Über das Buch:
Baltimore, 1867: Ohne ihre gemeinsame Begeisterung für die Musik hätten sich die wohlhabende Clara Endicott und der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Daniel nie kennengelernt. Aber so verbindet sie eine innige Jugendfreundschaft – bis ihre Wege sich gegen ihren Willen trennen.

Als sie sich 12 Jahre später wiederbegegnen, entfacht die innige Verbundenheit, die einst zwischen ihnen bestand, eine Liebe, die keiner von ihnen für möglich hielt. Aber es gibt so viel Trennendes zwischen ihnen: Clara ist inzwischen eine couragierte Journalistin und setzt sich aus christlicher Überzeugung für die Rechte der Arbeiter ein. Daniel hat sich aus eigener Kraft als Eisenbahnmogul ein Imperium aufgebaut. Die Frage nach Gott und die Rechte seiner Angestellten kümmern ihn wenig. Beide kämpfen für ihre Überzeugungen. Können sie einen Weg zueinander finden?

Über die Autorin:
Elizabeth Camden studierte Geschichte und Bibliothekswissenschaft. Heute ist sie als Professorin für Bibliothekswesen tätig. Ihre Romane schreibt sie in ihrer freien Zeit. Zusammen mit ihrem Mann lebt sie in Florida.

Kapitel 7

Lloyd Endicott saß am Schreibtisch und arbeitete an seiner Sonntagspredigt, als Clara ihn mit ihren Befürchtungen konfrontierte. Jeder Schritt fiel ihr schwer, weil sie ahnte, dass dies eins der schmerzhaftesten Gespräche mit ihrem Vater sein würde, das sie je geführt hatte. Er sah freundlich auf, als er sie reinkommen hörte. Wie oft war sie ihm genau hier entgegengetreten und von seinem herzlichen Blick empfangen worden? Claras Mutter war gestorben, als sie gerade einmal zehn Jahre alt war, und von diesem Tag an hatte Lloyd Endicott dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte. Egal, wie erschöpft er war, für Clara hatte er immer Zeit gehabt.

Sie zog sich einen Windsorstuhl heran. Ihre Beine waren wie Pudding, als sie darauf sank und den Stapel mit Noten auf der Ecke seines Schreibtisches absetzte.

„Was ist das?“, fragte ihr Vater und legte eine Hand auf die Notensammlung. „Deine neuesten Kompositionen?“ Der hoffnungsvolle Ton in seiner Stimme war unverkennbar.

„Nein“, erwiderte Clara leise. „Das sind Abschriften von Stücken, die ich vor Jahren geschrieben habe. Die Originale habe ich Daniel Tremain geschickt, aber er sagt, er habe sie nie bekommen. Und mir fällt nur ein einziger Grund ein, warum Tante Helen die Post abgefangen hat.“

Ihr Vater sah zu Boden. „Ich verstehe“, sagte er und klang, als wäre er innerhalb von Sekunden um zehn Jahre gealtert. Der letzte Funke Hoffnung, ihr Vater könne doch nicht verantwortlich dafür sein, verlosch.

„Aber ich verstehe nicht“, begehrte Clara auf. „Daniel war mein einziger Freund. Musstest du ihn wirklich so gründlich aus meinem Leben verbannen?“

„Clara, du hattest schon längst mehr als nur freundschaftliche Gefühle für ihn.“

Es war sinnlos, das zu bestreiten, aber das Gefühl, betrogen worden zu sein, wog schwer. „War ein Ozean nicht breit genug für dich, um sicherzugehen, dass ich ja keine jugendliche Dummheit begehe?“

Ihr Vater konnte sie immer noch nicht ansehen; stattdessen starrte er auf die gelben Notenblätter, die schon ganz vergilbt waren und sich langsam zu wellen begannen. Seine Hand schien die Seiten nun kaum noch zu berühren. „Es ging mir um mehr als nur eine jugendliche Schwärmerei, Clara. Ich war der Meinung, aus dir würde eine Person mit großem Einfluss werden. Damals dachte ich, dein Weg, die Welt zu verändern, würde über die Musik führen. Und Daniel war ein Hindernis auf diesem Weg.“

