ADHS und Schizophrenie

Ursula Davatz

ADHS und Schizophrenie

Wie emotionale Monsterwellen entstehen und wie sie behandelt werden

mit einem Vorwort von Luc Ciompi

Edition Rüegger

Dank

Siebzehn Jahre lang habe ich an diesem Buch gearbeitet. Wieder und wieder habe ich meine neuen Beobachtungen in die Entwicklung meines Schizophreniekonzeptes einfliessen lassen und dadurch mein Verständnis und die Behandlung dieser komplexen Krankheit verbessert. Mein Ehemann Jürg Da Vaz hat mich dabei mit unendlicher Geduld und grossem Einsatz begleitet und unterstützt.

Ein grosser Dank geht auch an Luc Ciompi, der mich bei allen Rückschlägen, die ich auf dem Weg zur Publikation erlebt habe, immer wieder dazu ermutigt hat nicht aufzugeben.

Ich danke auch meinen Patienten* und ihren Familien. Möge dieses Buch einem weiten Kreis von betroffenen Familien und interessierten Personen zugutekommen.

Last, but not least geht ein Dank posthum an meinen geschätzten Lehrer Professor Murray Bowen, Georgetown University Family Center, der mir am 22. Februar 1980 als Widmung in sein Buch «Family Therapy in Clinical Practice» schrieb: «To Ursula with great expectations for your impact on the human cause in the future.»

Mit dem neuen E-Book möchte ich hier meine Audiovorträge zu «ADHS und Erziehung» und zum Umgang mit «ADHS und ADS» vorstellen. Wie die Psychiatrie von morgen aussehen wird, darüber schreibe ich in meinem Essay «Epigenetisches Potenzial in der Psychiatrie».

Audiovortrag zu ADHS und Erziehung

Audiovortrag zum Thema Umgang mit ADHS und ADS

Epigenetisches Potential in der Psychiatrie

Ursula Davatz
im Januar 2019

Warum man dieses Buch lesen sollte

von Luc Ciompi

Wenn jemand wie ich, der während mehr als fünf Jahrzehnten das Ringen um ein theoretisch wie praktisch sinnvolles Psychose- und Schizophrenieverständnis miterlebt und selbst ein Stück weit mitgestaltet hat – so mit meinen langfristigen Verlaufsuntersuchungen, mit Rehabilitationsstudien, mit dem Konzept der Affektlogik und mit der Begründung der therapeutischen Wohngemeinschaft Soteria Bern –, dann wird er ein Buch wie das vorliegende, das einmal mehr ein «ganz neues Verständnis» dieser rätselhaften Erkrankung vorschlägt, zwar nicht ohne Neugier und Interesse, aber doch auch mit einer gewissen Skepsis zur Hand nehmen.

Dies vor dem Hintergrund der immer wieder neuen Psychoseerklärungen, die im Lauf der Jahrzehnte im wissenschaftlichen Mainstream aufgetaucht und nach einiger Zeit wieder mehr oder weniger sang- und klanglos daraus verschwunden sind. Angefangen mit der Dementia praecox oder «Frühdemenz», die Emil Kraepelin gegen Ende des 19. Jahrhunderts als neue Krankheitseinheit aus dem bisherigen Durcheinander von psychischen Störungen herausgelöst und als eine unausweichlich zur «Verblödung» führende Hirnkrankheit definiert hatte. Sie wurde bekanntlich schon 1911, also wenige Jahre später, durch den erheblich dynamischeren und auch hoffnungsvolleren Begriff der Schizophrenie – des «Spaltungsirreseins» – von Eugen Bleuler verdrängt, der einen zumindest «pathoplastischen» Einfluss von lebensgeschichtlichen Traumen anerkannte, einen verborgenen Sinn hinter scheinbar unverständlichen Wahnsymptomen und Halluzinationen vermutete und gewisse Besserungs- und Heilungsmöglichkeiten nicht ausschloss. Dennoch folgte eine jahrzehntelange Periode der Stagnation, die ganz von der Idee einer genetisch bedingten «endogenen», das heisst aus unbekannten Gründen «von innen heraus» entstehenden, Krankheit mit unbeeinflussbarem Verlauf beherrscht war.

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg geriet dieses rigide Psychoseverständnis wieder in Bewegung: Zunächst trat da und dort ein psychoanalytisches Paradigma auf den Plan, das die Schizophrenie psychodynamisch zu erklären und mit modifizierten Analysetechniken auch zu behandeln suchte. Psychotische Symptome wurden als verschlüsselte Botschaften mit traumähnlichen symbolischen Bedeutungen aufgefasst, die in archaischen Vernichtungsängsten und existenziellen Konflikten wurzelten. Diesem Zugang ist auch die Einsicht zu verdanken, dass die angebliche Affektverflachung von chronisch Schizophrenen zu einem guten Teil einem Schutz- und Abwehrpanzer gegen neue Überforderungssituationen gleichkommt, hinter welchem die ursprüngliche Verletzlichkeit unverändert weiterbestehen kann. Zumindest in Einzelfällen zeitigte die psychoanalytische Methode zwar erstaunliche Erfolge. Doch erwies sie sich als derart aufwendig, dass ein einzelner Therapeut lebenslang überhaupt nur ganz wenige Fälle zu behandeln imstande war.

Auch aufgrund dieser Problematik begannen in den 1960er- und 1970er-Jahren einige Pioniere, das familiäre Umfeld der Kranken zu erforschen. Sie entdeckten darin unter anderem bösartige «Beziehungsfallen» (oder «emotionale Zwickmühlen») von der Art des sogenannten Double Bind, welcher imstande sein sollte, verletzliche Individuen richtiggehend «verrückt zu machen». Auf dieser Grundlage entwickelten sich die systemischen Familientherapien, in welchen ebenfalls das vorliegende Buch wurzelt. Zentral ist in diesem Ansatz das Bestreben, das ganze familiäre und soziale «System» der Kranken zu berücksichtigen und in die Behandlung einzubeziehen.

