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BASTIAN KRESSER

DIE ANDERE

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ROMAN

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Eva Maria

Inhalt

Spanien, Aliantes del Mar September 2018

Türkei, Istanbul und Reyhanlı – Griechenland, Lesbos Juli 2017 – Juli 2018

Deutschland, Berlin Juli 2016 – September 2018

Deutschland und Österreich Januar 2015 – September 2018

Libyen, Zuwara September 2018

Syrien, Damaskus September 2018

Mittelmeer September 2018

Spanien, Aliantes del Mar
September 2018

Francisco Garcia Pérez alias „Curro“

Curro trat aus der Haustür, blieb einen Moment lang stehen, kniff seine Augen zusammen und blinzelte in Richtung der über den Bergen aufgehenden Sonne. Der Himmel war blau, wolkenlos. Es würde wieder ein heißer Tag werden, viel zu heiß. Laut Wettervorhersage vielleicht sogar der heißeste Tag in diesem Monat. Er lockerte den Knoten seiner Krawatte, holte sein Mobiltelefon aus der Jacketttasche und machte sich einen Eintrag in sein digitales Notizbuch, der ihn daran erinnern sollte, den Knoten in dreißig Minuten, wenn er in der Firma angekommen war, wieder anzuziehen. In diesem Moment klingelte sein Telefon. Eine unbekannte Nummer mit ausländischer Vorwahl. Curro hob ab, niemand meldete sich, und so legte er wieder auf. Er schüttelte etwas genervt den Kopf und kontrollierte, ob seine Notiz von eben abgespeichert war. Früher, als er noch nachlässiger gewesen war und nicht mit der Erinnerungsfunktion seines Mobiltelefons gearbeitet hatte, waren ihm derartige Kleinigkeiten hie und da entfallen, und jedes Mal hatte er sich darüber geärgert. Manchmal, an so warmen Tagen, hatte er sogar schon darauf vergessen, im Büro die obersten zwei Knöpfe seines Hemdes wieder zuzuknöpfen. Als er es schließlich bemerkt hatte, war es ihm furchtbar peinlich gewesen. Es hatte sich angefühlt, als wäre nicht sein Kragen, sondern sein Hosenschlitz den halben Tag offen gestanden. Das letzte Mal lag schon etliche Jahre zurück, doch Curro erinnerte sich daran, als wäre es gestern gewesen. Damals war er noch einer unter vielen gewesen, ein Rädchen, das es sich nicht leisten konnte, unrund zu laufen. Inzwischen war er in der Hierarchie aufgestiegen, so weit, dass ihm möglich gewesen wäre, in Unterwäsche ins Büro zu spazieren, ohne dass jemand den Mut aufgebracht hätte, ihn darauf anzusprechen. Der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln. Natürlich war das völliger Blödsinn. Niemand konnte sich so etwas leisten. Weder der Señor noch sonst jemand. Dennoch, derartige Kleinigkeiten würden nie wieder an seiner Stellung rütteln. Und trotz allem tippte er eine Erinnerung in sein Handy. Er wollte nichts für eine kleine Schlamperei aufs Spiel setzen. „Never get cocky“ – werde nie arrogant –, hatte ihm Christian Delgado Gomez, ehemaliges Mitglied des Vorstands und derjenige, der ab der ersten Sekunde einen Narren an Curro gefressen und ihn unter seinen Flügel genommen hatte, immer wieder in seinem katalanischen Akzent eingetrichtert. Christian hatte es geliebt, englische Floskeln zu verwenden. Sei dankbar, arbeite hart and never get cocky! Obwohl er bereits vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war – eine Folge seines exzessiven Lebensstils, gutes Essen, guter Wein und beides reichlich –, hatte Curro immer noch seine Stimme im Ohr. Und er würde Christians Worte beherzigen. Das hatte er sich fest vorgenommen. Er würde vorsichtig sein, dankbar und nicht cocky, ganz besonders jetzt, da endlich, endlich alles lief, wie er es sich immer erträumt hatte. Endlich konnte er seiner Familie das bieten, was sie verdiente: ein schönes und sicheres Leben für ihn und Maria, unendliche Möglichkeiten für seine Tochter Pippa, aus der eine positive, intelligente junge Frau geworden war. Aufgeweckt, erfolgreich.

