ihre beiden nach Australien ausgewanderten Geschwister sah sie erst in den Siebzigern wieder. In Wien war sie allein, und auch mein eingeborener Vater war ihr keine große Hilfe.

Was mich hemmte, war ein Gefühl tiefer Minderwertigkeit. Zu Beginn schien ja alles in Ordnung. In England war ich ein putzmunteres Kind, das in unserer Straße von Haus zu Haus flanierte, um mit den dort tätigen Hausfrauen zu schwatzen. Ein Kind, das im Park sich sonnende tätowierte Matrosen ansprach und sie zum Stillhalten aufforderte, damit es sich die Bilder auf ihrer Haut anschauen könne. Auch die Schule verlief problemlos.

Als ich im Sommer 1948 mit meinen Eltern und meinem kleinen Bruder in Wien eintraf, sprach ich kein Wort Deutsch. Anfangs war es ein Schock. Ich konnte die auf der Straße spielenden Kinder nicht verstehen. Das redselige Mädchen war plötzlich stumm geworden und kündigte an, die Einzimmerwohnung, in der die Familie vorübergehend untergekommen war, nie wieder zu verlassen.

Doch als ich im Alter von sieben Jahren eingeschult wurde, war mein Deutsch schon einwandfrei. Nur Socken mochte ich nicht stricken. Meine acht- oder neunjährigen Kinderhände verweigerten sich den fünf Stricknadeln. Braun war die Wolle, ich weiß es noch genau. Der Lehrer, ein cholerischer Mann, der uns mit seinem Schlüsselbund bewarf, wenn ihm etwas nicht passte, warnte mich, dass ich keinen Ehemann finden würde, und beschimpfte mich als Modepuppe, weil ich besser gekleidet war als meine in der Nazizeit aufgewachsenen Mitschülerinnen. Meine Mutter lenkte ihre unbefriedigten künstlerischen Ambitionen in das Nähen hübscher Kleider für mich und sich selbst. Auch dafür bin ich ihr dankbar. Immer noch macht es mir Spaß, mich gut zu kleiden.

Eine Modepuppe, die keinen Mann finden wird – dass mich diese Warnung besonders beeindruckt hat, erscheint mir unwahrscheinlich, zumal meine Mutter über meinen Bericht in schrilles Gelächter ausbrach.

Wie das leutselige Kind zu einem übertrieben schüchternen Teenager wurde, weiß ich nicht. Ich besuchte eine Mädchenschule, war eine gute Schülerin und hatte auch Freundinnen, doch ich fühlte mich einsam und unzugehörig. Als ich – später als viele in meiner Klasse – die Regel bekam, führte mich meine Mutter in den Gebrauch der Binde ein und setzte, an der Badezimmertür lehnend, den mir schon bekannten traurig umflorten Blick auf.

Was ist?, fragte ich. Jetzt bist du eine Frau, seufzte sie. Keine ermutigende Initiation. Bis mir im Alter von vierzig Jahren die Gebärmutter entfernt wurde, was ich als Befreiung erlebte, war mir die monatliche Blutung eine Belästigung, die stets mit der Angst vor sichtbaren Blutflecken verbunden war. Mit dem Aufkommen von Tampons wurde die Angelegenheit erträglicher, denn wenn es keine Toilette gab, etwa bei einem Schulausflug, hatten die blutgetränkten Binden zuvor an der empfindlichen Innenhaut des Schritts gescheuert.

Neben diesem Seufzer meiner Mutter ist mir noch die Ermahnung in Erinnerung, meine Knie in der Straßenbahn zusammenzuhalten. Auf mein Warum erhielt ich keine Antwort. Ich wusste sofort, dass es etwas mit dem Zugang zu meinem Körper zu tun hatte, der aus irgendeinem Grund geschützt werden musste. Seltsam, wie tief sich gerade solche an sich unbedeutenden Äußerungen einprägen. Ebenso wie später die Bemerkung meiner Mutter, manche Frauen würden es brauchen, sie jedoch würde es nicht brauchen. Ich ahnte nur unbestimmt, was sie meinte. Was sich mir jedoch vermittelte, war, dass Frausein keine erfreuliche Angelegenheit war.

