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Rose Philipps

Annas Rückkehr

Roman

Impressum

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht der mechanischen, elektronischen oder fotografischen Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- und Bildteile.

 

Alle Akteure dieses Romans sind fiktiv, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig und sind von der Autorin nicht beabsichtigt.

 

Copyright © 2019 Bookspot Verlag GmbH

1. Auflage 2019

 

Lektorat: Renate Novak

Korrektorat: Thilo Fahrtmann

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Covergestaltung: Martina Stolzmann

E-Book: Mirjam Hecht

 

Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Made in Germany

ISBN 978-3-95669-117-1

www.bookspot.de

Widmung

Für Manfred

Mein Fels in der Brandung

Kapitel 1

Berlin, Herbst 1955

»Bereit?«, fragte John und bedachte Anna mit einem fürsorglichen Blick.

Sie nickte fast unmerklich. »Ich hätte auf dich hören sollen«, seufzte sie.

»Diese Worte aus deinem Mund! Allein deswegen hat sich die Reise nach Berlin gelohnt«, sagte er.

»Ich habe es mir nicht so grauenhaft vorgestellt«, antwortete sie. »Das Bild des prachtvollen Berlins, das ich immer in meinem Herzen getragen habe, ist genauso zerstört wie die Stadt. Wenn diese Trümmerlandschaft von oben schon so schlimm aussieht, wie wird es dann sein, wenn ich …« Sie stockte, wischte sich eine Träne von der Wange und senkte ihren Blick.

Ihr Manager und väterlicher Freund tätschelte beruhigend ihren Arm. »Der Krieg ist erst zehn Jahre vorbei, selbst die fleißigen Deutschen können eine zerbombte Stadt nicht so schnell wieder aufbauen. Ich habe jedenfalls sehr viele Baukräne gesehen. Aber im Land der Dichter und Denker weiß man Prioritäten zu setzen: Die Staatsoper erstrahlt in neuem Glanz! Und dass eine amerikanische Opernsängerin zur Eröffnungswoche eingeladen wurde, ist doch ein gutes Zeichen, oder?«

Anna nickte. »Die Berliner nannten sie ›Lindenoper‹. Es ist eine eigenartige Vorstellung, dass ein Teil Deutschlands jetzt eine sozialistische, kommunistische Regierung hat.«

Sie warf erneut einen verzagten Blick auf das Rollfeld. Sie hatte den von der Opernintendanz vorgeschlagenen Empfang mit rotem Teppich und Zeitungsreportern abgelehnt und darauf bestanden, dass sie ohne Aufsehen zu ihrem Hotel gebracht wurde.

»Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug, Mr. Wilson«, erkundigte sich die Stewardess.

»Wie immer in der ersten Klasse«, bestätigte John. »Komfort, Speisen, Getränke und die zuvorkommende Betreuung lassen keine Wünsche offen.«

Eine leichte Röte überzog das Gesicht der Stewardess, während sie John und Anna Erfrischungstücher reichte.

Anna gab ihr die versprochene Autogrammkarte. Die zierliche Blondine bedankte sich überschwänglich und betonte nochmals ihre Begeisterung für Opernaufführungen und für Annas Stimme, die sie bisher lediglich aus Radiosendungen kannte.

Da Annas und Johns großes Gepäck bereits vorausgeschickt worden war, durchquerten sie zügig das Gebäude. Anna hielt Ausschau nach dem Chauffeur, der sie in der Ankunftshalle erwarten sollte. Sie sah einige Livrierte, die Schilder in die Höhe streckten, entdeckte ihren Namen jedoch nicht.

Als sie vor das Gebäude traten, erblickte Anna eine Gruppe junger Männer. Sie musterte deren Gesichter. Während sie überlegte, wie Anton wohl heute aussehen würde, schalt sie sich sentimental.

Eine Mercedes-Limousine hielt mit quietschenden Reifen direkt vor ihnen. Der Fahrer stieg aus, fragte, ob sie Anna Miller und John Wilson seien und entschuldigte sich für die Verspätung.

John und Anna nahmen im Fond des Wagens Platz und Anna blickte schweigend aus dem Fenster.

»Der Breitscheidplatz«, rief sie plötzlich. »Wenn ich daran denke, wie oft ich mit …« Sie brach ab und wisperte: »Es kommt mir alles so unwirklich vor. Trotz all der Häuserlücken sehe ich immer noch das Berlin, wie es in meiner Kindheit war.«

Sie verstummte erneut. John legte seine Hand auf ihre, während Anna mit ausdrucksloser Miene aus dem Fenster starrte.

John begleitete sie ins Hotel Kempinski. Der Hoteldirektor persönlich bemühte sich und brachte sie in eine Suite im oberen Stockwerk des Hauses.

»Als Kind träumte ich immer davon, im Hotel Adlon zu übernachten. Das war für mich der Inbegriff an Vornehmheit und Reichtum. Aber auch das existiert nun nicht mehr«, seufzte Anna.

John legte den Arm um ihre Schulter. »Am liebsten würde ich die Termine mit meinen Schweizer Geschäftspartnern absagen. Ich lasse dich nur ungern allein zurück.«

»Ich komme zurecht«, versicherte Anna. »Mach dir um mich keine Sorgen. Ich schwelge hier im Luxus. Ich bin gespannt, ob die Wasserhähne im Badezimmer aus Gold sind«, scherzte sie.

John lächelte. »Du versuchst wie immer vom Thema abzulenken, wenn du darüber nicht weiter sprechen möchtest.« Er reichte ihr ein Blatt Papier. »Hier sind alle Hotels nach Datum aufgelistet, falls du mich kontaktieren willst.«

»Danke, John«, sagte sie.

»In drei Wochen bin ich wieder in Berlin, dann fliegen wir zusammen nach New York zurück.«

Sie nickte und er gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange und verließ mit festen Schritten ihr Zimmer.