Und Maria, seine wunderbare Frau Maria, die nach all den Jahren immer noch umwerfend aussah und die er verwöhnte, so sehr er nur konnte. Alles lief perfekt, seine Ehe war harmonisch, Maria und er ein eingespieltes Team, die Zeit der Affären mit der einen oder anderen Praktikantin vorbei, beschlossene Sache. Und er selbst, gesund, fit, nicht mehr jung, aber an manchen Tagen immer noch jugendlich, ein gepflegter Bart, einige graue Stellen, natürlich, doch man merkte immer wieder an, dass ihn das interessant machte, wie ein spanischer George Clooney, und dazu noch ein Kopf voller dichter, dunkler Haare, die nicht ans Ausfallen dachten. Seine Stellung in der Firma in Stein gemeißelt. Endlich, nach den Jahren der Unsicherheit, des Aufbaus, des Kämpfens um den sich so rapide wandelnden Markt, nach all der Hektik und Rivalität, endlich der Sieger, er im Team der Gewinner. Nun war es an der Zeit, die Früchte der Arbeit der letzten Jahre zu ernten.

„Dein Verdienst, Curro!“

Diese Worte hatte der Chef, Señor Alexandro Sanchez, verwendet. Er hatte ihn in sein dunkles und eiskalt klimatisiertes Büro zitieren lassen, das nur die wenigsten Mitarbeiter betreten durften. Dieses Treffen in seinem Refugium war vor fast genau zwei Jahren gewesen, an dem Tag, an dem I.P.S. den Zuschuss bekommen hatte, an dem Tag, an dem die Konkurrenten das Geschäft ihres Lebens verloren hatten.

„Dein Verdienst“, hatte der Señor gesagt.

„Unsere Firma“, hatte Francisco Garcia Pérez, den alle stets nur Curro nannten, begonnen.

„Die Firma, ja“, hatte ihn der Señor mit seiner tiefen Stimme unterbrochen. „Unser Angebot ist sehr gut. Die Preise auch. Die Qualität auch. Aber das ist nicht alles.“

Daraufhin hatte der Señor eine dramatische Pause eingelegt, den Blick auf die rotschwarze Platte seines Schreibtisches gerichtet. Afrikanisches Ebenholz. Der Señor war mit seinen Handflächen über das glatte Holz gefahren. Selbst beim Zusehen hatte Curro sich die angenehme Kühle der dunklen Oberfläche vorstellen, sie richtiggehend auf seiner eigenen Haut spüren können.

„Die Firma ist besser als die anderen“, hatte Curro irgendwann zugestimmt.

Seine eigene Nervosität war ihm gleichzeitig peinlich und unverständlich gewesen. Er hatte gewusst, dass er nichts zu befürchten hatte. Doch Curros Handflächen hatten Logik und Rationalität völlig kalt gelassen. Sie hatten autonom gearbeitet und trotz der eisigen Kälte im Raum geschwitzt, Curro hatte sie hinter seinem Rücken verstecken müssen. Sein Herz hatte gehämmert, als hätte man ihn gerade in der Schule beim Schummeln ertappt. Als würde sein sorgsam aufgebautes Kartenhaus jeden Moment zusammenfallen.

„Das Team …“, hatte Curro gemurmelt.

Die lange Pause hatte ihn nur noch nervöser gemacht.

