Über das Buch:
Es ist eine unerwartete Frage, die Kathy Izards Leben für immer verändert. »Und wo sind hier die Betten?«, will der ehemalige Obdachlose Denver Moore (bekannt durch den Bestseller »Genauso anders wie ich«) von ihr wissen, als sie ihm stolz die Obdachlosenarbeit präsentiert, in der sie sich ehrenamtlich engagiert.

Fortan lässt ihr diese Frage keine Ruhe mehr. Sie fühlt sich herausgefordert, mehr zu tun, als in der Suppenküche mitzuarbeiten – und so gibt die Grafikdesignerin und Mutter von vier Töchtern ihren Job auf und stellt sich einer Herausforderung, die viel zu groß für sie zu sein scheint: Häuser für Obdachlose zu bauen. Dabei kommt sie nicht nur mit ihrer eigenen Vergangenheit ins Reine, sondern erlebt auch Wunder über Wunder und kann schließlich gar nicht mehr anders, als zu erkennen: Ja, es gibt einen Gott. Er hat einen Plan für uns und ist in unserem Leben am Wirken. Und so verrückt es sich auch anfühlen mag, auf sein Flüstern zu hören – verrückter wäre, es nicht zu tun.

Über die Autorin:
Kathy Izard ist verheiratet, hat vier Töchter, lebt in Charlotte und arbeitete 20 Jahre lang als Grafikdesignerin. 2007 initiierte sie in ihrer Stadt das Programm „Homeless to Homes“, fand darüber nicht nur zu einem erfüllten Leben, sondern auch zum Glauben, und schuf mit „Moore Place“ ein Zuhause für über hundert vormals obdachlose Menschen, die alle ihre ganz eigene Geschichte haben.

5. Ein Loch im Herz

Die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, ist etwas Gewaltiges.
Damit ist für immer festgelegt,
dass du dein Herz außerhalb
deines Körpers herumlaufen lässt.

Elizabeth Stone5

Ich verliebte mich nicht nur in Charlie auf den ersten Blick, sondern auch in seine Familie. Durch meinen Umzug nach North Carolina hatte ich anscheinend zufällig das Leben gefunden, nach dem ich suchte. Charlie kam aus einer großen, ausgelassenen Familie von der Art, wie ich sie bei anderen schon immer bewundert hatte. Er war das mittlere von fünf Kindern, die seine Mutter innerhalb von sechs Jahren zur Welt gebracht hatte. Junge, Mädchen, Junge, Mädchen, Junge. Seine Eltern waren Nachbarn in Asheville, North Carolina, gewesen, doch weil zwischen ihnen ein Altersunterschied von acht Jahren bestand, hatten sie sich als Kinder nicht wirklich kennengelernt. Erst Jahre später entdeckten sie sich wieder und ihre fünf Kinder waren schließlich Teil einer großen Familie auf beiden Seiten. Es gab so viele Cousins, Cousinen, Onkel und Tanten, dass Charlie für mich einen Familienstammbaum aufzeichnen musste, als über fünfzig von ihnen zu unserer Hochzeit nach El Paso kamen.

Als Charlie sechs Jahre alt war, zog seine Familie in ein malerisches, mit grauen Schindeln bedecktes Haus, das auf einem mehr als achttausend Quadratmeter großen wunderbaren Gartengrundstück in Rye, New York, stand. Als ich zum ersten Mal sein Elternhaus besuchte, kam es mir so vor, als würde ich mich in einem Werbespot für eine Großfamilie befinden. Während ich in der gemütlichen Küche saß, kochte Charlies Mutter ein reichhaltiges Abendessen nach einem Familienrezept, während sein Vater von draußen immer wieder frisch geerntetes Gemüse hereinbrachte und ein Golden Retriever und zwei Dackel zu meinem Füßen schwanzwedelnd um Aufmerksamkeit bettelten. An der Wand neben dem Esstisch hing ein gerahmtes Bild, das von einem Freund gemalt worden war und Charlies Familie darstellte. Darauf spielten die Kinder ausgelassen in der Einfahrt, Tiere rannten wie verrückt hin und her und die Eltern versuchten lachend und liebevoll, das Chaos unter Kontrolle zu behalten.

Als ich das Bild betrachtete, wurde ich von einer Sehnsucht erfüllt, die ich gar nicht so genau benennen konnte. Das unbesorgte Lachen und die Liebe, die von den Personen dort ausging – das alles ließ mich den enormen Verlust erkennen, den meine Familie erlitten hatte. Die Normalität von Charlies Elternhaus schenkte mir ein Gefühl des Friedens und der Geborgenheit, das mir wie ein Luxus vorkam. Als ich Charlie gefunden hatte, so schien es, hatte ich auch eine ganze Familie gefunden. Obwohl ich nie zuvor dort gewesen war, fühlte es sich für mich so an, als würde ich nach Hause kommen.

Das wollte ich genau untersuchen. Und es festhalten. Egal was dieses Haus für mich zu einer Heimat machte – ich war entschlossen, dass Charlie und ich es in unserer künftigen Familie genauso nachbilden würden.

Drei Jahre nach unserer Hochzeit und drei Tage vor meinem sechsundzwanzigsten Geburtstag wurde unsere erste Tochter, Lauren Lindsay, geboren. Ihr folgte siebzehn Monate später ihre Schwester Kailey. Wir waren der Meinung, dass ein weiteres Kind unsere Familie perfekt machen würde, doch dieses Mal wurde ich nicht so schnell schwanger. Also ordnete mein Gynäkologe eine Ultraschalluntersuchung an, um herauszufinden, ob ich eine Zyste hatte.

„Tja, da sind zwei“, meinte der Ultraschall-Assistent, der sich den Patientinnen gegenüber eigentlich gar nicht äußern durfte.

„Zwei Zysten?“, fragte ich.

„Zwei Babys!“, antwortete er, als ob ich schwer von Begriff sei.

„Zwei Babys? Ich bin aber nicht schwanger.“

„Oh doch, das sind Sie“, sagte er. „Mit Zwillingen!“

Die beiden Schwestern, Maddie und Emma, vervollständigten unsere Familie. Nun waren wir zu sechst. Nach der Geburt der Zwillinge brauchten Lauren und Kailey keine Puppen mehr zum Spielen. Nun hatten sie zwei lebendige – eine für jede von ihnen –, und das eröffnete ihnen endlose Möglichkeiten. Maddie und Emma wurden in bizarre Kostüme gesteckt und huckepack herumbalanciert. Im Garten rührten ihnen ihre großen Schwestern Mahlzeiten aus Zweigen, Laub und Matsch an. Sie waren ein fröhliches, stets wachsendes Rudel, das scheinbar aus einem Körper, acht Beinen und vier Herzen bestand. Ein Ruf – „Laurenkaileyemmamaddie!“ – ließ sie alle vier zum Abendessen die Treppen heruntergepoltert kommen, wobei sich die älteren Schwestern je einen Zwilling unter den Arm klemmten.