Es muss bei uns zu Hause ziemlich körperlos zugegangen sein. Ich kann mich an keine liebevollen Berührungen erinnern. Wenn ich heute junge Mütter mit ihren Babys sehe, die im Tragetuch glückselig schlummern, beneide ich sie. Nicht die Mütter, sondern die Babys. Als ich einmal in einer gruppendynamischen Sitzung mit Töchtern und Söhnen von Holocaust-Überlebenden vor die Frage gestellt wurde, von wem ich lieben gelernt hatte, traf es mich wie ein Schlag: Ich habe nicht lieben gelernt. Ich konnte meine Eltern nicht lieben, meine Mutter noch weniger als meinen Vater. Mein ganzes Leben habe ich mich an meiner Mutter abgearbeitet, die mich – so mein Gefühl – nie ermuntert und gelobt hat. Stolz war sie schon auf mich, wenn ich einen Vortrag hielt oder ein Buch veröffentlichte, aber es war ein an die Außenwelt gerichteter Stolz, keine liebevolle Freude über die Leistung ihrer Tochter. Als mein Vater 1974 starb und meine Mutter 1999, konnte ich nicht um sie weinen. Ich war keine gute Tochter, sie hat es mir oft genug vorgeworfen und hielt sich an meinem Bruder schadlos.

Das prägendste Gefühl meiner Jugendjahre war Hunger nach Liebe. Später suchte ich sie bei Männern, und natürlich konnte mir keiner geben, was ich brauchte. Bereitwillig bot ich mich als Beute an und wurde immer wieder von neuem verletzt. Ich hatte kein Selbstwertgefühl, hielt mich nicht für gleichwertig und konnte mir nicht vorstellen, wie ein dem übergeordneten Geschlecht Angehörender eine so minderwertige Person wie mich lieben konnte. Tatsächlich liebten mich die wenigsten, und jene, die es doch taten, konnte ich nicht lieben.

Gleichzeitig hatte ich durchaus selbstbewusste politische Meinungen, dachte radikales Zeug und träumte wie meine Mutter von der Revolution. Doch als ich als Teenager Hemingways Wem die Stunde schlägt las, identifizierte ich mich nicht mit dem Guerillakämpfer im Spanischen Bürgerkrieg Robert Jordan, sondern mit der jungen Guerillera Maria, zu der Jordan in romantischer Liebe entbrennt. Niemals führte ich in meiner Phantasie selbst einen Kampfeinsatz an, sah mich nur als Geliebte des Helden. Einen Roman nach dem anderen verschlang ich, und nie fehlte darin die Liebe. Als Raskolnikow in Dostojewskis Schuld und Sühne im sibirischen Gefangenenlager seine Liebe zu Sonja erkennt, verändert er sich und ist zu bereuen bereit. Die Liebe zu einer Frau läutert den Helden. Diese Rolle wollte ich spielen.

Als ich in den frühen Siebzigern Feministin wurde, erkannte ich, wie sehr die – überwiegend von Männern geschriebene – Literatur mein Frauenbild und meine Vorstellungen von der Liebe geprägt hatte. Einige Jahre lang las ich dann nur noch Bücher von Frauen.

Interessant ist rückblickend die Mischung aus großer Schüchternheit und Furchtlosigkeit. Einen Raum zu betreten, in dem sich mehrere Personen befanden, die ich nicht kannte, war für mich eine Qual. Noch heute fühle ich mich unwohl unter Menschen, wenn mir kein offizieller Raum zugewiesen wird. Bekomme ich ihn, ist von meiner Schüchternheit und Unsicherheit nichts mehr zu spüren. Es ist, als wäre ich auf mich allein gestellt nichts als ein Schatten, der erst mithilfe einer äußeren Instanz zum Leben erwacht.

Die Rolle der äußeren Instanz, die mir Bedeutung zuwies, erfüllten dann auch die Männer. Gleichzeitig begab ich mich als junge Frau immer wieder in riskante Situationen, reiste allein per Anhalter durch Italien, Frankreich, Deutschland, England und stieg in jedes Auto, das für mich anhielt. Ich war davon überzeugt, durch das Gespräch Gefahr von mir abwenden zu können. Meistens gelang es. Aber nicht immer.

In das richtige Leben wagte ich mich nur zaghaft. Bis zum Alter von fünfundzwanzig Jahren wohnte ich zu Hause in unserer kleinen Neubauwohnung am Stadtrand, in der ich kein Zimmer für mich allein hatte. Nach dem Aufstehen musste ich mein Bett zu einer Couch umbauen, um dem Wohnzimmer Platz zu machen, in dem meine Mutter am Nachmittag Schüler*innen Englischunterricht erteilte. Dieser Zustand wurde immer unerträglicher, aber mein Studium zog sich hin, und ich traute mir nicht zu, mir mit Nachhilfestunden und diversen Jobs als Übersetzerin, Schreibkraft und Hostess bei Konferenzen ein unabhängiges Leben zu verdienen. Wohngemeinschaften gab es damals noch nicht.