„Du!“, hatte der Señor plötzlich laut und bestimmend gerufen und Curro ins Gesicht geblickt. „Du bist schuld!“ Er hatte das Wort eine Zeit lang im Raum schweben lassen. Die Luft hatte vibriert. „Deine Schuld!“ Der Señor hatte laut aufgelacht und mit der flachen Hand auf die dunkelrote Tischplatte geklopft. „Schuld! Ha! Ich spaße! Curro! Ich spaße doch nur! Dein Verdienst, Curro!“ Der Señor war aufgestanden, hatte seinen Arm vorschnellen lassen und Curro seine Handfläche angeboten. Dieser hatte rasch den Schweiß an der Hose abgewischt und seinem Gegenüber die Hand geschüttelt. „Ich habe dich beobachtet, Curro. Wir alle haben das. Ich habe gesehen, wie du gearbeitet hast, und weiß es zu schätzen, Curro“, hatte der Señor lächelnd gesagt. „Ich weiß es sehr zu schätzen. Curro! Das war gut.“ Er atmete laut aus. „Sehr, sehr gut.“

Dieses „gut“ prägte sich in Curros Kopf ein und fand, ohne dass er es geplant hätte, den Weg in seine Sprache. Denn dieses „gut“ hatte Auswirkungen gehabt. Nach dem Gespräch mit dem Señor hatte sich Curros Leben verändert: Er bekam ein größeres Büro mit Blick auf die grün bewachsenen Berge, einen jungen, agilen Assistenten, der ihm seine Arbeit ungemein erleichterte, und zusätzlich eine unanständige Gehaltserhöhung, die er sich nie hätte träumen lassen. Er hatte in den Jahren davor bereits ein gutes Gehalt, die meisten hätten gesagt, ein äußerst stattliches, begann, zur Elite zu gehören, bereits damals, als er vor nun schon sechs Jahren die ersten großen Verhandlungen geführt hatte – das war mit Melilla gewesen – und seine Firma den Zuschuss ebenfalls bekam. Doch die neue Zahl auf seinem Konto raubte ihm im ersten Moment den Atem. Kurz war es ihm sogar richtiggehend unangenehm. Als Curro sich aber durch den Kopf gehen ließ, wie viel die Firma mit dem neuen Auftrag bisher schon verdient hatte und in den nächsten Jahren verdienen würde, wie viel Arbeit, wie viele Stunden er in diese Verhandlungen gesteckt hatte, wie sehr das „Ja“ der Regierungen an seinem Einsatz, seinem Engagement und seiner Überzeugungsarbeit gelegen hatte, wurde dieses unangenehme Gefühl schnell durch Stolz verdrängt. Dies war die letzte und größte Verhandlung gewesen, der Scheideweg, der ihn und seine Firma von den anderen abhob, und den er entschieden hatte. Sein Leben änderte sich daraufhin, doch Curro wurde nicht cocky. Er arbeitete weiterhin hart und genau. Gerade noch vor wenigen Wochen war er in der Türkei gewesen, an der Grenze zu Syrien, um genau zu sein, wo er ein weiteres Großprojekt an Land ziehen konnte. Der Präsident, dieser Recep Tayyip Erdoğan, mochte ein Verrückter sein, doch er hatte Geld und wollte es einsetzen. Offiziell hieß es, es handle sich um Flüchtlingslager. Hinter vorgehaltener Hand verriet man ihm jedoch, dass es Gefängnisse werden sollten, Haftanstalten für politische Gegner, Staatsfeinde, Putschunterstützer. Wie auch immer, diese Information spielte für Curro keine Rolle. Er war stolz auf seinen Erfolg. Richtig stolz.