Wenn ich die vier anschaute, war ich manchmal regelrecht überwältigt. Ich konnte es gar nicht glauben, dass sie unsere Kinder waren. Dass wir dieses blonde Bündel von vier hübschen Mädchen in die Welt gesetzt hatten.

Ihre Ausgelassenheit und ihr Gekicher begannen in unserem eigenen Haus ein Bild zu schaffen, so wie es bei Charlies Familie an der Küchenwand hing. Nun lebten wir selbst in einem malerischen Haus, nicht weit entfernt vom Queens College (heute Queens University), wo meine Mutter studiert und meinen Vater kennengelernt hatte.

Charlie und ich fanden einen guten Rhythmus für die täglichen Pflichten, die anfielen, um für eine sechsköpfige Familie zu sorgen. Wir teilten die Aufgaben unter uns auf. Obwohl ich mich entschlossen hatte, zu Hause zu bleiben, wollte ich meinen Beruf doch nicht so ganz aufgeben. Also startete ich von zu Hause aus ein Grafikdesign-Unternehmen, entwarf Logos und Broschüren, während die Kinder schliefen. Wir hatten verschiedene Babysitter, doch ich wollte diejenige sein, die da war, wenn die Mädchen aus der Schule kamen. Ich wollte sie fragen, wie ihr Tag gewesen war. Ich hatte mir selbst geschworen, dass unsere Familie niemals zerbrechen würde. Es sollte bei uns immer so sein, wie es in meiner Kindheit gewesen war, bevor die Probleme begannen. Ich würde meine Kinder beschützen und wir würden immer eine heile Familie sein.

Ich erinnerte mich daran, wie leicht es Gigi gefallen war, sich zu mir auf das Sofa zu kuscheln und sich meine Probleme anzuhören. Es war für sie das Natürlichste auf der Welt gewesen, mir und meinen Schwestern zuzuhören und uns zu lieben. Doch ich merkte, dass es mir sehr schwerfiel, das auch zu tun. Ich wollte für meine Mädchen alle Probleme lösen, damit sie nie weinen oder traurig sein mussten. Mit anzusehen, dass es einer unserer Töchter schlecht ging, war für mich unerträglich. Ich hatte nicht geahnt, dass Mutter sein einem so an die Nieren gehen würde.

Maddie und Emma waren sechs Wochen zu früh zur Welt gekommen. Emma wog gut 2700 Gramm, Maddie dagegen nicht einmal 2200 Gramm. Während Emma ein eher pummeliges kleines Baby war, blieb Maddie viel kleiner und zierlicher als ihre Schwester. Zunächst machten wir uns darüber keine Gedanken, denn Maddie erreichte jeden Meilenstein ihrer Entwicklung noch früher als Emma – lächeln, stehen, krabbeln. Sie war ein winziges Energiebündel, das nie still saß und nicht gern schlief. Wenn sie dann endlich einschlief, war es, als sei sie in Ohnmacht gefallen, als hätte jemand bei ihr den Stecker gezogen. Doch bei einer Vorsorgeuntersuchung im Alter von neun Monaten wog Maddie nur gut sechs Kilogramm und das alarmierte den Kinderarzt.

„Sie erfüllt alle Kriterien für eine Entwicklungsstörung“, sagte er zu mir, nachdem er ihre Gewichtskurve betrachtet hatte.

Wir hatten Maddie schon aufmerksam beobachtet, seit der Arzt bei der letzten Untersuchung vor drei Monaten einen ungewöhnlichen Herzrhythmus bemerkt hatte. Er hielt mir das Stethoskop hin und fragte: „Hören Sie das? Dieses leise Murmeln?“ Ich steckte mir die Kopfhörer in die Ohren und lauschte. Da war ein deutliches, aber schwaches wuuusch zu hören, das Maddies Herzschlag begleitete. Dann legte der Kinderarzt das Ende des Stethoskops auf Emmas Brust und ich lauschte wieder. Doch hier war nur ein starkes, solides Klopfen zu hören, während Emma das Stethoskop packte und darauf zu kauen versuchte.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Maddie ein Loch im Herzen hat“, meinte der Arzt.

Der Fachbegriff dafür, so erfuhren wir später, lautet Atriumseptumdefekt (ASD). In der Herzscheidewand zwischen den beiden Vorhöfen von Maddies Herz war ein Loch. Alle Babys werden mit dieser Öffnung geboren und sie sollte sich eigentlich innerhalb von einigen Wochen oder Monaten nach der Geburt schließen. Wenn sie weiter offen bleibt, aber nicht groß ist, verursacht sie keine Symptome. Doch je größer das Loch ist, desto härter müssen Herz und Lunge arbeiten, um das Blut, das in die falsche Richtung fließt, wieder zurückzupumpen.

„Maddie muss praktisch einen Marathon laufen, auch wenn sie still sitzt“, erklärte mir der Arzt.

Ein hinzugezogener Kardiologe bestätigte die Diagnose des Kinderarztes: „Ich fürchte, wir müssen Maddie am offenen Herzen operieren.“ Da war Maddie neun Monate alt.

Während sich eine Operation am offenen Herzen für Charlie und mich beängstigend anhörte, war es für die Ärzte nur ein Routineeingriff. Sie nannten ihn „die Blinddarm-OP der Herzchirurgie“. Doch Tatsache war: Sie würden unserem kleinen Baby den Brustkorb öffnen, sein Herz zum Stillstand bringen, das Loch schließen und alles wieder zunähen.

Maddie würde zwei Narben zurückbehalten – eine, die quer über den ganzen Brustkorb verlief, und eine kleinere von den Drainageschläuchen. Mit den Narben würde sie leben können, aber ich war mir nicht sicher, ob ich ohne Maddie leben konnte. Wenn das Ganze nicht gut ausging, wie könnte ich dann jemals Emma anschauen, ohne an ihre andere Hälfte zu denken? Wie kann eine Mutter den Verlust ihres Kindes überleben?

