Über das Buch:
Kate Sullivan landet den größten Erfolg ihrer Karriere: In der landesweiten Sammelklage gegen den riesigen Pharmakonzern MPC wird sie nicht nur in den Prozessausschuss berufen, sondern sogar zur leitenden Anwältin bestellt. Fest entschlossen, ihren Mandanten Gerechtigkeit zu verschaffen, stürzt Kate sich in die Arbeit. Es darf nicht sein, dass Pharmaunternehmen ungestraft Migränemedikamente auf den Markt bringen, die Hirntumore verursachen!

Als eine angebliche Mitarbeiterin von MPC ihr einen mysteriösen Tipp gibt, weiß Kate zunächst nicht, was sie davon halten soll. Doch dann wird die Frau tot aufgefunden und die Hinweise verdichten sich, dass der Fall noch größere Ausmaße hat als zunächst angenommen. Zusammen mit dem Privatdetektiv Landon James beginnt Kate tiefer zu graben …

Über die Autorin:
Rachel Dylan arbeitete mehr als acht Jahre als Prozessanwältin für eine namhafte amerikanische Kanzlei. Heute ist sie als Justiziarin für einen der größten Automobilhersteller der USA tätig und schreibt christliche Romane, die in der Gerichtswelt spielen. Zusammen mit ihrem Mann, zwei Hunden und drei Katzen lebt sie in Michigan.

Kapitel 8

Landon hatte Pierce noch nicht aufgegeben, daher ging er am nächsten Tag wieder zum Imbiss und wartete darauf, dass der Mann zum Mittagessen kam. Als Pierce eintrat und ihn sah, runzelte er sofort die Stirn, aber er kam trotzdem näher und setzte sich neben Landon.

„Sie sollten nicht hier sein, Soldat.“

„Ich kann nicht einfach so tun, als wäre nichts geschehen. Das müssten Sie eigentlich verstehen.“

„Was wollen Sie von mir?“

Bevor Landon antworten konnte, kam die Bedienung und nahm ihre Bestellungen auf. Nachdem sie die Getränke gebracht und wieder gegangen war, beantwortete Landon Pierce’ Frage.

„Sie könnten auf unterschiedliche Weise helfen.“

„Zum Beispiel?“

„Glauben Sie wirklich, dass Ellie zufällig im Parkhaus ermordet wurde?“

Pierce trank einen Schluck von seinem Eistee, bevor er erwiderte: „Ich wüsste nicht, warum ich etwas anderes glauben sollte.“

„Das sagen Sie, aber ich denke, Sie glauben es selbst nicht.“

„Sie wollen doch wohl nicht andeuten, ich hätte etwas damit zu tun?“ Die Stimme des Mannes zitterte.

„Nein, überhaupt nicht, aber ich denke, dass Sie vielleicht etwas wissen, das mir helfen könnte herauszufinden, wer dahintersteckt. Was wissen Sie über die anderen Medikamente, an denen Ellie gearbeitet hat?“

„Hm.“ Pierce rieb sich das Kinn. „Sie hat an mehreren Produkten gearbeitet. So läuft die Arbeit bei uns.“

„Okay.“ Landon war sich sicher, dass Pierce mehr wusste, aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um die Daumenschrauben anzusetzen. Erst musste er ein gewisses Maß an Vertrauen aufbauen. „Kann ich Sie etwas zu einem ganz anderen Thema fragen?“

„In Ordnung“, sagte Pierce leise.

„Ist Ihr Firmenchef jemand, der mit anpackt?“

„Oh ja, auf jeden Fall. Er ist in alle Unternehmensprozesse involviert.“

„Sie haben letztes Mal versucht, mich abzuschrecken, aber ich muss verstehen, wie weit die Firma im Zweifelsfall gehen würde. Würden Sie MPC zutrauen, einen Killer auf Ellie anzusetzen?“

Pierce sah ihn erschrocken an. „Ist das Ihr Ernst?“

„Ich weiß, dass es nicht leicht ist, darüber zu reden, aber ich brauche Ihre Einschätzung.“

Pierce verschränkte die Arme und vermied es, Landon anzusehen. „MPC ist sehr rigoros, wenn es um irgendwelche juristischen Dinge geht – wir Wissenschaftler werden an der kurzen Leine gehalten, wir müssen extrem strenge Wettbewerbsvereinbarungen und Vertraulichkeitserklärungen unterschreiben. Aber was Sie da andeuten, ist ziemlich drastisch. Ich sage nicht, dass die Firmenbosse nicht die eine oder andere Vorschrift umgehen – so ist das in amerikanischen Unternehmen und der Pharmaindustrie nun mal. Vielleicht agieren sie sogar mal außerhalb des Gesetzes, aber ich glaube nicht, dass sie so weit gehen würden. Das ist einfach zu viel.“

„Aber anlegen wollen Sie sich mit denen offenbar auch nicht.“

„Ich brauche meine Arbeit und das Letzte, was ich will, ist, Aufmerksamkeit zu erregen oder unnötig Staub aufzuwirbeln. Was mit Ellie geschehen ist, ist tragisch, aber wenn an Ihren Unterstellungen auch nur das Geringste dran ist, dann ist das für mich ein Grund mehr, nicht aufzufallen und mich rauszuhalten.“

Ihr Essen kam und Landon beschloss, die Unterhaltung auf unverfängliche Themen zu lenken. Wenn er Pierce nach und nach einige Informationen entlocken konnte, ohne ihn zu verjagen, würde sich seine Geduld schlussendlich auszahlen.

* * *

Kate hielt Wort und traf sich am Samstagabend mit ihren Freundinnen. Sowohl Sophie als auch Mia waren geselliger als sie. Nachdem sie gegen Ende ihres Studiums einen neuen Weg eingeschlagen hatte, hatte sie bewusst versucht, nicht so oft auszugehen. So war es einfacher, einige schlechte Angewohnheiten aus der Collegezeit abzulegen. Durch die Partys waren ihre Depressionen nur noch schlimmer geworden. Wenigstens konnte sie ihnen jetzt mit einem klaren Kopf begegnen und einem Glauben, der mit jedem Jahr stärker wurde.

Da sie keine Familie hatte – ihr Onkel war vor einigen Jahren gestorben –, war es schön, Freundinnen zu haben, auf die sie sich verlassen und mit denen sie ihre Siege feiern konnte, so wie ihre erste Ernennung zur leitenden Anwältin. Es machte ihr jedoch zu schaffen, dass sie den beiden nicht offen sagen konnte, was in dem Fall vor sich ging.