Etwa zur selben Zeit bestätigte sich die Bedeutung von Milieueinflüssen in grossen, schon eingangs kurz erwähnten, fremden wie eigenen Studien zum Langzeitverlauf der Schizophrenie, die unter günstigen Bedingungen erheblich bessere langfristige Heilungschancen aufdeckten als bislang allgemein angenommen. Im gleichen Kontext stehen die Untersuchungen zum Hospitalismus oder Institutionalismus, die zeigen, dass die damals allgemein üblichen Dauerhospitalisationen von Schizophrenen in einem stimulationsarmen, gefängnisartigen Anstaltsmilieu nicht nur bei chronisch Schizophrenen, sondern auch bei Kranken aus ganz anderen Diagnosegruppen zu praktisch demselben Bild von Gleichgültigkeit, Hoffnungslosigkeit und Affektverflachung führten, das jahrzehntelang als schizophreniespezifisch gegolten hatte. Auch umfangreiche transkulturelle Vergleichsuntersuchungen und solche von Zwillingen und Adoptivkindern sprachen für den krankmachenden Einfluss nicht nur von genetischen, sondern ebenfalls von Umweltfaktoren. Besonders interessant sind im Hinblick auf die Thematik dieses Buches die Studien zu den sogenannten Expressed Emotions, auf die ich noch zurückkommen werde.

Seit zwei bis drei Jahrzehnten wurden und werden solche milieubezogenen Untersuchungen allerdings verdrängt und – oberflächlich betrachtet – geradezu hinweggefegt von der modernen Neurobiologie, die mit ihren bildgebenden Verfahren «ins Hirn hineinzuschauen» vermag und bei Schizophrenen eine ganze Reihe von abweichenden neuronalen oder neurophysiologischen Befunden nachweisen konnte. Besonders betroffen sind, neben dem Stirnhirn, auch gewisse emotionsregulierende Strukturen. Gelegentlich war sogar schon von einem «neo-kraepelinschen Revival» der alten Kraepelinschen Hirnkrankheitshypothese die Rede. Indes blieb vielfach unklar, ob es sich bei den erhobenen Befunden tatsächlich um ursächliche Veränderungen oder nur um milieu- oder gar medikamentenbedingte Folgeerscheinungen der Psychose handelte. Nicht zu übersehen ist ebenfalls, dass die Ausbeute der modernen neurobiologischen Forschung für die Praxis der Psychosetherapie bisher gering ist und jedenfalls in keinem Verhältnis zu dem damit verbundenen Aufwand steht. Wohl auch aus diesem Grund tauchen seit einiger Zeit neben und hinter der aktuellen «biologischen Welle» wiederum vorwiegend milieu- und familienbezogene Ansätze auf, die den Hauptakzent auf versteckte Heilungsoder Besserungspotenziale legen und unter den Stichworten der «Resilienz», also der Regenerationsfähigkeit, und des Empowerment, der Ermächtigung, neuartige Methoden zu entwickeln, um verschüttete persönliche, familiäre und milieubedingte Ressourcen zu reaktivieren.

Vor diesem Hintergrund nun präsentiert Ursula Davatz erneut, aber in veränderter Form, das Erklärungsmodell vom krankmachenden familiären Umfeld: nämlich als emotionale Monsterwelle, die sich in gewissen Familien über Generationen aufbaue und schliesslich entscheidend zum Ausbruch der Psychose beitrage. Wie plausibel ist dieses teilweise schon alte und gleichzeitig auch sehr neue Psychoseverständnis?

Allen immer wieder wechselnden Krankheitserklärungen zum Trotz gibt es eine ganze Reihe von Gründen, den provokativen Thesen von Ursula Davatz Beachtung und Glauben zu schenken. Sicherlich an erster Stelle ist die Erkenntnis zu nennen, dass die meisten der zuvor genannten Paradigmen sich gegenseitig nicht ausschliessen: Sie lassen sich weitgehend als komplementäre Aspekte ein- und desselben, allerdings hochkomplexen, Krankheitsgeschehens verstehen, die aus unterschiedlichen Perspektiven gewonnen und zu Unrecht immer wieder verabsolutiert wurden. Wenn diese Annahme zutrifft – und vieles spricht dafür, dass dies tatsächlich der Fall ist –, so ist die zentrale Frage nicht mehr, welcher dieser Ansätze der beste oder gar der einzig richtige sei, sondern welche Gemeinsamkeiten sich allenfalls hinter ihnen verbergen könnten, und wie solche Gemeinsamkeiten therapeutisch am besten zu nutzen wären.

