Kain der erste Vampir eBook

Kain – Der erste Vampir

Fay Winterberg

 

 

Information zur New-Steampunk-Age-Reihe

 

Teil 1

Wien – Stadt der Vampire

 

Teil 2

Das Amulett in der Wüste

 

Teil 3

Kain – Der erste Vampir

 

Teil 4

Erscheint bald im Art Skript Phantastik Verlag

Impressum

 

 

Über die Autorin

 

Fay ist ein Kind der späten 80er Jahre und diesem Jahrzehnt in allem außer dem Kleidungsstil treu geblieben. Schon früh entdeckte sie die Liebe zum Unheimlichen, so war ihr Lieblingsmärchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Später faszinierten Sie Filme wie »The Addams Family«, »Nightmare before Christmas« und »Beetlejuce«. Der erste Vampir, in den sie sich verknallte und der auch gleichsam Ursprung ihrer Vernarrtheit zu Vampiren wurde, war Lestat und diese Liebe dauert bis heute an. Durch Pop-Musicals wie »Tanz der Vampire«, Animes wie »Vampire Hunter D« und Mangas wie »Trinity Blood« vertiefte und erweiterte sie ihr Wissen um die dünster-schönen Wesen der Nacht. Kein Wunder, dass bald der Wunsch in ihr erwachte, selbst Vampir-Geschichten zu schreiben.

 

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Zeitstrahl

 

Dieses Buch spielt im 23. Jahrhundert. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Sie – werter Leser – mit der einen oder anderen historischen Tatsache nicht vertraut sind. Um Ihnen einen kleinen Einblick in die Ereignisse der bald bevorstehenden Zukunft zu geben, wurde für Sie dieser Zeitstrahl angelegt. Ich hoffe, Sie empfinden ihn als nützlich.

 

Technikum | 1989 bis 2033

Mit dem Fall der Berliner Mauer wurde das Technikum Zeitalter begründet. Diese Jahrzehnte sind geprägt von technischen Fortschritt und dem Streben nach immer leistungsstärkeren Gerätschaften.

 

Interstellar-Ära | 2033 bis 2090

Auch bekannt als Das neue Raumfahrtzeitalter. Eine kurze Zeitspanne geprägt von mehreren bemannten Flügen ins Weltall. Nach dem Scheitern der letzten großen Mission und dem Absturz des Raumschiffes Asgard 7 nahm die Interstellar-Ära ein rasches Ende und wich sogleich den Jahren der Jagd.

 

Die Jahre der Jagd | 2090 bis 2100

Mit der Offenbarung von Arcadiel DeBohéme, das Vampire und andere mystische Wessen wahrhaftig existieren, begann auch die weltweite Jagd auf sie.

 

Das New Steampunk Age | 2100 bis heute

Der Erlass der Neuen Europäischen Gesetzte sicherte den Frieden zwischen menschlichen und übernatürlichen Wesen. Der Krieg hat die Ressourcen der Erde aufgebraucht und so besinnen sie sich auf die alte Technik der Viktorianischen Ära zurück und verbinden diese mit den Errungenschaften des Technikum-Zeitalters.

Impressum

 

 

Copyright © 2018 Art Skript Phantastik Verlag

Copyright © 2018 Fay Winterberg

 

 

Lektorat/Korrektorat » Marion Lembke

www.mysteryofbooks.de

 

Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Cover-Illustration » Barbara Brosowski Utzinger

www.akeyla.com

Innsenseiten-Illustrationen » Origins Digital Curio

über www.creativemarket.com

Autorenfoto » David Knospe | www.davidknospe.de

 

Der Verlag im Internet

www.artskriptphantastik.de

 

Alle Personen und Handlungen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

Über die Autorin

 

Fay ist ein Kind der späten 80er Jahre und diesem Jahrzehnt in allem außer dem Kleidungsstil treu geblieben. Schon früh entdeckte sie die Liebe zum Unheimlichen, so war ihr Lieblingsmärchen »Von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen«. Später faszinierten Sie Filme wie »The Addams Family«, »Nightmare before Christmas« und »Beetlejuce«. Der erste Vampir, in den sie sich verknallte und der auch gleichsam Ursprung ihrer Vernarrtheit zu Vampiren wurde, war Lestat und diese Liebe dauert bis heute an. Durch Pop-Musicals wie »Tanz der Vampire«, Animes wie »Vampire Hunter D« und Mangas wie »Trinity Blood« vertiefte und erweiterte sie ihr Wissen um die dünster-schönen Wesen der Nacht. Kein Wunder, dass bald der Wunsch in ihr erwachte, selbst Vampir-Geschichten zu schreiben.

 

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Prolog | Kambodscha

 

Siem Reap war eine kleine Provinzhauptstadt, die sich kaum von anderen Siedlungen Kambodschas unterschied. Das Einzige, was sie berühmt machte, war ihre Nähe zur Tempelanlage von Angkor Wat. Das monumentale Heiligtum lockte noch immer Scharen von Touristen in die Stadt. Mittlerweile landeten zwei Mal täglich Zeppeline oder Luftschiffe mit zahlender Kundschaft auf dem alten Lufthafen.