Ich befasste mich zwar viel mit der Welt, der kleinen Welt meines eigenen Lebens wagte ich mich jedoch nicht zu stellen. Meine Eltern ermunterten mich auch nicht dazu und boten mir niemals an, mich für den Start ins Leben finanziell zu unterstützen. Meinem Bruder nahm diese Umklammerung die Luft zum Atmen. Im Alter von zweiundfünfzig Jahren nahm er sich nach dem Tod unserer Mutter das Leben. Mich haben die Männer gerettet. Der Sog, den sie und die Hoffnung auf Liebe auf mich ausübten, half mir, mich von meinem Elternhaus zu entfernen. Mein Bruder blieb kleben.

Als ich endlich den Absprung schaffte, zog ich in ein fensterloses Untermietzimmer. Dort war es wie in einer Gefängniszelle und doch eine Befreiung. Nie werde ich die betroffenen Gesichter meiner Eltern vergessen, als ich den Koffer packte. Es dauerte lange, ehe sie sich damit abgefunden hatten, dass ihre Tochter erwachsen geworden war. Dabei war meine Mutter selbst nach dem Abitur von Warschau nach Wien gezogen, um an der Kunstgewerbeschule zu studieren. Sie wollte weg von der Familie, und anders als bei mir bezahlten die Eltern ihr den Unterhalt. Schließlich gelang es mir dank purer Naivität, am anderen Donau-Ufer eine bezahlbare helle Garçonniere zu mieten, eine geräumige Einzimmerwohnung. Über die genaueren Umstände des Zustandekommens dieses Mietvertrags wird noch zu berichten sein.

Von da an ging’s bergauf. Es waren die späten 1960er, und ich geriet in die linke Szene. Seit meinen Teenagerjahren war ich ein politischer Mensch gewesen. Vieles hat mir an meinen Eltern nicht gepasst, doch politisch musste ich mich nie von ihnen distanzieren. Besonders dafür bin ich ihnen dankbar. Ich musste mich nicht für meine Eltern schämen.

Als ich lange nach dem Tod meines Vaters seine Papiere durchforstete, entdeckte ich kluge Leserbriefe, die er an diverse Zeitungen geschrieben hatte, namentlich an das Organ der Sozialistischen Partei Österreichs (SPÖ) Arbeiter-Zeitung. Besonders der Vietnamkrieg beschäftigte ihn sehr. Er wäre gern Journalist geworden, doch die Lebensumstände ließen es nicht zu. Aus einfachen Verhältnissen stammend, wurde er ein kleiner Angestellter, dann die Arbeitslosigkeit in der Zeit der Wirtschaftskrise, dann die Emigration und das Überleben in England als Hausangestellter, dann nach der Rückkehr die Notwendigkeit, im Nachkriegswien für die Familie zu sorgen. Es reichte eben nur für Leserbriefe.

Meine Mutter war eher eine »Salonkommunistin«, die nicht bereit war, einmal eingenommene Positionen zu hinterfragen. Verständnislos erlebte sie noch die Wende in Europa. Mein Vater wäre vielleicht in der Lage gewesen, sich mit den historischen, kulturellen und ökonomischen Ursachen des Zusammenbruchs des sozialistischen Systems auseinanderzusetzen.

Politik war immer Thema bei uns zu Hause. Die Arbeiter-Zeitung interessierte mich als Jugendliche in den Fünfzigern zwar nicht, aber die Befreiungskriege in den britischen Kolonien verfolgte ich aufmerksam. Wir hatten die englische fotojournalistische Zeitschrift Picture Post abonniert. Wenn der Briefträger sie zusammen mit anderen englischen Zeitungen, darunter auch eine Mädchenzeitung für mich, zu einem dicken Packen eingerollt brachte, stürzten wir uns darauf wie auf ein kostbares Geschenk.