Das von Ursula Davatz ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückte Phänomen von übergrossen emotionalen Spannungen im Vor- und Umfeld von schizophrenen Psychosen stellt zweifellos einen gemeinsamen Faktor von erheblichem praktischem wie theoretischem Interesse dar. Nicht nur steht es seinerseits mit keinem der zuvor genannten Paradigmen in Widerspruch. Es entspricht auch einer allgemeinen klinischen Erfahrung und wird zudem von zahlreichen neueren wie älteren Forschungsbefunden gestützt. Unter Letzteren sind namentlich die bereits erwähnten Studien zu den sogenannten Expressed Emotions hervorzuheben, die in über zwanzig methodologisch hervorragenden Untersuchungen aus verschiedensten Weltgegenden übereinstimmend ergeben haben, dass der Ausbruch von psychotischen Symptomen hochsignifikant mit einem kritischen Anstieg von übergrossen emotionalen Spannungen rund um in besonderer Weise verletzliche Menschen korreliert (Vaughn & Leff 1976, Kavanagh 1992). Ebenso bedeutsam ist die Tatsache, dass die aktuelle neurobiologische Forschung immer eindeutiger zu der Einsicht führt, dass Emotionen unser Denken in bisher ungeahntem Ausmass beeinflussen (vgl. z. B. Panksepp 1991, LeDoux 1998, Damasio 2000, Ciompi und Panksepp 2005). Die neuere Stress- und Traumaforschung und die Untersuchungen zur neuronalen Plastizität haben ausserdem nachgewiesen, dass Umwelteinflüsse, darunter insbesondere emotionale Traumata, die Feinstruktur und -funktion des Gehirns dauerhaft zu verändern vermögen. Des Weiteren führten Untersuchungen zum Begriff der Epigenese zur Erkenntnis, dass bei der Entstehung vieler bisher als rein genetisch angesehener Krankheiten nicht die Gene allein entscheiden, sondern erst deren Wechselwirkung mit bestimmten Umweltbedingungen. In der Tat hatten landesweite Feldstudien in Finnland von Tienari et al. (1985) schon in den 1980er-Jahren ergeben, dass erblich mit Schizophrenie belastete Adoptivkinder nur dann an einer schizophrenen Psychose erkranken, wenn sie in einer besonders spannungsvollen familiären Umgebung aufwachsen. In harmonischen Familien dagegen unterscheidet sich die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung nicht von derjenigen in der Durchschnittsbevölkerung.

Ein weiteres und den erwähnten Forschungsbefunden meines Erachtens durchaus an die Seite zu stellendes Argument zugunsten der Thesen von Ursula Davatz ist ihre grosse, durch eine Fülle von Fallbeispielen belegte klinische Erfahrung. Jahrzehntelang in der Erfassung und Behandlung von schizophrenen Patienten und deren Familien geschult und geübt, hat sie einen «klinischen Blick» für krankmachende familiäre Konstellationen und die pathogenen Wirkungen von emotionalen Spannungen entwickelt, die weniger erfahrenen Therapeuten möglicherweise entgehen oder bloss als beiläufig erscheinen. Die Autorin ist nicht in erster Linie Theoretikerin, sondern eine mit viel Intuition und Empathie begabte Klinikerin und Therapeutin, die – wie ihr umfangreiches Inventar von familiären Stresssituationen zeigt – mit einer Vielfalt von Störungsformen flexibel umzugehen weiss. Ihr grundsätzlich systemischer, das heisst die ganze Sozial- und Familiensituation miteinbeziehenden, Zugang zum kranken Menschen ist nicht irgendeine theoretische Voreingenommenheit. Im Gegenteil, die klinische Beobachtung ist ihr wichtigstes Arbeitsinstrument. Wenn diese erfahrene Therapeutin im Laufe der Jahre immer eindeutiger zu dem Schluss gelangt ist, dass tsunamiartige emotionale Monsterwellen beim psychotischen Zusammenbruch eine zentrale Rolle spielen, so darf man dieser Beobachtung sicher allerhand Kredit einräumen. Wie sie in ihre Hypothese auch die «Turbofunktion» des überforderten Gehirns bei Ausbruch der Psychose sowie eine Reihe von angeborenen Anpassungsmechanismen wie zum Beispiel den Flucht- oder Totstellreflex integriert, ist übrigens, nebenbei gesagt, eine der besten und klügsten Synthesen der aktuellen neurobiologischen und evolutionären Psychoseforschung, der ich bislang begegnet bin.

Es gibt noch einen weiteren (und aus meiner Sicht naturgemäss besonders interessanten) Grund, warum ich dafür plädiere, die Thesen von Ursula Davatz ernst zu nehmen: Sie stimmen praktisch widerspruchsfrei mit den Grundannahmen meines Konzepts der Affektlogik überein, das ich vor über dreissig Jahren erstmals vorgeschlagen und seither laufend weiterentwickelt habe. Thema der Affektlogik sind die Wechselwirkungen zwischen Fühlen und Denken. Emotionen werden dabei als biologisch verankerte Energien – oder genauer als evolutionär verankerte, situationsabhängige Energieverbrauchsmuster – verstanden, die letztlich alles soziale und zwischenmenschliche Geschehen antreiben. Gleichzeitig üben sie vielfältige Schalt- und Filterwirkungen auf Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis und kombinatorisches Denken aus. Dieses energetisch-dynamische Emotionsverständnis erlaubt es, zentrale Erkenntnisse aus der modernen Weiterentwicklung der Systemtheorie zu einer «Theorie der nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme» (kürzer aber weniger präzise auch Chaos- oder Komplexitätstheorie genannt) ebenfalls auf die Dynamik von psychosozialen Systemen anzuwenden: Wie in anderen komplexen Systemen kommt es auch im «psychischen System» – dem gewohnten «normalen» Fühl-, Denk- und Verhaltenssystem – zu einem plötzlichen, nichtlinearen Phasensprung, einer sogenannten Bifurkation. Und es wird ein neues und global verändertes Funktionsmuster ausgelöst, wenn der energetische Spannungspegel einen kritischen Schwellenwert erreicht. So mag ein labiles Liebesverhältnis unter dem Druck von kritisch steigenden emotionalen Spannungen unvermittelt in Hass, eine während längerer Zeit gerade noch friedliche Koexistenz in Krieg, und ein normales Alltagsverhalten – und dies ist buchstäblich der «springende Punkt» – bei entsprechend veranlagten verletzlichen Menschen plötzlich in ein psychotisch verändertes Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster «überschnappen». Andererseits wirkt ein gezielt auf eine nachhaltige Senkung des emotionalen Spannungspegels ausgerichteter Umgang mit den Patienten und ihren Angehörigen – wie sich seit über dreissig Jahren insbesondere auch in der vom Konzept der Affektlogik ausgehenden therapeutischen Wohngemeinschaft Soteria Bern stets von Neuem bestätigt – der psychotischen «Verrückung» ganz offensichtlich entgegen (vgl. Ciompi et al. 2004). Der affektlogische Ansatz und die (davon unabhängig entwickelte) These von der krankmachenden Rolle einer «emotionalen Monsterwelle» stützen und vertiefen sich somit gegenseitig.