In den Wochen vor der Operation machte ich mir unaufhörlich Sorgen.

„Du könntest es mal mit Beten versuchen“, schlug mein Vater am Telefon vor.

„Ich wünschte, ich könnte daran glauben, dass das etwas bewirkt. Aber ich glaube es nicht“, erwiderte ich.

„Ich weiß. Ich wünschte auch, du würdest daran glauben“, antwortete er. „Aber ich kann es ja für dich probieren.“

„Danke, Dad. Ich bin nur einfach nicht sicher, dass Gott wirklich zuhört.“

„Du wirst es irgendwann schon erleben“, versicherte er mir. „Vielleicht denkst du jetzt, dass er dich nicht hört, aber das tut er. Da bin ich mir ganz sicher. Gott schickt dir vielleicht nicht genau das, was du erwartest, aber er ist immer bei dir.“

Gott muss die Gebete meines Vaters wohl erhört haben, denn Maddies Operation verlief erfolgreich. Nach drei Tagen saß sie schon wieder aufrecht und aß Pfannkuchen und am vierten Tag wurde sie entlassen. Als Kleinkind deutete Maddie immer wieder stolz auf ihren Bauch und nannte ihre Narbe den „Streifen“. Ihre Energie war nach wie vor ungebrochen, darum gab Charlie ihr den Spitznamen Tigger. Drei Monate nach der Operation feierten wir Maddies und Emmas ersten Geburtstag. Unsere sechsköpfige Familie war wieder heil und vollständig. Unsere vier Mädchen drängten sich in der Küche aneinander, als ich den Zebrakuchen hereintrug, Charlies Lieblingskuchen, der aus dünnen Schokoladekeksen besteht, die mit Schlagsahne überzogen sind und im Kühlschrank gekühlt eine klebrige Köstlichkeit sind. Die Zwillinge zappelten herum und kicherten und schafften es nicht, ihre Kerzen auszupusten, also mussten Lauren und Kailey es für sie tun, während die beiden kleinen Schwestern ihnen mit großen Augen zusahen.

Keiner brauchte sich etwas zu wünschen, denn so viele Wünsche waren bereits in Erfüllung gegangen.

5 Elizabeth Stone in: I’ll Fly Away. Further Testimonies from the Women of York Prison. Herausgegeben von Wally Lamb. New York: Harper, 2007, S. 55.

6. Eine Suppe und das Heil

Hier mein Geheimnis. Es ist ganz einfach: Man sieht nur mit dem Herzen gut.
Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar.

Antoine de Saint-Exupéry6

Nachdem ich selbst Mutter geworden war und sah, wie schwierig es war, allen Bedürfnissen und Emotionen der Mädchen gerecht zu werden, war ich meiner eigenen Mutter gegenüber etwas milder gestimmt. Es war demütigend zu erkennen, dass es selbst mit einem gesunden, wenn auch müden Verstand nicht so einfach war, Mutter zu sein, geschweige denn mit einem Verstand, der sich gegen eine manische Depression zur Wehr setzen musste.

Ich dachte darüber nach, wie meine Eltern es geschafft hatten, sich sozial zu engagieren, während sie drei Töchter großzogen und mit Mutters chronischer Erkrankung zu kämpfen hatten. Die ganze Zeit über war mein Vater ehrenamtlich tätig gewesen, hatte in der Gemeinde mitgeholfen und seine Kanzlei geleitet.

Charlie arbeitete als Vermögensberater und machte sich ständig Gedanken darüber, wie wir die Kosten für vier Kinder aufbringen und für ihre Zukunft vorsorgen könnten. Mich wiederum beschäftigte die gute Erziehung unserer Töchter. Wie konnte ich ihnen die beiden Gebote vermitteln, die ich von meiner Familie gelernt hatte: Gutes tun und andere lieben?

Die Kirche war für mich kein Ort, den ich mit meinen Kindern wieder aufsuchen wollte. All die Stunden, die ich damit verbracht hatte, auf der Bank still zu sitzen, waren nur der Preis, den ich dafür bezahlte, dass ich nachher an Gigis Mittagstisch sitzen durfte. Ich hatte nie den Eindruck, dass die Predigten für mich bestimmt waren, und ganz sicher glaubte ich nicht, dass die Kirche meinen Charakter in irgendeiner Weise geprägt hatte. Jetzt, seit ich die freie Wahl hatte, wollte ich meinen Kindern keine Religion aufzwingen. Charlie und ich waren der Meinung, dass wir unser Schicksal selbst in der Hand hatten; wir arbeiteten hart, um unabhängig zu sein und das zu bekommen, was wir brauchten.

Die Gebete anderer brauchten wir nicht.

Doch Charlotte ist eine Stadt, in der es leichter ist, einen Glauben anzunehmen, als ihn wieder abzuschütteln. Manchmal wird sie die „Stadt der Kirchen“ genannt, weil es fast an jeder Ecke ein Gotteshaus gibt.

Das Christlichste, was unsere Familie sonntags tat, war, beim YMCA schwimmen zu gehen.

Eines Tages, als wir gerade mit vier Handtüchern und den Schwimmflügeln der Zwillinge unterm Arm das Gebäude verließen, blieb Lauren vor einem gerahmten Bild am Eingang stehen und fragte interessiert: „Mama, wer ist denn der Mann da?“

Es war Jesus.

Meine Eltern und Großeltern wären über diese Frage entsetzt gewesen. Um sicherzustellen, dass unsere Töchter zumindest diese zentrale Figur aus der Bibel kannten, beschlossen wir, wieder zur Kirche zu gehen, in die First Presbyterian Church in Charlotte.

Wir gingen erst wenige Monate dorthin, als ich mich wieder an einen der Gründe erinnerte, weswegen ich alles Fromme links liegen gelassen hatte – die Kleiderordnung. Meine Mutter hätte dafür gesorgt, dass meine Töchter perfekt frisiert, mit Schleifen im Haar, in zueinander passenden gesmokten Kleidern und in Strümpfen ohne Löcher zum Gottesdienst erschienen wären.

Ich aber hatte schon die größte Mühe, sie alle in Schuhe zu stecken. Und wenn ich es dann geschafft hatte, alle vier in ihre Sonntagskleider hineinzuzwängen, gab es weit und breit keine Predigt, die mich nach dieser wöchentlichen Anstrengung wieder aufmuntern konnte.

Doch dann las ich eine kleine Anzeige in unserem Gemeindebrief, die mir wie eine göttliche Inspiration erschien:

Mitarbeiter gesucht
für das Suppenküchen-Team
der First Presbyterian Church!