Anna fröstelte. Sie schob es auf die Anstrengung des langen Fluges und beschloss, sofort zu Bett zu gehen. Das dezente Licht der Nachttischlampe spendete die notwendige Helligkeit, die sie für ihr Wohlbefinden brauchte. Sie mochte es nicht, in vollkommener Dunkelheit zu liegen. Sie schloss die Augen und dachte an Anton.

»Nein«, rief sie laut. »Nein! Damals wurde ich ohne Erklärung fortgeschickt und heute habe ich kein Interesse mehr an dieser Familie.«

Dennoch hielten sie die Gedanken an die Vergangenheit lange wach und sie ärgerte sich darüber.

Einen Tag später

»Probleme mit den Stimmbändern?«, blaffte die matronenhafte Krankenschwester. »Und das fällt Ihnen am Sonntag ein? Wieso haben Sie sich nicht gestern in einer Arztpraxis behandeln lassen? Sie sehen doch, was bei uns los ist. Nein, wegen so einer Lappalie hole ich keinen Doktor.«

Anna schnappte empört nach Luft. Bevor sie etwas entgegnen konnte, eilte eine andere Schwester auf sie zu und rief: »Du liebe Güte! Ich kenne Sie, Ihr Bild war in der Zeitung. Sie sind die Opernsängerin Anna Miller, nicht wahr?«

Anna nickte erfreut und krächzte: »Der lange Flug von Amerika nach Deutschland hat wohl meine Stimmbänder angegriffen. Ich hoffe, dass mir ein Arzt helfen kann, sonst muss ich den Auftritt absagen.«

»Das wäre aber sehr schade«, sagte die nette Schwester bedauernd. »Ich bin Schwester Edeltraud. Kommen Sie bitte mit mir.«

Anna folgte ihr in einen großzügig gestalteten Untersuchungsraum.

»Setzen Sie sich bitte«, sagte Schwester Edeltraud. »Ach, Sie sind es tatsächlich! Ich kann es gar nicht fassen. Ehrlich gesagt, ich bin nicht an Opernaufführungen interessiert, aber mein Vater. Er hat …« Sie biss sich auf die Lippe und fuhr dann fort: »Also vor dem Krieg hatte er eine umfangreiche Schallplattensammlung. Bei den wenigen Platten, die er in den letzten Jahren kaufen konnte, ist eine Aufnahme von Ihnen dabei.« Sie hielt die Hand vor den Mund und stöhnte. »Ich rede wieder viel zu viel. Ich gehe jetzt und versuche, einen Doktor ausfindig zu machen. Wird jedoch ein Weilchen dauern.«

»Schon gut«, flüsterte Anna. »Danke für Ihr Verständnis und Ihre Hilfe.«

»Aber eines muss ich noch loswerden«, rief die junge Frau. »Sie sind so elegant und schön wie ein Filmstar. Wenn ich es nicht gelesen hätte, würde ich niemals denken, dass Sie bereits dreißig Jahre alt sind.«

Die Schwester eilte davon, die Tür fiel ins Schloss und Anna ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Nach einiger Zeit hörte sie ein Rumoren vor der Tür, die gleich darauf einen Spaltbreit geöffnet wurde.

Sie vernahm Schwester Edeltrauds Stimme: »Herr Professor, wäre es nicht besser, einen HNO-Arzt hinzuzuziehen?«

»Ach ja? Dann nehmen Sie die Untersuchung doch selbst vor, wenn Sie so schlau sind«, schnauzte eine männliche Stimme.

Die Tür wurde aufgestoßen und ein groß gewachsener, hagerer, grauhaariger Mann stand vor ihr.

»Wie ich höre, haben wir eine Berühmtheit im Haus. Sie sind Fräulein Miller?«, fragte er.

Sie nickte beklommen, während sie seine Hand ergriff, die er ihr entgegengestreckte.

»Professor Harlander«, schnarrte er. »Dann wollen wir uns das Hälschen mal genauer ansehen. Wird alles gut, ganz entspannt bleiben, Sie müssen keine Angst haben.« Er stieß ein meckerndes Gelächter aus.

Anna dachte, sie müsse jeden Augenblick ersticken. Angstvoll rang sie nach Luft, doch ihre Kehle schien wie zugeschnürt. Sie spürte, dass ihr der Schweiß ausbrach. Ein unerklärliches Angstgefühl übermannte sie, während ihr Herz zu rasen begann und sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte. Sie kannte dieses eigentümliche Lachen, das dem Meckern einer Ziege ähnelte!

»Wird alles gut, ganz entspannt bleiben, … keine Angst haben.«

Sie hatte das schon einmal gehört. Wann? Wo? Und dieser spezielle Geruch! Dann kam urplötzlich, wie aus dem Nichts, die Erinnerung zurück. Mit einer Wucht, die ihr den Magen umdrehte, griff sie zu. Sie unterdrückte ein Würgen, als die Beklemmung sie wie eine eiserne Faust umschloss. Die Erinnerung an einen Krankensaal tauchte auf und ließ sie augenblicklich frösteln. Die Todesangst, die sie in einem Krankenbett liegend verspürt hatte, kroch erneut hervor und aus ihrer Kehle entwich ein halb unterdrückter Schrei. Das grauenhafte Gefühl der Verlassenheit und des hilflosen Ausgeliefertseins griff erneut nach ihr. Streckte die dunklen Fühler aus, packte sie, zog sie fort.

»Wird alles gut, ganz entspannt bleiben, musst keine Angst haben.«

Genau die gleichen Worte, die der Arzt damals gesagt hatte, als er sie vor der Operation abgetastet hatte. Die schmerzhafte Untersuchung hatte ihre Seele und ihren Körper gequält. Der Doktor hatte seine Hände an Stellen ihres Unterleibs geführt, die ihr als dreizehnjährigem Mädchen selbst neu und fremd gewesen waren.

Anna konnte ein Stöhnen nicht unterdrücken. Das Gefühl der Scham und des physischen Schmerzes kehrten in einer Heftigkeit zurück, die ihr den Boden unter den Füßen wegzog.