Zu bedenken ist ferner, dass der Einfluss von emotionalen Faktoren in der Psychosedynamik grundsätzlich seit Langem bekannt ist, selbst wenn er jahrzehntelang durch das Vorurteil überschattet wurde, die Schizophrenie sei primär eine Erkrankung des Denkens. Indessen sind, aus der Nähe betrachtet, schon die seinerzeit von Eugen Bleuler als Leitsymptome der Schizophrenie beschriebenen berühmten «vier A‘s» – nämlich der Autismus, die Ambivalenz, die Assoziationsstörung und die Affektstörung – allesamt stark emotional mitgeprägt. Bleuler hat auch immer wieder die Schlüsselrolle von Affekten bei der Entstehung von psychischen Störungen aller Art betont. Übereinstimmend haben schon vor rund zwanzig Jahren Hirnstrom-Untersuchungen von Wieland Machleidt ergeben, dass als verstecktes (und in aller Regel komplex verschlüsseltes) Leitgefühl hinter den meisten psychotischen Störungen eine extreme Angst steckt. Machleidt ging deshalb davon aus, dass die Schizophrenie primär eine affektive Erkrankung sei und veröffentlichte rund um diese Frage 1999 ein Buch mit dem Titel «Schizophrenie – eine affektive Erkrankung? Grundlagen, Phänomenologie, Psychodynamik und Therapie», in welchem der Stellenwert von Affekten in der schizophrenen Psychose von einer Reihe von Autoren (darunter auch von mir selbst) eingehend diskutiert wird. Die Überlegungen von Ursula Davatz stehen somit keineswegs allein auf weiter Flur, sondern haben eine sehr lange, wenn auch aus vielerlei Gründen immer wieder verdunkelte Vorgeschichte.

Wie bei einer so profilierten Autorin kaum anders zu erwarten, gibt es freilich – wie nicht verschwiegen werden soll – neben den beschriebenen Stärken im vorliegenden Buch auch einige kritische Punkte. Angesichts von gelegentlich wohl allzu generalisierenden Feststellungen, etwa dass die Eltern die Autonomiegelüste ihrer psychosegefährdeten Kinder systematisch unterbinden würden, entsteht zuweilen der Eindruck, die Autorin erliege ihrerseits der Versuchung, ihre Thesen zu verabsolutieren. Auch die sozusagen obligaten Beziehungen, die die Autorin zwischen der «lange gesuchten genetisch vererbten Vulnerabilität der Schizophreniekrankheit» einerseits und dem heute immer häufiger diagnostizierten kindlichen Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) andererseits postuliert, werden manche Experten wohl mehr als nur kritisch zur Kenntnis nehmen: Die meisten ADHS-Spezialisten verneinen jede engere Beziehung zwischen der Schizophrenie und dem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom vehement. Allerdings fehlen meines Wissens gezielte empirische Untersuchungen zu dieser wichtigen Frage noch weitgehend, und ebenso wenig ist die von der Autorin beschriebene breite Überlappung des ADHS mit dem früheren sogenannten frühkindlichen psychoorganischen Syndrom (POS), das jahrzehntelang klar als Risikofaktor für Schizophrenie galt, bisher näher untersucht worden.

Ungeachtet solcher Einwände bin ich der Meinung, dass das Buch von Ursula Davatz einen wichtigen Beitrag zur Lösung der «ewigen» wissenschaftlichen Rätselfrage liefert, was die schizophrene Psychose eigentlich ist und wie sie am besten zu behandeln sei. Der Davatzsche Ansatz stellt keineswegs bloss, wie ein oberflächlicher Betrachter vielleicht meinen könnte, sozusagen ein nostalgisches Relikt aus der Familienforschung der 1970er- und 1980er-Jahre dar, auch wenn er zentrale Einsichten aus dieser Zeit aufgreift und weiter vertieft. Vielmehr bildet er allein schon deshalb die Grundlage eines zukunftsträchtigen Konzepts, weil er vieles, was sich zurzeit an vorderster Front in der neurobiologischen Emotionsforschung tut, zu einer einleuchtenden und therapeutisch interessanten Arbeitshypothese verdichtet. Angesichts der immer präziser erfassten denk- und verhaltenssteuernden Wirkungen von affektiven Gestimmtheiten erscheint ein emotionszentrierter Therapieansatz zunehmend als aussichtsreich. Zudem könnte das Davatzsche Modell zu einem fruchtbaren Ausgangspunkt für eine weiterführende systemische Psychoseforschung werden, wie sie gerade heute besonders nottut.

Aus den genannten Gründen hoffe ich, dass dieses Buch nicht nur bei professionellen Psychotherapeuten und bei Angehörigen oder Betroffenen, sondern ebenfalls bei Neurobiologen, Emotionsforschern und Soziologen, und darüber hinaus bei einem grösseren, am «Rätsel Schizophrenie» interessierten Publikum die breite Beachtung und Anerkennung findet, die es in meinen Augen verdient.

Literatur

Ciompi L.: Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung. Stuttgart, Klett-Cotta 1982 .

Ciompi L. Hoffmann, H.: Soteria Berne. An innovative milieu therapeutic approach to acute schizophrenia based on the concept of affect-logic. World Psychiatry 3: 140–146, 2004.