Er stand also vor dem Haus, löste seinen Krawattenknoten, streckte sich, zog seine Schultern nach hinten, hörte, wie es in seinem Brustkorb leise knackte, blinzelte ein weiteres Mal in Richtung der Berge, über denen die Sonne eben aufging, und ging die paar Schritte über die im Rasen eingelassenen, edlen Natursteinplatten in Richtung Garage. Er überquerte den Garten, ging zur Einfahrt, holte die kleine Garagenfernbedienung aus seiner Hosentasche und spürte die Aufregung, die Ungeduld, die Spannung in seinem ganzen Körper. Sein Finger schwebte über dem schwarzen Knopf. Er zitterte leicht, ein mulmiges, flaues und gleichzeitig erregendes Gefühl. Es erinnerte ihn an eine Empfindung, die er als Kind immer wieder mal gehabt hatte. Der Morgen des letzten Schultages, der Abend vor dem Familienurlaub in Aliantes del Mar, Valencia oder Barcelona. Unbeschwertheit, eine innere Sicherheit, das Gefühl, dass gleich etwas Gutes, etwas Spannendes beginnen würde. Ein Umbruch. Inzwischen wohnte er bereits seit mehr als zehn Jahren in Aliantes, dem Urlaubsort von früher, und der Strand, das Meer, der Hafen, alles war schon längst zur Normalität geworden. Natürlich waren da einige Momente in seinem Erwachsenenleben gewesen, die ihn an dieses kindliche Gefühl erinnert hatten. Die Geburt seiner Tochter zum Beispiel. Vielleicht auch seine Hochzeit? Doch die war schon so lange her, dass er Fotos brauchte, um sich daran zu erinnern. Und wer schaute nach dreiundzwanzig Jahren Ehe noch Hochzeitsfotos an? Er wusste nicht einmal, wo Maria das Album verstaut hatte. Sie würde es wissen, das reichte vollkommen. Ihre Zuständigkeitsbereiche waren klar definiert. Fotos und Alben – Maria. Geld fürs Essen – er. Apropos Fotos: Wo waren wohl die Fotos von Pippas Geburt? Gab es da überhaupt ein Album? Ihre Geburt und die Zeit danach waren schwierig gewesen. Sehr. Sie war zu früh gekommen, sieben Wochen zu früh. Viel zu klein, zu kleine Hände, zu kleine Beine, eine zu kleine Lunge, ein zu kleiner Kopf. Beinahe hätte sie es nicht geschafft. Die ersten Wochen verbrachte sie verkabelt und an Schläuchen im Brutkasten. Ein hässliches Wort, als wäre sie ein Tier. Sicher gab es Fotos, auch ein Album. Bestimmt. Plötzlich fragte er sich, ob er sie überhaupt jemals gesehen hatte. Wohl eher nicht. Vermutlich würde er sich daran erinnern.

„Da ist sie“, hatte man gesagt, als er am Tag von Pippas Geburt ins Krankenhaus gekommen war. Die Entbindung selbst hatte er verpasst. „Da ist sie“, hatte eine Krankenschwester gesagt und mit dem Finger auf die kleine Kammer aus Plexiglas gedeutet. Darin hatte Pippa gelegen, seine Tochter, ein winziges Häufchen Mensch. Er hatte gelächelt, sein Herz hatte gerast, er hatte Stolz gespürt, und leicht, ganz leicht, hatte diese Kindheitsempfindung, dieses