Ich muss hier raus, dachte sie und stand auf. Schwankend, gegen den Schwindel ankämpfend, tappte sie zur Tür.

»Aber was ist denn los?«, fragte der Professor und blickte sie verblüfft an.

»Sie, Sie, Sie sind …«, stieß sie hervor.

Anna schleppte sich mit kleinen Schritten vorwärts. Langsam, viel zu langsam. Er würde sie aufhalten, einholen, wieder quälen … Die Panik ergriff Besitz von ihr, unaufhaltsam, gnadenlos. Ihre Beine gaben nach und bevor sie zu Boden sackte, dachte sie: Das ist das Ende.

»Nein, nein, nein«, wimmerte Anna und versuchte mit ungelenken Bewegungen die Hand abzuwehren, die ihre Wange tätschelte.

»Miss Miller, can you hear me?«, fragte eine männliche Stimme besorgt. »Open your eyes.«

Mühsam versuchte sich Anna, zurechtzufinden. Was wird von mir verlangt?, dachte sie orientierungslos. Sie zwang sich, die Augenlider zu heben und blickte in das freundliche Gesicht von Schwester Edeltraud.

Neben der Krankenschwester stand ein junger Arzt, der sich erkundigte: »Wie fühlen Sie sich?«

»Was ist passiert?«, fragte Anna verwundert.

»Der Professor wollte Sie untersuchen«, erklärte Schwester Edeltraud.

Besorgt blickte Anna um sich und stellte erleichtert fest, dass er den Raum verlassen hatte.

»Ich bin Doktor Walter, der HNO-Arzt. Sie sind gerade eben kollabiert. Geschieht das öfter?«, wollte er wissen.

»Nein«, antwortete Anna. »Aber ich …« Sie presste die Lippen zusammen und schwieg. Was würde es ihr nützen, auf eine vage Kindheitserinnerung hin einem Unbekannten ihr Herz auszuschütten?

Der Arzt untersuchte die Stimmbänder und diagnostizierte eine Reizung. Er empfahl ihr, ihre Stimme zu schonen und eine Woche lang überhaupt nicht zu singen und gab ihr ein Elixier zum Gurgeln.

»Am liebsten würde ich Sie ein paar Tage zur Beobachtung hierbehalten«, sagte Dr. Walter. »Ein Schwächeanfall kann vielerlei organische Ursachen haben.«

»Auf gar keinen Fall bleibe ich hier«, entgegnete Anna heftiger als beabsichtigt.

»Dann schonen Sie sich bitte«, riet der Arzt. »Soviel ich weiß, stammen Sie aus Berlin. Haben Sie Angehörige hier?«

Anna schüttelte verneinend den Kopf und erhob sich. Das hatte diesen Fremden nicht zu interessieren! Sie hatte nicht vor, den abgebrochenen Kontakt zu ihren Verwandten wieder aufzunehmen.

Der Gedanke an ihre Familie trieb ihr Tränen in die Augen und sie ärgerte sich darüber. Sie war hierhergekommen, um einen Liederabend zu geben, der nun nicht stattfinden würde, weil ihre Stimmbänder versagten. Lag es wirklich an der trockenen Luft in der Flugzeugkabine oder schlug ihr etwas anderes auf die Stimme?

Vom Flieger aus hatte sie auf Berlin geblickt, die vom Bombenhagel zerstörte Stadt. Sie hatte in einem New Yorker Kino einen Film über die in Trümmer liegenden deutschen Städte gesehen. Aber die Wirklichkeit war so viel schlimmer! Das Gerippe des ehemals stolzen Baues des Anhalter Bahnhofs. Ausgebrannte Ruinen mit rußgeschwärzten Mauern. Durchlöcherte graubraune Fassaden, aus deren fensterlosen Öffnungen manchmal ein zerfetzter Vorhang wehte.

Zitternd stand sie auf, ihre Füße tasteten über den Fußboden. Sie tat einige vorsichtige Schritte und verabschiedete sich von dem Arzt.

Anna ging durch den Krankenhausflur nach draußen, stieg in ein Taxi und ließ sich ins Hotel fahren. Eine bleierne Müdigkeit breitete sich in ihrem Körper aus. Sie fühlte sich zerschlagen, erschöpft, verwundet. Dennoch zwang sie ihr Pflichtgefühl, das Betriebsbüro des Opernhauses über ihre Erkrankung in Kenntnis zu setzen. Mühsam beherrscht nahm sie das Bedauern über ihre Absage und die Genesungswünsche entgegen.

Fast mechanisch entkleidete sie sich, nahm ein starkes Schlafmittel ein, ließ sich ins Bett fallen und schlief kurz darauf ein.

Um Mitternacht schreckte Anna schweißüberströmt hoch und spürte die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Sie wankte zum Kleiderschrank, zog ein frisches Nachthemd heraus und ging ins Badezimmer. Als sie endlich im lauwarmen Wasser der Badewanne lag und das Zittern und Beben ihres Körpers allmählich nachließ, konnte sie sich – wie immer nach diesem wiederkehrenden Albtraum – lange Zeit nicht beruhigen.

Wie Regentropfen rannen die Tränen über ihr Gesicht und sie sah sich als kleines Mädchen, kaum älter als acht Jahre, in einem roten Sommerkleidchen den Kurfürstendamm entlanghetzen, verfolgt von einer Kindermeute.

»Du bist so hässlich. Du bist so blässlich. Du bist dumm, wir wissen nicht, warum«, skandierten sie, während Anna verzweifelt versuchte, zu entkommen.

Sie rannte und als sie sich kurz umsah, packte sie ein Mann, der einen weißen Kittel trug. Entsetzt schrie sie auf, als er sie fortzog und ihren Verfolgern zurief: »Sie gehört mir, ich habe sie zuerst erwischt!«

Anna schlug um sich, der Mann flog mit ihr durch die Lüfte, hoch hinauf zur Turmspitze der Gedächtnis-Kirche. »Neeeeiiinnn«, kreischte Anna, während die Panik über ihr zusammenschlug, doch da ließ er sie bereits los und sie fiel und fiel und fiel.