Sonntagvormittags, alle vier Wochen,
Helfer jeden Alters willkommen!

Bitte meldet euch bei unserem Mitarbeiterkoordinator

Endlich ein Ort, an dem wir etwas Gutes tun konnten, ohne gut aussehen zu müssen. Ich meldete unsere Familie zur Mitarbeit an, für einen Sonntag im Monat von acht bis dreizehn Uhr. Unser Mitarbeiterkoordinator teilte mir mit, wir würden im Urban Ministry Center (UMC) mithelfen, einer Einrichtung, die sich um die Obdachlosen in Charlotte kümmerte. Unsere Aufgabe würde darin bestehen, in einem mehr als hundert Liter fassenden Topf eine Suppe zu kochen, Hunderte von Sandwiches zuzubereiten und dann das Essen auszuteilen.

Am ersten Sonntag zwängten wir uns in unseren Minivan und folgten den Schildern zum Urban Ministry Center. Als wir die entsprechende Abfahrt genommen hatten, sahen wir, dass die Straße ein paar Hundert Meter vor uns direkt in ein mit Maschendraht umzäuntes Gelände führte. Zunächst war kein Gebäude zu sehen, nur Dutzende von Menschen, die auf dem Bürgersteig herumsaßen, standen oder sogar schliefen. Als wir näher kamen, entdeckten wir ein Schild auf einem ehemaligen Zugdepot, das nun als Anlaufstelle für die Obdachlosen unserer Stadt diente.

Das UMC öffnete die Tore seines Parkplatzes um acht Uhr morgens, doch es warteten schon Dutzende von Menschen davor, die ihre gesamten Habseligkeiten auf dem Rücken trugen. Gesichter versteckten sich unter grauen Kapuzen, sodass man unmöglich erkennen konnte, welches Alter oder Geschlecht die jeweilige Person hatte.

„Bist du dir sicher, dass das Ganze hier eine gute Idee ist?“, fragte mich Charlie.

Als ich auf die Anzeige in unserem Gemeindebrief reagiert hatte, hatte ich mir einen schönen gemeinsamen Einsatz unserer Familie in einer Wohlfühlumgebung vorgestellt. Noch nie waren unsere Kinder so direkt und persönlich mit Armut konfrontiert worden. Charlie fuhr langsam weiter, um ja niemanden aus der Menschenmenge zu überfahren, die vom Bürgersteig auf die Straße quoll. Ich wurde nervös. Mit einem Mal kam es mir fast gefährlich und unverantwortlich vor, unsere Mädchen hierher zu bringen.

Eine Frau mit rot geschminkten Lippen und Strähnchen im grauen Haar begrüßte uns überschwänglich am Eingang. „Hallo! Ihr müsst Familie Izard sein!“, sprudelte es aus ihr heraus. „Ich bin Beverly und das ist mein Mann Roy!“ Ich kannte die beiden von unseren wenigen Gottesdienstbesuchen.

Wir entspannten uns allmählich ein bisschen. Beverly führte uns in die Küche, wo in dem Hundert-Liter-Topf bereits eine Mahlzeit vor sich hin köchelte. Roy trug eine Schürze und rührte die stückige, blubbernde Flüssigkeit vorsichtig um.

„Was für eine Suppe ist das?“, fragte Kailey ihn.

„Da ist alles Mögliche an Gemüse drin!“, antwortete Roy mit fröhlicher Stimme. „Wie der Name Eintopf schon sagt: Es kommt alles in einen Topf!“

Wir sollten das Mittagessen an vier- bis sechshundert Leute austeilen. Das geschah an 365 Tagen im Jahr, wobei das Essen stets von ehrenamtlichen Mitarbeitern gekocht und verteilt wurde. Das UMC ließ nie einen Tag aus. In all den Jahren hatte es Schneestürme, Stromausfälle und sogar den einen oder anderen Blizzard gegeben, aber das Zentrum war immer von 8:30 Uhr bis 16:30 Uhr geöffnet.

Obdachlose haben eben keinen Urlaub und so machte das Zentrum auch keinen.

An Werktagen kamen noch mehr Helfer, um über die Mahlzeiten hinaus weitere Dienste anzubieten: Beratung, Duschen, Wäschewaschen, Postdienste. Beverly erzählte uns, dass an unserem Tag, dem vierten Sonntag im Monat, die meisten Menschen zum Mittagessen kamen, weil ihnen am Monatsende das Geld oder die Essensgutscheine ausgingen.

Pünktlich um 11:30 Uhr öffnete Roy die Stahl-Rollläden über dem fast zwei Meter langen Tresen, der den Speisesaal von der Küche trennte. „Auf geht’s, Mädels, begrüßen wir unsere Gäste“, sagte er. „Jeder, der heute da ist, bekommt etwas zu essen, ohne dass wir ihm Fragen stellen. Und wir nennen sie alle unsere Nächsten, denn sie sind nicht anders als die Leute, die zu Hause neben uns wohnen.“

Die vier Mädchen folgten ihm, als er die Tür zum Parkplatz aufschloss. Roy stellte sich an den Eingang, wo die Leute nun Schlange standen, und begrüßte ein paar von den Stammgästen mit Handschlag. Dann rief er ihnen allen zu: „So, nun wollen wir die Hände falten und ein Tischgebet sprechen.“

Lauren, Kailey, Emma und Maddie standen dicht neben ihm, als er betete.

„Lieber Gott, segne dieses Essen, damit es uns stärkt und dir dient, und lass uns die anderen, die in Not sind, nicht vergessen. Amen.“

Aus der Reihe der Wartenden ertönte ein vielstimmiges Echo: „Amen!“

Als sich die Schlange vorwärtsbewegte, während das Essen ausgeteilt wurde, sagten nur wenige etwas, aber fast alle nickten dankbar. Einer wollte uns in ein Gespräch verwickeln, es war ein Mann mit wildem Gesichtsausdruck: „Hallo, ihr hübschen Mädchen, wie geht’s?“

Er hatte verfilztes weißes Haar, sein Gesicht war sonnenverbrannt und er hatte ein Harley-Davidson-Tattoo mitten auf der Stirn. Mit der linken Hand balancierte er einen Ghettoblaster, eigentlich mehr ein Radio, und mit der rechten Hand trug er sein Tablett.

Lauren und Kailey starrten ihn an. „Hallo. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag“, brachte Kailey schließlich hervor.