Clara war wie vor den Kopf gestoßen, aber ihr Vater war noch nicht fertig. „Ich weiß noch genau, wie du dich damals verändert hast. Aus dem schlauen, neugierigen Mädchen wurde jemand, dessen Sätze immer mit ‚Daniel sagt‘ oder ‚Daniel denkt‘ anfingen. Aber für mich war viel wichtiger, was du sagst und was du denkst.“

„Und mich Zigtausende von Meilen weit wegzuschicken hieltest du für den besten Weg, das herauszufinden?“

„Es war mit Sicherheit der richtige Schritt, damit du weiter auf deinem Weg gehst, ohne von einem jungen Mann abgelenkt zu werden, mit dem du sowieso keinen Umgang hättest haben sollen.“

Clara war sich nicht sicher gewesen, wie ihr Vater auf die Konfrontation reagieren würde, aber dass er sein Verhalten auch noch verteidigte, damit hatte sie am allerwenigsten gerechnet. Dieser Mann war nicht wie ein Vater; er war ein Schulmeister, der aus ihr eine einflussreiche Persönlichkeit machen wollte, die dem Namen Endicott Glanz verlieh. Clara griff nach dem Stapel Noten und drückte ihn an sich.

„Kannst du nicht wenigstens sagen, dass es dir leidtut?“, fragte sie ihn mit zittriger Stimme.

Das Gesicht ihres Vaters wurde weich. „Nein, Clara. Es tut mir nicht leid, dass ich dich vor einem großen Fehler bewahrt habe.“

Plötzlich hatte Clara einen Kloß im Hals. Dass ihr Vater sie liebte, das wusste sie. Von Geburt an hatte er sie mit Zuwendung überhäuft und gefördert, aber der Preis, den er dafür verlangte, war gewaltig. Er erwartete keine Gegenliebe; er wollte Erfolg.

Clara stand auf. „Ich bin jetzt erwachsen, Papa. Ich denke, ich weiß, was ich im Leben will, und ich habe darauf hingearbeitet, als würde mein Seelenheil davon abhängen.“ Das neue Strahlen in den Augen ihres Vaters machte sie rasend. Würde sie ihr ganzes Leben lang nur eine weitere hübsche Verzierung im Familienbaum der Endicotts sein? „Aber wenn ich mich wieder einmal verirre, wirst du dich dann hinter meinem Rücken einmischen? Genauso wie damals? Ich muss wissen, ob ich dir wieder vertrauen kann.“

„Clara, du kannst mir vertrauen, dass ich stets dein Bestes im Sinn habe.“

Clara sah ihren Vater gründlich an, aber da waren keine Schuldgefühle, keine Verlegenheit. Dabei hätte selbst die kleinste Spur der Reue geholfen, heilende Luft an ihre Wunden zu lassen. Claras Blick wanderte durch das geräumige Arbeitszimmer. In diesem stillen Heiligtum hatte sie so viele Stunden ihrer Kindheit verbracht. Sie war davon ausgegangen, in diesem Haus neu anzufangen, aber das Gefühl, hintergangen worden zu sein, war zu stark. Sie konnte nicht mehr unter diesem Dach wohnen.

„Vater, ich werde mir eine Wohnung suchen.“

„Clara! Das geht nicht. Du bist eine unverheiratete Frau. Das gehört sich nicht!“

Als ob ihr Vater sich je davor gefürchtet hätte, Konventionen zu durchbrechen. Clara hatte von ihrer Arbeit in London noch etwas Geld auf ihrem Bankkonto. Dadurch war sie unabhängig, zumindest für eine Weile. „Clyde wird mir helfen.“

Ihr Vater drückte sich vom Schreibtisch weg. „Das ist völliger Unsinn. Das mit den Briefen liegt schon zwölf Jahre zurück. Du wirst hier nicht wegen so einer Kleinigkeit einfach herausspazieren!“

Clara erwiderte seinen Blick. „Da wäre ich mir nicht so sicher.“

* * *

Neben Clyde in Baltimores Geschäftsviertel die Straße entlangzulaufen war ein Erlebnis für sich. Aus dem hübschen Jüngling von einst war ein erwachsener Mann in Hirschleder geworden, der ein Messer im Beinhalfter trug. Die unbarmherzige Sonne im Südwesten hatte seiner Haut einen Bronzeton verliehen, und sein hellbraunes Haar trug er als Zopf. Die älteren Damen waren fast in Ohnmacht gefallen, als Clyde zum ersten Mal wieder in die Kirche ihres Vaters stolziert war. Aber trotz seines ungewohnten Aufzugs war Clara stolzer denn je auf ihren Bruder. Er hatte über ein Jahrzehnt an den wildesten Orten der Welt gelebt.