Normalerweise erwachte sie an dieser Stelle des Traumes, doch der Albtraum hatte eine Erweiterung erfahren: Sie landete in einem Krankenhausbett und der Professor begrüßte sie mit seinem meckernden Lachen. Während er eine Schere heranschleppte, die so groß war wie er, schrie er: »Musst keine Angst haben, gleich schneide ich dich auf!«

Anna wischte mit beiden Händen über ihr tränennasses Gesicht und wisperte: »Es war ein Fehler, nach Berlin zu kommen.«

Sie stieg aus der Wanne, trocknete sich sorgfältig ab, genoss den Lavendelduft, der dem neuen Nachthemd anhaftete und sie an ihre Heimat in Amerika erinnerte. Sie verwarf den Gedanken, John anzurufen, da sie ihn nicht in Unruhe versetzen wollte.

Grübelnd lag sie die halbe Nacht wach und fiel erst im Morgengrauen in einen dämmrigen Schlaf.

Anna schreckte hoch, als sie an der Zimmertür ein Poltern vernahm.

»Was ist denn hier los?«, schimpfte sie und öffnete die Tür einen Spaltbreit.

Ein barfüßiges Mädchen zuckte erschrocken zurück und fing laut an zu heulen. Sie gab langgezogene, klagende Töne von sich, die Anna durch und durch gingen.

»Rosemarie, Rosemarie«, schallte es über den Gang. Aufgeregt näherte sich eine ältere Dame. Das Kind verstummte augenblicklich und stürzte mit dem Ruf »Großmutter« auf die Frau zu.

»Bitte verzeihen Sie, falls Rosemarie Sie geweckt hat. Manchmal schleicht sie morgens einfach aus dem Zimmer und findet nicht mehr zurück.«

Die ältere Dame, die einen eleganten Morgenmantel mit Leopardenmuster trug, seufzte. »Kinder! Was will man machen? Wissen Sie, meine Tochter und mein Schwiegersohn werkeln Tag und Nacht in ihrem Malerbetrieb. Es gibt ja unendlich viel zu tun. Da schicken sie mich öfter mit Rosemarie zusammen in die Ferien. Manchmal ist es anstrengend mit dem lebhaften Kind, aber Sie wissen ja, wie das ist, man unterstützt sich doch gerne innerhalb der Familie.«

»Ja«, sagte Anna kurz angebunden.

Während sie die Tür schloss, dachte sie, dass sie keine Ahnung hatte, wie sich das anfühlte. Die Traurigkeit legte sich wie ein schwerer, dunkler Mantel über sie. Sie kroch ins Bett zurück, zog die Bettdecke über den Kopf und als sie die Augen schloss, tauchte das Bild eines blonden Jungen vor ihr auf.

»Vielleicht sind Mutter und Vater im Krieg umgekommen«, murmelte sie und verstand gleichzeitig, dass das die einfachste Lösung für sie wäre. Aber würde sie dann die Schatten der Vergangenheit jemals loswerden? Unerklärliche Vorkommnisse, die sich in schrecklichen, wiederkehrenden Träumen Bahn brachen?

»Anna, es muss sein!«, rief sie entschlossen.

Kapitel 2

Anna bestellte ein Frühstück aufs Zimmer, konnte aber außer einigen Schlucken Kaffee nichts zu sich nehmen. Nachdem sie aus dem Elixier ein Gurgelwasser bereitet hatte, spülte sie sorgfältig ihren Hals und schützte ihn dann mit einem wärmenden Wolltuch. Sie zog das leichte dunkelbraune Jerseykleid mit dem dazu passenden Mantel an. Um nicht zu elegant zu wirken, wählte sie flache Schuhe und verzichtete auf einen Hut. Als sie vor das Hotelgebäude trat, umfing sie morgendliche Kühle und erst jetzt fiel ihr ein, dass es zu früh sein könnte für einen überraschenden Besuch.

»Neun Uhr«, murmelte sie mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. Sie zögerte kurz, dachte daran, dass sie später vielleicht der Mut verlassen würde, und riss hastig die Tür eines Taxis auf, das vor dem Hotel auf Fahrgäste wartete.

»He, he«, schreckte der Fahrer von der Zeitungslektüre hoch. »Immer langsam mit den jungen Pferden, ick bin ein schreckhafter alter Veteran.«

»Verzeihen Sie«, flüsterte Anna. »Ich möchte zur Reinickendorfer Straße. Wissen Sie, ob es dort große Kriegsschäden gab?«

Der glatzköpfige Mann meinte: »Schwer zu sagen, das kommt auf den Straßenabschnitt an. Habe auch schon erlebt, dass alle Häuser futsch waren, aber eines noch kerzengerade stand.«

»Dann fahren wir jetzt dorthin«, sagte Anna bestimmt.

Er musterte sie und warnte: »Det is weit!«

Anna zog einen 10-Dollar-Schein aus ihrer Geldbörse. »Reicht das?«

»Ick werd verrückt, heut is mein Glückstag!«, rief der Mann und griff schnell nach dem Geldschein. »Gnädigste, damit fahr ick Sie mit meiner Taxe den ganzen Tag kreuz und quer durch Berlin, wohin Sie auch immer wollen.«

Als sie in die Reinickendorfer Straße einbogen, bat Anna den Fahrer, anzuhalten. »Ich gehe das letzte Stück zu Fuß.«

»Wie Sie möchten«, grummelte der Taxifahrer. Er zog seine Zeitung hervor und sagte: »Ick steh hier jut, gnädiges Fräulein.«

Anna öffnete die Wagentür und stieg aus. Sie blickte eine Weile die Häuserzeile entlang, deren Zustand der Schilderung des Taxifahrers entsprach. Das Haus an der Ecke war unbeschädigt. Das daneben schien einen Treffer abbekommen zu haben. Der eingestürzte Dachstuhl hatte die oberen Stockwerke mit in die Tiefe gerissen und ein gewaltiges Trümmerfeld hinterlassen. Anna erinnerte sich an die Fassade mit den Engelsköpfen über der Eingangstür. Eine Hausnummer weiter erspähte sie auf einem freigeräumten Grundstück zwei Baracken. Auf einer Leine, die zwischen den Verschlägen gespannt war, hingen schäbige Wäschestücke. Im nächsten Steinhaufen glaubte Anna, die Überreste der Stammkneipe ihres Vaters zu erkennen. In der Laterne hatten viele Männer des Viertels ihr Feierabendbier getrunken, bevor sie nach Hause gingen.