Ciompi L., Panksepp J .: Energetic effects of emotions on cognitions – complementary psychobiological and psychosocial findings. In: Ellis R., Newton N. (eds) Consciousness and Emotion, J. Benjamins Publish. Company, Amsterdam-Philadelphia, p. 23–55, 2005.

Damasio A. R.: A second chance for emotion. In: Lane R. D ., Nadel L.: Cognitive neuroscience of emotion. Oxford Univ. Press, New York–Oxford 2000.

Kavanagh D. J .: Recent developments in expressed emotion and schizophrenia. Brit. J. Psychiat. 160: 601–620, 1992.

LeDoux J.: Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. Hanser, München-Wien 1998 (The emotional brain. The mysterious underspinnings of emotional life. Simon and Schuster, New York 1996).

Machleidt W., Haltenhof H., Garlipp P. (Hrsg.): Schizophrenie – eine affektive Erkrankung? Grundlagen, Phänomenologie, Psychodynamik und Therapie. Schattauer, Stuttgart – New York 1999.

Panksepp J.: Affective neuroscience: A conceptual framework for the neurobiological study of emotions. In: Strongman K. T. (ed.): International review of studies on emotion, Vol. I. John Wiley & Sons, pp. 59–99, 1991.

Tienari P., Sorri A., Lathi I., Naurala M., Wahlberg K. E., Pohojola J., Moring J.: Interaction of genetic and psychosocial factors in schizophrenia. Acta Psychiatr. Scand. 71: 19–30, 1985.

Vaughn C., Leff J.: The influence of family and social factors on the course of psychiatric illness. A comparision of schizophrenic and depressed neurotic patients. Brit. J. Psychiat. 129: 125–137, 1976.

Die Bedeutung des ADHS für mein neues Schizophreniekonzept

Die Ausbildung zur Psychiaterin habe ich 1971 in Lausanne begonnen. Meine Wahl fiel auf Professor Müller, den Klinikleiter am Hôpital de Cery. Als Schüler von Eugen Bleuler galt er als einer der führenden Schizophrenieforscher in der Schweiz. In Zusammenarbeit mit Luc Ciompi leitete er ein Forschungsprojekt über die Langzeitentwicklung von Schizophreniepatienten. Der damalige Oberarzt Aldo Calanca lenkte mein Interesse auch auf die Sozialpsychiatrie. Als Folge davon nahm ich 1972 eine Stelle als Assistenzärztin am Dingleton Hospital in Melrose, Schottland, an. Von diesem Psychiatriespital, das nach dem Konzept der Therapeutischen Gemeinschaft von Maxwell Jones geführt wurde, kontaktierte ich Dr. Finkelstein am St. Elisabeth Hospital in Pontiac, Michigan, USA. Er bot mir an, die amerikanische Facharztausbildung in Psychiatrie an der Universität in East Lansing unter Anrechnung meiner psychiatrischen Erfahrung aus der Schweiz zu absolvieren.

Mit meiner Familie, meiner kleinen Tochter, dem sechs Wochen alten Sohn und meinem Mann kam ich an einem heissfeuchten Junitag in der Autostadt Detroit an. Der leitende Direktor hiess uns willkommen und brachte uns zu unserem kleinen Holzhaus auf dem Areal des 3000 Betten grossen Psychiatrischen Staatsspitals in Pontiac, Michigan.

Ich wurde einer Abteilung mit vielen schizophreniekranken Adoleszenten zugeteilt. Der Abteilungsarzt Sam Hague erlaubte mir auf meinen Wunsch hin, eine Mehrfamilientherapiegruppe von drei Familien mit ihren schizophreniekranken Töchtern ins Leben zu rufen und übergab mir schon nach zwei Sitzungen die Verantwortung dafür. Um diese Herausforderung zu meistern, wollte und musste ich mir unbedingt mehr Wissen aneignen und meldete mich deshalb neben meinem Vollzeitjob für eine Weiterbildung in Familientherapie an, die vom Ackerman Institute aus New York in Detroit angeboten wurde. 1976 lernte ich im Rahmen dieser Weiterbildung Murray Bowen kennen – diese Begegnung sollte wegweisend für meine weitere Laufbahn werden. Seine systemische Denkweise faszinierte mich, da ich mir allerdings keine weiteren Auslagen für eine Ausbildung leisten konnte, fragte ich ihn, ob er mir nicht eine bezahlte Ausbildungsstelle anbieten könnte. Er meinte, es gäbe sehr wohl ein Postgraduate Fellowship Program, das aus einem Fond der Georgetown-Universität bezahlt würde. Ziel sei jedoch nicht, ausländische Ärzte auszubilden, sondern amerikanische, trotzdem könne ich mich aber natürlich bewerben. Gesagt, getan. Ein paar Wochen später stellte ich mich bei ihm am Georgetown Family Center in Washington, D. C. vor – und wurde für die Stelle ausgewählt. Nachdem ich meine amerikanische Psychiatrieausbildung am St. Elisabeth Hospital in Pontiac und der Universität in East Lansing abgeschlossen hatte, packten wir unseren VW-Camper und übersiedelten nach Washington, D.C. Hochschwanger, einen Monat vor dem Geburtstermin unseres dritten Kindes, trat ich die Stelle als Fellow am Georgetown Family Center an.

Mein Familiensystem befand sich zu diesem Zeitpunkt in einer mehrfachen Veränderung. Ich begann eine neue Stelle, bezog einen neuen Wohnsitz und erwartete unser drittes Kind. Meine Schwangerschaft trug mir von Murray Bowen denn auch gleich zu Beginn die Bemerkung ein, schwangere Frauen könnten über nichts anderes nachdenken als über ihren eigenen dicken Bauch. Dies hat mich in meinem beruflichen Ehrgeiz so stark angestachelt – eine Wirkung, die er vermutlich als erfahrener Therapeut beabsichtigt hatte –, dass ich sogleich einen Artikel über das Thema Fusion zwischen Mutter und Kind verfasst habe. Er war später Ausgangspunkt meines Buches Fusion and Differentiation, Fusion Behaviour in Animal and Man.