spannende Jetzt-kommt-was-anderes-, dieses Gleich-sind-Ferien-, Morgen-fahren-wir-in-den-Urlaub-Gefühl hervorgelugt. Doch die Leichtigkeit, die immer mit diesem Gefühl einhergegangen war, hatte sich nicht eingestellt. Auch nicht einige Wochen später, als Pippa das Schlimmste überstanden hatte. Sie hatte gefüttert, gewickelt, umsorgt, am Leben gehalten werden müssen. Ein neuer Zuständigkeitsbereich, der Maria und ihm gleichermaßen zugefallen war. Zumindest in der Theorie. Grandios und erfüllend einerseits, zeitraubend und ermüdend andererseits. Es war vor zwanzig Jahren gewesen, in der Zeit, als er sich in der Firma hatte behaupten müssen, noch mehr als sonst, als er sich Schritt für Schritt, Sprosse um Sprosse Richtung Spitze hatte kämpfen wollen. Als er ein Einzelkämpfer in einer Gruppe aus Rivalen gewesen war, ein Wolf unter Wölfen, Konkurrenten, die alle nur nach oben gestrebt hatten, Ellbogentechnik, in einem Kampf ohne Bandagen. Man hatte auffallen, herausstechen müssen, anders sein als die anderen und natürlich der Erste am Morgen und der Letzte am Abend. Alle hatten es gewollt, doch Curro hatte es mehr gewollt. Zu Hause dann, in der engen Stadtwohnung – fünfzig Quadratmeter für drei – Marias Neuigkeit: „Heute hat Pippa gelächelt.“ Zum ersten Mal. An einem anderen Tag: „Sie kann krabbeln.“ Dann: „Sie ist aufgestanden.“ Der erste Zahn. Kurz darauf der erste ausgefallene Zahn. Curro hatte die Zahnmaus, el Ratoncito Pérez, gespielt und in der Nacht den unter dem Kopfkissen liegenden Zahn gegen ein kleines Geschenk gewechselt; was es genau gewesen war, hatte er längst vergessen. Am nächsten Morgen, als Pippa das Wunder bemerkt hatte, war er schon längst wieder im Büro gewesen. Dann ihr erster Schultag, das erste Zeugnis, Pippas erster Freund. Curro hatte sämtliche Meilensteine verpasst. Damit sollte jetzt Schluss sein! Diese Entscheidung hatte er getroffen. In eineinhalb Jahren würde Pippa, seine inzwischen einundzwanzigjährige Pippa, ihr Diplom in Psychologie erhalten. Sie würde auf der Bühne des Hauptsaals der ehrwürdigen Universitat de Barcelona stehen, auf derselben Bühne, auf der er vor einunddreißig Jahren sein Diplom – Internationale Wirtschaftswissenschaften – in Empfang genommen hatte, würde sich stolz, mit geradem Rücken und einem Lächeln auf den Lippen dem Publikum zuwenden, und sie würde ihn sehen, wie er neben Maria stand und sich die Hände wund klatschte. Nie wieder wollte er einen Meilenstein verpassen. Er würde ihr ein Auto kaufen, ein gutes, zuverlässiges Auto. Nicht zu teuer, denn das erste Auto durfte nicht teuer sein. Vielleicht einen Volvo. Oder einen VW. Und er würde ihr die Möglichkeit geben, eine Auszeit zu machen, die Welt zu bereisen. Sie sprach oft davon. Ein Wunsch, den er ihr erfüllen würde.