Das Nachtleben Siem Reaps gestaltete sich schillernd, ja sogar aufregend. Mit dem Schwinden der Tageshitze illuminierte man die antiken Neonröhren. Das sonst einfarbige Stadtbild tauchte in ein Meer aus rotem, grünem und blauem Licht. Bis weit nach Mitternacht waren die Marktstände geöffnet, boten Gewürze, Kleidung und einheimische Spezialitäten feil.

Doch in manchen Nächten bemerkten die Bewohner von Siem Reap neben den Touristen noch etwas anderes in ihrer Stadt. Ebendiese Wesen, die manchmal den Weg zu den antiken Tempelanlagen aufsuchten, kannten sie aus ihren ältesten Erzählungen. Geschichten, die Eltern an ihre Kinder weitergaben. Kein Geschwätz für die Reisenden. Nein, dies waren ernste, historische Botschaften, nur für die Ohren der in der Ankor Wat-Region ansässigen Bewohner bestimmt. Jene Erscheinungen gehörten zu ihrem Erbe, genau wie der Tempel. Trotzdem vergaßen viele unter ihnen das Wissen, weil sie es für Humbug der Alten hielten.

So bemerkte kaum jemand die blasse Gestalt, die sich in dieser schwülen Nacht leichten Schrittes durch die Stadt bewegte. Wer das Wesen erblickte, wie auch die uralten Geschichten kannte, der mochte ihn sogar erkennen. Der Mann mit der bleichen Haut, dem farblosen Haar und den roten Augen. Bereits zu Zeiten, da Ankor Wat noch jung und Siem Reap ein kleines Dorf gewesen war, hatte man ihn durch die verschlungenen Waldpfade wandern sehen.

Sein Aussehen überdauerte in den Legenden der Stadtbewohner. Niemand stellte sich ihm in den Weg, sprach mit ihm oder verlor ein Wort über ihn an einen Außenstehenden. Es war eine Jahrhunderte geltende, stille Übereinkunft zwischen Siem Reap und diesen Wesen. Sie würde bestandhalten, bis die Stadt eines Tages in der Erde versank, aus der sie einst entstanden war.

Daran wollte der Mann jedoch nicht denken. Sein Ziel war die Tempelanlage von Ankor Wat, besser gesagt, die geheimen Kammern und Gänge darunter. Zielstrebig lief er durch die Siedlung. Statt alten Trampelpfaden wandelte er jetzt auf befestigten Straßen.

Mitternacht war lang vergangen und die letzten Touristen verließen das hell illuminierte Heiligtum. Selbst im milden Frühjahr fiel das Thermometer nachts nicht unter 25 Grad. Die Menschen schwitzten, beschwerten sich über die hohe Luftfeuchtigkeit und redeten von kühlen Cocktails im Hotel. Das bleiche Wesen kümmerte sich nicht um die Hitze. Ob heiß oder kalt fiel ihm meist nur an der Kleidung auf, die die Leute in seiner Umgebung trugen. Sein Temperaturempfinden hatte er längst verloren.

Die Lichter, die Ankor Wat für die Touristen beleuchteten, erloschen schnell und auch die letzten Arbeiter verließen die antike Stätte. Die bleiche Gestalt nahm eine versilberte Taschenuhr aus der Westentasche und prüfte die Zeit.

Kurz vor zwei Uhr, eine schöne Zeit, dachte er sich. Mit seinem Daumen wischte er eine dünne Schicht Kondenswasser von dem Glas. Er musste gut auf diese Uhr aufpassen, Eliasar hatte sie ihm einst geschenkt. Sie war zu kostbar, um den wilden Temperaturschwankungen zum Opfer zu fallen, denen er sich auf seinen Reisen aussetzte. Sein unsterblicher Körper konnte innerhalb eines Wimpernschlages von der Antarktis nach Afrika reisen, die Technik, die er mit sich führte, litt jedoch darunter.

Er stand vor der steinernen Brücke, die über den großen Wassergraben führte, den die Architekten dieses Meisterwerkes in rechteckiger Form um die Tempelanlage herum angelegt hatten. Die Verbindung ging nahtlos in einen befestigten Weg über, der direkt auf den Tempelkomplex zuführte. Vor ihm erhob sich der riesige Zentralturm, umringt von den vier kleineren Türmen. Jedes für sich ein kunstvoll, aus Sandstein gefertigtes Monument für die Ewigkeit.

Nun, da nur noch der Mond sein Licht auf das Arial warf, fluoreszierte das Vampirhaar in der Dunkelheit. Für den bleichen Mann war hier die Zeit stehen geblieben. Kaum etwas hatte sich verändert. Er fühlte sich um Jahrhunderte zurückversetzt. Ein merkwürdiges Gefühl der Nostalgie überkam ihn. Doch schließlich war es auch diese Regung, die ihn hierher geführt hatte. Hier, in dem unterirdisch angelegten Tunnelsystem ruhte eines seiner Kinder, es wurde Zeit, den Schlaf zu beenden.

Riesiges Wurzelwerk hatte sich das Innere Ankor Wats erobert. Fest verschlungen mit dem Gestein war es der Grund, warum einige der Tempelareale überhaupt noch standen.