Murray Bowen, ein kreativer Wissenschaftler auf dem Gebiet der Schizophrenie und Familiensystemtheorie, war durch sein Forschungsprojekt am National Institute of Mental Health (NIMH) bekannt geworden. Er hatte Eltern zusammen mit ihren schizophreniekranken Kindern hospitalisiert und über längere Zeit beobachtet. Daraus entwickelte er wichtige Grundlagen seiner Familiensystemtheorie. Drei Jahre wurde ich von ihm ausgebildet. Ich konnte ihn täglich bei seiner Arbeit begleiten, was eine unglaublich wertvolle Erfahrung war. Geschickt steuerte er den therapeutischen Prozess in seinen Familiensitzungen, die über einen Bildschirm in ein grosses Auditorium übertragen wurden. An Fachtagungen mit Wissenschaftlern aus anderen Gebieten wie Biologie, Krebsforschung, Primatologie, Cytologie sowie an Seminarien hatte ich zudem die Gelegenheit, mich im systemischem Denken in der Auseinandersetzung mit diesen Disziplinen zu üben.

Mein Interesse für die Krankheit der Schizophrenie entwickelte sich bereits bei Murray Bowen in Detroit. Am Family Center in Washington übergab er mir deshalb alle Fälle von Familien mit Schizophrenie, die an ihn überwiesen wurden. So hatte ich die unschätzbare Gelegenheit, während drei Jahren Familiensysteme mit Schizophrenieerkrankung unter seiner kundigen Aufsicht therapeutisch zu begleiten.

Das systemische Denken hat er mir wieder und wieder mit Nachdruck «eingeimpft». Und da der systemische Ansatz im Umgang mit jeglicher Art von psychischen und physischen Krankheiten mich schon als Gymnasiastin zu meiner Wahl für das Medizinstudium bewogen hatte, nahm ich diese Impfkur gerne an. So kam es, dass ich am Family Center der Georgetown University quasi als Krönung meiner langen Ausbildung zur passionierten Systemtherapeutin ausgebildet wurde. Diese berufliche Prägung blieb für meine ganze weitere Berufslaufbahn als Ärztin und Psychiaterin bestimmend. Das systemische Denken hat mir unzählige wertvolle Einsichten in das Verständnis von psychischen, somatischen und psychosomatischen Krankheiten vermittelt und tut dies auch heute noch.

Im Laufe meiner vierzigjährigen Berufserfahrung habe ich die systemische Familientherapie im Umgang mit zahllosen Familien und ihren an Schizophrenie erkrankten Mitgliedern konsequent weiterentwickelt und die Entstehung dieser Krankheit weiter erforscht. Dabei habe ich immer wieder feststellen können, dass über die systemische Therapie, ambulant angewandt, erstaunlich viel mit wenig zeitlichem Aufwand bewirkt werden kann.

Die Frage der Heilbarkeit

Schizophrenie ist eine psychische Krankheit, die zwar rege erforscht wurde, ein fundiertes Verständnis allerdings nach wie vor aussteht. Sie kommt weltweit in allen Kulturen vor und betrifft etwa 1 Prozent der Bevölkerung. Männer wie Frauen sind etwa gleich häufig davon betroffen. Bei den Männern fällt jedoch die Erkrankung im Durchschnitt früher auf.

Aus psychiatrischer Sicht stellt die Schizophrenie eine gefürchtete Diagnose dar, die Fachpersonen ungern stellen. Kommt es dennoch dazu, wehren sich Betroffene und Angehörige meist heftig dagegen, weil sie mit einer stigmatisierenden Verrücktheit und der Unheilbarkeit konnotiert ist.

Trotz langjähriger Anstrengungen in der Forschung und der Behandlung dieser Krankheit gehen Fachleute wie Laien auch heute noch häufig von der Annahme aus, dass Schizophrenie in der Mehrheit der Fälle nicht heilbar ist. Diese Haltung wird unterstützt durch den noch immer zitierten statistischen Drittelverlauf, die sogenannte «prognostische Daumenregel». Sie besagt, dass ein Drittel der Erkrankten spontan heilt, ein Drittel mit deutlichen Symptomen auf tieferem Funktionsniveau stagniert und ein Drittel schwer beeinträchtigt wird, ständig Rückfälle hat und deshalb immer wieder Klinikaufenthalte benötigt. Vom letzten Drittel bleiben gar 10 Prozent dauerhaft hospitalisiert. Diese statistische Aussage lässt für zwei Drittel der Betroffenen tatsächlich keine optimistische Prognose zu. Für Betroffene wie Angehörige stellt dies eine schwere Belastung dar.

Wie bedrohlich die Krankheit eingeschätzt wird, zeigt sich auch anhand der weitverbreiteten Meinung, die Behandlung der Akutphase müsse unbedingt in einer psychiatrischen Klinik, abgeschirmt von der Gesellschaft, quasi in Quarantäne durchgeführt werden. Von Schizophrenie Betroffene erleben diese soziale Ausgrenzung oftmals als Kränkung und akzeptieren sie nicht als therapeutische Massnahme, weshalb eine Einweisung nur gegen ihren Willen durchgeführt werden kann. Die Familien wiederum möchten die Einweisung in eine psychiatrische Klinik unter Widerstand des Angehörigen möglichst verhindern. Sie befürchten aggressive Reaktionen und haben Angst vor einem Beziehungsabbruch. Eine Zwangseinweisung ist nicht nur eine Entwürdigung für die Betroffenen, sondern zugleich auch eine schambesetzte Herausforderung für das Familiensystem. Aus diesen Gründen wird eine Erstbehandlung oft lange hinausgeschoben. Die Konsequenzen sind, dass es oft nach langer Verzögerung schliesslich doch zu einer unfreiwilligen, angeordneten stationären Behandlung kommt. Der verspätete Therapiebeginn und das psychische Trauma, das die Betroffenen durch die Zwangseinweisung erleiden, sind jedoch denkbar schlechte Voraussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung und einen günstigen Krankheitsverlauf.