Er blieb vor der Garage stehen und blickte auf die kleine Fernbedienung in seiner Hand. Bestimmt hatte Maria ihn durchs Fenster beobachtet, denn im selben Moment öffnete sie die Haustür und kam – in ihrem blassblauen Morgenmantel, barfuß, ungeschminkt, bezaubernd – aus dem Haus, tappte über die Natursteinplatten in seine Richtung, stellte sich neben ihn und legte ihren Arm um seine Hüfte.

„Nervös?“, sagte sie leise und blickte auf die Fernbedienung in Curros Hand.

Er zuckte mit den Schultern.

„Aufgeregt“, sagte er und schluckte.

Maria nickte.

Curros Telefon klingelte erneut. Wieder dieselbe unbekannte Nummer. Er drückte sie weg. Dieser Moment war wichtiger.

„Darf ich?“, fragte Maria.

Curro gab ihr die Fernbedienung und trat einen Schritt zurück. Als hätte sie einen Zauberstab in der Hand, wedelte Maria mit dem kleinen Kästchen in der Luft, drückte auf den Knopf und die Garagentür hob sich langsam. Und da war er. Endlich. So lange hatte er auf ihn gewartet. Sein neuer, viel zu teurer Sportwagen, sein Traum, den er sich endlich erfüllt hatte. Ein Maserati GranCabrio MC in Blau, nicht irgendein Blau jedoch. Es war Blu Inchiostro. Tintenblau. Sogar die Farbe klang verführerisch. Der silberne Dreizack auf dem schwarzen Kühlergrill, die schmalen, spitz zulaufenden LED-Scheinwerfer, als würde ihm das Auto einen prüfenden Blick zuwerfen, die edel geschwungene Kühlerhaube, die aggressiven Frontspoiler an den Seiten. Curro hielt die Luft an. Immer schon hatte er von so einem Auto geträumt. Als Jugendlicher war er in den Sommerferien seinem Onkel Antonio in der Kfz-Werkstatt zur Hand gegangen. Dort durfte er zum ersten Mal in einen Porsche 911 steigen, den Wagen starten und das Gaspedal durchdrücken. Natürlich nur im Leergang. Curro erschrak, weil das dumpfe Brüllen des Motors ihn so viel mehr an ein wildes Tier als an eine Maschine erinnerte. Er spürte, wie sein Körper im Takt des über vierhundert PS starken Motors vibrierte, und bemerkte, wie ihm buchstäblich die Haare zu Berge standen. Ab diesem Moment wollte er so einen Sportwagen besitzen. Als Praktikant bei Seguridad Ambiente bewunderte er die schwarzen Limousinen und SUVs der Chefetage, BMW, Mercedes, Audi und natürlich den einen oder anderen Porsche. Und dann, vor sieben Jahren, selbst schon Mitglied der Führungsebene, selbst Besitzer eines Audi A6, erblickte er zum ersten Mal einen Maserati GranCabrio in Gelb. Er war mit Maria und Pippa im Tessin auf Urlaub, als er ihn sah. Der Wagen parkte vor einem kleinen Restaurant, immer wieder verlangsamten vorbei spazierende Passanten ihren Schritt, spähten in das Innere des Autos und bewunderten dieses Meisterwerk an Ingenieurskunst. Und Curro wollte ihn. Von der ersten Sekunde an. Wollte ihn besitzen, wollte das Leder des Lenkrads auf seinen Handflächen spüren, wollte den Geruch des Wagens einatmen, einsteigen, vom Sportsitz aufgenommen werden, das Verdeck öffnen und durch die mediterrane Landschaft brausen. Er bewunderte und beneidete den Besitzer. Dieses Gefühl, diese Mischung aus Neid und Bewunderung, war seitdem nicht mehr verschwunden. Das war vor sieben Jahren gewesen. Und nun war sein Traum in Erfüllung gegangen.

Curro stand neben Maria und betrachtete sein neues Auto. Am Nachmittag zuvor war es geliefert worden. Er war in der Arbeit gewesen. Man hatte den Maserati in seine Garage gestellt und das Tor geschlossen. Curro war erst spätabends nach Hause gekommen, hatte sich vor das Tor gestellt und gewartet, hatte es nicht geöffnet, keinen Blick auf den Wagen geworfen. Es war schon dunkel und er wollte nicht, dass er das GranCabrio zum ersten Mal im hässlichen Licht einer Neonlampe sah. Im Bett hatte Maria sich zu ihm gedreht, sachte seinen Hals geküsst und ihm das Wort „Verzögerungsgenießer“ ins Ohr geflüstert. Nun stand sie neben ihm, strahlte ihn an, klopfte ihm mit der Handfläche auf den Hintern und fragte: „Worauf wartest du?“

Curro ging entlang des Wagens, fuhr mit dem Finger über das kühle Metall, holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche, öffnete die Fahrertür und setzte sich in den tiefen Sportsitz, der ihm das Gefühl gab, als würde er ihn von hinten umarmen. Wie damals, mit siebzehn Jahren, in der Werkstatt seines Onkels, steckte er den Schlüssel ins Zündschloss, atmete ein und startete den Wagen. Und genau wie damals standen ihm auch nun die Haare zu Berge. Ein souveräner Gesichtsausdruck wäre ihm lieber gewesen, doch er grinste nur dämlich bis über beide Ohren. Durch die Frontscheibe sah er Maria lächeln, als das tiefe Brummen des Motors erklang. Anfangs war sie dagegen gewesen. Zu teuer, zu dekadent. Sie hatte mit beidem recht. Der Wagen hatte knapp einhundertfünfzigtausend Euro gekostet. Und er war dekadent, Curro konnte dem nichts entgegenhalten. Und doch, als er Maria die Maserati-Webseite gezeigt hatte, als er den Wagen online zusammenstellte, eine Aufnahme des Motorengeräusches erklang, als Maria seine Begeisterung, seine kindliche Freude erkannte und begriff, dass für Curro mit diesem Auto ein Lebenstraum in Erfüllung ging, willigte sie ein. Und nun freute sie sich mit ihm, ihr Lächeln war ehrlich, ihre Augen strahlten. Er liebte sie in diesem Moment noch mehr als sonst. Curro schaltete auf Drive – ein Automatikgetriebe, zum ersten Mal in seinem Leben, ungewohnt – und fuhr langsam aus der Garage. Als er neben Maria stand, ließ er das Fenster nach unten.