Zielstrebig setzte der Mann seinen Weg fort, vorbei an durch die Zeit glatt geschliffenen Statuen und knorrigen Ranken. Die später erbauten Gittertüren hielten die Touristen auf, ihn jedoch nicht. Er überwand sie fast spielerisch, schloss sie pflichtbewusst hinter sich. Alte Treppen führten ihn hinunter in die Kellergewölbe, durch versteckte Geheimgänge zu Abschnitten des Tempels, die noch nie ein Mensch betreten hatte.

Er und seinesgleichen hatten die Tagwandler damals davon überzeugt, nicht nach den geheimen Unterkünften seiner Art zu suchen. Soweit er wusste, hatten sie es auch nie versucht. Dieser Tage war das Wissen um die Kammern und Gänge von der Zeit verschluckt worden. Nur noch an bleiche Wesen wie ihn erinnerte man sich. Früher nannte man sie bei einem anderen Namen, heute sprachen sie von Vampiren. Ein klangvolles Wort, es gefiel ihm.

Vor einer Wand, die sich nicht im Geringsten von den tausend Wänden der Anlage unterschied, fand er das Ziel seiner Reise. Mit seinen hellen Fingernägeln fuhr er über das kalte Gestein, bis er auf eine Unebenheit stieß. Die langen Nägel gruben sich in den Fels hinein und mit einem Ruck, der einem Menschen das komplette Nagelbett zerstört hätte, riss er eine Klappe auf. Zwei blaue Knöpfe, eine kleine, rechteckige Fläche und darunter ein Nummernfeld kamen zum Vorschein. Alles war unterlegt mit einer Platte aus halbtransparentem Hartplastik. Dahinter konnte der Vampir eine Fülle von Schaltkreisen sowie Drähten erkennen.

Gleichzeitig drückte er auf die beiden blauen Knöpfe und mit einem lauten Surren setzte sich eine Maschinerie in Gang, welche die komplette Unterwelt von Ankor Wat umfasste. Nach nur wenigen Sekunden leuchtete das Feld ebenfalls blau auf und er biss sich in den Daumen. Ein kleiner Tropfen Blut fiel auf das Oval im Inneren des Rechtecks und der Finger folgte ihm, um anschließend gescannt zu werden. Blau wechselte zu Grün und unterlegte das Nummernfeld in der gleichen Farbe. Schnell tippte er die Zahlenfolge 05120901190118 ein und schlug die Klappe wieder zu, sodass sie erneut nahtlos in der Wand versank.

Der Erdboden erbebte, woraufhin der Vampir einen Schritt zurück tat. Schließlich öffnete sich eine große Tür im Stein, die sich erst nach hinten, anschließend zur Seite wegzog.

Im Inneren des Raumes verschmolz die alte Architekturkunst von Ankor Wat mit den Errungenschaften des Technikum-Zeitalters. In den Steinwänden befanden sich fünf schmale Apside, die runde Behälter aus Metall beherbergten. Sie waren mit Blut gefüllt, wie ein kleines Glasfenster verriet. Schläuche führten von den Behältnissen zu einem großen, kapselförmigen Metallsarg in der Mitte der Kammer.

Der Vampir trat ein, schritt darauf zu und streichelte zärtlich über das kalte Metall. Anschließend legte er den Kopf auf die Oberfläche und lauschte. Er benötigte weder all die Maschinerie noch Monitore, die den Raum bevölkerten. Er brauchte nur sein Gehör, das ihm verriet, wie es dem geliebten Wesen ging, das geschützt in dem Metallsarkophag schlummerte. Er sah ihre Träume vor seinem inneren Auge tanzen, sie zauberten ein seltenes Lächeln auf die kalten Lippen.

»Guten Abend.«

Die Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Er wusste nicht, was ihn mehr schockierte: Die Frau, ihre unbemerkte Anwesenheit hier, oder der lange Holzpflock, den sie ihm gerade ins Herz gerammt hatte.

 

 

1 | Auf der falschen Ebene

 

Lilith öffnete ihre Augen und schloss sie sofort wieder. Etwas Grelles blendete. Sie blieb liegen und ihre Fingerspitzen tasteten über den harten Boden. Lackiertes Holz, das sich merkwürdig warm anfühlte.

Sie neigte den Kopf zur Seite, das lange Haar fiel ihr ins Gesicht. Unter diesem Schleier versteckt wagte sie einen erneuten Blick. Der gelbe Schein wurde durch ihre Mähne geschwächt.

Langsam erhob sie sich.

Keine Schmerzen.

Komisch, warum hatte sie erwartet, welche zu haben?

War da nicht so etwas wie einen Unfall gewesen?

Vorsichtig strich sie sich das Haar aus dem Gesicht. Die Helligkeit schmerzte nicht mehr. Die schwammigen Lichtpunkte verwandelten sich in Kerzen, die in großen Kandelabern brannten.

Lilith blickte zu Boden.

Ihr Leben gehörte der Kunst vergangener und vergessener Zeiten. Wie sie die Fläche so betrachtete, erkannte sie schnell eine hölzerne Intarsie. 17. Jahrhundert. Oder doch 18.? Nein, ganz sicher 17. Meterweit erstreckte sich das Bild eines Pfaus und einer Schlange, die einander umschlungen hielten, über den Boden und endete erst in den Schatten hinter den großen Kerzenständern.