Und nun versuchte Clara, die Zimmerwirtinnen und Vermieter davon zu überzeugen, dass sie und ihr Bruder unbescholten und ehrenwert genug waren, um übergangsweise eine Unterkunft zu mieten. Ihre Namen waren der feinen Gesellschaft von Baltimore ein Begriff, aber erst die persönliche Begegnung mit Dr. Clyde Endicott entschied darüber, wie sie aufgenommen wurden.

„Was hältst du von dem hier?“, meinte Clyde und zeigte auf ein Reihenhaus, das ein ganzes Stück von der geschäftigen Straße entfernt stand. Clara und er hatten den größten Teil der letzten beiden Tage damit verbracht, möblierte Wohnungen abzulaufen, die groß genug für sie beide waren. Für die Dauer seines Besuchs in Baltimore wollte Clyde bei ihr wohnen. „Von der Gegend ist das hier noch das Schönste“, stellte er fest.

Aber innen war das Haus winzig. „Hier ist gar kein Platz für ein Arbeitszimmer“, bemängelte Clara. Sie brauchte einen großen Schreibtisch, wenn sie schrieb, und jetzt, wo Clyde ein Buch über sein Leben im Navajoreservat verfasste, war ein Arbeitszimmer umso wichtiger.

Clyde zuckte mit den Schultern. „Es gibt zwei Schlafzimmer, das genügt mir. Arbeiten werde ich sowieso in Lloyds Bibliothek. Und ich schlage vor, dass du dasselbe tust.“ Clyde hatte es schon immer besondere Freude bereitet, ihren Vater beim Vornamen zu nennen, und angesichts des derzeitigen frostigen Verhältnisses zu ihm erschien es Clara reizvoll, dasselbe zu tun.

„Jeden Tag nach Hause zu laufen, um seine Bibliothek zu benutzen, macht mein Bestreben nach Abnabelung eher zunichte, findest du nicht?“

„Dann verrate mir doch, mein liebes Schwesterlein, wie du an dein Recherchematerial kommen willst? Das hier ist nicht London. Hier gibt es nicht an jeder Ecke eine erstklassige Bibliothek. Eine bessere als die von Lloyd wirst du hier nicht finden. Und wolltest du nicht sowieso deine Artikel in seiner Zeitung veröffentlichen?“

„Natürlich.“ Clara war schlau genug, um den Ast, auf dem sie saß, nicht abzusägen. Lloyd Endicott war einer der wenigen Herausgeber im ganzen Land, die bereit waren, die Texte einer Frau abzudrucken. Wenn sie ihren gedemütigten Stolz wiedergewinnen und ihre Karriere als Journalistin wieder aufnehmen wollte, blieb ihr fast keine andere Wahl.

„Dann sieh es als berufliche Pflicht, Lloyds Bibliothek zu benutzen. Außerdem könnten wir dann dieses Häuschen mieten, bis du nicht mehr schmollst. Mir gefällt nämlich die Aussicht hier.“

Clara musste zugeben, dass man von der verglasten Veranda aus wunderbar das bunte Treiben vor den Geschäften beobachten konnte. Was ihr aber noch besser gefiel, war der Hinterhof: Dort war ein richtiger Garten. Dieser sah zwar sehr vernachlässigt aus, aber Clara sehnte sich danach, die Hände in der Erde zu versenken und etwas Leben in die wuchernden Schlingpflanzen und Büsche zu bringen.