Wie immer war Kate früh dran und als Erste da. Ihre Freundinnen hatten ein schönes Restaurant in Buckhead ausgesucht, dessen Spezialität Fisch und Meeresfrüchte waren. Sie setzte sich und fing an, die Speisekarte zu studieren, während sie wartete.

Nach einigen Minuten gesellten Sophie und Mia sich zu ihr an den Tisch. Sie wohnten nahe beieinander, deshalb war es nicht weiter erstaunlich, dass sie zusammen gefahren waren. Sie stand auf und umarmte die beiden zur Begrüßung.

„Wir wären schon früher hier gewesen“, sagte Sophie, „aber Mia war mal wieder nicht rechtzeitig fertig.“

„Hör nicht auf sie, Kate. Ich hatte noch jede Menge Zeit.“ Mia warf ihr ein verschwörerisches Grinsen zu.

Kate genoss die freundliche Neckerei. Sie wusste, dass Mia und Sophie enger miteinander befreundet waren, als sie mit einer von ihnen, aber damit hatte sie kein Problem, weil sie wusste, dass es an ihr selbst lag.

„Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich hier bist“, sagte Sophie. „Mia und ich haben auf eine siebzig-zu-dreißig-Chance getippt, dass du in letzter Minute absagst.“

„Bin ich wirklich so schlimm?“

Ihre Freundinnen sahen einander an und lachten dann laut auf.

„Ich nehme an, das heißt ja.“

„Aber wir sind heute Abend natürlich nicht hier, um dich zu ärgern. Heute Abend wollen wir dich feiern! Schließlich wird man nicht jeden Tag zur leitenden Anwältin in einem so wichtigen Fall ernannt und dies ist das erste Mal für dich“, sagte Mia. „Es ist eine echte Leistung und auf diesen Meilenstein wollen wir mit dir anstoßen. Du arbeitest gewissenhafter als jeder andere Mensch, den ich kenne.“

Sophie hob ihr Glas mit Mineralwasser. „Ich möchte einen Toast auf Kate ausbringen, unsere Freundin und die furchtlose Anwältin, die MPC zur Strecke bringen wird. Nehmt euch in Acht, ihr Pharmariesen, Kate Sullivan hat es auf euch abgesehen.“

Kate hob ebenfalls ihr Glas. „Danke, meine Damen. Ihr wisst beide, wie hart dieser Job ist. Jetzt muss ich ihn aber auch gut erledigen.“

„Du wirst das super machen, Kate“, versicherte Mia ihr. „Alle in der Juristenszene von Atlanta wissen, dass du es draufhast.“

Letzten Endes war ihr am wichtigsten, was die Geschworenen dachten – nicht ihre Kollegen. „Danke, aber ich mache mir nicht die Illusion, dass dies ein Spaziergang wird. Ganz im Gegenteil.“

„Ich weiß, dass du nicht über Einzelheiten reden darfst, aber gibt es etwas Interessantes, das du erzählen kannst?“, wollte Sophie wissen.

Kate überlegte einen Moment und beschloss dann, den beiden etwas zu erzählen, was nicht vertraulich war. „Ich habe einen Privatdetektiv angeheuert, um ein paar Nachforschungen für mich anzustellen.“

Mia trank einen Schluck. „Ist es jemand, mit dem du schon mal zusammengearbeitet hast?“

„Nein, der Typ ist neu. Er war früher Ranger beim Militär.“

„Wie alt?“, fragte Sophie.

„Ungefähr in meinem Alter.“

„Oh, jetzt wird die Sache interessant“, grinste Sophie.

„Komm schon, Soph“, wandte Mia ein. „Kate wird sich nie im Leben für den Typen interessieren. Du weißt doch, dass sie für ein Liebesleben gar keine Zeit hat.“

Ihre Freundinnen machten ihr regelmäßig das Leben schwer, weil sie sich keine Zeit für Verabredungen nahm. Sie beide gingen regelmäßig aus, hatten aber noch nicht den Richtigen gefunden, mit dem sie eine Familie gründen wollten. Sie waren allerdings auch ein paar Jahre jünger als Kate.

„Ich höre kein Dementi“, sagte Sophie.

„Leute, ich sitze immer noch hier. Und zwischen Landon und mir ist nichts. Aber er ist ein sehr interessanter Mann.“

„Umfasst interessant auch attraktiv?“ Mia grinste breit.

Kate konnte nicht lügen. „Ja, sehr. Aber das hat nichts zu bedeuten.“

Sophie drehte den Strohhalm in ihrem Getränk. „Ich weiß nicht, Kate, dieser Blick in deinen Augen spricht eine andere Sprache. Du weißt doch, dass du uns die Wahrheit sagen kannst.“

Sie gab nach. „Na gut. Ich finde ihn schon süß, aber es würde jede Menge Chaos mit sich bringen, wenn ich da etwas unternähme.“

„Das Leben ist nun mal chaotisch“, gab Sophie zurück. „Hinter der Ausrede kannst du dich nicht verstecken, sonst wirst du allein bleiben.“

„Ich verstecke mich nicht.“ Kate zögerte und fragte sich, ob sie es nicht vielleicht doch tat. „Und selbst wenn ich Interesse hätte – und ich sage nicht, dass es so ist –, gehören immer noch zwei dazu und er hat mir keinen Anlass gegeben zu glauben, dass die Anziehungskraft auf Gegenseitigkeit beruht.“

„Du stellst dein Licht unter den Scheffel“, sagte Sophie. „Jeder Typ, der nicht mit dir ausgehen will, ist bescheuert.“

Kate beschloss, dass sie von dem Romantikgerede genug hatte. „Dieser Fall ist wirklich verrückt mit all den Dokumenten, die wir prüfen müssen. Ihr beide wisst ja, wie das ist.“

„Nur zu gut“, sagte Mia. „Ich vermute, du hast ein Team zusammengestellt, das all die Dokumente prüft, die MPC euch überlässt?“

„Genau. Mal sehen, wie sich das Ganze entwickelt. Momentan warten wir auf die erste Ladung Unterlagen. Aber jetzt genug von mir und meinem Fall: Was gibt es bei euch Neues?“

„Mia bewirbt sich nächste Woche um einen großen Fall“, sagte Sophie.