Sie sah an sich herunter. Ein Kleid mit langer Schleppe hüllte ihren Körper ein.

»19. Jahrhundert«, flüsterte sie. »Warum passt meine Kleidung nicht zur Intarsie?«

Sie drehte sich. Das beige gestreifte Gewand schwang mit. Goldene Spitze und florale Motive aus grünem Garn tanzten im Schein der Lichter. Sie war sicher, ein solches Kleid nie besessen zu haben.

»Steht dir gut.«

Lilith wandte sich um und sah Phineas aus den tiefen Schatten hinter den Kerzenleuchtern auf sie zu kommen. Ihre Kleidung passte zusammen. Er trug eine dieser wunderschönen Jacken mit stark zurückgeschnittener Saumkante und knielangen Schößen. Sie war dunkelgrün mit beigen Ornamenten, Hosen und Stiefel fingen die Farben von Lilith Kleid auf.

»Schön, nicht allein zu sein«, merkte sie an, atmete erleichtert auf und schritt zu ihm. »Wo sind wir?«

»Das wollte ich dich gerade fragen.«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung, doch es gefällt mir hier.«

»Mir auch«, gab er zu.

Sie umarmten einander, seine Nähe erfüllte sie mit Wärme. In dieser Welt gab es nur sie beide.

Für immer.

Denn genau so musste es sein, hatte sie im Gefühl.

Nur warum?

»Irgendwas ist passiert«, meinte sie benommen, löste sich aus der Umarmung und griff sich fahrig an die Stirn. »Ich habe etwas Wichtiges vergessen.« Sie sah ihn an. »Ich bin gestorben …«

Gerade als der Vampir den Mund öffnen wollte, um etwas zu erwidern, nahm Lilith eine Gestalt wahr, die neben ihnen ins Licht der Kerzen trat. Der Person folgte noch eine zweite. Sie verstummten beim Anblick der Neuankömmlinge

»Lilith.«

Die Angesprochene verfiel sofort in eine Starre. Sie kannte diese Stimme und zitterte, als ihr gewahr wurde, wen sie vor sich hatte. Dort stand sie, die schönste Frau der Welt, genau so, wie Lilith sie in Erinnerung behalten hatte. Ein Petticoat-Kleid und hohe, gelbe Stilettos dazu. Ihr kurzes Haar zu einem Pixie-Cut geschnitten und mit einem Band verziert.

»Mama …«, brachte die Halbvampirin nur heraus und Tränen bahnten sich den Weg über ihre Wangen. Doch gleichzeitig wurde ihr erneut klar, dass etwas nicht stimmte. Sie blickte zu Phineas. Die andere Gestalt war zu ihm getreten. Sie erkannte ihn sofort an seinen langen, rotblonden Haaren. Es war Sevilian.

»Lilith, mein Häschen«, sprach ihre Mutter sanft, legte ihr die Hände auf die Schultern und sah sie mit einem Lächeln an. »Du gehörst nicht auf diese Ebene.«

»Aber es ist doch alles so perfekt«, sagte sie verzweifelnd. Selbst der milde Duft einer Frühlingswiese, der Porzia immer begleitete, tanzte durch die Luft.

»Nein, perfekt ist nur die Welt, aus der du gekommen bist«, gab die Mutter ihrer Tochter zu verstehen. »Dies hier ist nur ein Trugbild. Du musst zurück zu den Lebenden.«

Sie blickte sich erneut zu Phineas um. Auch dieser war in ein Gespräch mit seinem Erschaffer vertieft gewesen. Zeitgleich schienen sie zu begreifen, wo sie waren, und er wandte sich zu ihr. Auf dem grünen Stoff seiner Jacke zeichneten sich im Schulterbereich dunkle Flecken ab. Lilith betrachtete ihre eigene linke Schulter und sah Blut daran hinunterlaufen. Der Anblick löste weder Angst noch Panik in ihr aus, nur Irritation machte sich in ihr breit.

»Ihr müsst diese Welt nun verlassen!«

»Nein …«

Die Hände ihrer Mutter legten sich um ihr Gesicht, Wärme und Geborgenheit hüllten Lilith ein. »Ich liebe dich, besuch deinen Opa!« Mit diesen Worten stieß Porzia sie zurück und Lilith fiel in die Dunkelheit.

Alle Kerzen erloschen, sie war allein und für einige Sekunden befand sie sich im freien Fall. Dann wurde sie mit Stricken gebunden und Stöcken niedergeschlagen. Sie kämpfte mit aller Macht dagegen an, doch die Fesseln zogen sie hinunter in eine enge Hülle, in der sie sich kaum bewegen konnte.

Lärm prasselte auf sie ein, laute Stimmen und das schrille Piepen elektronischer Geräte. Es traf sie ein harter Schlag gegen die Brust, sie riss die Augen auf und spuckte im gleichen Moment eine Fontaine Blut aus.

»Wir haben sie wieder!«

»Stabilisieren!«

Lilith verstand nicht, was um sie herum passierte. Jemand drückte ihr etwas auf den Mund und ihre Augen flackerten. Sie konnte ihre Mutter sehen, wie sie ihr zum Abschied winkte, dann wurde alles schwarz.