„Also schön, du hast gewonnen“, sagte Clara. „Wenn irgendjemand im Luxus von Vaters Haus baden sollte, dann du. Ich schulde dir also was, weil du meinen Aufpasser spielst.“

Clyde zuckte wieder mit den Schultern. „Nehmen wir es als kleine Wiedergutmachung für die jahrelange Tortur, die du mit mir als älterem Bruder durchmachen musstest. Aber glaub ja nicht, dass ich dich mit dem Räuberbaron durchbrennen lasse. Für meinen Geschmack war Daniel Tremain schon immer etwas zu arrogant.“

Clara sah zu Clyde, der es sich auf der Veranda bequem gemacht hatte. Das Messer, das länger war als ihr Unterarm, klemmte immer noch an seinem Bein. „Das sagt der Richtige“, sagte sie lächelnd. „Außerdem brauchst du dir wegen Daniel keine Sorgen zu machen, weil ich mir in meinem nächsten Artikel die Rivalität zwischen ihm und Alfred Forsythe vorknöpfen werde. Darüber wird er nicht erfreut sein, aber es ist ein wichtiges Thema, vor allem, weil es für die Unruhen unter den Arbeitern verantwortlich sein könnte.“

Clara fühlte sich unwohl dabei. Daniel hatte mit seinem Hass auf Alfred Forsythe nie hinterm Berg gehalten, aber das bedeutete noch lange nicht, dass ihm Claras Einmischen gefallen würde. Ihr Instinkt schrie sie förmlich an, dass diese Geschichte erzählt werden musste, aber Clara wusste auch, dass Daniel jeden Versuch, eine Versöhnung zwischen ihm und Forsythe anzustreben, boykottieren würde. Clara konnte nur hoffen, dass sie sich an seinem Feuer nicht die Finger verbrannte.

Kapitel 8

Das Büro von Alfred Forsythe war in jeder Hinsicht verschwenderisch eingerichtet. Die Wände waren mit roter Velourstapete verziert und überall hingen Kunstwerke von Meistern der Renaissance in vergoldeten Rahmen. Claras Blick wanderte nach oben zu dem goldfarbenen Stuck und einem gemalten Sommerhimmel an der Decke, aus dem kleine Engel Blütenblätter streuten.

Der Eisenbahnmagnat hatte sich bereit erklärt, mit ihr über die schwelenden Spannungen in den Gewerkschaften zu sprechen. Zumindest hatte sie ihm das angekündigt. In Wahrheit wollte sie ein Gefühl dafür bekommen, was für ein Mensch Alfred Forsythe war, und herausfinden, ob er sich auf einen Waffenstillstand mit Daniel Tremain einlassen würde.

Während des Bürgerkriegs war Forsythe General auf der Seite der Nordstaaten gewesen, und seine kerzengerade Haltung signalisierte, dass er es immer noch gewohnt war, das Kommando zu führen. Seine Augen aber hatten sie freundlich angesehen, als er sie ins Büro gebeten hatte. Sein Gesicht zeigte Spuren des Alters, und er trug einen akkurat getrimmten Van-Dyke-Bart.

Forsythe bot ihr Tee und einen Stuhl an einem kleinen Tisch in seinem vornehmen Büro an. „Ich begrüße Ihren Mut, Ihr Anliegen direkt mit mir zu besprechen“, setzte er an. „Es ist leider allzu leicht, das Schlimmste von uns Kapitalisten zu denken, weil wir nicht so viel Aufmerksamkeit auf uns ziehen wie brennende Barrikaden oder Familien, die im Hungerstreik für angemessene Löhne sind.“

„Ist denn Ihrer Meinung nach an solchen Geschichten etwas dran?“, wollte Clara wissen.

Zu ihrer Verwunderung nickte er. „Hunger ist eine Geißel unserer Gesellschaft und die Schande unserer Generation. Angesichts der Produktivität unserer amerikanischen Industrie sollte kein Kind in diesem Land hungern müssen. Aber Krawalle und Sabotage werden kaum zu mehr Arbeitsplätzen führen. Was die Gewerkschaften da tun, verstärkt nur die Spannungen und führt gewiss nicht zu mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft.“

Die Leichtigkeit, mit der Mr Forsythe diese Worte sprach, machte Clara hellhörig. Forsythe wollte sich bei der nächsten Wahl als Gouverneur aufstellen lassen. Von einem Mann, der im Begriff war, aufs politische Parkett zu steigen, konnte man erwarten, dass er sich einer Journalistin gegenüber gewählt ausdrücken konnte. Nach fast einer Stunde lenkte Clara das Gespräch in seine eigentliche Richtung.