Einige Frauen liefen an ihr vorbei und musterten sie misstrauisch. Das verwunderte Anna nicht, denn ihre Aufmachung stand im krassen Gegensatz zu den fadenscheinigen, abgetragenen Kleidern der Berlinerinnen. Sie schaute ihnen nach und sah, dass sie ins Reiter’sche Lebensmittelgeschäft gingen.

Auch Anna hatte dort oft die täglichen Einkäufe erledigt. Damals. Früher. In einer anderen Zeit. Sie folgte ihnen, spähte in das Geschäft hinein, um zu sehen, ob die freundliche Frau Reiter den Krieg überlebt hatte und immer noch hinter dem Tresen stand. Überrascht blickte Anna auf das umfangreiche Warenangebot. Sie merkte, wie wenig sie über die derzeitige Lebenssituation in ihrer ehemaligen Heimat wusste. Natürlich hatte sie gehört, dass es in Deutschland aufwärtsging, dennoch wunderte sie sich über die übervollen Regale des Lebensmittelladens.

Als eine Katze um ihre Beine strich, erschrak Anna und stieß einen heiseren Schrei aus.

Die Frauen drehten sich zu ihr um, beäugten sie neugierig und eine blaffte: »Wat glotzen Sie denn so? Schickt der Ami oder Iwan Sie zum Spionieren? Ick wees, es is viel Ware vorhanden, aber wir können uns nich alles koofen, was wir gerne hätten. Is doch so, Frau Reiter, oder?«

Erschrocken wich Anna zurück und verstand nicht mehr, was ihr Frau Reiter nachrief. Anna mochte jetzt keine Fragen beantworten. Sie beschleunigte ihren Schritt.

»Für fünf Pfennig Brausepulver«, murmelte sie. Unvergessen die besonderen Festtage ihrer Kindheit, an denen sie stolz und voller Vorfreude diese Bestellung an Frau Reiter hatte richten können. Anna konnte förmlich spüren, wie sie damals das Brausepulver auf ihre Zunge rieseln ließ. Es knisterte erst, dann zischte es und der Mund füllte sich langsam mit dem sauren Schaum. Man durfte nicht zu lange mit dem Hinunterschlucken warten, sonst quoll die Brause zwischen den Lippen durch und der Genuss war dahin.

Anna straffte die Schultern und schalt sich rührselig. Sie ging weiter, da kam ihr ein Junge mit einem sommersprossigen Gesicht entgegen.

»Anton!«, rief Anna spontan.

Der Steppke blieb stehen, musterte die elegante Dame und erwiderte: »Nö, ick heiße Wolfi. Aber ick kenne einige Antons hier in der Straße.«

»Anton Künke?«, fragte Anna, während ihr Herz schneller schlug und sie sich melodramatisch schalt, weil sie diesen kleinen Jungen für Anton gehalten hatte. Sie spürte, wie ihr Herz hämmernd gegen den Brustkorb schlug.

»Nummer 41, Hinterhaus«, riss Wolfi sie aus ihren Überlegungen. »Soll ick Sie hinbringen?«

Ihr Bruder lebte! Der kleine Funken freudiger Erwartung wurde jedoch von der Angst vor dieser Begegnung überschattet.

»Du bist ja ein Kavalier«, lobte Anna. »Aber ich weiß, wo das ist, ich habe als kleines Mädchen hier gewohnt.«

»Wirklich?« Wolfi musterte sie skeptisch.

Anna deutete auf das Einkaufsnetz, das er in der rechten Hand hielt. »Gehste zu Reiter einholen?«

»Meine Schwester ist krank, die macht das sonst«, murmelte Wolfi mit einem verlegenen Grinsen.

Anna lächelte und versicherte ihm, dass es für einen Jungen keine Schande sei, einkaufen zu gehen.

»Hat meine Mutti Sie geschickt?«, fragte er misstrauisch. »Die behauptet das auch immer.«

Anna musste lachen. Nachdem sie glaubhaft beteuert hatte, dass dem nicht so sei, fragte sie den Jungen: »Darfst du dir Brause kaufen?«

Traurig verneinte Wolfi. »Mein Vati ist im Krieg gefallen, ick hab noch drei Geschwister und Mutti sagt, dass wir sparen müssen.«

Wie erwachsen dieses Kind wirkte! Dennoch konnte er nicht älter als acht Jahre sein, so dünn und klein, wie er vor Anna stand. Der Krieg war seit zehn Jahren vorbei, irgendwie passte das nicht zusammen.

»Wie alt bist du denn?«, fragte Anna.

»Zwölf«, antwortete Wolfi.

Fassungslos starrte ihn Anna an und versuchte, ihr Erschrecken zu verbergen. »Weißt du was«, sagte sie schließlich. »Hier hat sich doch einiges verändert. Ich bin mir jetzt gar nicht mehr sicher, ob ich das Haus finde. Es ist vielleicht besser, wenn du mich hinbringst. Aber ich möchte nicht, dass du Ärger bekommst, weil du so lange ausbleibst.«

»Schon gut, Mutti ist gewöhnt, dass ich trödle«, antwortete er und schob seine Hand in Annas.

