Über das Buch:
Lena hasst ihr neues Leben. Seit sie im Rollstuhl sitzt, ist nichts mehr, wie es war. Sie mag ihre Freunde nicht sehen, nicht mehr aus dem Haus gehen und schon gar nicht mit ihren Eltern in die Kirche!

Doch Tom, den sie eigentlich gar nicht kennt, kommt sie einfach besuchen und zeigt ihr ein mysteriöses Nintendo-Spiel, mit dem man angeblich in eine andere Welt eintauchen kann. Das klingt absolut verrückt und Lena ist mehr als skeptisch – vor allem, weil sie ausgerechnet eine Bibel mitnehmen soll.

Als Tom sie überzeugt, dass er die Wahrheit sagt, überlegt sie allerdings nicht lange. Hals über Kopf stürzt sie sich in die Welt von Jabando. Aber kann sie die Aufgaben überhaupt meistern?

Finde mit Lena den richtigen Weg durch ein abenteuerliches Labyrinth voller Herausforderungen, kniffliger Entscheidungen und Begegnungen, die ihr Leben verändern!

Über die Autorin:
Annette Spratte lebt mit ihrem Mann und zwei Söhnen im Westerwald. Aus einer tiefen Liebe zum geschriebenen Wort heraus arbeitet sie als Autorin und Übersetzerin. Es ist ihr schon seit vielen Jahren ein Herzensanliegen, die Liebe Gottes als das lebendig gewordene Wort an andere Mesnchen weiterzugeben und damit Leben positiv zu verändern.

Über den Illustrator:
Daniel Fernández, geboren in Santiago de Chile, lebt seit 10 Jahren in Deutschland. Er hat als Art Director, Illustrator und Designer bei vielen großen Werbeagenturen gearbeitet. In Deutschland hat er bisher über 50 Titel illustriert.

Kapitel 7

Die nächste Gabelung ließ ihre Zuversicht dahinschmelzen wie ein Stück Butter in der Pfanne. Da standen Statuen. In beiden Gängen standen Statuen. Nein, falsch. In dem einen Gang stand eine Statue und in dem anderen Gang standen viele. Männer und Frauen, manche mit altertümlichen Gewändern bekleidet, aber die meisten nackt. Lena starrte völlig verwirrt von einer Statue zur nächsten. Was sollte das? Wer waren diese Leute? Und was hatten sie mit der Bibel zu tun? In den Zehn Geboten hieß es ja eindeutig, dass man kein Bild von Gott anbeten sollte und auch keine Statuen. Wenn jetzt also in dem einen Gang Statuen gestanden hätten und in dem anderen nicht, wäre ja alles klar gewesen. Aber warum stand da diese eine Statue allein? Sie war vollkommen ratlos.

„So ’n blödes Spiel“, schimpfte sie heiser und sah sich den Hinweis an.

Apostelgeschichte 17,16-29

Nutzlos. Lena spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen und das machte sie wütend. Warum hatte sie nicht auf Tom gewartet? Warum hatte sie unbedingt so voreilig sein müssen? Und warum in aller Welt war sie einfach ohne Bibel in den Gang gefahren?! Das war das Schlimmste. Zu wissen, dass sie sich selbst in diese aussichtslose Lage gebracht hatte und jetzt hoffnungslos gestrandet war. Was sollte sie nur tun? Früher hatte sie gebetet, wenn sie nicht mehr weiterwusste. Aber jetzt?

„Du hilfst mir ja sowieso nicht“, presste sie verbittert zwischen den Zähnen hervor und fuhr aufs Geratewohl in den Gang mit den vielen Statuen hinein. Das Licht wurde wieder schwächer, aber sie konnte gerade noch erkennen, dass auf dem Sockel jeder Statue etwas geschrieben stand.

„Zeus, Poseidon, Aphrodite“, murmelte Lena leise vor sich hin, während sie an den Statuen vorbeifuhr. „Adonis, Aksel… nee, Alsek… was? … Asklepios. Du meine Güte, was ist das denn? Gaia, Dionysos. Hm, Persephone, Hermes … Hermes? Der bringt doch die Pakete …“ So langsam dämmerte ihr, womit sie es zu tun hatte. „Sind das alles Götter? Römische oder griechische oder so?

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Das könnte sein. Aber was war dann mit der einzelnen Statue? Die sah doch genauso aus wie die hier?“ Weiter und immer weiter folgte Lena dem mit Statuen gesäumten Gang, der kein Ende zu nehmen schien.

„Oh Mann, wie viele sind denn das? Da wird man ja irre!“ Sie bemerkte, dass die Abstände zwischen den Statuen allmählich immer größer wurden. Auch der Gang wurde breiter. Und es wurde immer dunkler.

Lena wusste, dass es keinen Sinn hatte, umzudrehen. Sie musste weiter. Matt schimmerten rechts und links die weißen Gestalten. Es wirkte etwas gespenstisch, aber immerhin gaben sie Lena Orientierung. Ein Windhauch strich ihr durch die Haare. Lena stutzte und hielt an. Ein Windhauch?