„Weißt du, wie ich heiße, Kleine?“, fragte er.

„Harley?“, vermutete Kailey.

„Nö. Ich bin Chilly. Chilly Willy! Weil ich nämlich so ein richtig cooler Typ bin. Der Coolste von allen hier. Der Coolste, den ihr je getroffen habt!“

Damit hatte er die geballte Aufmerksamkeit aller vier Mädchen gewonnen. Emma und Maddie liefen zu ihm hin, um ihn genauer zu betrachten. Jetzt, da er eine noch größere Zuhörerschaft hatte, gab Chilly Willy eine besonders schlechte und übertriebene Version von „Long Haired Country Boy“ der Charlie Daniels Band zum Besten. In dem Lied ging es vor allem darum, wie man morgens schon bekifft und nachmittags betrunken ist.

„Vielen Dank, Chilly“, unterbrach ihn schließlich ein Mann. Er hatte leicht ergrautes Haar und einen grauen Bart, was ihn älter aussehen ließ. Ich schätzte ihn auf Ende vierzig. Er trug eine Brille mit einem dicken schwarzen Gestell, die ihm einen ernsten Ausdruck verlieh. Aber trotzdem scherzte er mühelos mit Willy herum. „Lass uns mal das Country-Konzert auf später verschieben. Hier stehen eine Menge Leute, die auf ihr Mittagessen warten.“

„Hey, Dale!“ Chilly drückte den Mann fest an sich und wandte sich dann wieder an meine Töchter. „Das hier ist der Boss, Mann. Ich muss machen, was er sagt. Außerdem ist er ein Prediger. Jesus liebt dich, Dale!“

„Dich liebt er auch, Chilly. Und jetzt iss deinen Eintopf“, erwiderte Dale, während er Chilly sanft auf die Schulter klopfte und ihn weiterschob.

Während unsere Familie das Essen an die „Nächsten“ austeilte, wurden wir Dale Mullennix vorgestellt. Dale war seit der Gründung des Urban Ministry Center der Geschäftsführer. Vorher war er Pastor in einer wohlhabenden Vorstadtgemeinde gewesen, in dem Stadtteil, in dem wir auch lebten. Dann aber wurde er Anfang der 1990er-Jahre gebeten, die Leitung des UMC zu übernehmen. Geschäftsleute und Kirchenvertreter arbeiteten Hand in Hand, um das UMC zu einem Zentrum zu machen, das Obdachlosen einen umfassenden Service bot, der weit über das Mittagessen hinausging. Die neue Einrichtung in dem umgebauten Zugdepot brauchte einen Direktor und Dale wurde gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen.

„Vielen Dank euch allen, dass ihr heute gekommen seid!“, sagte er zu uns und schüttelte uns allen die Hand. Dann kehrte er in den Speisesaal zurück, ging von einem Tisch zum anderen und begrüßte fast alle Gäste mit Namen.

„Hey, Rose, wie geht es dir heute? Hallo, Sam, wie schmeckt das Essen?“ Er umarmte die Leute und schüttelte ihnen die Hand, als ob sie alle beste Freunde wären. Ich aber hatte die letzten paar Stunden in der sicheren Zone hinter dem Tresen verbracht und jeden Augenkontakt vermieden.

Was wäre, wenn mich jemand um Geld bitten würde? Sollte ich es ihm dann geben? Wie konnte Dale einfach nach Hause gehen, ohne den Wunsch, diese Leute alle mitzunehmen?

Schließlich wurde es Zeit aufzuräumen. Meine vier Mädchen waren ganz ausgelassen. „Das hat so viel Spaß gemacht, Mama!“, rief Lauren.

„Können wir morgen wieder herkommen?“, fragte Kailey.

Auf der Heimfahrt tauchten noch viel mehr Fragen auf.

„Mama, kann man eine Essensmarke auch auf einen Briefumschlag kleben?“

„Papa, warum hatte der eine Mann eine goldene Halskette, aber kein Zuhause?“

„Warum hatte die nette Frau ein blaues Auge und keine Vorderzähne mehr?“

In meiner Kindheit waren die Einkommensunterschiede zwischen El Paso und Juarez etwas Vertrautes gewesen, doch hier in Charlotte war ich viel mehr von der Armut abgeschottet. Dieser erste Besuch in der Suppenküche löste etwas bei mir aus. Langsam erkannte ich, dass es nur wenige Kilometer von meinem komfortablen Haus entfernt eine andere Welt gab.

Monat für Monat lernte ich dazu. Schließlich übernahm ich Beverlys Aufgabe und leitete die Essensausgabe an jedem vierten Sonntag im Monat. Ich konnte die Freundinnen meiner Töchter und deren Familien für die Mitarbeit gewinnen. Die meiste Zeit blieb ich zwar in der sicheren Zone hinter dem Küchentresen, aber ich lernte immerhin die Namen einiger regelmäßiger Besucher. Ruth war eine kleine, schlecht gelaunte Frau, die trotz ihrer geringen Körpergröße die hochgewachsenen Männer mit ihrem bissigen Mundwerk in Schach hielt. Die anderen Helfer erzählten mir, Ruth käme schon seit der Eröffnung des UMC jeden Tag zum Essen her. Jay war der unglaublich laute Betrunkene, der recht viel Zinnober veranstaltete, wenn er zu tief ins Glas geschaut hatte. Aber in nüchternem Zustand war er kaum wiederzuerkennen, so freundlich konnte er dann sein. Bill war der stille Cowboy mit den großen blauen Augen unter dem Lederhut, der immer „Bitte“ und „Danke, Ma’am“ sagte, wenn man ihm sein Tablett reichte. Und Samuel war der sanfte Riese, der lächeln konnte wie ein siebenjähriger Junge unter dem Weihnachtbaum, sobald man auch nur in seine Richtung schaute.

In der Kirche hatte ich nie zum Glauben gefunden, doch hier in der Suppenküche fühlte ich mich jeden Sonntag ein bisschen mehr wie die Person, die ich gern sein wollte. Jeden Monat, wenn unsere Schicht vorüber war, nahm ich meine Schürze ab, umarmte meine Töchter, fuhr durch die Tore hinaus und hatte das Gefühl, etwas Gutes in der Welt vollbracht zu haben.

Lange Zeit genügte mir das.