„Ich hoffe, du kannst den Mandanten an Land ziehen“, sagte Kate. „Ich weiß, wie viel Druck es gibt, neue Aufträge zu akquirieren. Und für dich ist der Druck noch größer, weil du hauptsächlich Verteidigung machst. Große Unternehmen als Mandanten zu gewinnen, ist schwierig, und genau das erwartet die Kanzlei.“

„Vor allem, wenn es sich um einen Männerklub handelt. In einige dieser Bereiche vorzudringen ist so gut wie unmöglich“, fügte Mia hinzu. „Aber das bedeutet nicht, dass ich es nicht weiter versuchen werde.“

„Noch ein Grund, warum ich froh bin, nicht in einer Kanzlei zu arbeiten“, sagte Sophie. „Das überlasse ich liebend gerne euch beiden.“

Kate verstand, warum Sophie das so sah, aber Sophie hatte es auch nicht immer leicht. „Aber du musst als Staatsanwältin mit ganz anderen Problemen kämpfen. Ich kann mir kaum vorstellen, welcher Druck im Gerichtssaal auf dir lastet.“ Ihre Freundin arbeitete seit ihrem Examen als Staatsanwältin. „Ich habe jede Menge Respekt vor deiner Arbeit. Du tust genauso viel wie wir, und das für einen Bruchteil unseres Gehaltes.“

„Wohl wahr“, sagte Sophie. „Aber ich habe ein großes Sicherheitsnetz, das mich im Zweifelsfall auffängt.“

Sophies Vater war ausgesprochen wohlhabend. Eigentlich hätte Sophie gar nicht arbeiten müssen, aber sie tat es trotzdem. Dafür verdiente sie in Kates Augen nur noch mehr Anerkennung.

An diesem Abend lachte Kate so viel wie lange nicht mehr, und mit ihren Freundinnen zusammen zu sein, machte ihr wieder einmal bewusst, dass sie sich mehr Mühe geben musste, Zeit mit ihnen zu verbringen.

Als die Mahlzeit sich dem Ende näherte, war Kate von dem ganzen Reden zwar müde, aber auch voller Energie, weil es eine gute Unterhaltung gewesen war.

Sie verabschiedeten sich und Kate sah Sophie an. „Sehen wir uns morgen in der Kirche?“

„Ja, ich gehe zum Frühgottesdienst, wie immer.“

„Ich auch.“ Kate sah Mia an. „Die Einladung steht, Mia.“

„Danke, ihr Lieben, aber ihr wisst ja, dass Kirche nicht mein Ding ist.“

Kate und Sophie war es bisher nicht gelungen, Mia dazu zu bringen, dass sie ihre Einladung zum Gottesdienst annahm. Aber Kate wollte nicht drängen, also verabschiedete sie sich noch einmal und machte sich dann auf den Heimweg. Sie hoffte, dass sie gut würde schlafen können, und war froh, dass sie sich nach dem Essen für koffeinfreien Kaffee entschieden hatte.

Kurz darauf bog sie in ihre Auffahrt ein und fing dabei an, das restliche Wochenende zu planen. Als sie aus dem Jeep stieg, erstellte sie in Gedanken gerade eine To-Do-Liste mit allem, was sie erledigen musste. Unter anderem stand darauf eine Fahrt zur Zoohandlung, um neues Futter für Jax zu kaufen.

Sie kramte in ihrer Handtasche und fand ihren Hausschlüssel genau in dem Moment, als starke Hände sie von hinten packten. Bevor der Angreifer ihr die rechte Hand über den Mund legen und ihre Stimme dämpfen konnte, stieß sie einen Schrei aus.

Mit dem linken Arm zog er sie gefährlich nahe an sich heran und hielt dann ihre beiden Arme fest. Kate versuchte, sich zu drehen und einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, aber es war so dunkel, dass sie nicht erkennen konnte, wie er aussah. Vergeblich kämpfte sie weiter gegen ihn an.

Doch sie war nicht bereit aufzugeben und biss kräftig in die Finger, die ihren Mund verschlossen. Er reagierte mit unterdrückten Flüchen, presste aber die Hand nur noch fester auf ihren Mund, sodass sie ihn nicht mehr beißen konnte. Er drückte zu, bis sie sich vor Schmerzen wand.

„Du hast die Macht, die Richtung in diesem Fall zu bestimmen.“ Er sprach ihr direkt ins Ohr. Seine Stimme war tief und rau. „Jede Entscheidung, die du triffst, hat Folgen. Also überleg dir gut, was du tust.“ Er umklammerte sie noch fester. „Du willst nicht, dass wir uns wiedersehen.“

Angst durchströmte sie, während sie versuchte, ihm zu entfliehen, aber er war locker dreißig Zentimeter größer als sie und viel stärker.

„Und wenn du nicht willst, dass dir was passiert, schließt du jetzt die Tür auf, gehst rein und denkst über das nach, was ich dir gesagt habe.“

Dann lockerte er seinen Griff. Zuerst konnte sie sich nicht rühren. Ihre Hand zitterte, als sie schließlich versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken. Was, wenn er ins Haus kam, nachdem sie die Tür aufgeschlossen hatte? Ihr Herz hämmerte, aber sie hatte keine andere Wahl. Sie bemühte sich um eine ruhige Hand.

Bevor sie sich etwas überlegen konnte, wie sie mit ihm fertigwerden könnte, ließ er sie ganz los, sodass sie sich wieder bewegen konnte. Sofort fuhr sie herum, aber er rannte bereits fort, in die Nacht hinein – knapp eins neunzig groß und hundert Kilo schwer, aber mehr konnte sie nicht erkennen.

Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm folgen sollte, aber dann wurde ihr bewusst, dass die Idee ganz und gar verrückt war. Sie konnte gegen einen solchen Mann nichts ausrichten.

Schnell ging sie ins Haus und schaltete ihre Alarmanlage wieder ein. Während sie versuchte, ihren keuchenden Atem zu beruhigen, zitterte sie am ganzen Körper. Der Angreifer hatte MPC nicht namentlich erwähnt, aber es war klar, was er gemeint hatte. Sie wollten, dass sie den Gegner mit Samthandschuhen anfasste. Offensichtlich schreckten sie nicht davor zurück, gewalttätig zu werden, um ihre Ziele zu erreichen, aber sie konnte den Vorschlag nicht einmal in Erwägung ziehen. Abgesehen davon, dass ein solches Vorgehen unethisch wäre, kam es für sie auch überhaupt nicht infrage.

Sie schmeckte Blut und merkte, dass sie sich während des Überfalls auf die Wange gebissen haben musste. Herr, danke, dass es nicht schlimmer gekommen ist.

Kate konnte den Atem des Mannes an ihrem Hals und seinen festen Griff um ihre Taille immer noch spüren und einen Moment lang war ihr, als müsste sie sich übergeben.

Sie wartete eine Weile und betete weiter – nicht nur für ihre Sicherheit, sondern auch für einen Hinweis, wie sie mit der Situation umgehen sollte. Sie würde ihre Mandanten nicht einfach wegen einer vagen Drohung im Stich lassen. Sie hatten Kate persönlich angegriffen, aber würden sie noch weiter gehen, so wie sie es bei Ellie getan hatten? Die Antwort darauf wollte sie gar nicht wissen, denn sie musste weitermachen.