„Das Verdeck muss weg, mi Corazón“, sagte sie.

Curros Herz pochte, mit zittrigen Fingern suchte er nach dem entsprechenden Knopf, fand ihn jedoch nicht auf Anhieb. Es spielte keine Rolle.

„Beim Nachhausefahren dann“, sagte er.

Maria nickte lächelnd, spitzte ihre Lippen zu einem Kuss und rief mit einem Augenzwinkern: „Viel Spaß bei der Arbeit!“

Curro drückte das Gaspedal nach unten und schoss aus der Ausfahrt.

Er genoss die Fahrt in die Firma, die paar Minuten entlang der schmalen Bergstraße, die Kurve, von der aus man einen wunderbaren Blick auf Aliantes del Mar und das türkise Meer hatte, die engen Straßen durch das Städtchen Fuerenza und dann die lange Gerade der A-6049. Dort ließ er den Motor aufheulen, beschleunigte in wenigen Sekunden auf hundertfünfzig, hundertsechzig, hundertsiebzig, genoss, wie die Landschaft und die entgegenkommenden Autos an ihm vorbeirasten. Von nun an würden die dreißig Minuten Fahrt, die ihm sonst so oft wie vergeudete Zeit vorgekommen waren, zum Highlight des Tages werden. Er fuhr die wohlbekannte Strecke durch La Alba, einen Vorort von Aliantes del Mar, und bog schließlich links in die Camino de San Pedros ab. Er verlangsamte, als er die zwanzig oder dreißig Demonstranten vor dem blauen Tor der Firma stehen sah. Ihre Anwesenheit ärgerte Curro, war jedoch schon lange keine Überraschung mehr. Angefangen hatte es im Jahr 2005, als die Sache mit Melilla für einen Aufschrei gesorgt hatte. Doch die Menschen vergaßen schnell und so wurde es bald darauf wieder ruhig. Dann, vor einigen Jahren, als die Flüchtlingskrise begann, fing es langsam wieder an. Zuerst waren es nur wenige gewesen, vereinzelte Grüppchen, die hie und da erschienen, etwas Radau machten und dann wieder verschwanden. Der Höhepunkt war vor etwas weniger als zwei Jahren gewesen, als I.P.S. den Zuschlag für die Zäune in Griechenland, Italien und der Türkei bekam – für sämtliche Zäune! –, kurz nachdem Curro ins Büro des Señors gerufen worden war. Zu dieser Zeit häuften sich die Demonstrationen und Menschenansammlungen vor der Firma. Es hatte Vandalismus, Gebrüll, Gewalt und Sachbeschädigungen gegeben, brennende Mülltonnen und einmal sogar einen Molotowcocktail, der beinahe einen Waldbrand ausgelöst hätte. Die Polizei und die Medien standen sofort zur Stelle, untersuchten, berichteten. Es war eine hektische Zeit. Doch auch das ebbte irgendwann wieder ab. Inzwischen kamen immer wieder mal Grüppchen von Demonstranten zusammen, hielten Schilder hoch, riefen Parolen und beschimpften die Mitarbeiter von I.P.S. Man gewöhnte sich daran, wie man sich an alles gewöhnte.

Curro fuhr langsam auf die Menschenansammlung zu, hätte sich gewünscht, unauffällig an ihnen vorbeifahren zu können, doch das war mit so einem Wagen unmöglich. Als die Demonstranten ihn sahen, stellten sie sich mitten auf die Straße, brüllten unverständliche Parolen, hielten Schilder in die Höhe und versperrten ihm den Weg. Eine junge Frau, Mitte zwanzig, irgendwie erinnerte sie ihn an Pippa, stand direkt vor seinem Auto und drückte ihr Plakat auf seine Windschutzscheibe. Darauf sah man einen mit kurzer Hose und T-Shirt bekleideten, blutverschmierten Mann mit schmerzverzerrtem Gesicht in einer Rolle NATO-Draht liegen. Vermutlich war das Bild eine Fälschung, denn niemand, auch nicht der verzweifeltste Mensch auf Erden, würde ohne lange Kleidung versuchen, an diesem Stacheldraht vorbeizukommen. Ein anderer Demonstrant, ein vielleicht zwanzigjähriger Mann mit dunklen, lockigen Haaren, stellte sich neben die Fahrerseite des Autos, klopfte gegen das Seitenfenster, zuerst vorsichtig mit den Fingerknöcheln, dann, als Curro ihn ignorierte, mit der geballten Faust. Curro wurde wütend und fürchtete, der Mann würde seinen neuen Wagen beschädigen.