* * *

Eines Tages tropfte es durch die Decke unseres Arbeitszimmers und an diesem Tag rückte das Thema Obdachlosigkeit ein wenig näher an uns heran. Ich rief Johnny an, unseren Klempner. Er hatte von Anfang an für uns gearbeitet, seit er in unserem Haus, das Charlie und ich zu Beginn unserer Ehe gekauft hatten, neue Rohre verlegt hatte. Den ganzen Morgen über hielt Johnny sich im oberen Stockwerk auf und suchte nach der Ursache, warum das Wasser unten auf unseren Holzfußboden tropfte. Kurz vor dem Mittagessen kam er zu mir in die Küche und entschuldigte sich. „Ich muss zu meinem Bruder in den Freedom Park gehen und ihm Geld geben.“

„Bitten Sie ihn doch einfach hierherzukommen“, schlug ich vor.

„Nein, Sie verstehen nicht“, sagte er, senkte verlegen den Blick und trat von einem Fuß auf den anderen. „Mein Bruder lebt in dem Park.“

Es stimmte. Ich hatte es nicht verstanden. Der Freedom Park war nur ein paar Hundert Meter von unserem Haus entfernt und wir gingen mit den Kindern regelmäßig dorthin zum Fußballspielen oder Fahrradfahren. Sein Bruder lebte also dort? Meinte Johnny etwa, dass er in einem Haus dort in der Nähe lebte?

Johnny sah meinen ratlosen Blick und klärte das Ganze sichtbar beschämt auf: „Er ist obdachlos.“

Er versuchte das Unerklärliche zu erklären.

„Als er siebzehn war, hat mein Bruder was Schlimmes angestellt und musste ins Gefängnis. Als er wieder rauskam, fand er sich einfach nicht mehr zurecht. Es gibt anscheinend nichts, womit man ihm helfen kann, aber er ruft mich immer an, wenn er was braucht, wie zum Beispiel ein Radio.“

„Ein Radio?“ Ich zählte eins und eins zusammen. „Johnny, ist Ihr Bruder etwa der Typ mit den weißen Haaren und dem Harley-Davidson-Tattoo auf der Stirn? Chilly Willy?“

Bei dem Spitznamen zuckte Johnny zusammen und nickte. „Er heißt eigentlich Larry. William Larry Major. Er ist mein Bruder.“

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. All die vielen Male, in denen ich die Suppe ausgeteilt hatte, hatte ich nie über die Familien der Obdachlosen nachgedacht.

„Ich habe immer Angst, dass er da draußen stirbt und wir es nicht erfahren“, gestand Johnny.

Seit damals, als ich Chilly Willy das erste Mal begegnete und ihm den Eintopf austeilte, hatte ich nie darüber nachgedacht, dass er einen echten Namen hatte: Larry. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, ob er eine Familie hatte und warum er auf der Straße gelandet war, denn es war immer ein sechzig Zentimeter breiter Edelstahltresen zwischen uns. Ich stand auf der richtigen Seite und er auf der falschen.

„Alle in der Stadt kennen ihn, und wenn sie ihn eine Weile nicht sehen, rufen sie an und fragen, ob er tot ist. Dann muss ich die Polizei und die Krankenhäuser anrufen, um herauszufinden, ob er noch lebt“, erklärte mir Johnny mit Tränen in den Augen.

Mir fielen keine Worte ein, mit denen ich Johnny hätte helfen können, doch von da an hielt ich immer im Park und beim UMC Ausschau nach Chilly Willy. Ich wollte Johnny sagen können, dass sein Bruder noch am Leben war.

Chilly Willy war William Larry Major.

Er hatte einen Bruder, eine Familie und eine Geschichte, die erzählte, warum er auf den Straßen von Charlotte gelandet war.

Und wie meine Mutter damals hatte auch Larry Angehörige, die ihn liebten und sich die ganze Zeit Sorgen um ihn machten.

6 Antoine de Saint-Exupéry: Der kleine Prinz. Düsseldorf: Karl Rauch Verlag, 58. Auflage 2002, S. 72.

7. Versagen ist keine Option

Es ist nicht so schwer zu entscheiden, was man in seinem Leben erreichen möchte.
Schwer ist nur herauszufinden, was wir bereit sind aufzugeben,
um das zu tun, was uns wirklich wichtig ist.

Shauna Niequist7

Schon früh in meinem Leben kam ich zu dem Schluss, dass Versagen für mich keine Option sei. Wenn ich bei irgendetwas nicht gleich Erfolg hatte, warf ich in der Regel das Handtuch, sobald die Möglichkeit am Horizont erschien, dass ich scheitern könnte.

Meiner Meinung nach gab es normalerweise zwei Gründe für das Aufgeben: Erstens, wenn das Scheitern wahrscheinlich war, wie zum Beispiel beim Klavierspielen. Meine Schwester Allyson war ein unglaubliches Naturtalent. Ich konnte ihr nicht das Wasser reichen, darum flehte ich meine Mutter an, meine Klavierstunden bei Mrs Wade nach nur zwei Jahren zu beenden. Zweitens war ein Ausstieg in meinen Augen gerechtfertigt, wenn die Arbeit, die für den Erfolg notwendig war, keinen Spaß machte. Auf diese Weise endete meine Tenniskarriere.

Als Dad noch jung war, war er kein besonders begabter Sportler. In Texas gab es nur einen richtigen Sport für Jungs und das war Football. Mein Vater aber war zu klein, um sich hierin zum Star zu entwickeln. Großvater und Gigi wollten jedoch etwas außerhalb des Klassenzimmers finden, worin mein Vater erfolgreich sein konnte, und das fanden sie auf dem Tennisplatz. Dad machte geradezu eine Religion aus seinem Tennistraining, denn er merkte, dass dies sein Ticket war, um nicht nur dem Spott auf dem Schulhof zu entgehen, sondern auch Zugang zum hochangesehenen Davidson College zu erlangen. Er liebte diesen Sport und wollte, dass auch seine drei Töchter ihn liebten.

Uns das Tennisspielen beizubringen war seine Art, meiner Mutter am Wochenende eine Pause zu verschaffen. Denn unter der Woche verbrachte er viele Stunden im Büro. Und er nutzte seine Tenniskenntnisse auch, um uns die eine oder andere Lebensweisheit zu vermitteln.

Jeden Samstagmorgen spielte er im Tennisklub von El Paso mit denselben Herren ein Doppel. Am Samstagnachmittag kam er dann nach Hause und spielte mit seinen drei Töchtern Tennis. Er hatte einen unerschöpflichen Vorrat an Tennisbällen im Kofferraum seines blauen Ford El Torino und fuhr mit uns zu öffentlichen Tennisplätzen, wo er der Reihe nach geduldig gegen jede von uns spielte.