Nachdem sie ihr Handy herausgeholt hatte, wählte sie Landons Nummer und wartete darauf, dass er dranging.

„Hi“, sagte er. „Was ist los?“

Ihm war klar, dass etwas passiert sein musste, wenn sie ihn um kurz vor zehn an einem Samstagabend anrief. „Kannst du bitte zu meinem Haus kommen?“ Sie konnte hören, wie ihre Stimme bebte, aber sie musste sich zusammenreißen.

„Bist du in Ordnung?“

„Ja, mir geht es gut. Ich erkläre dir alles, wenn du hier bist.“

* * *

Schreckliche Gedanken überschlugen sich in Landons Kopf, während er sämtliche Geschwindigkeitsbeschränkungen ignorierte, um so schnell wie möglich zu Kates Haus zu gelangen. Sie hatte gesagt, es gehe ihr gut, aber der zittrige Klang ihrer Stimme hatte eine andere Sprache gesprochen.

Er überlegte, ob er ein Gebet sprechen sollte. Nicht für sich selbst, sondern für Kate. Seit ihrem gemeinsamen Abendessen dachte er immer wieder über seinen Glauben nach – oder seinen Mangel an selbigem. Er hatte gedacht, er würde nie wieder offen dafür sein zu glauben, dass Gott für ihn da war, aber ein merkwürdiges Ziehen an seinem Herzen und Verstand ließ ihn mittlerweile daran zweifeln. Und selbst wenn Gott nicht für ihn da war, würde er für Kate da sein? Landon hoffte es.

Was konnte ihr zugestoßen sein? Was auch immer es war, er wusste, dass es mit dem Fall zu tun hatte. Anwälte sollten sich keine Sorgen um ihre Sicherheit machen müssen, aber nach dem, was mit Ellie geschehen war, war nichts undenkbar.

Bei Kates Haus angelangt, sprang er aus dem Wagen und rannte zur Eingangstür. Er klopfte laut und gleich darauf öffnete sich die Tür und Kate ließ ihn herein.

Er folgte ihr ins Wohnzimmer, aber keiner von ihnen setzte sich. Allein, dass er sie dort stehen sah, dass sie lebte, war eine riesige Erleichterung. Aber ihre roten, geschwollenen Augen verrieten ihm, dass sie geweint hatte. „Was ist passiert, Kate?“

„Ich war mit meinen Freundinnen essen, und als ich nach Hause kam und gerade die Tür aufschließen wollte, tauchte hinter mir plötzlich ein Mann auf.“ Sie verstummte, offenbar von Gefühlen überwältigt.

„Ist schon gut, Kate. Jetzt bist du in Sicherheit.“ Er ballte die Fäuste an seiner Seite, obwohl er am liebsten die Arme um sie geschlungen hätte.

„Er hat mich gepackt. Und dann hat er mir mehr oder weniger deutlich gesagt, dass ich mich bei dem Fall zurückhalten soll und dass alle meine Entscheidungen Folgen haben. Er hat MPC nicht erwähnt, aber ich bin mir sicher, dass das der Fall ist, den er gemeint hat. Dann hat er gesagt, ich solle die Haustür aufschließen und hineingehen. Ich hatte Angst, er würde mir folgen, aber er ist abgehauen.“

Bei dem Gedanken, dass jemand Kate grob angefasst hatte, wurde Landon ganz schlecht. Aber er musste seine Wut beherrschen, denn wenn er durchdrehte, würde Kate das nicht helfen. „Würdest du ihn wiedererkennen?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, es war dunkel und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Aber er war groß, mindestens so groß und kräftig wie du, wenn nicht größer. Und er war sehr stark. Wenn er mir wirklich hätte wehtun wollen, wäre das für ihn kein Problem gewesen.“

„Sie versuchen, dir Angst einzujagen. Erst die Reifen, dann das hier. Sie wollen dir eine Botschaft übermitteln. Das Ganze wird eindeutig zu gefährlich. Wir müssen einen Plan entwickeln, wie wir für deine persönliche Sicherheit sorgen können.“

„Ich muss mich setzen.“ Kate ging ein paar Schritte und sank auf ihr großes sandfarbenes Sofa.

Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er viel zu kalt auf die ganze Situation reagierte. Er war schon dabei, die nächsten Schritte zu organisieren, aber was Kate jetzt vor allem brauchte, war ein Freund, eine Schulter, an die sie sich anlehnen konnte.

Er setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. „Wir bringen dich durch diese Sache durch, Kate.“

„Aber wie soll das funktionieren? Wie willst du mich da durchbringen? Schließlich kannst du mich nicht rund um die Uhr bewachen. Sie waren bei meinem Haus!“

„Wir werden eine Strategie entwickeln, die funktioniert. Angesichts dieser Eskalation würde ich wirklich gerne die Sicherheitsfirma meines Freundes ins Boot holen. Ich werde selbst alles tun, was ich kann, aber Unterstützung zu haben, wäre eine gute Idee, vor allem, wenn der Fall weiter voranschreitet. Wenn MPC dich schon jetzt, in diesem frühen Stadium, abzuschrecken versucht, dann wird es im Laufe des Verfahrens nur noch schlimmer werden. Vor allem, wenn sie merken, dass du niemand bist, der aufgibt.“

Kate sah zu ihm auf. „Ich bin nicht schwach, Landon. Ich bin sehr unabhängig und ehrgeizig, auch wenn ich im Moment das Gefühl habe, nicht ich selbst zu sein.“

Landon spürte, wie sie fröstelte, aber er glaubte nicht, dass ihr kalt war – sie hatte Angst. Er ließ ihre Hand los und legte stattdessen den linken Arm um ihre Schultern, um ihr zu zeigen, dass er für sie da war. „Nach einem traumatischen Ereignis wie diesem ist es völlig normal, Angst zu haben, Kate.“

„Er war so stark und ich konnte nichts gegen ihn ausrichten. Ich war völlig hilflos. Dabei habe ich versucht, mich gegen ihn zu wehren, und ich habe ihm sogar in die Hand gebissen, aber das reichte nicht. Ich habe gebetet, dass Gott mir hilft.“

Könnte das sein? Dass Gott Kate beschützt hatte? Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber nachzudenken. Er musste mehr über den Angriff erfahren. „Du hast gesagt, du warst mit Freundinnen aus, aber du bist allein nach Hause gefahren?“

„Ja. Zwei meiner besten Freundinnen haben mich in Buckhead zum Essen eingeladen, um mit mir zu feiern, dass ich zur leitenden Anwältin ernannt worden bin.“

„Hast du deinen Freundinnen von den Reifen erzählt?“

„Nein. Ich hielt es nicht für klug, sie in all das hineinzuziehen. Sie würden sich bloß Sorgen machen. Und ich kann sowieso nur ganz allgemein mit ihnen über den Fall sprechen, wegen der Schweigepflicht.“

Landon nickte. „Das war vermutlich auch gut so. Aber ich kann mir vorstellen, wie schwierig es für dich ist, dass du mit ihnen nicht über das sprechen kannst, was du durchmachst. Mir ist wichtig, dass du weißt, dass ich für dich da bin, Kate.“ Der Wunsch, sie zu beschützen, war beinah übermächtig und zugleich spürte er die Verantwortung für ihre Sicherheit schwer auf seinen Schultern lasten.