Mit einer Mischung aus Entsetzen und Begeisterung studierte ich die Fotostrecke über die Mau-Mau-Guerillabewegung, die die Kolonialherrschaft der weißen Siedler in Kenia ins Wanken brachte und mit einem immensen militärischen Aufwand von Großbritannien bekämpft wurde. Fast die gesamte Bevölkerung Zentralkenias wurde in Internierungslager gepfercht. Die Bilder von den weißen Bewachern in Kniehosen, die ihre Gewehre auf die auf dem Boden hockenden Afrikaner*innen richten, riefen in mir Erinnerungen wach, die ich gar nicht hätte haben können. Mit all meiner jugendlichen Empathie identifizierte ich mich mit den schwarzen Kämpfer*innen und war überzeugt, dass sie letztlich siegen würden. Was auch tatsächlich eintrat. 1963 musste Großbritannien Kenia in die Unabhängigkeit entlassen. Noch immer glaube ich daran, dass keine Unterdrückung ewig währt. Alle Menschen auf der Welt haben den Willen zur Freiheit. Das Bewusstsein für die Menschenrechte ist keine europäische Erfindung. Nur müssen alle ihren eigenen Weg dorthin finden.

1958 fand im englischen Aldermaston zu Ostern ein Marsch für nukleare Abrüstung statt. Es war die erste Protestbewegung in Westeuropa nach dem Krieg, die ich bewusst wahrnahm. Ungeduldig erwartete ich das Eintreffen der Ostermärsche in Österreich. 1963 war es endlich so weit. Wie es der Zufall will, erschien an prominenter Stelle ein Foto von mir als junger Demonstrantin im Zentralorgan der Kommunistischen Partei Volksstimme.

Ich marschierte mit, Jahr für Jahr, aber immer blieb ich allein. Auch die Studentenbewegung von 1968 erwartete ich sehnsüchtig, besuchte Teach-ins und demonstrierte gegen den Vietnamkrieg und den Schah von Persien. Immer allein. Anfangs nahm ich an dieser oder jener Versammlung von Studierenden teil, doch ich fand keinen Anschluss. Das aggressive Auftreten der Männer ebenso wie der Frauen erschreckte mich und schüchterte mich ein. Sie schienen so selbstbewusst, ihrer Sache so sicher zu sein. Ich selbst fühlte mich wie eine leere Hülle.

Zur selben Zeit lernte ich meinen politisch engagierten Freund kennen, der bald in meine kleine Wohnung zog. Er war es, der den Kontakt zu einer Gruppe junger Leute herstellte, Frauen und Männer, die sich mit der »Frauenfrage« beschäftigten. Sie nannten sich »Arbeitskreis Emanzipation«. Und mit einem Mal war all meine Schüchternheit verflogen. Ich hatte mein Thema gefunden. Nun wusste ich es genau: Das Patriarchat war schuld an meinem bisherigen Unglück. Erst später erkannte ich, dass diese Erklärung zu kurz griff, aber das spielte damals keine Rolle. Die Erleichterung über diese Erkenntnis verlieh mir Flügel. Schon bald wurde ich beauftragt, meinen ersten öffentlichen Vortrag zu halten, und ich hatte keine Scheu.

Es dauerte nicht lange, bis es in der Gruppe zu Konflikten zwischen den Männern und den Frauen kam. Obwohl man sich die Frauenfrage zum Thema gewählt hatte, hielten vor allem die Männer weiter an der marxistischen These von Haupt- und Nebenwiderspruch im Kapitalismus fest. Zuerst ginge es darum, den Hauptwiderspruch – das Verhältnis von Kapital und Arbeit – anzugehen, dem Nebenwiderspruch, der Frauenfrage, würde man sich später widmen.

Als wir 1969 im Kursbuch 17 zum Thema »Frau, Familie und Gesellschaft« Karin Schrader-Kleberts Aufsatz »Die kulturelle Revolution der Frau« lasen, flippte die Mehrzahl der Frauen in der Gruppe vor Begeisterung förmlich aus. Es war wie eine Erleuchtung. Die Autorin schrieb: »Der geschichtlich begründete Antagonismus zwischen Mann und Frau kann nur auf dem Wege der Selbstbewusstwerdung und Politisierung der Frau überwunden werden, die sie selbst erreicht und durchführt.« Und: »Die Situation der Frau gleicht der des Negers in Amerika, aber ihre Strategie muss eine andere sein, weil sie anders an ihren Unterdrücker gebunden ist.« (Für die diskriminierende Bedeutung des N-Worts gab es damals im deutschen Sprachraum noch keine Sensibilität.)