Die Forschung über die Entwicklung der Schizophrenie, die heutzutage vorangetrieben wird, findet ausschliesslich auf neurochemischem, neuropsychologischem und genetischem Gebiet statt. Der integrative Aspekt bei dieser Krankheit hat im Fokus wissenschaftlicher Untersuchungen in den letzten dreissig Jahren kein nachhaltiges Interesse mehr gefunden. Fast alle Studien über die Interaktion zwischen Schizophreniekranken und ihren Familien wurden in den 1960er- und 1970er-Jahren veröffentlicht. Danach findet man fast keine wissenschaftlichen Arbeiten mehr dazu. Die Forschung hat sich von sozialen Erklärungs- und Behandlungsmodellen abgewandt und befasst sich vorwiegend mit psychopharmakologischen, neurochemischen und neurophysiologischen Aspekten. Bei diesen Forschungsansätzen gehen familieninterne Faktoren, die bei der Entstehung der Schizophrenieerkrankung meines Erachtens eine äusserst wichtige Rolle spielen, gänzlich verloren. Thomas Beck (2012) meint dazu, dass die Psychiatriereform auf halbem Weg stehen geblieben sei und sich die medizinische Diagnostik in der Psychiatrie tendenziell von jeglichem biografischem und beziehungsorientiertem Denken entfremdet habe.

Mit diesem Buch verlasse ich den gängigen Pfad der heutigen Psychiatrie und betrachte die Schizophrenie aus systemischer Perspektive als eine biografische Krankheit. Ich weite den Blickwinkel konsequent auf das ganze Familiensystem und seine Interaktionen über drei Generationen hinweg aus. Zusätzlich ziehe ich auch die lebensgeschichtlichen, individuellen Stressfaktoren der Betroffenen vor dem Krankheitsausbruch heran und führe die Entstehung der Schizophrenieerkrankung somit in den psychosozialen Kontext des Familienumfelds zurück. Dieses «personalisierte» Erklärungsmodell macht die Interaktion zwischen Gen und Umfeld ersichtlich. Es beschreibt den Weg, wie sich die Krankheit über Generationen allmählich aufbaut und sich die Dysfunktion des Familiensystems als Krankheit letztlich in einem der Familienmitglieder niederschlägt. Es ist in der Regel dasjenige Mitglied, das die grösste Empfänglichkeit mit sich bringt und sich am exponiertesten Schnittpunkt im Familiensystem befindet.

Die Schizophrenie ist eine Krankheit, die in ihrer Entstehung und in ihrem Veraluf stark durch die Biografien der Eltern beeinflusst ist. Wegen der auffälligen Verhaltenssymptome des kranken Familienmitglieds fühlt sich die Familie besonders befugt, auf die betroffene Person Einfluss zu nehmen, um das eigene System zu schützen. Bei kaum einer anderen Krankheit findet eine derart starke Übergriffigkeit des Familiensystems auf das betroffene Familienmitglied statt. Dadurch entsteht eine intensive Interaktion, die eine gewaltige Eskalationstendenz in sich trägt und sich krankheitsverschlechternd auswirkt.

Auch im Volksmund verbindet man den Begriff der Schizophrenie mit Bildern von verrücktem Verhalten, das stark normabweichend ist. Der Ausruf «das ist ja schizophren» dient in der Öffentlichkeit der Abwertung von schwer nachvollziehbarem Verhalten und zugleich der Stabilisierung sozialer Normen. «Schizophren», in dieser gleichbedeutenden Verwendung wie «verrückt», wird deshalb nicht selten als Schimpfwort gebraucht. Den Betreffenden droht dadurch der Verlust der sozialen Legitimation und schliesslich die Ausgrenzung aus der Gesellschaft. Dieses Damoklesschwert der unheilbaren Verrücktheit fürchten die Schizophreniebetroffenen und ihre Angehörigen.

Neuland, das nicht anschlussfähig ist?

Seit Beginn meiner Ausbildung 1971 in Lausanne beobachte ich Familiensysteme, die in unterschiedlichster Weise von Schizophrenie betroffen sind. In den USA habe ich 1975 zusätzlich begonnen, mich für das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) zu interessieren. Meine Beobachtungen von betroffenen Familiensystemen über drei Generationen hinweg haben mich im Laufe meiner vierzigjährigen beruflichen Tätigkeit zur Überzeugung gebracht, dass zwischen Schizophrenie und ADHS ein Zusammenhang bestehen muss. Als ich gegenüber meinem damaligen Vorgesetzten Werner Saameli nach der Rückkehr aus den USA 1980 in die Schweiz meine Vermutung erwähnt habe, meinte er, falls ich diese beweisen könne, müsste ich den Nobelpreis erhalten.