„Du glaubst also, wir brauchen Verstärkung?“

„Vor diesem Überfall hätte ich gesagt, dass ich auch allein klarkomme, aber jetzt sind die Umstände anders. Wir sollten außerdem die Polizei informieren, damit du eine Aussage über das machen kannst, was passiert ist.“

„Glaubst du, es ist eine gute Idee, die Polizei einzuschalten?“, fragte Kate. „Ich will nicht mehr Aufmerksamkeit auf meine Situation lenken als nötig.“

Schnell wägte er das Für und Wider im Geiste ab. „Nach den zerstochenen Reifen und dem Zwischenfall jetzt hier könnte ich mir vorstellen, dass sie die Ermittlungen intensivieren.“

„Aber das will ich nicht. Du weißt doch, wie schnell sich so etwas rumspricht. Auf keinen Fall möchte ich, dass mein Prozess in Mitleidenschaft gezogen wird oder ich unnötig im Mittelpunkt stehe. Ich sehe die Schlagzeilen förmlich vor mir. Uns ist doch beiden klar, mit wem wir es hier zu tun haben. Von daher würde ich sagen, für den Moment halten wir uns bedeckt und machen weiter unsere Arbeit. Keine Polizei. Ich würde aber deine Freunde gerne treffen.“

„Ich werde deine Entscheidung mittragen, wie auch immer sie ausfällt, aber ich finde, du solltest eine Nacht darüber schlafen.“

„Gute Idee. Aber ich glaube nicht, dass ich heute Nacht viel Schlaf bekommen werde.“

„Du solltest es aber versuchen. Ich bleibe draußen in meinem Wagen sitzen und halte Wache, du brauchst also keine Angst zu haben, dass heute noch etwas passiert.“

Sie sah ihm in die Augen. „Nein, Landon, das kann ich unmöglich von dir verlangen.“

„Du hast es ja auch nicht verlangt. Ich habe es angeboten. Glaub mir, ich komme mit einer Nachtwache klar.“

„Aber du machst für diesen Fall viel mehr als das, wofür ich dich engagiert habe.“

„Es geht nicht nur um den Fall. Es geht um dich und um deine Sicherheit.“

Sie stand auf und er tat es ihr nach. „Ich werde dich persönlich für diese zusätzliche Arbeit bezahlen.“

„Kommt nicht infrage, Kate. Ich will dein Geld nicht. Ich biete meine Hilfe als Freund an. Bitte lass mich das für dich tun.“

Sie lächelte ihm zu. „Wie du wahrscheinlich schon gemerkt hast, fällt es mir nicht sehr leicht, Hilfe von anderen anzunehmen.“

„Das kann ich verstehen. Du und ich sind uns in vielem sehr ähnlich.“

„Das ist doch nicht schlecht, oder?“

Als er sie ansah, wurde ihm bewusst, dass er sich zusammenreißen musste. Ja, er wollte diese Frau beschützen, aber war er vielleicht sogar dabei, tiefere Gefühle für sie zu entwickeln?

Das schien ihm ein noch gefährlicheres Unterfangen zu sein als alles andere, was bisher geschehen war.

Kapitel 9

Am nächsten Morgen duschte Kate schnell, machte sich etwas zurecht, damit sie akzeptabel aussah, und begab sich dann auf die Suche nach Landon. Sie konnte es nicht fassen, dass er darauf bestanden hatte, die ganze Nacht vor ihrem Haus Wache zu halten, um sie zu beschützen, aber sie würde ihm ewig dankbar dafür sein. Sie hatte gedacht, sie würde überhaupt nicht schlafen können, aber zu wissen, dass Landon auf sie aufpasste, hatte ihr etwas von der Last genommen und sie hatte doch tatsächlich die ganze Nacht durchgeschlafen.

Als sie aus ihrem Fenster blickte, konnte sie Landon nirgendwo sehen, dafür aber einen anderen Mann, der an einem großen schwarzen SUV lehnte und ihr Haus beobachtete.

Hastig wich sie vom Fenster zurück und versuchte, ihren hektischen Atem zu beruhigen. Ihr Puls hatte sich um ein Vielfaches beschleunigt und ihre Hände zitterten. Wo war Landon? Warum stand dieser Fremde vor ihrem Haus? Hatte MPC ihn geschickt? Aber andererseits: Wenn er hier wäre, um ihr etwas zu tun, würde er dann am helllichten Tag in ihrer Auffahrt herumstehen?

Kate zog die Gardine etwas zurück, um noch einmal hinauszusehen. Sie schätzte den Mann auf Mitte bis Ende dreißig. Er war groß gewachsen, hatte kurze blonde Haare und eine kräftige Figur.

Als er sie sah, lächelte er. In seinen leuchtend blauen Augen lag nicht der Hauch von düsteren Absichten – ganz im Gegenteil. Jetzt ging er auf die Haustür zu.

„Guten Morgen, Ma’am“, sagte er durch die Tür hindurch. „Ich bin Cooper Knight, ein Freund von Landon.“

Erleichterung machte sich in ihr breit. Er war also einer von Landons Collegefreunden, denen die Sicherheitsfirma gehörte. Sie schaltete ihre Alarmanlage aus und schloss die Tür auf, um ihn hereinzulassen.

Er trat ein und streckte die Hand aus. „Freut mich, Sie kennenzulernen“, sagte er. „Landon hat mich gestern Abend angerufen und mir Ihre Situation erklärt.“

„Wo ist er?“

„Er kommt bald wieder, Ma’am. Ich habe darauf bestanden, dass ich die zweite Schicht übernehme, damit er sich ausruhen kann.“

„Sie können gerne Kate sagen und danke für Ihre Hilfe. Ich wollte nicht einmal, dass er die ganze Nacht bleibt, und jetzt schulde ich Ihnen beiden Dank.“

„Ihre Sicherheit hat oberste Priorität.“

Als ihr bewusst wurde, was seine Worte bedeuteten, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

„Das wäre nett, Ma’am – ich meine: Kate.“ Er lächelte.