Mit der Zeit stellte sich heraus, dass ich mich von uns drei Mädchen am geschicktesten anstellte und so dünnte unsere kleine Gruppe allmählich aus, als erst Louise und dann Allyson mit dem Tennis aufhörten. Die Samstage wurden zu meiner Vater-Tochter-Zeit und mir gefiel es, dass ich an diesem einen Tag in der Woche meinen Vater ganz für mich hatte.

„Im Leben beruht alles auf harter Arbeit, Kathy! Auf harter Arbeit und Training!“, rief er mir über das Netz hinweg zu, während er meine Bälle zurückschlug. Er nutzte die Gelegenheit, um nicht nur meine Tennisfähigkeiten zu trainieren, sondern auch meinen Charakter.

Obwohl mir die Zeit mit meinem Vater nie zu viel wurde, begann meine Liebe zum Tennis doch allmählich zu erkalten – es war einfach zu schwierig für mich, richtig gut darin zu werden.

Ich war nur mittelmäßig begabt und hatte das Tennisspielen nur deshalb weiterverfolgt, weil es meinem Vater so viel Spaß machte. Aber Turniere zu gewinnen, das wurde mir klar, würde sehr viel Arbeit erfordern.

Auf Drängen meines Vaters hin nahm ich an einem stadtweiten Wettkampf im Doppel für Mädchen unter dreizehn Jahren teil, zusammen mit meiner Freundin Susan. Ihr Vater arbeitete in derselben Kanzlei wie mein Vater und die beiden verglichen gern die Ballstatistiken ihrer Töchter. Zu meiner großen Überraschung gewannen Susan und ich das Turnier – im Gegensatz zu mir hatte mein Vater mit einem Sieg fest gerechnet. Anstelle von Trophäen erhielten wir jede eine kleine silberne Medaille und unsere Namen standen am nächsten Tag in der Zeitung.

„Ich hab’s dir doch gesagt! Ich hab’s dir doch gesagt!“, jubelte mein Vater und drückte mich eine Minute lang fest an sich. „Du kannst alles erreichen, Kathy! Wirklich alles!“

Er lächelte während des gesamten Frühstücks und noch lange darüber hinaus.

„Wir könnten auch noch sonntags nach dem Gottesdienst spielen, bevor du dann zur Jugendgruppe gehst. Und ich könnte den Profispieler bei uns im Klub fragen, ob er dir ein paar Unterrichtstunden gibt. Das würde dir beim Aufschlag enorm weiterhelfen.“

Fast ein Jahr lang nahm ich diese Extrastunden, bevor ich schließlich beschloss aufzuhören. Für meinen Vater war es eine herbe Enttäuschung, aber ich konnte einfach nicht mehr. Ich war an dem Punkt angekommen, an dem ich merkte, dass die Mühe, die ich aufbringen musste, um Erfolg zu haben, keinen Spaß mehr machte. Inzwischen hasste ich das Tennisspielen.

Dad saß an seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer, als ich den Mut aufbrachte, es ihm zu sagen. Rechts neben ihm war das Bücherregal, auf dem ein paar seiner Tennistrophäen und Preise für seine Lebensleistung standen. Ich hatte einen Kloß im Hals, als ich mit der kostbaren Medaille auf ihn zuging, die ihm so viel bedeutete. Ich nahm seine Hand und legte die Medaille hinein.

„Dad, du hast recht. Vielleicht könnte ich es schaffen“, sagte ich. „Aber ich will es einfach nicht. Es tut mir leid.“

Es würde fünfundzwanzig Jahre dauern, bis ich wieder einen Tennisschläger in die Hand nahm.

Vaters Enttäuschung spürte ich jeden Samstag, wenn er von seinem Herrendoppel nach Hause kam. Statt mich schnell abzuholen und mit mir und seinem Korb voller Bälle zum Park zu fahren, ließ er sich auf das Sofa im Arbeitszimmer fallen.

Da mein Vater nun keinen Grund mehr hatte wegzufahren, blieben wir von da an samstags immer zu Hause. Manchmal versuchte er ein Gespräch anzufangen, aber im Small Talk war er noch nie gut gewesen. Ohne den sonnendurchfluteten Tennisplatz wusste er nicht, wie er uns seine Lebensweisheiten vermitteln konnte.

Ich weiß, dass er mir eigentlich so viel hätte erzählen müssen und wir über so vieles hätten reden sollen. Doch dort in dem Haus, das alle unsere Geheimnisse und unsere Traurigkeit in sich barg, konnte mein Vater einfach nicht die richtigen Worte finden.

* * *

Ich hatte keine Ahnung, wie wichtig die Zeit mit meinem Vater gewesen war, bis ich Anfang vierzig war. Wir schrieben das Jahr 1997 und es hätte eigentlich ein gutes Jahr sein können.

Die Zwillinge wurden drei Jahre alt. Maddies Narben von der Operation waren verheilt und ich dachte, wir hätten nun alle medizinischen Probleme hinter uns.

Ich rührte gerade einen großen Topf mit Hackfleischsoße für unsere Spaghetti um, als das Telefon klingelte. Emma saß auf dem Boden neben mir und kaute auf der Tupperdose herum, in der sich ihre Frühstücksflocken befunden hatten, die nun über den ganzen Fußboden verstreut lagen. Maddie dagegen tat so, als würde sie in einem Rennwagen von der Küche über das Arbeitszimmer bis zum Wohnzimmer rasen.

Typisch meine Zwillinge: Die eine eher gelassen, die andere so quirlig wir ein Floh.

Das Telefon klingelte hartnäckig. Vorsichtig kletterte ich über Emma hinweg und griff nach dem Hörer.

„Hallo, hier ist Dad“, hörte ich ihn sagen. Ich sah auf die Uhr. Mein Vater rief nie so früh an.

„Was ist los? Ist was mit Mama?“

„Nein, Kathy, es geht um mich. Ich habe Krebs.“

Mühsam versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Wenn es um meine Mutter ging, war ich schlechte Nachrichten gewohnt. Wir machten uns immer Sorgen um meine Mutter. Damit hatten wir Erfahrung. Aber wie ich nun diese Nachricht verkraften sollte, wusste ich nicht.