 

2 | Vampirgift und Gespräche

 

»Was soll das heißen: Klinisch tot!

»Eliasar, du bist Arzt, du solltest wissen, was das bedeutet!«

»Selbstverständlich! Doch was heißt es im Hinblick auf meine Tochter?«

»Nun ich … ich kann dir beim besten Willen nicht sagen, was da passiert ist. Normalerweise aktiviert sich das Vampirgift in weniger als 60 Sekunden, nachdem das Herz zum Stillstand gekommen ist.«

»Und wie lange stand ihr Herz still?«

»Fast fünf Minuten.«

Lilith lauschte. Mit der Stimme ihres Vaters überkam sie ein starkes Gefühl der Sicherheit. Sie war allerdings zu schwach, um die Augen zu öffnen.

Papier raschelte.

»Aber ihr Blutbild …?«

»Hat sich kaum verändert.«

»Das heißt?«

»Das Vampirgift hat sich nur geringfügig ausgebreitet und sofort gestoppt, als das Herz wieder zu schlagen begann«, meinte die fremde Stimme. »Sagen wir es so, wenn sie vorher ein Halbvampir war, also 50% Mensch und 50% Vampir, dann ist sie jetzt so was wie ein Dreiviertelvampir

»Nun, das ist …«

»So etwas ist noch nie vorgekommen, freu dich!«

»Das tue ich«, gab die Stimme angespannt zurück.

»Davon merke ich nicht viel.«

»Papa …«, gab Lilith leise von sich und wandte den Kopf in die Richtung, aus der seine Stimme kam.

»Euthalia!« Er strich ihr durchs Haar und sie öffnete mühsam die Augen.

Sie waren in einem Krankenhaus, nirgendwo sonst war alles so klinisch rein und weiß. Lilith lag in einem Bett, angeschlossen an mehrere Geräte, die ihre Vitalwerte überprüften. Überall blinkte es und piepste, ihre Augen waren sofort überfordert und sie schloss sie für einen Moment wieder. Beim zweiten Versuch erschlug ihre Umgebung sie weniger.

»Wie komm ich hierher?«, wollte sie wissen. »Ich erinnere mich an nichts.«

»Das liegt an den Medikamenten.« Elias strich ihr eine Haarsträhne aus den Augen. »Die Schmerzmittel schränken das Kurzzeitgedächtnis ein.«

»Hm …«, machte sie und hatte im nächsten Moment vergessen, was er gesagt hatte.

»Wie fühlst du dich?«

»Platt«, flüsterte sie schwach.

»Haha, platt war nur dieser Spruch!«, meinte der Arzt hinter Elias.

»Das ist …«

»Adrian Falls«, vollendete Lilith den Satz ihres Vaters. »Ich möchte … eine Liste haben … von all den Promis, die du kennst.«

Elias lachte. »Nun, das Langzeitgedächtnis scheint im besten Zustand zu sein.«

»Siehst du, ich sagte dir doch, es geht ihr gut«, meinte der Arzt »Und dem Baby auch.«

»WAS?«, fuhr Elias hoch.

Während ihr Vater aufsprang, musste Lilith husten und versuchte sich gleichzeitig daran zu erinnern, wann sie das letzte Mal ungeschützten Sex gehabt hatte.

Doch Adrian lachte nur laut. »O Mann, du solltest dein Gesicht sehen, Lias! Ich konnte es nicht lassen, diesen Satz noch mal zu sagen!«

»Deine dummen Witze gehen mir auf die Nerven.«

Lilith traf die Erkenntnis. Ihr letztes Mal war in Japan gewesen … mit Toshi … einer Frau. Ihr vernebeltes Hirn fing grad an von süßen asiatischen Babys zu schwärmen, als die Biologie ihr einen Strich durch die Rechnung machte. Und hatte Adrian nicht gerade von einem Scherz gesprochen? Sie konnte sich nicht konzentrieren.

»Wie lange war ich weg?«, wollte sie wissen.

Ihr Vater wandte sich wieder zu ihr um. »Klinisch tot warst du fünf Minuten, geschlafen hast du danach fast vierundzwanzig Stunden.«

Bei diesen Worten sah er älter aus, die Falten in seinem Gesicht schienen sich sekündlich zu vertiefen. Erneut strich er ihr Haar zurück. Sicherlich war er jede freie Minute an ihrem Bett gewesen.

»Oh …«, gab sie von sich. »Hast du Velvetin Bescheid gegeben?«

»Was?« Elias starrte sie an.

»Velvetin, dein Sohn, mein Bruder. Hast du dich bei ihm gemeldet?«

Fahrig fuhr er sich nun durchs eigene Haar und sah seine Tochter irritiert an. »Nun …«

Lilith wurde schwammig klar, dass er all seine Pflichten vergessen hatte. »Und Balthasar? Hast du in der Residenz angerufen?«, stocherte sie weiter.

»Also, ich …«

»Oh, Vater, hast du überhaupt irgendwen informiert?«

»Ich war damit beschäftigt, mich um Mircea zu kümmern«, gab er zurück.