„Kommen Sie mit in die Küche.“ Sie setzte den Kaffee auf und warf ihm einen Blick über die Schulter zu. „Landon hat erzählt, dass Sie sich im College eine Wohnung geteilt haben?“

„Das stimmt, zusammen mit meinem Geschäftspartner, Noah Ramirez.“

„Da Sie schon mal hier sind, würde ich gerne mehr über Ihre Firma erfahren. Landon hat sehr darauf gedrängt, dass wir Sie für den MPC-Fall engagieren.“

Cooper nickte. „Ich erzähle Ihnen gerne, was K&R alles so macht, aber zuerst möchte ich sagen, dass ich Landon zustimme. Und das sage ich nicht, weil ich versuche, einen Auftrag zu ergattern. Selbst wenn Sie sich nicht für unsere Sicherheitsfirma entscheiden sollten, rate ich Ihnen wirklich, jemanden zu Ihrem Schutz anzuheuern. Alles andere wäre leichtsinnig, wenn man die Bedrohungslage bedenkt. Landon konnte mir nicht viel sagen, aber ich unterschreibe gerne eine Verschwiegenheitserklärung, um mehr von Ihnen zu erfahren. Das verpflichtet Sie natürlich in keinster Weise dazu, uns den Auftrag zu geben.“

„Ich bin Ihnen für gestern Nacht sowieso schon etwas schuldig.“

„Nein, da habe ich einem Freund einen Gefallen getan. Es war keine Arbeitszeit.“

„Sie beide müssen sehr eng befreundet sein.“

Cooper zögerte nur kurz, aber sie merkte doch, dass sie einen wunden Punkt berührt hatte.

„Wenn man gemeinsam das College besucht, entsteht eine enge Verbindung. Aber seit Landon nicht mehr beim Militär ist, hat er sich ganz auf seinen Job als Privatdetektiv konzentriert und ich habe mit Noah unsere Firma aufgebaut. In letzter Zeit hatten wir nicht viel Kontakt, aber als er mich wegen Ihrer Situation ansprach, war ich sofort für ihn da.“

Hinter der Geschichte steckte eindeutig mehr, als Cooper erzählte, aber sie hatte kein Recht nachzufragen – und schon gar nicht über Cooper zu versuchen, mehr über Landon zu erfahren. Wenn sie mehr wissen wollte, sollte sie Landon direkt fragen. „Bitte erzählen Sie mir von Ihrer Firma. Dann kann ich besser entscheiden, ob wir den nächsten Schritt machen und eine entsprechende Erklärung unterschreiben sollten.“

„Wir haben zunächst als private Sicherheitsfirma mit der Spezialisierung auf alles Technische angefangen. Wenn eine Firma Sicherheitsprobleme mit ihrem System hat, ruft sie uns. Wir können ein ganz neues System aufbauen oder mit dem arbeiten, was die Firma bereits hat, und es auf den neuesten Stand bringen. Unsere Kunden reichen von kleinen Existenzgründern und Familienunternehmen bis zu riesigen Firmen. Außerdem machen wir Datensicherung – das heißt, Sie würden uns anrufen, wenn Sie einen Experten brauchen, der versucht, Daten in einem System wiederzufinden oder wiederherzustellen, oder der herausfindet, was mit bestimmten Daten geschehen ist. Und auch wenn es um den Bereich der IT-Forensik, also die Erfassung, Analyse und Auswertung digitaler Spuren geht und um die Sicherung digitaler Beweismittel, die vor Gericht Bestand haben, sind wir die Richtigen für den Job. “

„Ich bin beeindruckt.“

„Inzwischen haben wir unsere Dienstleistungen auf den Personenschutz ausgeweitet. Die Art Arbeit, die ich letzte Nacht hier gemacht habe. Die meisten unserer Kunden in diesem Bereich sind Fernseh- oder Filmstars oder andere VIPs.“

Kate lachte. „Also nicht ich.“

„Aus meiner Warte passen Sie ganz gut in die VIP-Ecke.“

Sie schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall. Ich bin nur eine Anwältin, die versucht, Gerechtigkeit für ihre Mandanten zu erwirken.“

„Und Sie haben keine Chance auf Erfolg, wenn Sie nicht gesund und munter sind, um genau das zu tun.“

Wieder fröstelte sie bei seinen Worten. So hatte sie die Angelegenheit noch gar nicht betrachtet. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und ließ seine Worte sacken. „Da haben Sie wohl recht.“

Sie holte zwei große Becher aus dem Schrank und schenkte ihnen beiden Kaffee ein. „Milch und Zucker?“

„Nein, danke, ich trinke meinen schwarz.“

Sie gab ihm einen dampfenden Becher, bevor sie sich um ihren eigenen kümmerte und Zucker hinzufügte. „Klingt so, als sollte ich Sie die Erklärung unterschreiben lassen. Ich kann sie kurz im Arbeitszimmer ausdrucken, dauert nur eine Sekunde.“

„Kein Problem.“

Sie nahm ihren Kaffee und ging Richtung Büro. Als es an die Haustür klopfte, hätte sie beinahe ihr Getränk auf dem Flur verschüttet.

„Ich sehe nach“, sagte Cooper. Im selben Moment war er auch schon an der Tür und spähte durch den Spion. Dann entspannten seine Schultern sich sichtbar. „Es ist Landon.“

Cooper öffnete die Tür und Landon trat ein. Er kam gleich auf sie zu. „Wie geht es dir?“

„Ziemlich gut, dank euch beiden. Ich wollte gerade die Verschwiegenheitserklärung für Cooper ausdrucken, damit ich ihn auf den neuesten Stand bringen kann, was den Fall und deine Ermittlungen betrifft.“

„Dann komme ich ja gerade recht.“ Landon sah Cooper an. „Cooper, lässt du uns bitte kurz allein?“

„Klar. Ich gehe zu meinem Kaffee zurück.“ Er ging den Gang hinunter in Richtung Küche.