„Und was ist mit den Spannungen, die es zwischen den führenden Kapitalisten gibt? Spielt der Konkurrenzkampf eine Rolle für die Löhne der Arbeiter?“

Mr Forsythe setzte sich auf. „Ich vermute, Sie spielen auf Daniel Tremain an?“

„Ja.“

Er überlegte. „Mr Tremain ist für die Art, wie er aus der Arbeiterklasse zu einem begüterten Mann aufgestiegen ist, nur zu beglückwünschen. Soviel ich weiß, hatte er eine schwere Kindheit und trägt aus dieser Zeit noch einige Narben mit sich herum.“

Keine Journalistin, die etwas taugte, ließ sich mit so einer aalglatten Antwort abspeisen. „Ich kenne Daniel Tremain persönlich, und ich denke, wir wissen beide, dass sein Groll sich auf ein bestimmtes Ereignis bezieht.“

„Das hat man mir gesagt, ja.“

„Haben Sie etwas dazu zu sagen?“

Mr Forsythe beugte sich vor. „Wie gut kennen Sie Mr Tremain und seine Geschichte?“

Es zu leugnen hatte keinen Sinn. „Daniel Tremain ist seit vielen Jahren ein guter Freund der Familie. Aber ich kenne nur seine Version der Geschichte. Ich würde gern Ihre Version hören.“

„Ich verstehe.“ Forsythe stand auf und lief zum Fenster, das den Blick auf das Geschäftsviertel freigab. „In meinem Unternehmen arbeiten mehr als siebentausend Menschen, vom Anwalt an der Wall Street bis zu den Jungs, die in der Gießerei Kohlen schaufeln. Stahlerzeugung und Gleisbau, das ist harte, dreckige Arbeit, für die meine Arbeiter gut bezahlt werden. Aber es ist auch gefährlich. Menschen verletzen sich, und manchmal sterben sie.“

Er drehte sich um. „Ich habe sechs Stahlwerke, Miss Endicott, und in jedem gibt es unzählige Boiler, Schmieden und Öfen. Und jedes Gerät besteht aus Hunderten von mechanischen Einzelteilen. Ich bezahle Leute dafür, dass sie die Gerätschaften warten. Man kann mich doch nicht dafür verantwortlich machen, wenn in einer dieser Maschinen ein Ventil falsch eingebaut wurde.“

„Mr Tremain ist der Meinung, dass die Sicherheitsventile defekt waren. Und dass diese Tatsache schon vor dem Unfall bekannt war, aber die Anweisung lautete, defekte Teile nicht zu ersetzen, bis sie den Dienst endgültig versagen.“

„Eine Unfalluntersuchung hat mein Unternehmen von jedem Vorwurf freigesprochen. Der Unfall ist außerdem schon zwölf Jahre her. Jetzt noch an genauere Informationen zu kommen ist unmöglich.“

Mr Forsythe zog sich einen Stuhl heran und setzte sich zu Clara. Dabei verlor er ein wenig von der Steifheit, die ihn so formell bleiben ließ. „Miss Endicott, wenn Sie irgendwelche Erkenntnisse mitbringen, wie ich diesen Rachefeldzug beenden kann, würde ich sie gern hören. Dieser Unfall hat unser beider Firmen geschadet und nichts gebracht. Was will dieser Mann?“ Forsythes Stimme klang frustriert. Sein Blick war fast flehentlich.

„Ich denke, er möchte eine Entschuldigung.“

Forsythe erstarrte. „Das wird nicht passieren.“

„Aber es ist Ihre einzige Chance, diese Fehde zu beenden.“

„Ich habe nichts falsch gemacht“, empörte er sich. „Ich weigere mich, für etwas um Entschuldigung zu bitten, was vor über einem Jahrzehnt passiert ist, noch dazu an einem Gerät, das ich nie berührt habe. Das werde ich nicht tun!“ Seine Stimme überschlug sich und Clara zuckte innerlich zusammen. Genau denselben unversöhnlichen Ton hatte Daniel angeschlagen, wenn er über
Forsythe sprach, und Clara ahnte, dass wenig Hoffnung auf einen Kompromiss bestand.

* * *

Daniels Haus hatte klare Linien und war modern, mit einem Säulenvorbau auf der gesamten Fassadenlänge. Der Boden im Innern bestand aus dunklen Schieferfliesen, die Wände waren mit hellem Holz getäfelt. Licht strömte durch die übergroßen Fenster in alle Räume, die mit Ledermöbeln behaglich ausstaffiert waren.