»Was ist mit ihm?«

Elias sah sie besorgt an. »Erinnerst du dich nicht?«

»An was soll ich mich erinnern?«, fragte sie und versuchte, die Schultern kreisen zu lassen. »Hast doch selbst gesagt … irgendwas mit Kurzzeitgedächtnis …«

»Swati«, bemerkte ihr Vater, als würde das alles erklären.

Doch Lilith verstand überhaupt nichts. »Was ist mit ihr?«

»Euthalia, sie war mit dir in diesem Club und wurde nirgendwo gefunden.« Elias sah sie an, als mache er sich nun doch ernsthaft Sorgen um den Zustand ihres Gedächtnisses.

Lilith seufzte nur. »Nein …« In ihrem Kopf machte plötzlich nichts mehr Sinn.

»Wie bitte?«

»Hat jemand Swati angerufen?«, bohrte sie nach.

»Was?«

»Würdest du mir bitte mein Bell reichen?«

Elias sah sie irritiert an, griff dann jedoch in eine Tasche auf dem Nachttisch und zog ihr Mobiltelefon hervor, dessen Gehäuse ebenso beschädigt war wie das seiner Besitzerin. Lilith nahm es entgegen, wählte Swatis Nummer und wartete. Dabei versuchte sie sich nicht über den Blick ihres Vaters aufzuregen, der immer mitleidiger wurde.

»Ja?«, meldete sich eine verschlafene Stimme am anderen Ende der Leitung.

»HÖR AUF DIESE ARSCHGEIGE ZU VÖGELN, RUF DEINEN VATER AN UND SAG IHM, DASS DU NOCH AM LEBEN BIST!«, plärrte sie in den Hörer und legte auf.

Elias sah sie nur sprachlos an.

»Arcadiel«, gab sie ihm zur Antwort. »Ich war nur ihr Alibi, damit sie ihrem Vater nicht beibringen musste, dass sie mit ihm durch die Betten hüpft.«

Elias atmete geräuschvoll aus, während Adrian Falls lachte. »Komm, sag Mircea Bescheid. Deine Tochter ist bei mir in guten Händen.«

Lilith spürte noch, wie ihr Vater ihr einen Kuss auf die Stirn gab. Dann hörte sie die Tür ins Schloss fallen und schlief wieder ein.

 

3 | Der Gast

 

Liliths Schlaf war traumlos und als sie erwachte, fühlte sie sich zwar noch immer nicht fit, jedoch ein wenig gestärkter. Sie drehte den Kopf zum Fenster. Nun, da das elektrische Licht erloschen war, erhellte schwaches Mondlicht und das sanfte Blinken kleiner Dioden an den Gerätschaften den kargen Raum.

Sie hatte kein Zeitgefühl, die Nacht war tief und im ersten Moment vernahm sie nichts um sich herum. Doch dann hörte sie Geräusche; Stimmen, in einem Flur viele Meter entfernt, das leise Weinen eines Mannes ein Stockwerk höher und irgendwo duschte jemand. Plötzlich nahm sie auch den schwachen Gestank billiger Zigaretten wahr, der den eintönigen Desinfektionsmittelgeruch ihres Zimmers übertünchte. Gleichzeitig überkam sie ein eigenartiges Gefühl und es dauerte eine Weile, bis sie es deuten konnte.

Sie fühlte sich beobachtet. Langsam wandte sie ihren Kopf der Tür zu. Das Mondlicht beschien nicht den ganzen Raum, es warf grotesk verästelte Schatten auf den Boden und ihre Bettdecke.

Ein Schauer durchfuhr Lilith. Stand da jemand neben der Tür? Sie kniff die Augen zusammen, was sofort zu Kopfschmerzen führte.

»Guten Abend, Lilith«, vernahm sie eine vertraute Stimme.

Die Gestalt an der Tür kam näher und setzte sich auf den Stuhl an ihrem Bett, sodass das fahle Mondlicht dem Gesicht Konturen verlieh. Die Fragmente des Gesichts, der Zigarettengeruch und die Stimme fügten sich in Liliths Kopf zu einem Bild zusammen.

»Raphael«, hauchte sie erleichtert und besorgt zugleich. »Mir war doch, als hätte ich dich gesehen.«

Er lächelte, oder zumindest verzog er seine Mundwinkel ein wenig, was bei ihm einem Lächeln am nächsten kam.

»Was möchtest du?«, fragte sie matt.

»Ich habe einen Auftrag und benötige deine Hilfe«, verkündete er, als hätten sie sich gerade in einem Café getroffen.

»Raphael, es mag dir nicht aufgefallen sein, ich liege im Krankenhaus«, gab sie matt zurück, »ich könnte dir nicht mal helfen, wenn ich es wollte«, und dabei hob sie beide Arme leicht an, um ihn auf diverse Schläuche und Kanülen aufmerksam zu machen, mit denen sie verbunden war.

Er nickte. »Das ist mir schon bewusst, ich bin ja nicht blind.«

»Ich habe Freunde verloren …«, setzte Lilith an, ihre Erinnerungen kamen plötzlich im Sekundentakt zurück. Sie hatte genau gewusst, dass Swati nicht in der Bar gewesen war, doch erst jetzt flüsterten ihre Gedanken ihr zu, wer alles zurückgeblieben war.