Kate wandte sich Landon zu. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ich wollte dir nur erklären, warum Cooper heute Morgen hier war. Ich dachte mir, dass du vielleicht nicht erbaut darüber bist.“

„Warum? Ihr habt mir zuliebe ein ziemliches Opfer gebracht. Das weiß ich zu schätzen und ich bin dankbar für das, was ihr tut. Für alles.“

Er trat einen Schritt näher. „Ich wollte nicht, dass du denkst, ich hätte dich im Stich gelassen.“

„Das würde ich nie denken. Du hast mir die ganze Zeit den Rücken gestärkt, Landon. Cooper hat mir erzählt, dass er dich ablösen wollte, damit du ein paar Stunden schlafen konntest. Das verstehe ich. Er scheint sehr fähig zu sein und du hattest mir ja schon von ihm und seiner früheren Tätigkeit als Polizist erzählt.“

Landon legte eine Hand auf ihre Schulter. „Ich wollte nur sicherstellen, dass dir das klar ist. Ich hätte dich nicht einfach so der Obhut eines anderen überlassen. Cooper würde ich jederzeit mein eigenes Leben anvertrauen.“

Sie zögerte einen Moment und sagte dann: „Cooper hat mir erzählt, dass er dich nicht oft gesehen hat, seit du aus dem Militär ausgeschieden bist.“

„Hat er noch etwas erzählt?“

„Nein. Ich hatte das Gefühl, er wollte nicht, dass ich nachhake.“

„Ich habe dir ja erzählt, dass mein letzter Einsatz im Irak schwierig war. Als ich wieder in den Staaten war, schien es mir einfacher, mich von jedem abzunabeln, der mir etwas bedeutete.“

„Es tut mir leid, dass ich einen Finger in die Wunde lege.“ Sie bereute schon, dass sie überhaupt etwas gesagt hatte.

Er drückte ihre Schulter und ließ die Hand dann sinken. „Ist schon gut. Aber im Moment möchte ich mich auf unsere aktuelle Situation konzentrieren.“

„Verstanden. Ich hole diese Erklärung und dann können wir Cooper in alles einweihen. Konntest du dich denn etwas ausruhen?“

„Ja, das konnte ich. Das Schlafen habe ich als Ranger gelernt. Da hat man manchmal nur eine halbe Stunde am Stück und muss in der Lage sein, auf Kommando zu schlafen. Ich bin froh, dass Cooper eingesprungen ist.“

„Wenn alles so läuft, wie ich es erwarte, werde ich seine Firma wohl engagieren, um uns zu helfen.“

* * *

Nicole erkannte am Tonfall der E-Mail, die sie von der Anwältin im ersten Jahr erhalten hatte, dass die neue Kollegin dachte, sie hätte irgendwelche heißen Dokumente gefunden. Nicole wusste, dass sie sich deshalb nicht verrückt zu machen brauchte, denn es war ungefähr das fünfzigste Mal, dass ein Neuling im Team sie auf angeblich heiße Dokumente aufmerksam machte – und kein einziges davon war tatsächlich in diese Kategorie gefallen.

Aber sie war froh darüber, dass die jungen Anwälte ihre Aufgabe so ernst nahmen. Lieber hatte sie eine Million Fehlalarme als die Alternative – entscheidende Dokumente zu übersehen und dann bei den Zeugenvernehmungen überrumpelt zu werden. Wenn das geschah, würden Köpfe rollen und dazu würde auch ihr eigener zählen.

Also übte sie sich in Geduld und holte sich einen Espresso aus dem Pausenraum, bevor sie in ihr Büro zurückging, um sich dort mit Julia zu treffen. Einer der Vorteile einer großen Kanzlei wie Peters & Gomez war die Ausstattung. Es gab eine Kaffeebar und einen unerschöpflichen Vorrat an Snacks, um all die Anwälte zu versorgen, die oft rund um die Uhr arbeiteten.

Als Nicole zu ihrem Büro zurückkam, wartete Julia schon ungeduldig vor der Tür auf sie, Notizbuch, Laptop und einen Stapel Papier in der Hand.

„Komm rein“, sagte sie zu der jungen Angestellten.

„Tut mir leid, dass ich dich störe, Nicole, aber ich bin wirklich der Meinung, du solltest dir diese Unterlagen ansehen. Ich habe dir Kopien gemacht.“

„Danke, Julia. Lass mich mal sehen.“ Sie nahm Julia die Dokumente ab und begann sie zu überfliegen. Zunächst sah sie nichts Besorgniserregendes, aber als sie weiterblätterte, wurde die E-Mail-Korrespondenz interessanter. „Hast du die Liste der wichtigsten Personen mitgebracht? Weißt du, wer all diese Leute sind?“

„Ja und ja.“

Julia zeigte ihr die Liste, die im Wesentlichen ein Personenverzeichnis aller in den Fall Involvierten war. Mit jedem Tag wurde sie länger, weil das Team mehr über die handelnden Personen und das gesamte Personal von MPC sowie die jeweiligen Aufgaben der Angestellten erfuhr.

„Erzähl mir, was du weißt“, sagte Nicole.

„Dies ist ein E-Mail-Wechsel zwischen zwei leitenden Wissenschaftlern aus der Forschungsabteilung – Pierce Worthington und Ellie Proctor. Ellie teilt Pierce mit, sie sei der Meinung, die Wiederholungstests von Celix würden bestätigen, dass das Medikament schädliche Nebenwirkungen habe.“

Ellie Proctor war die Frau, die im Parkhaus ermordet worden war. Nicole blätterte von einer E-Mail zur nächsten und las alles, zuerst oberflächlich, dann aber genauer.

Endlich blickte sie auf. „Gute Arbeit, Julia. Danke, dass du mir diese Mails gezeigt hast. Ich vermute, du hast sie im System markiert, damit ich sie finde?“

„Ja, natürlich.“

„Halte weiter die Augen nach so etwas wie diesen Dokumenten hier offen.“

„Mach ich.“ Julia stand auf und verließ das Büro.

Anschließend brauchte Nicole einige Augenblicke, um sich zu sammeln. Der E-Mail-Wechsel zwischen den beiden Wissenschaftlern war beunruhigend. Sie las die schlimmsten Nachrichten noch einmal. Die gegnerische Seite würde diese Korrespondenz benutzen, um zu zeigen, dass zwei führende Wissenschaftler bei MPC zumindest Bedenken hatten, dass es möglicherweise gefährliche Nebenwirkungen bei der Einnahme von Celix geben könnte.

Nicole überprüfte das Datum der E-Mails und sah, dass sie vor der Einführung des Medikaments geschrieben worden waren. Mit diesen Dokumenten konnte man nachweisen, dass die Probleme vorher bekannt gewesen waren, und das wiederum stärkte die Behauptung der Klägerseite, das Unternehmen hätte vor diesen Wirkungen warnen müssen.

Sie markierte die Dokumente mit Unterstreichungen und Notizen. Wie sie dieses Problem angingen, war letzten Endes nicht ihre Entscheidung. Das hatten Leute mit einem anderen Gehaltsniveau zu verantworten. Sie griff zum Telefon und wählte Ethans Nummer.