Diese Geste rührte Anna derart, dass sie mit den Tränen kämpfte. Sie empfand es als tröstlich, zusammen mit Wolfi auf das Haus zuzugehen. Je näher sie kamen, umso mehr überlegte Anna, wie die erste Begegnung nach so vielen Jahren wohl ausfallen würde. Sollte sie doch lieber umkehren? Sie war dankbar für Wolfis unbefangenes Geplauder, mit dem er verhinderte, dass sie ganz ins Grübeln verfiel.

»Da wird Mutti sich freuen, wenn ich ihr erzähle, dass Sie mich einen Kavalier genannt haben!«, hörte sie ihn sagen. Stolz schwang in seiner Stimme mit und entlockte Anna ein Lächeln.

»Hier isses!«, stellte Wolfi nach einer Weile fest.

Anna blickte die herrschaftliche Fassade des Bürgerhauses hoch.

»Gucken Sie mal, im ersten und im zweiten Stock sieht man noch die schwärzlichen Einschusslöcher.« Wolfi deutete auf einige Stellen an der Fassade. »Das Dach, die vierte und fünfte Etage, das war alles weg, aber das ist bereits repariert. Jetzt ist das Haus halt ein wenig kürzer. Das Hinterhaus hat nichts abbekommen.«

Wolfi schlug mit der Hand gegen seine Stirn und rief: »Hoffentlich wohnt hier der Anton Künke, den Sie suchen. Der ist sehr alt, bestimmt fünfundzwanzig oder so.«

»Das kommt hin«, sagte Anna. »Aber er sah als kleiner Junge genauso aus wie du.«

»Na denn, ich muss los«, meinte Wolfi.

Anna öffnete ihre Geldbörse und nahm zwei 1-Dollar-Scheine heraus. »Danke für die Hilfe«, sagte sie und gab Wolfi das Geld.

»Ick gloob es nicht!«, rief er überrascht und seine Augen strahlten. »Zwei Dollar! Kommen Sie aus Amerika?«

Anna nickte, und Wolfi musterte sie fasziniert. Er verbeugte sich tief und sagte: »Danke für die Dollars!«

Bevor Anna antworten konnte, flitzte er davon.

Dann drehte er sich noch mal um, winkte und schrie: »Ick kauf mir Brause und den Geschwistern auch! Die grüne mögen wir am liebsten.«

»Wir mochten die rote sehr gerne«, murmelte Anna, während sie die schwere Eingangstür aufstieß, um zum Hinterhaus zu gelangen.

Im Hausflur empfing sie ein vertrauter Geruch. Wie konnte das sein, nach all den Jahren? Sie schalt sich töricht und sentimental. Was sollte sich an der modrigen Ausdünstung des Kellers, die sich bis in den ersten Stock zog, geändert haben? Mit schnellen Schritten ging sie weiter und fand sich im düsteren Hinterhof wieder. Wie als kleines Mädchen galt ihr erster Blick dem Himmel, der sich als winziger Ausschnitt präsentierte. Sie beäugte die Fassade. So schäbig hatte sie das Haus nicht in Erinnerung.

Die Eingangstür des Hinterhauses stand offen. Zögernd trat sie näher, ging hinein und überlegte, ob sie nicht doch umkehren sollte. Noch war es nicht zu spät.

Jemand polterte die Treppe hinunter. Zwei Stufen auf einmal nehmend, am Ende des Absatzes mit beiden Beinen aufstampfend. Das klang nach …

Dann tauchte er vor ihr auf. Ja, er war es!

»Anton«, hauchte Anna.

Er verharrte bewegungslos am Ende der Treppe und starrte sie entgeistert an.

Sie erwiderte seinen Blick und dachte voller Zärtlichkeit an den kleinen blonden Jungen, den sie so sehr geliebt hatte. Jetzt stand er vor ihr – hochgewachsen und gut aussehend. Aus meinem kleinen Bruder ist ein Mann geworden, dachte sie.

Sie trat einen Schritt näher, streckte ihm die Hand entgegen, räusperte sich und brachte mit belegter Stimme hervor: »Guten Tag, Anton.«

Er musterte sie und fragte unsicher: »Sie wünschen?«

»Erkennst du denn deine Schwester nicht mehr?«, fragte sie.

Als würde er aus einem Traum erwachen wollen, fuhr er sich mit beiden Händen über das blasse Gesicht. Verwunderung stand darin. Dann taumelte er, hielt sich am Handlauf der Treppe fest und hauchte: »Bist du das? Igelchen? «

Anna nickte und er wisperte: »Du bist es tatsächlich … Igelchen!«

Sie versuchte, den dicken Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, zu ignorieren. Doch als Anton seine Hand fest um die ihre schloss, liefen ihr die Tränen über die Wangen.

»So viele Jahre!«, schluchzte sie.

»Igelchen!«

Die Zärtlichkeit, mit der er dieses Wort aussprach, raubte ihr den letzten Rest ihrer mühsam aufrechterhaltenen Selbstbeherrschung. »Anton!« Mehr brachte sie nicht hervor.

Er zog sie in seine Arme und wiegte sie sanft, so wie er es früher immer getan hatte, wenn er sie trösten wollte.

Lange standen sie so da, bis er sich von ihr löste und sagte: »Mutter wird Augen machen, wenn sie sieht, welch elegante Dame aus dir geworden ist. Du musst mir alles von dir erzählen. Ach, Igelchen!« Die Worte sprudelten nur so aus seinem Mund.

Um Zeit zu gewinnen, suchte Anna mit zitternden Händen in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Während sie ihre Wangen abtupfte, senkte sie den Blick und sagte mit banger Stimme: »Mutter hat also den Krieg überlebt?«

»Ja«, erwiderte er.

Anna presste die Lippen zusammen. Um ihre Erregung zu verbergen, nestelte sie an den Griffen ihrer Handtasche. »Und Vater?«

»In Russland geblieben«, antwortete Anton.