»Scheiße«, zischte sie und bei dem Gedanken an Lucior wurde ihr schlecht. »Ich weiß nicht mal genau, wen ich alles verloren hab!«

Raphael sah sie an, als könnte er ihre Gefühle nicht nachvollziehen. Wahrscheinlich war dem auch so. Trauer gab es für ihn nicht. »Nun gut, nimm dir die Zeit, die du brauchst. Ich bin in deiner Nähe.« Mit diesen Worten erhob er sich und verließ das Zimmer.

Lilith seufzte tief. Raphael war der Gleiche geblieben, seit sie ihm während ihres Studiums in London zum ersten Mal begegnet war. Jedoch war er kein Student gewesen. Nein, damals hatte er verblutend in einer Gasse gelegen und sie alarmierte den Notarzt. Erst später erfuhr sie von seiner Arbeit als Kopfgeldjäger, der vornehmlich die übernatürlichen Wesen jagte, die sich nicht an die Regeln hielten.

Vor allem war auch er ein Halbvampir. Er rauchte billige, amerikanische Zigaretten und trank gerne Schwarzbier. Mehr wusste sie nicht von ihm und er hatte sicher noch viel weniger Informationen über sie. Trotzdem kontaktierte er sie fast regelmäßig, wenn er eine Frage zu einem Artefakt, einem Ort oder einem Kunstobjekt hatte.

Hätte er sie in der Vergangenheit nicht mehrmals um Hilfe gebeten, wäre ihr Wissen um legendäre sowie mystische Kampfgegenstände und verschollene Orte nie so erweitert worden. Sie recherchierte gerne für ihn. Seine einflussreichen Verbindungen ermöglichten es ihm, so viel zu reisen und Waffen zu erstehen oder selbst anzufertigen, die andere Leute ihre letzten Ersparnisse kosten würde. Zumindest vermutete Lilith das.

Musste er ausgerechnet jetzt in ihrem Krankenzimmer auftauchen und so kryptische Kommentare von sich geben? Sicherlich brauchte er mehr als nur ein paar Recherchen. Und das alles kurz nach diesem Anschlag. Ihr Kopf schmerzte und sie wünschte sich, ihr Kurzzeitgedächtnis würde wieder aussetzen.

»Nicht gut …«, erzählte sie dem leeren Zimmer. »Alles nicht gut …«

 

 

4 | Vampirblut

 

Lilith schlug die Augen auf, heller Sonnenschein flutete das Zimmer. Kraft durchströmte sie, mehr als das, sie fühlte sich so kräftig, als könnte sie Bäume ausreißen!

»Oh, schon wach?«

Sie sah zur Seite. Adrian Falls stand neben dem Infusionsständer. Drei Beutel mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten hingen daran und ihr Inhalt floss über dünne Schläuche in Liliths Arm. Der Arzt hantierte gerade an einer der Schnittstellen herum.

»Ich hab deinen Medikamenten ein paar Vitamine hinzugefügt«, beantwortete er ihren fragenden Blick. »So eine schnelle Reaktion. Sehr interessant.« Er kritzelte etwas auf sein Klemmbrett.

»Vitamine?«, fragte sie und versuchte sich aufzusetzen.

»Ja, funktioniert bei Halbvampiren immer sehr gut«, klärte er sie auf und verstellte dann das Kopfende ihres Bettes, sodass sie annähernd aufrecht saß.

»Bin ich schon entlassen?«, fragte Lilith hoffnungsvoll.

»Nein, das wäre noch zu früh. Ich behalte dich in jedem Fall bis heute Abend hier, dann sehen wir weiter. Und jetzt Augen auf.«

Er war an sie herangetreten und leuchtete mit einer kleinen Lampe in ihr rechtes Auge. Doch kaum hatte der Lichtschein ihre Iris erreicht, kniff sie ihre Lider zusammen.

»Lichtempfindlich?«, fragte er überflüssigerweise. »War das schon immer so?«

»Nein«, gab Lilith zurück und blinzelte.

»Schau mal aus dem Fenster«, meinte er und schrieb erneut etwas in seine Unterlagen.

Sie blickte zur Seite, das helle Sonnenlicht machte ihr nichts aus. »Das passt.«

»Empfindlichkeit gegenüber elektronischem Licht ist unter Vampiren weit verbreitet«, klärte er sie auf. »Kann in deinem Fall auch mit dem Trauma nach dem Unfall zu tun haben. Zur Abendvisite schau ich noch mal vorbei.«

»In Ordnung«, meinte sie, dann kam ihr ein Gedanke. »Wie laufen Ihre Forschungen?«

Adrian wandte sich zu ihr um. »Welche genau?«

»Die zur Bekämpfung von HIV mittels Vampirblut.«

»Oh, du hast davon gelesen?«

»Es stand in einer Wiener Zeitung.«

Er lächelte sanft. »Nun, es ist leider nicht so erfolgreich verlaufen, wie ich es mir erträumt hatte. Das Vampirblut kann den Virus nur temporär bekämpfen. Für eine vollständige Genesung müsste der Patient selbst zum Vampir werden und das ist nicht für jeden eine Option.«

»Das ist echt schade«, gab Lilith zu. »Wäre mal ein richtig großer Schritt gewesen.«

»Ja, aber ein paar Amerikaner meinten, ich würde unter dem Vorwand der Medizin versuchen, Menschen gegen ihren Willen zu Vampiren zu machen.«

Sie stieß geräuschvoll Luft aus. »Klingt nach diesen Das Leben gehört den Lebenden-Typen.«

»Ja, deren amerikanische Anhänger sind ganz scharf darauf mich loszuwerden«, gab er niedergeschlagen zu und hängte die Krankenakte ans Bettende.