Die Afroamerikaner*innen können den Konsens mit der weißen Gesellschaft aufkündigen, schrieb Schrader-Klebert, die Frauen haben das Problem, durch die Liebe »an ihren Unterdrücker gebunden« zu sein. »Die Frau muss die gesellschaftliche Natur des Menschen entweder total verändern oder ihren Status als Opfer und Objekt, ihren Verzicht auf Selbstbestimmung bis in alle Ewigkeit perpetuieren.« Die spätere apodiktische Forderung der Lesbenbewegung »Feminismus ist die Theorie, Lesbianismus die Praxis« ist nicht umsetzbar. Es wird immer genügend Frauen geben, die »an ihren Unterdrücker gebunden« sind. Es geht also tatsächlich darum, »die gesellschaftliche Natur des Menschen« total zu verändern.

Die Begeisterung der Frauen ging den Männern in unserer Gruppe gegen den Strich. Danach brachte ein weiterer Konflikt den Arbeitskreis endgültig zu Fall. Anlässlich des Muttertags organisierten wir Frauen eine Demonstration gegen das Verbot des Schwangerschaftsabbruchs. Viele waren wir nicht auf der Mariahilferstraße, aber als einer der ersten lautstarken öffentlichen Auftritte zu diesem Thema sorgten wir für Medieninteresse. Im Radio sprach der Journalist, der mich interviewte, von demonstrierenden »Mädchen und Burschen«.

Nur ein einziger »Bursch« aus unserer Gruppe solidarisierte sich mit uns Frauen. Die anderen hielten die Forderung nach Abschaffung des »Abtreibungsparagrafen« 144 für reformistisch, also für das Gegenteil von revolutionär. Warum sie eigentlich nicht für die totale Veränderung der »gesellschaftlichen Natur des Menschen« waren, kann ich nicht erklären. Sie dachten wohl, der Mann sei der Maßstab, an den sich die noch nicht hinreichend emanzipierte Frau anzugleichen habe.

Dafür spricht auch unsere gruppeninterne Kleiderordnung. Frauen hatten Hosen zu tragen. Hosen mit ihren zwei beweglichen Beinen symbolisierten das Fortschreiten, Röcke, zumal lange, den Stillstand. Damals waren aber bodenlange indische Wickelröcke modern. Hippielook. Ich hatte einen, den ich selbstredend nicht zu den Gruppentreffen trug. Als ich einmal dergestalt angetan einem aus unserer Gruppe auf der Straße begegnete, flüchtete ich in einen Hauseingang. Das gab mir ernsthaft zu denken. Am Ende war unsere Gruppe nur noch Geschichte.

In den USA, in Frankreich, in der Bundesrepublik gingen die Frauen mit radikalen Forderungen auf die Straße und schrieben Bücher, die wir verschlangen. Genauso, wie ich in den frühen Sechzigern ungeduldig die Ankunft der Anti-Atombomben-Bewegung aus England erwartet hatte, wartete ich nun auf die Frauenbewegung. Doch diesmal ergriff ich selbst die Initiative. Angeregt durch einen Vortrag einer Vertreterin der Schweizer Frauenbefreiungsbewegung FBB, beschlossen sieben Frauen aus zwei verschiedenen Gruppen, dass wir den Schweizerinnen nicht nachstehen wollten.

Im Herbst 1972 fand in der Wiener Innenstadt das erste feministische Treffen statt, das wir damals aber noch nicht so nannten. Feminismus verbanden wir mit einer überwiegend in den USA beheimateten bürgerlichen Frauenbewegung. Und bürgerlich wollten wir auf keinen Fall sein. Noch hatte das männerdominierte linke Revolutionsdenken seinen Zugriff auf uns nicht verloren. Der Zulauf zu unserem improvisiert einberufenen Treffen war überwältigend. In einem Thesenpapier rechtfertigten wir uns zwar für den Ausschluss der Männer, doch sehr bald hatten wir anderes zu tun. Wir nannten uns »Aktion Unabhängiger Frauen« (AUF).

Mittlerweile war ich dreißig geworden und keine leere Hülle mehr. Ich hatte etwas zu sagen. Ohne es bewusst gewollt zu haben, nur kraft meiner jugendlichen Energie und Begeisterung für die »totale Veränderung der Natur des Menschen«, entwickelte ich mich zu einer sichtbaren Figur der österreichischen Frauenbewegung, die erst allmählich den Mut aufbrachte, sich feministisch zu nennen. Ich gehörte zu jenen, die keine Angst vor Journalist*innen hatten und begriffen, dass unser Kampf um Gerechtigkeit ohne die Medien keine Breitenwirkung erzielen würde, egal wie sie über uns berichteten. Während manche es ablehnten, mit männlichen Journalisten zu sprechen, stellte ich mich allen zur Verfügung, die etwas von mir wissen wollten, und nahm jede Einladung zu einem öffentlichen Auftritt an.