Daniel schien eigenartig zögerlich, als er Clara durch die Zimmer führte, die alle nach Zitronenpolitur dufteten und ohne den ganzen Tand auskamen, der die meisten Häuser der Oberschicht füllte. Er beobachtete sie beim Rundgang, achtete darauf, wohin ihr Blick fiel und welche Gegenstände ihre Aufmerksamkeit weckten. Dass er überaus stolz auf sein Haus war, merkte man ihm an, aber er schien trotzdem ihre Bestätigung zu suchen. „Und das hier habe ich von den Lizenzeinnahmen für das letzte Patent gekauft“, sagte er und deutete auf ein Gemälde, das im Salon über dem Kamin hing.

Es war ein beeindruckendes Werk, eine Explosion aus bernstein- und safrangelben Spritzern und Sprenkeln. Clara starrte es einige Zeit an. „Ist das … ist das ein Sonnenuntergang?“, fragte sie.

Daniel betrachtete das Bild. „Ich glaube schon. Manchmal sieht es auch aus wie ein Feuerstoß. Oder das Gelbe in einer Blume. Es ist immer das, was du darin siehst.“

Dieser Künstler machte keinerlei Anstalten, realistisch zu sein. Ein solches Gemälde hatte Clara noch nie gesehen, aber es hatte Ausstrahlung und war seltsam faszinierend. „Es hat so etwas Unwirkliches“, stellte Clara fest. „Die Farben sind wundervoll, aber ich weiß nicht, was ich davon halten soll.“

„Es ist eben modern“, erwiderte Daniel. „Ich mag nun mal Dinge, die neu und zukunftsweisend sind.“

„Das merkt man“, antwortete Clara und ließ den Raum auf sich wirken. Wenn Daniel vor den Erinnerungen an sein Elternhaus fliehen wollte, das alt und baufällig gewesen war, hatte er in diesem Haus gute Chancen.

„Und das hier ist mein Lieblingszimmer“, erklärte er und führte Clara in eine kleine Bibliothek, in der die Bücherregale vom Boden bis zur Decke reichten. Der Raum erstreckte sich über zwei Etagen und hatte ringsherum eine kleine Balustrade. Ein Oberlicht krönte das Zimmer und bot einen Blick geradewegs in den Himmel. Die Bibliothek diente augenscheinlich auch als Musikzimmer, denn in einer Ecke stand ein Flügel. Ein Cello lehnte an der Wand, und Notenstapel lagen auf einen Notenständer aus Messing. Ein massiver Tisch dominierte die Raummitte, auf dem allerlei Gerätschaften, Messinstrumente und Zeichenwerkzeug lagen.

Daniel schlenderte zu einem Stuhl neben dem Flügel und griff nach dem Cello. „Bist du bereit, das große Meisterwerk zu hören, das ich für dich geschrieben habe?“

Clara setzte sich auf den Klavierhocker. „Ich warte schon seit Jahren darauf.“

„Ich warne dich. Damals durchlitt ich gerade die unbändigen Qualen eines heranwachsenden Jünglings. Ich wette, das merkt man.“ Aber dann strich Daniel mit dem Bogen über die Saiten und stimmte den tiefen, klagenden Gesang des Cellos an. Clara ließ sich von den wohltuenden Töne mitreißen. Sie schloss die Augen und erinnerte sich an die flüchtigen Stunden im Abendlicht, als Daniel ihr im alten Konservatorium vorgespielt hatte. Sie verlor jedes Gefühl für Zeit und lauschte nur noch seinem Spiel.

Als die letzte Note verklungen war, wartete sie, bis ihr Herzschlag sich beruhigt hatte, bevor sie wieder die Augen öffnete und Daniel ansah. Ihr fehlten die Worte; sie konnte nur eines, ihn anlächeln.

„Als dann keine Reaktion von dir kam, habe ich auch noch die Klavierbegleitung geschrieben“, erklärte Daniel. „Willst du sie mal sehen?“

Der Kloß im Hals war noch da, und Clara nickte nur. Daniel stellte die Partitur vor ihr auf den Flügel, und Clara überflog die Notenzeilen. Ohne es zu wollen, spielten ihre Finger die Töne in der Luft. Daniel setzte sich neben sie, geradezu unerhört dicht. „Versuch es ruhig“, flüsterte er ihr ins Ohr.