»Hatte mein Vater auch mit denen Probleme?«, wollte Lilith wissen.

»Elias wird von vielen gehasst, gewöhn dich dran.«

»Na, das klingt ja aufmunternd«, meinte sie sarkastisch und lehnte sich wieder in ihre Kissen zurück.

»Er ist ein uralter Vampir und steht im Licht der Öffentlichkeit«, erklärte Adrian und trat neben ihr Bett. »Das führt immer zu Ärger. Die Wenigsten tun sich das freiwillig an.«

»Wäre er lieber in der Medizin geblieben«, dachte Lilith laut. »Früher war unser Leben auf jeden Fall viel ereignisloser.«

»Dein Vater war ein großartiger Arzt«, gab Adrian mit einer sehr milden Stimme zu. »Ich bin, ehrlich gesagt, sehr froh, dass er nach Porzias Tod in die Politik gegangen ist. Er hätte auch ein kriminelles Genie werden können und das wäre für alle Seiten sehr unschön geworden.«

Lilith konnte nicht erkennen, ob der Arzt einen Scherz machte oder das Gesagte ernst meinte.

»Nun, genug von Amerika, ich bin froh, wieder in Good Old Europe zu sein. Hier muss ich mich nur mit den Vampirprinzen rumschlagen, wenn ich das Land wechsle.«

Lilith lachte. »Ist das angenehmer?«

»Ein bisschen schon«, meinte er, grinste und ging zur Tür. »Melde dich, falls sich etwas verändern sollte«, sagte er und deutete auf einen roten Knopf an ihrem Bettgestell.

»Geht klar, Doc«, gab sie zur Antwort und machte das Peace-Zeichen.

Er verabschiedete sich und verließ das Zimmer.

Lilith blieb noch eine Weile liegen und starrte an die kalkweiße Wand gegenüber. Schließlich griff sie nach ihrem Bell, das auf dem Nachttisch lag, fand jedoch noch etwas anders. Das Amulett, das sie immer zu tragen pflegte. Die Oberfläche des Schmuckstücks, in die ein stilisierter Kompass eingraviert war, hatte keinen Kratzer abbekommen. Sie lächelte und legte es zurück. Danach angelte sie sich den Bildschirm herbei, der an einem beweglichen Metallarm auf der anderen Seite des Bettes befestigt war, und steckte das Mobiltelefon in die dafür vorgesehene Halterung.

Ein wundervolles Stück alter Technik aus der Interstellar-Ära, dachte sie sich, während sich ihr Bell in das Telefonnetzwerk des Krankenhauses einwählte. Früher hatte es so einen Bildschirm in fast jedem Haushalt gegeben. Damals hatte man sie mit Smartphones kombiniert und in ein großes Bildtelefon umgewandelt. Heutzutage benutzte man die Bells ohne Bildschirm. Doch Tüftler, eitle Privatleute oder Künstler wie Liliths jüngerer Bruder konnten nicht darauf verzichten.

Nervzwerg wählte sie im Telefonbuch aus und lehnte sich in die weichen Kissen zurück. Die Verbindung zum französischen Telefonnetzwerk wurde hergestellt. Sie ließ es klingeln und betrachtete ihre Fingernägel, die aussahen, als hätte sie versucht einen Zombie auszugraben. Die Druckwelle der Explosion hatte sie mehrere Meter durch die Luft gewirbelt und anschließend über den Boden schlittern lassen. Abgesehen von der Tatsache, dass sie klinisch tot gewesen war, fühlte sie sich schon wieder erschreckend gesund.

»LILITH!«, brüllte es.

Sie schreckte hoch und blicke in das Gesicht ihres Bruders, der endlich auf dem Bildschirm erschienen war.

»Geht es dir gut?«, fragte er laut und kämmte sich das zerzauste, dunkelrote Haar aus dem Gesicht.

»Jap, wenn du aufhörst zu schreien«, gab sie zur Antwort und lächelte.

»Ernsthaft, halb London fliegt in die Luft und dich stört nur, dass ich schreie?«, antwortete Velvetin aufgebracht und seine stechend grünen Augen musterten sie argwöhnisch. »Ich hab mir echt Sorgen gemacht, keiner meldet sich bei mir, und überall, wo ich anrufe, ist besetzt!«

»Wir waren alle etwas beschäftigt«, meinte sie. »Und halb London ist es nun wirklich nicht gewesen.«

»Du hättest dich trotzdem melden können.«

»Ich bin im Krankenhaus un-«

Er riss seine Augen auf. »WAS?!?! DU BIST IM KRANKENHAUS!«

Lilith wiederstand dem Drang, sich die Ohren zuzuhalten. »Boah, nicht schreien.«

»Lilith!«

»Ja?«

Er vergrub das Gesicht in den Händen und für eine Weile sah sie nur seinen dunkelroten Lockenkopf.