Anna schämte sich ein wenig, dass sie Erleichterung verspürte, ihrem Vater nicht gegenübertreten zu müssen. Vor dieser Begegnung hatte sie sich noch mehr gefürchtet als vor der Begegnung mit der Mutter. Der Groll auf die Eltern wollte nicht versiegen. Sie stand hier in diesem Hausflur mit den schmutzigen Wänden, und ihr Mut sank.

Sie zögerte und sagte dann: »Ich glaube, es ist besser, wenn ich wieder gehe.«

»Mama ist sehr krank«, erklärte Anton. »Ich weiß, dass sie überglücklich wäre, wenn sie dich in ihre Arme schließen könnte.«

Anna zog die Augenbrauen nach oben und fuhr ihren Bruder an: »Willst du, dass ich mich schuldig fühle?«

Er bedachte sie mit einem erstaunten Blick. »Auf gar keinen Fall. Aber ich finde, du solltest wissen, wie sehr Mama die vergangenen Jahre zugesetzt haben.«

»Glaubst du denn, mir nicht?«, wisperte Anna.

Anton schwieg.

Anna überlegte, horchte in sich hinein. Schalt sich kindisch. Sie hatte beschlossen, sich der Vergangenheit zu stellen und als erwachsene Frau würde sie das jetzt auch tun.

Sie nickte Anton zu, ging zur Treppe und spürte, dass sie weiche Knie bekam. Mit einer Hand hielt sie sich am Treppengeländer fest und begann, die Stufen hochzusteigen.

Anton ergriff ihre freie Hand. »Ich bin bei dir«, versicherte er und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln.

»Hat Mutter dir jemals gesagt, warum sie mich fortgeschickt hat?«

Anton schüttelte den Kopf. »Sie spricht nicht gerne über die Vergangenheit.«

Als sie den ersten Stock des Hauses passiert hatten, sagte Anton: »In der Wohnung ist alles unverändert. Vielleicht noch etwas ärmlicher und schäbiger als früher, aber Mama und ich kommen gerade so über die Runden.«

Sie legte ihren Zeigefinger auf seinen Mund. »Ich kann mir vorstellen, dass du alles tust, was möglich ist. Vor mir brauchst du dich nicht zu rechtfertigen.«

»Wir müssen nicht mehr hungern, das ist das Allerwichtigste«, erklärte Anton. »Wir sind mehr schlecht als recht durchgekommen. Doch bald werde ich eine Stelle als Handelsreisender antreten, dann muss Mama endlich nicht mehr putzen gehen. Denn ihr Rücken ist kaputt und sie bezieht Invalidenrente. Na ja, es lag nicht nur am Rücken. Ihre Nerven sind seit dem Krieg sehr angegriffen. Und das Herz macht auch nicht mehr so richtig mit.«

Anna schwieg und verlangsamte ihre Schritte. Das flaue Gefühl im Magen verstärkte sich und sie rang mühsam nach Luft.

Anton drückte ihre Hand und fragte mit besorgtem Blick: »Kann ich etwas für dich tun?«

Sie schüttelte den Kopf und flüsterte: »Ich bin doch jetzt ein großes Mädchen.«

»Ach, Igelchen«, seufzte er. »Ich laufe besser voraus und bereite Mama auf deinen Besuch vor.«

»Ja«, meinte Anna und blieb stehen, während er zögernd nach oben schritt.

»Nicht weggehen«, flehte er leise.

»Ich bleibe«, versprach Anna.

Als Anna vor der Wohnungstür stand und über dem Briefkastenschlitz den Namen »Künke« las, wurde ihr noch flauer im Magen. Sie holte tief Luft und versuchte sich mit dem Gedanken zu trösten, bald Antworten auf ihre drängendsten Fragen zu bekommen.

Sie hörte gedämpfte Stimmen aus der Wohnung. Nach einiger Zeit öffnete Anton die Tür und forderte sie auf, einzutreten. Sie folgte ihm durch den schmalen Flur in die Küche.

Verwundert blickte Anna auf die grauhaarige Frau, die am Küchentisch kauerte. Ihr Gesicht war von Falten durchzogen. Mit glanzlosen Augen fixierte sie Anna.

Diese warf Anton einen irritierten Blick zu.

Er nickte unmerklich und erst jetzt drang in Annas Bewusstsein, dass sie vor ihrer Mutter stand. Es gelang Anna mit Mühe, ihr Erschrecken zu verbergen. Ihre Mutter war kaum sechzig Jahre alt und sah aus wie eine Greisin.

Anna ging auf sie zu und sagte: »Guten Tag.«

Obwohl sich in ihrem tiefsten Innern ein Funken Mitleid mit der alten Frau regte, brachte Anna das Wort »Mama« nicht über die Lippen. Sie hatte sich fest vorgenommen, unverbindlich, dis-tanziert und gleichgültig zu bleiben. Sie wollte keine Gefühle aufkommen lassen, um der Mutter nicht die Möglichkeit zu geben, sie erneut zu verletzen.

Grete stand mühsam auf und fasste mit der Hand an ihren Rücken, während sie das Gesicht vor Schmerz verzog. Als sie sich endlich aufgerichtet hatte, wankte sie auf Anna zu und wisperte: »Mein Mädchen, ich bin so glücklich, dass du gekommen bist!«

Anna wich erschrocken zurück, als ihre Mutter versuchte, sie zu umarmen.

Grete ließ die Arme sinken, sie baumelten neben ihrem Körper, als würden sie nicht zu ihr gehören. Anna registrierte, dass ihre Mutter feuchte Augen hatte. Auch sie rang um Fassung.

Grete sackte auf den Stuhl, den ihr Anton hingeschoben hatte. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und Anna sah, dass ihre Schultern bebten.

Anton streichelte sanft über Gretes Rücken und bat seine Schwester: »Setz dich.«

Schweigend starrte Anna auf ihre Mutter. All die Worte, die sie sich in den zahllosen schlaflosen Nächten der letzten Jahre zurechtgelegt hatte, erschienen nun unpassend. Der Zorn, der jahrelang ihr Leben bestimmt hatte, wallte nicht mehr auf.