Sie sah sich um. Ohne es zu merken, hatte sie den Gang verlassen und befand sich jetzt auf einem Weg, der immer noch von Statuen gesäumt war. Über ihr erstreckte sich ein nächtlicher Sternenhimmel und eine Mondsichel gab schwaches Licht ab. Der Weg war leicht abschüssig und in einiger Entfernung konnte Lena vereinzelte Lichter erkennen. Eine Stadt? Jedenfalls keine Stadt, wie sie sie kannte. Es gab keine Straßenlaternen und auch keine Autos. Alles war dunkel und still, bis auf das Zirpen einer Grille.

Lena schaute auf das Display des Nintendos. Sie war im Zentrum des Labyrinth-Kreises angekommen und dort waren einige Häusersymbole eingezeichnet. Und ein Schiff. Sie schluckte ein paarmal. In den Gängen herumzufahren, hatte ihr nicht viel ausgemacht. Es war so ähnlich wie im Zimmer und sie hatte sich eigentlich sicher gefühlt. Aber jetzt war sie draußen. Allein. Nachts. Und sie hatte keine Ahnung, wo genau sie sich befand. Irgendwie musste es aber Teil des Spiels sein, sonst wäre doch die Stadt nicht auf dem Display eingezeichnet. Oder? Krampfhaft umklammerte Lena die Räder ihres Rollstuhls. Der abschüssige Weg machte ihr Angst. Was, wenn sie die Kontrolle über den Rollstuhl verlöre und dann wild bergab raste?

„So steil ist der Weg nun auch nicht“, versuchte sie sich selbst zu beruhigen, aber ihr Herz schlug ihr trotzdem bis zum Hals. Mal wieder. Ob sie doch umdrehen sollte? Vielleicht kam sie zurück in den Gang und es fand sich noch eine andere Gabelung … Unbewusst schüttelte Lena den Kopf. Sie wusste doch, dass es nicht so war. Was sollte sie nur tun? Der Ausweg musste irgendwo in der Stadt sein. Eines war klar: Bisher war der einzige Weg der Weg nach vorn gewesen. Sie musste also diesen Hügel hinunter, koste es, was es wolle.

Mit einer ungeduldigen Handbewegung wischte sich Lena die Tränen aus dem Gesicht. Sie würde jetzt weiterfahren. Sie würde einfach ein Stückchen fahren und dann den Rollstuhl schräg stellen und eine Pause machen. Dann könnte sie nicht unkontrolliert nach unten rollen. Und falls es zu unsicher wurde, würde sie die Bremsen feststellen. Ja. So würde es gehen.

Sie holte noch einmal tief Luft und gab den Rädern einen vorsichtigen Anschwung. Nach ein paar Metern stellte sie fest, dass sie längst nicht so viel Fahrt aufnahm, wie sie befürchtet hatte. Sie konnte dem Weg in einem angemessenen Tempo folgen. Es war sogar ganz angenehm, weil sie eigentlich nur ein wenig lenken musste. Wie früher beim Inlineskaten bei ihrer Freundin in der Straße. Die war auch nur ganz leicht abschüssig gewesen und sie waren immer Hand in Hand da entlanggerollt. Auf dem Rückweg hatten sie sich ein Wettrennen geliefert, um dann wieder einträchtig zusammen runterzurollen.

Es dauerte gar nicht lange und Lena erreichte die ersten Häuser. Die meisten waren dunkel, aber hier und da schien ein Licht aus dem Fenster. Die Straßen waren recht holprig, nicht so glatt, wie die Gänge im Labyrinth es gewesen waren. Aber Lena kämpfte sich voran, auch als es etwas bergauf ging.

„Ich komm mir ja vor wie im Fitnessstudio“, keuchte sie. Leer waren die Straßen, sie hörte und sah keine Menschenseele.

Nach einiger Zeit erreichte sie einen großen Platz, der ebenfalls leer war. Linker Hand führte eine Straße bergab und es sah so aus, als wären in dieser Richtung kaum noch Häuser. Geradeaus und rechts gab es noch zwei Straßen, die zwischen dicht gedrängten Gebäuden einen weiteren Hügel hinaufführten. Wo sollte sie hin? Auf dem Nintendo stand wieder eine Bibelstelle, augenscheinlich eine sehr lange diesmal, wahrscheinlich eine ganze Geschichte.

Apostelgeschichte 27,9-44

Das waren – Lena überlegte kurz – 35 Verse, oder? Toll. Davon wusste sie aber auch nicht, wo sie hin sollte. Sie wandte sich nach links. Tatsächlich endete die Häuserzeile schon nach drei Häusern und vor ihr erschien eine dunkle Leere, die sie zunächst nicht deuten konnte. Als sie um die Ecke des letzten Hauses fuhr, erkannte sie im schwachen Mondlicht ein großes Segelschiff, das offensichtlich an einer Kaimauer vor Anker lag. Die dunkle Leere war das Meer. Ein Steg führte von der Kaimauer auf das Schiff. Eigentlich war es nur eine mächtige Holzplanke, an der an beiden Seiten auf Hüfthöhe Seile gespannt waren. Lena zuckte mit den Schultern. Sie rollte noch ein Stück am Schiff vorbei, aber dort endete die Kaimauer und sie kam nicht mehr weiter. Also fuhr sie zurück zu dem Platz und kämpfte sich mit Mühe den Hügel zwischen den Häusern hinauf.