Sie legte zögerlich ihre Hand auf die kühlen weißen Tasten. Das Vorspiel war einfach und einhändig. Mühelos spielte sie die Melodie, bis auf einmal Daniels Hand auf ihrer lag. Seine Hand war so viel größer, die Haut dunkler und rauer als ihre, aber dennoch unendlich sanft, als er Ton für Ton mit ihr spielte und mit leichtem Druck ihre Finger führte. Seine Handfläche war warm, und sie konnte seinen Atem an ihrer Wange spüren.

Claras Gesicht blieb auf die Partitur gerichtet, ihre Augen aber schielten in Daniels Richtung. Alles, was sie sehen konnte, war ein Stück seines Kinns und den Mundwinkel, der leicht nach oben gezogen war. Daniel war ihr so nah, dass ihr der Duft seiner Seife in der Nase kitzelte, und sie entdeckte einen leichten Bartschatten auf seinem Kinn. Welche Töne sie spielte, merkte sie nicht; sie ließ ihn einfach ihre Finger leiten.

Als das Stück schwerer wurde, legte er ihr seinen anderen Arm um die Taille und spielte mit beiden Händen. Clara brauchte gar nicht so zu tun, als wären die Töne ihr Verdienst; sie ergab sich einfach seiner Führung und ließ die Melodie den Raum erfüllen.

Dann war das Stück vorbei, und seine Finger lenkten ihr Kinn sanft in seine Richtung. In ihr kribbelte alles und seine geheimnisvollen grauen Augen zogen sie magisch an. Der nächste Schritt schien unausweichlich, aber Clara wusste, wenn er sie jetzt küssen würde, nähme ihre Beziehung für immer eine andere Richtung. Und für dieses Risiko war sie noch nicht bereit.

Hastig drehte sie den Kopf weg und nickte zum Cello. „Wollen wir es zusammen probieren?“ Er bewegte sich nicht, nur sein Daumen fuhr sanft die Konturen ihrer Wangen nach. Ihre Haut kribbelte. Das Atmen fiel ihr schwer und die Versuchung war groß, ihre Bedenken in den Wind zu schlagen und die Nähe zu ihm zu suchen.

Daniel stand auf. „Ja. Sollten wir.“ Sein Ton war beiläufig, als wäre nichts passiert. Er nahm wieder auf dem Stuhl Platz, rückte sich das Cello zurecht und wartete, bis sie bereit war. Dann gab er ihr mit einem Nicken den Einsatz, wie er es schon Tausende Male getan hatte.

Schnell konnten sie Daniels Duett fehlerfrei spielen und vertieften sich in die frisch importierten Noten aus Europa, darunter die unerhört schwere Rhapsodie von Brahms. Clara versuchte, immer etwas Abstand zu Daniel zu halten, um seiner Anziehungskraft nicht zu erliegen. Als sie fertig waren, ließ sie es sich nicht nehmen, seine ungewöhnliche Bibliothek zu inspizieren, die mit Blaupausen unfertiger Projekte und kleinen mechanischen Geräten gefüllt war. Die restlichen Zimmer waren mit geschmackvollen Kunstwerken dekoriert, aber dieser Raum war anders. Die einzige Wand ohne Bücherregal war mit Papieren und eingerahmten Bauplänen übersät.

Clara ging näher heran. Ein Zettel sah aus wie eine Speisekarte aus einer Kneipe. Die Ränder waren mit kleinen Bleistiftzeichnungen und mathematischen Formeln versehen.

„Das war ein Versuch von Ian Carr und mir bei einem Bier in O’Reilly’s Tavern“, erklärte Daniel. „Sozusagen die Grundidee für ein Zeitsignal. Letzten Endes wurde daraus mein erstes Patent.“ Clara betrachtete die anderen Dokumente, die meisten davon Patente, aber auch einige Zeichnungen, die jeweils die ersten Stadien seiner Ideen zeigten. „Ohne diese Papierfetzen würde ich heute noch Kohlen in die Öfen schippen“, stellte Daniel fest.