Sie beobachtete verwirrt diese weinende, gebrochene Frau, die sie als stark und zupackend in Erinnerung hatte. Anna fielen die rissigen, roten Hände der Mutter auf und sie schaute in Antons besorgtes Gesicht. Sie schwieg und wartete darauf, dass die Mutter sich beruhigte.

Anna blickte in der Küche umher, die ihr unverändert schien. Das weiße Küchenbuffet, der Kohleherd, das Spülbecken und das Sofa. Die kleinen Kissen, ordentlich an der Rückenlehne platziert, mit Sinnsprüchen, die Mutter mit geschickter Hand aufgestickt hatte: »Trautes Heim, Glück allein« und »An Gottes Segen ist alles gelegen«. Der Esstisch in der Mitte des Raumes mit den vier Stühlen und der Holzdielenboden. All das erkannte Anna wieder.

Sie stutzte, als sie an der Wand ein Ölgemälde bemerkte, das so gar nicht zu der einfach eingerichteten Küche passen wollte. Auf welche Art und Weise ihre Mutter wohl zu diesem Bild gekommen war? Es zeigte das Porträt einer fröhlich dreinblickenden braunhaarigen jungen Frau.

Irritiert von ihren Gedanken, musterte Anna ihre Mutter und hielt deren scheuem Blick stand.

Stumm sah Anna, wie Grete die Tränen aus den Augen rannen, die sie mit dem Handrücken aus dem Gesicht wischte. Sie betrachteten sich schweigend. Nun konnte auch Anna ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, als ihre Mutter wisperte: »Ich habe dich geliebt, mein Mädchen. Immer. Es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich gedacht habe.«

»Du hast mich weggeschickt«, schluchzte Anna.

»Ich hatte keine andere Wahl«, flüsterte Grete.

»Wieso wolltest du mich nicht mehr in deiner Nähe haben? Was glaubst du, wie es sich anfühlt, in einer Anstalt zu leben und dann plötzlich auf sich allein gestellt zu sein? Mit wildfremden Leuten unterwegs zu einem unbekannten Ziel …«

»Bestimmt ganz furchtbar«, antwortete Grete.

»Es war entsetzlich! Und ich frage mich, was damals im Krankenhaus mit mir passiert ist. Ich wollte mich gestern dort behandeln lassen. Die Stimme und das Lachen des Arztes, der mich untersuchen sollte, haben in mir die Erinnerung an eine Operation geweckt. Es war ein schrecklich beklemmendes Gefühl, ähnlich den Angstträumen, die mich nachts heimsuchen. Du musst mir unbedingt sagen, was damals geschehen ist!«

Grete griff mit einer Hand an ihr Herz und Anton schrie entsetzt: »Mama!«

Aus einem Röhrchen nestelte er eine Tablette und reichte sie seiner Mutter mit einem Glas Wasser.

»Das ist zuviel Aufregung für Mama«, stellte Anton fest.

Grete winkte ab und murmelte: »Die Operation … Es ist lange her. Du solltest die Vergangenheit ruhen lassen und nach vorne schauen!«

»Das ist mir nicht möglich«, brüllte Anna, sodass Grete erschrocken zusammenzuckte. »Ich habe schlaflose Nächte, Albträume und soviel Wut in mir, dass ich manchmal nur schreien möchte!«

Anna fing an, haltlos zu weinen. Diese fremde Frau – ihre Mama – tat ihr wieder weh. Sie sah nicht ihre Qual. Wie in früheren Zeiten. Zu den alten Verletzungen kamen jetzt neue dazu. Alles in Anna krampfte sich zusammen. Sie fühlte sich traurig und erschöpft, das Mitleid verschwand, der alte Zorn stieg wieder hoch. Sie öffnete den Mund, wollte all die zurechtgelegten Worte nun doch herausschreien.

Die Mutter kam ihr zuvor und sagte mit heiserer Stimme: »Dein Papa ist tot.«

»Er hat es verdient«, stieß Anna hervor. »Wenn ich daran denke, wieviel Angst ich vor seinen Tobsuchtsanfällen und vor seinen Schlägen hatte, wird mir heute noch übel. Wie oft habe ich Anton getröstet, als unser sogenannter Vater dich geschlagen hat und mein kleiner Bruder in Panik geriet und um dein Leben fürchtete.«

»So schlimm war das für euch?«, erwiderte Grete bestürzt und wandte sich an Anton. »Junge, sag doch etwas! Stimmt das?«

Anton nickte.

»Das tut mir leid«, sagte Grete erschüttert. »So habe ich das nicht wahrgenommen.«

»Das wundert mich, wo Anton doch immer dein Lieblingskind war«, schleuderte Anna ihr entgegen. »Ich bin gekommen, um endlich die Wahrheit über meine Kindheit zu erfahren.«

»Du hast dich zu einer eleganten und bildschönen Frau entwickelt«, versuchte Grete, abzulenken.

»Ich bin Opernsängerin geworden«, antwortete Anna. »Eigentlich sollte ich bei der Eröffnungsgala der Lindenoper singen, aber meine Stimme …« Sie brach ab, fasste mit ihrer Hand an den Hals und merkte erst jetzt, dass er schmerzte.

»So berühmt bist du?«, sagte Grete verwundert. »Ich bin erleichtert, dass du jetzt ein gutes Leben hast. Das hast du doch, oder?«

»Hörst du mir überhaupt zu?«, keuchte Anna heiser.

Anton schlang die Arme um seine Mutter und fragte: »Mama, warum fällt es dir so schwer, über frühere Zeiten zu sprechen?«

Sie winkte ab. »Ach, Anton, die alten Geschichten, du kennst sie alle.«

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte er. »Aber im Gegensatz zu Anna habe ich auch viele gute Erinnerungen an meine Kindheit.«

»Oder du hältst das, was man dir darüber erzählt hat, für deine eigenen Eindrücke«, stieß Anna bitter hervor.

Grete bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick und es schien, als schaute sie weit zurück in die Vergangenheit.