Die gross angelegte Studie der Psychiatric Genomics Consortium CrossDisorder Group von 2012 mit über 60 000 Patienten ist meiner Hypothese inzwischen überraschenderweise entgegengekommen. Die Studie zeigt auf, dass bei fünf verschiedenen schweren Krankheitsbildern dieselben genetischen Risikofaktoren bestehen. Die fünf Krankheitsbilder sind: Schizophrenie, manisch-depressive Psychose oder bipolare Störung, schwere Depression, Autismus und das ADHS. Die Folgerung aus dieser Studie ist für mich, dass das ADHS die übergeordnete, genetisch vererbte Konstellation darstellt, die über eine entsprechende Interaktion mit dem erzieherischen Umfeld zur Schizophrenie sowie zu den drei anderen psychischen Krankheiten führen kann. Ich beschäftige mich in diesem Buch aber ausschliesslich mit der Schizophrenie und ihrer Entstehung, deshalb lautet meine Hypothese:

Das ADHS stellt die genetische Konstellation dar, die über eine spezifische Interaktion mit dem erzieherischen Umfeld zur Schizophrenie führen kann.

Es handelt sich dabei um einen sogenannten epigenetischen Entwicklungsprozess. Durch die Einwirkung des Umfelds auf bestimmte genetisch bedingte Veranlagungen wird die Krankheitsentwicklung erst ausgelöst. Eine direkte Kausalität zwischen der genetischen Disposition des ADHS und der Schizophrenie besteht nicht. Es braucht stets eine spezifische Interaktion mit dem Umfeld, damit die genetische Veranlagung des ADHS zur Schizophrenie oder einer der anderen psychischen Krankheiten führen kann. Meine Hypothese wird dadurch gestützt, dass über 70 Prozent der Erwachsenen mit einem ADHS an einer zusätzlichen psychischen Krankheit leiden. Dies zeigt auf, dass das ADHS eine Risikokonstitution für viele weitere psychische Krankheitsbilder darstellt.

Die Reaktion von ADHS-Fachpersonen und Verlegern, denen ich meine Hypothese darlegte, war bisher durchgehend ablehnend. Ein Verleger meinte zu meinem Text: «Es könnte vielleicht ja auch ganz anders sein.» Ein weiteres Verlagshaus vertrat die Ansicht, dass es keine Bücher von Autoren publizieren würde, die zu wissen glaubten, wie es sei. Als ich Fritz Simon, Verleger, Psychiater und Systemtherapeut, mein Manuskript zur Lektüre gab, schrieb er mir: «Da betreten Sie Neuland, das offenbar zu originell ist, um so ohne Weiteres anschlussfähig zu sein.» Das Buch wurde auch von seinem Verlag abgelehnt.

Trotzdem bleibe ich bei meiner Hypothese. Die Schizophrenie ist systemisch als Reaktion auf eine emotionale Blockade durch lang andauernde seelische Verletzungen im Familiensystem zu interpretieren. Es sind die Kinder mit einem ADHS, die als sensitive Familienmitglieder auf emotionale Blockierungen im Familiensystem am empfänglichsten reagieren. Ist die individuelle Schwelle des Unaushaltbaren für sie erreicht, erfolgt meist während der Ablösungsphase in der Pubertät das Umschlagen in die Krankheit. Sie entwickeln tsunamiartige Wellen der Emotionen und die Schizophrenie bricht in ihnen aus.

Von der Funktion des betroffenen Familienmitglieds innerhalb des Familienkontextes her gesehen könnte man auch sagen, dass die Schizophrenieerkrankung stets ein Bestreben darstellt, aus dem Knäuel der emotional verstrickten Lebensabläufe der Eltern und ihrer Herkunftsfamilien einen Ausweg zu finden. Diese Verstrickungen kann man meist bis in die dritte Generation oder noch weiter zurückverfolgen. Wegen der dysfunktionalen Beziehungen erzwingt das System eine Reduktion des Spannungsfelds innerhalb der Familienstrukturen über einen Projektionsvorgang auf das identifizierte Familienmitglied, das «schwarze Schaf» in der Familie. Als krankheitsbetroffenes Familienmitglied macht es sich diese Rollenvorlage der Familie zum Lebensinhalt. Dadurch wird der individuelle Entwicklungsprozess zur eigenständigen Persönlichkeit blockiert und der Eintritt ins Erwachsenenleben verhindert. Im weiteren Verlauf spielt sich dann sein Leben – abgetrennt von der äusseren Wirklichkeit – vornehmlich in der Familienfunktion und das Leben der Familie wiederum in Abhängigkeit von ihm ab. Der Wunsch nach «Regie» ist der unüberhörbare, aber unausgesprochene Ruf aus der Mitte des in Aufruhr geratenen Familiensystems. Schizophrene folgen ihm gleich dem Gesang der Sirenen und übernehmen als «besessene Diplomaten» die Führung.

Das neue Erklärungsmodell, das ich in diesem Buch darlegen werde, soll den verborgenen Auftrag dieser Krankheit entschlüsseln, sodass der interessierte Leser die Schizophrenie nicht mehr nur als hoffnungslose, unheilbare Krankheit versteht, sondern vielmehr als Erscheinungsform von generationenübergreifenden Verstrickungen im Familiensystem, die es zu entschlüsseln gilt. Es ist mein Anliegen, möglichst vielen Lesern einen besseren Einblick in diese gefürchtete Krankheit zu geben und ihnen einen neuen Zugang zum «ver-rückten Dasein» dieser Menschen und ihrer Familiensysteme zu ermöglichen. Anhand von Beispielen werde ich systemtherapeutische Wege aufzeigen, die aus dieser Langzeitkrankheit herauszuführen vermögen. Ziel dieses Buches ist es, die Krankheit der Schizophrenie verständlicher zu machen, dem Leser Red und Antwort zu stehen und gleichzeitig das Vertrauen in die Familientherapie zu stärken. Die Antwort auf die häufig gestellte Frage: «Ist Schizophrenie überhaupt heilbar?» lautet dann: «Ja, wenn die systemische Therapie zum Einsatz kommt.»

Entstehung