„Was für ein Krebs, Dad? Ist es schlimm?“

„Es ist Leukämie – akute myeloische Leukämie. Wir gehen in die Anderson-Krebsklinik nach Houston. Dort sind die besten Ärzte. Und du kennst mich ja – ich werde kämpfen!“

Er sagte nicht „und gewinnen“, aber ich nahm es als selbstverständlich an, dass er an einen Sieg glaubte.

Er gewann immer. Er arbeitete hart. Er trainierte. Er gab nie auf. Der Sieg war die natürliche, logische Folge seiner Hartnäckigkeit.

Erschüttert legte ich auf.

Die Nachricht von Vaters Erkrankung sprach sich schnell herum, denn El Paso ist eine eher kleine Stadt. Anders als es bei meiner Mutter gewesen war, sprach jeder über Vaters Krebs. Die Leute aus der presbyterianischen Gemeinde und alle Freunde meiner Eltern kamen und boten ihnen ihre volle Unterstützung an.

Selbst gekochtes Essen. Mitgefühl. Karten flatterten ins Haus. Wir wurden geradezu überflutet.

Meine Eltern verbrachten neun Monate in Houston, damit mein Vater sich einer neuen Behandlungsmethode unterziehen konnte, die, so erfuhren wir, seine einzige Chance war. Die Ärzte erklärten uns, dass sie seine Knochenmarkzellen komplett zerstören und dann wieder aufbauen würden in der Hoffnung, dass das neue Knochenmark keine Krebszellen mehr enthielt. Mein Vater lebte in einer sterilen Umgebung in der Anderson-Klinik und meine Mutter wohnte in einem Hotel, das dem Krankenhaus angeschlossen war.

Dads neues Zuhause war also ein dreizehn Quadratmeter großes Zimmer mit Krankenhausbett. Er musste dort rund um die Uhr bleiben und hing an Schläuchen, die an einem fahrbaren Gestell befestigt waren, das er durch seine Zelle der Hoffnung schieben konnte. Ein anderthalb Meter breites Fenster an einer Zimmerwand ermöglichte es ihm, meine Mutter und andere Besucher zu sehen. Meine Mutter war seine ständige Gefährtin auf der anderen Seite der Glasscheibe; dort saß sie, las oder stickte.

Unsere Töchter bastelten Karten für Opa und Oma, die meine Mutter dann an Vaters Fenster zur Welt heftete. Stolz deutete mein Dad auf diese kleinen Kunstwerke und erzählte den Krankenschwestern von seinen vier Enkelinnen.

In seinem Zimmer gab es nur künstliches Licht; man konnte von dort nicht zum Tennisplatz gehen. Also bat Vater das Pflegepersonal, ihm ein Trainingsrad in seine Einzelzelle zu bringen. Er trat heftig in die Pedale, während er Tennisturniere im Fernsehen anschaute und ein T-Shirt trug mit der Aufschrift: „Gib niemals auf!“ Das hatte er von jemand geschenkt bekommen, der den Krebs überlebt hatte.

Louise, Allyson und ich besuchten unsere Eltern Woche für Woche abwechselnd in Houston. Früher hatte ich meine Mutter oft in der Psychiatrie besucht, aber ich war nicht darauf gefasst, wie anders es in einer Krebsklinik zuging. Bei einer psychischen Erkrankung läuft so vieles innerlich ab und ist für das Auge unsichtbar. Beim Krebs und anderen körperlichen Erkrankungen hingegen ist auch vieles äußerlich zu erkennen. Gewichtsverlust. Haarausfall. Eingesunkene Augen. Ausgemergelte Haut. Hier gab es keinen Zweifel darüber, wer die Patienten waren und wer die Pflegekräfte. Doch sowohl bei körperlichen als auch bei seelischen Krankheiten, so wurde mir klar, hingen die Hoffnungen der Angehörigen an Tabletten und Behandlungsabläufen und es dauerte alles schrecklich lange.

Immer wieder machte ich mir Sorgen, ich könnte meine Mutter bei der Ankunft in Houston extrem depressiv oder manisch antreffen. Doch während all dieser quälenden Monate war sie so stark wie in ihren besten Zeiten. Wie damals, als sie am College glänzte, meine wunderbare Hochzeit plante und für ihre Enkelinnen altmodische Puppen aus Papier bastelte. Dad brauchte sie in dieser kritischen Situation und sie war beständig präsent. Sie schien eine ungeahnte Kraft aufzubringen, um so für ihn da zu sein, wie er immer für sie da gewesen war. Mutter wurde zur Expertin für AML-Blasten und Blutwerte und sie war eine stets ruhige, aber hartnäckige Anwältin für meinen Vater, wenn das Pflegepersonal ihm nicht rechtzeitig seine Schmerzmittel verabreichte.

Meine Mutter von dieser neuen Seite zu erleben bedeutete für mich, dass ich die Besuche in Houston regelrecht genießen konnte. Das erste Mal seit Jahrzehnten sprachen wir intensiv miteinander. Wir gingen jeden Abend zusammen essen und entflohen der Krankenhausumgebung auf der Suche nach Chile con queso (für mich) und einer guten Krabbentarte (für meine Mutter). Zwar konnten wir uns auf diese Weise ein wenig von den allgegenwärtigen Sorgen ablenken, doch früher oder später kamen wir wieder auf meinen Vater und auf Gott zu sprechen.

„Machst du dir Sorgen?“, fragte ich sie.

„Dein Vater und ich haben einen starken Glauben“, pflegte meine Mutter dann zu sagen, was jedoch eigentlich keine Antwort auf meine Frage war.

Jeden Tag beteten meine Eltern und lasen in der Bibel, wie damals bei ihrer ersten Verabredung am Valentinstag.

Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei.

Am Ende der ersten Behandlungsreihe erzählten die Ärzte meinen Eltern, die Forschung habe gezeigt, dass sechzig Prozent der Patienten positiv darauf ansprachen. Mein Vater gehörte nicht dazu.

Die Onkologen schlugen meinem Vater daraufhin vor, die Behandlung zu wiederholen. Das bedeutete, noch länger in Houston zu bleiben. Noch mehr Schläuche. Weitere Wochen in der Zelle mit dem Glasfenster. Die zweite Behandlungsreihe, so zeigte es die Forschung, war bei achtzig Prozent jener vierzig Prozent erfolgreich, die beim ersten Versuch kein Glück gehabt hatten. Doch mein Vater gehörte nicht dazu.

7 Shauna Niequist: Bittersweet. Thoughts on Change, Grace, and Learning the Hard Way. Grand Rapids: Zondervan, 2013, S. 54.