Je ablehnender das Publikum, desto streitbarer wurde ich. Ein zentraler Antrieb für meinen Aktivismus blieb die Liebe. Ich wollte die Kluft zwischen Männern und Frauen überwinden, die die heterosexuelle Liebe in meinen Augen unmöglich machte und für so viel emotionales Elend sorgte. Als zunehmend erfahrene Rednerin wurde ich zu Podiumsdiskussionen und Vorträgen eingeladen, gab Interviews für Radio und Fernsehen, schrieb zuerst in unserer feministischen Zeitschrift, wurde später von linken und bald auch von weniger linken Medien mit Kommentaren und Artikeln beauftragt und machte schließlich – reichlich spät für heutige Verhältnisse – den Journalismus und das Schreiben zu meinem Beruf. Mein Lieblingsprojekt waren meine – honorarfreien – Kommentare unter dem Titel »Fragen Sie Xantippe« in einer trotzkistischen Zeitschrift. Das Logo der Kolumne war eine kleine Schere.

Marginalisiert bin ich geblieben. Eine feste Anstellung mit sicherem Einkommen blieb mir verwehrt. Anders als heute, wo Margarete Stokowski ihre frechen Kommentare bei Spiegel Online veröffentlichen kann, war eine ausgewiesene Feministin für österreichische Mainstream-Medien untragbar. Als ich einmal kurzfristig beim Österreichischen Rundfunk in die engere Wahl kam, scheiterte meine Bewerbung daran, dass in der entsprechenden Redaktion bereits eine als Frauenrechtlerin bekannte Journalistin tätig war. Zudem waren wir befreundet. Zwei von unserer Sorte in einer Redaktion wollten sich die Herren nicht zumuten.

Doch das Schicksal der marginalisierten Freiberuflerin teile ich heute mit vielen meiner Kolleg*innen. Es ist auch überhaupt nicht schlimm, denn die fehlende Sicherheit wurde wettgemacht durch ein Mehr an Freiheit.

Gehört mein Bauch mir?

Über sechzig Jahre war ich alt, als wir uns wiedersahen. Er lebte im kalifornischen Sacramento, ich arbeitete in Beverly Hills an einem Auftragsprojekt reicher Leute. Als seine Mail in meinem Postfach auftauchte, out of the blue, erschien mir Telepathie durchaus glaubwürdig. David hatte gespürt, dass ich in der Nähe war, so muss es gewesen sein. Wir telefonierten – dieselbe Stimme; dasselbe immer ein wenig verlegene Lachen. Wenn ich mich erinnere, hatte er sich gedacht, wird auch sie sich erinnern.

Und ob ich mich erinnerte.

Er kam auf mich zu, mit seinem schiefen Lächeln, mit den linkischen Bewegungen eines großen, sehr dünnen Menschen, der eigentlich lieber einen Kopf kürzer wäre. Es war unglaublich: Er hatte sich nicht verändert. Nur der schwarze Haarschopf war weiß geworden. Und die Augenbrauen. Mit Unbehagen dachte ich an meinen eigenen feisten Körper. Im Auto lagen seine langgliedrigen Finger auf dem Lenkrad wie damals.

Er hatte ein Auto gehabt, Anfang der Sechzigerjahre in Wien, schon das war außergewöhnlich. Meine Familie hatte nie ein Auto besessen. Er trug weiße Sneakers und karierte Bermudas, aus denen seine mageren, dunkel behaarten Beine ungelenk herausschauten wie bei einem Teenager. Das gefiel mir.

In Beverly Hills versuchten wir uns zu erinnern. Zwischen uns lagen zwei unterschiedliche Leben auf unterschiedlichen Kontinenten. Hatten wir uns damals geliebt? Wir wussten es beide nicht. Als ich heiratete, Jahrzehnte später, warf ich unsere Korrespondenz in den Müll, ein Tribut an meinen neuen Mann, unzählige Luftpostbriefe zwischen Österreich und den USA. Manchmal schrieb ich mit Durchschlag, schöne, romantische Briefe voller Sehnsucht.

Für mich war David etwas Besonderes gewesen, der erste Mann, mit dem ich made love, auf Deutsch fehlt mir das passende Wort. Reichlich spät, aber so war das damals bei mir. Die Angst vor einer Schwangerschaft hemmte das Begehren.

USA