Clara schüttelte den Kopf. „Das bezweifle ich. Du warst schon immer zu etwas Größerem berufen als nur zur Plackerei in einem Stahlwerk. Ich wünschte, deine Eltern könnten sehen, wie weit du es gebracht hast. Sie wären so stolz auf dich … und ich bin es auch.“

Daniel zog die oberste Schublade vom Bibliothekstisch auf und holte eine kleine Fotografie heraus. Clara erkannte seine lächelnden Eltern. Seine Mutter strahlte über das ganze Gesicht und trug einen Kranz aus Gänseblümchen auf dem Kopf.

„Das ist das einzige Foto von meinen Eltern“, sagte Daniel. „Das haben sie an dem Tag machen lassen, als sie erfuhren, dass meine Mutter mit Lorna schwanger war. Sie mussten so lange auf sie warten und dachten schon, sie könnten keine Kinder mehr bekommen. Ich weiß noch, wie meine Mutter den Kranz flocht, weil sie sich so sehr freute. Mit dem Blumenkranz auf dem Kopf tanzte sie durch die ganze Wohnung, aber so war Mutter, wenn sie glücklich war. Den ganzen Tag über konnte sie nicht aufhören zu lächeln, und schließlich ging mein Vater mit ihr zum Fotografen.“

Daniel strich über die Kante des Fotos. „Ich versuche sie als glückliche Frau in Erinnerung zu behalten, aber es ist schwer. Die düsteren Erinnerungen nehmen überhand. Ich wünschte, sie hätte lange genug gelebt, damit ich mich um sie hätte kümmern können. So richtig um sie kümmern.“ Daniels Stimme wurde immer leiser. „Sie hatte nie einen Ehering. Wusstest du das? Sie liebte meinen Vater so sehr, und ich glaube, sie hat sich immer einen gewünscht, aber es war nie genug Geld da.“ Er schnippte das Foto auf den Tisch und sank in den Stuhl. „Heute könnte ich ihr ein ganzes Juweliergeschäft kaufen, aber jetzt ist es egal.“

Sein leerer Blick machte Clara traurig. Sie kniete sich vor seinen Stuhl und nahm seine Hände in ihre. „Das stimmt. Jetzt ist es egal. Ich wünschte so sehr, deine Mutter hätte noch miterlebt, was du alles erreicht hast. Aber sie ist nicht mehr da, und sie hätte nicht gewollt, dass du dich wegen ihr grämst und verbittert wirst.“

Daniel starrte aus dem Fenster. Dann nickte er. „Wahrscheinlich hast du recht.“ Als er Clara wieder ansah, trat ein verschmitztes Lächeln auf sein Gesicht. „Es gibt noch ein paar andere Dinge, die sie für mich gewollt hätte. Aber die sind noch in Arbeit.“

„Und welche sind das?“

„Ich muss zum Beispiel Kate noch anständig unter die Haube bringen. Sie spielt an diesem Wochenende Tennis, und ich hoffe, irgendein vornehmer junger Mann wirft ein Auge auf sie. Möchtest du mitkommen?“

Clara nickte eifrig. Ein Tennisspiel hatte sie noch nie gesehen.

„Und dann hätte meine Mutter gern gesehen, dass ich anständig unter die Haube komme, aber dafür habe ich noch so gut wie gar nichts getan. Allerdings überlege ich, wie ich diesen traurigen Umstand ändern kann. Und ich dachte, ich sollte dich darüber in Kenntnis setzen.“

Plötzlich setzte ihr Herz einen Schlag aus. Es wäre vermessen, davon auszugehen, dass sie die Liste seiner möglichen Partien anführte. Außerdem gab es nach allem, was sie gehört hatte, eine Frau, der er schon über Jahre hinweg Gesellschaft leistete. Clara zog die Brauen hoch und versuchte, gleichgültig zu klingen. „Und warum das?“

„Miss Endicott, deine Beobachtungsgabe ist nicht gerade auf Rasierklingenniveau“, schalt er und lief zu einem Regal am anderen Ende des Bibliothekszimmers. „Und du willst Journalistin sein?“ Er sprach in diesem kühlen, distanzierten Ton, mit dem er sie schon als junges Mädchen aufgezogen hatte. Aber inzwischen wusste sie, dass er sie neckte. Und sie genoss jeden Augenblick davon.