Als sie endlich oben angekommen war, stellte sie fest, dass der Weg in einem Bogen wieder hinunter in die Stadt führte. Lena biss die Zähne zusammen. War ja schon ein Wunder, dass die Stadt nicht einfach verschwunden war. Aber ob sie darüber jetzt froh sein sollte, wusste sie auch nicht. Es war kühl oben auf dem Hügel. Sie war verschwitzt von der Anstrengung und der Wind ließ sie frösteln. Außerdem tat ihr der Rücken von dem Sprung aus dem Korb immer noch ein bisschen weh und ihre Arme fühlten sich allmählich wie Pudding an. Sie würde morgen sicherlich einen mordsmäßigen Muskelkater haben. Langsam rollte sie den Weg entlang zurück in die Stadt. Wieder landete sie auf dem leeren Platz, gegenüber von der Straße, die zum Kai hinunterführte. Lena hatte schon keine Kraft mehr, wütend zu werden. Stattdessen machte sich Verzweiflung in ihr breit, aber sie biss erneut die Zähne zusammen. Es musste doch einen Ausweg geben.

Nachdem sie einen Moment verschnauft hatte, fuhr sie wieder los. Diesmal nahm sie den Weg, auf dem sie als Erstes in die Stadt gekommen war. Vielleicht führte er sie ja doch zurück in das Labyrinth! Die Steigung, die ihr vorher noch so viel Angst gemacht hatte, erschien ihr jetzt fast lachhaft, nachdem sie den anderen Hügel bewältigt hatte. Natürlich kam sie nicht zurück ins Laby-
rinth. Auch dieser Weg führte jetzt in einem Bogen wieder in die Stadt hinein; von den Statuen, die den Weg gesäumt hatten, war weit und breit keine Spur zu sehen.

Es war vollkommen klar, welchen Weg Lena nehmen musste. Der einzige Ausweg war das Schiff. Sie ließ sich wieder in die Stadt hinein und hinunter zum Hafen rollen. Vor dem Schiff angekommen, starrte sie ängstlich ins dunkle Wasser. Der Steg schien unendlich lang zu sein und er war kaum breiter als ihr Rollstuhl. Wenn sie abrutschte, würde sie ins Wasser stürzen, denn die Seile an den Seiten halfen ihr gar nichts. Sie würde einfach darunter hindurchrutschen.

Es dauerte sehr lange, bis Lena den Mut gefunden hatte, auf den Steg zu fahren. Doch ihre Versuche waren vergebens. Die Holzplanke war so dick, dass sie mit den vorderen Rädern des Rollstuhls hängen blieb und gar nicht erst auf das Brett hinaufkam. Sie würde den Rollstuhl nach hinten kippen müssen, um die Vorderräder anzuheben. Das hatte sie noch nie allein versucht. Die Gefahr, mit dem Stuhl nach hinten umzufallen, war sehr real. Und rückwärts über die Planke zu balancieren, kam schon mal gar nicht infrage. Schon wieder stiegen ihr Tränen in die Augen. Aber was half es? Es gab keinen anderen Ausweg, sie musste da hoch!

Verbissen kämpfte Lena mit den Rädern, kippte den Rollstuhl immer wieder vorsichtig nach hinten, bis sie es endlich geschafft hatte, ohne die Balance zu verlieren. Aber es hatte sie wirklich ihre letzten Kräfte gekostet. Ihre Arme zitterten vor Anstrengung. Und jetzt, wo sie auf dem Steg war, merkte sie noch etwas viel Schlimmeres: Der Steg schwankte. Das Meer war zwar ruhig und es waren keine Wellen zu sehen, aber trotzdem bewegte sich das große Schiff gemächlich auf und ab.

Lena wurde schlecht vor Angst. Sie konnte das nicht. Sie konnte nicht über diese schmale, schwankende Planke fahren mit nichts unter sich als dunklem Wasser. Wenn sie da hineinfiel, würde sie wie ein Stein versinken. Nur mit den Armen würde sie sich nicht über Wasser halten können. Sie ließ den Rollstuhl rückwärts zurück auf den Kai rollen und fing laut an zu schluchzen. Ihre ganze Hilflosigkeit und die Verzweiflung, die sie so mühsam im Zaum gehalten hatte, brachen aus ihr hervor.

„Was soll ich denn jetzt machen?!“, jammerte sie und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Sie wollte nichts mehr sehen. Sie wollte nur noch nach Hause. Sie wollte, dass das alles ein Ende hatte!