* * *

Landon nahm Cooper mit, um Ellies Wohnung in der beliebten Wohngegend Virginia-Highland auszukundschaften. Kate hatte er nichts von diesem Ausflug erzählt, weil er glaubte, dass sie mit einigen seiner Pläne nicht einverstanden gewesen wäre. Es war besser, sie erst einzuweihen, wenn er Ergebnisse hatte. Ihre Kanzlei bezahlte ihn dafür, dass er Nachforschungen anstellte, und genau das tat er.

„Wie willst du vorgehen?“, wollte Cooper wissen.

Sie stiegen aus Landons Wagen und steuerten das Verwaltungsbüro des Wohnblocks an.

„Ich werde versuchen, den Verwalter zu überreden, dass er uns in Ellies Wohnung lässt.“

„Und du meinst, das funktioniert?“

„Es hängt davon ab, wer für die Wohnungen zuständig ist.“ Ein Schweißtropfen rann seinen Rücken hinunter, als er auf das Büro zuging. Er wollte so schnell wie möglich in die klimatisierten Räume gelangen. „Es könnte sein, dass du derjenige bist, der uns Zutritt verschafft.“

Cooper zog eine Augenbraue hoch. „Inwiefern das?“

„Wenn es eine Verwalterin ist, hast du bessere Chancen als ich.“

Cooper lachte laut. „Wie du meinst, Kumpel.“

Es machte Spaß, mit seinem alten Collegefreund unterwegs zu sein. Landon merkte, dass er Cooper vermisst hatte. Es war traurig, dass Umstände wie diese nötig gewesen waren, um sie wieder zusammenzuführen. „Ich dachte, wir könnten sagen, dass einer von uns beiden mit Ellie befreundet war oder mit ihrer Familie befreundet ist oder so. Irgendwas in der Art?“

Cooper blieb stehen und sah ihn an. „Wie wäre es mit der Wahrheit? Dass wir Privatdetektive sind und herausfinden wollen, was mit ihr passiert ist?“

„Das könnte abschreckend wirken. Vielleicht rufen sie dann die Polizei.“ Und das wollte er Kate auf keinen Fall erklären müssen.

„Ich könnte erwähnen, dass ich früher Polizist war“, sagte Cooper.

„Vielleicht ist das sogar die beste Strategie.“ Warum hatte er nicht daran gedacht?

Zwanzig Minuten später schloss Kim, die etwa vierzigjährige Angestellte der Hausverwaltung, ihnen die Tür zu Ellies Wohnung auf. Nachdem Cooper ihr erzählt hatte, dass er früher hier in Atlanta bei der Polizei gearbeitet hatte, war Kim sofort beruhigt gewesen.

„Ich hoffe, ihr Jungs findet etwas, das euch weiterhilft. Ellie war eine nette Frau und eine gute Mieterin. Hat ziemlich zurückgezogen gelebt und nie Probleme gemacht. Aber ich habe Mühe, ihre Angehörigen ausfindig zu machen, und wenn ich bis zum Ersten des Monats von niemandem etwas gehört habe, muss ich die Wohnung selbst ausräumen, damit sie wieder vermietet werden kann.“

„Danke, Kim“, sagte Cooper mit einem breiten Lächeln. „Das ist wirklich nett von Ihnen.“

„Kommen Sie auf dem Rückweg noch mal bei mir vorbei, damit ich wieder abschließen kann.“

„Kein Problem.“ Es hatte besser funktioniert, als Landon erwartet hatte. Dank Coopers Polizeivergangenheit vertraute Kim ihnen blind.

Kim zog die Tür hinter sich zu, als sie ging, und Landon sah Cooper an. „Machen wir uns an die Arbeit.“

Zuerst ging Landon in die Küche. „Hier liegt ein Stapel unbezahlter Rechnungen.“ Er blätterte die Unterlagen durch. „Sie war in finanziellen Schwierigkeiten. Daran besteht kein Zweifel.“

„Viele Menschen haben finanzielle Schwierigkeiten“, gab Cooper zu bedenken. „Das bedeutet nicht, dass sie gelogen hat.“

Sie durchsuchten die Zweizimmerwohnung ganz systematisch, Raum für Raum, und ließen keinen Quadratzentimeter der bescheidenen Unterkunft unberührt.

„Ich habe keinen Laptop gefunden“, rief Cooper.

„Ich auch nicht.“

Landon fing an, Ellies kleines Bad zu untersuchen. Er öffnete den Medizinschrank. Es sah aus, als hätte sie dort eine ganze Apotheke gebunkert. Jede Menge Flaschen mit Tabletten. Der ganze Schrank war randvoll.

Er zog sein Handy heraus und machte Fotos von allen Etiketten auf den Flaschen. Kate hatte gesagt, dass Ellie bei ihrem Treffen gewirkt habe, als hätte sie etwas genommen. War die Belastung im Job der Grund dafür oder hatte das eine mit dem anderen gar nichts zu tun?

Landon beendete seine Durchsuchung des Badezimmers und machte sich an Ellies Schlafzimmer. In der Schublade des Nachttisches fand er ein Notizbuch. Er schlug es auf und fing an zu lesen. Die Notizen waren in einer entsetzlichen Handschrift aufs Papier gekritzelt worden und enthielten eine Menge Kurzschrift.

Er überflog jede Seite, weil er hoffte, etwas Hilfreiches zu finden. Es gab jede Menge Notizen und etwas, das wie chemische Gleichungen aussah – kaum verwunderlich bei einer Naturwissenschaftlerin.

Soweit er das beurteilen konnte, ging es im gesamten ersten Teil des Notizbuchs um Celix. Als er ungefähr die Hälfte durchgesehen hatte und weiterblätterte, sah er, dass ein Satz umkringelt und rechts und links mit Sternchen versehen war: Acreda ansehen.

Er las weiter, aber die restlichen Notizen schienen nur von Celix zu handeln. Keine weitere Erwähnung von Acreda.

„Du, Cooper, komm mal her“, rief er.

Gleich darauf betrat sein Freund das Schlafzimmer. „Hast du was gefunden?“

„Irgendeine Ahnung, was das Wort Acreda bedeutet? A-C-R-E-D-A.“

„Nee, nie gehört.“ Cooper zog sein Smartphone heraus und tippte die Buchstaben ein. Dann stieß er einen leisen Pfiff aus.

„Was hast du gefunden?“

Cooper sah zu ihm auf. „Acreda ist ein Medikament, das von keinem Geringeren als MPC hergestellt wird.“