„Was?“, rief er schließlich laut und scharf durch das geschlossene Fenster dem Mann entgegen.

Dieser blickte intensiv mit seinen dunklen Augen ins Innere des Autos, sagte nichts, sondern formte lediglich mit seinen Lippen immer wieder ein und dasselbe Wort. Trotz der fehlenden Laute war deutlich zu erkennen, was der Mann sagen wollte. Curro konnte es hören, es schallte ihm richtiggehend in den Ohren: Mör-der. Mör-der. Der Mann zog seine Augenbrauen nach oben, riss die Augen weit auf, hob sein Kinn und fuhr mit dem Daumen langsam seinen entblößten Hals entlang.

In diesem Moment kamen drei uniformierte Securitas-Angestellte, zwei von ihnen hatten einen schwarzen Schlagstock, der dritte eine Dose Pfefferspray in der Hand, auf Curros Wagen zu und wiesen die Demonstranten laut an, den Weg frei zu machen. Der Mob schrie wütend weiter, doch alle traten zur Seite. Sie wussten, dass die Securitys ihre Waffen einsetzen würden und dass die örtliche Polizei die Anzeigen durch Demonstranten ignorierte. Das blaue Schiebetor öffnete sich und Curro fuhr im Schritttempo auf das Firmengelände. Er ärgerte sich, dass gerade an diesem Tag so ein Radau gemacht werden musste, da er sich so darauf gefreut hatte, stolz, langsam, ein wenig angeberisch vorzufahren, vielleicht unter dem einen oder anderen bewundernden Blick, eventuell sogar von Eleonora, der Praktikantin, vielleicht ein Kompliment eines Kollegen entgegennehmend. Doch wenn Demonstranten da waren, gingen alle schnurstracks ins Gebäude. Zusätzlich hatte die aggressive Geste des dunkelhaarigen Mannes Curro sowieso, zumindest kurzzeitig, den Wind aus den Segeln genommen. Er stellte den Wagen auf seinem Parkplatz ab, schloss die Augen, atmete drei Mal tief ein und aus, öffnete die Augen wieder und stieg dann aus. Er machte einen Schritt zurück, betrachtete noch einmal seinen – seinen – Maserati, ließ gerade den Schlüssel in die Hosentasche gleiten, als plötzlich zwei Hände von hinten nach seinen Schultern griffen, ihn packten, an ihm rissen und Curros Körper schüttelten. Curro schrie, kurz aber laut, sprang nach vor und drehte sich in Abwehrhaltung, die Fäuste geballt, dem Angreifer entgegen.

„Was für ein Geschoss!“, brüllte Roberto Ruiz Alvarez, der Chief Marketing Officer von I.P.S. „Wunderbar!“ Curros Herz pochte so laut, dass er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Die Geste des jungen Demonstranten hatte ihn ziemlich verunsichert. „Haben dir diese Wilden da draußen schon einen Kratzer in den Lack gemacht?“ Curro hielt den Atem an. Roberto umkreiste den Wagen, fuhr, wie Curro es am Morgen gemacht hatte, sachte mit dem Finger über das Metall, überprüfte den tintenblauen Lack. „Nichts“, sagte er schließlich. „Glück gehabt!“

Curro atmete aus, nickte und schaute zum blauen Schiebetor. Die ungesagten Worte des Mannes mit den dunklen Augen schallten nach wie vor in seinem Kopf: Mör-der. Mör-der.

„Wunderbar“, rief Roberto noch einmal und klopfte Curro freundschaftlich auf die Schulter.

Curros Handy vibrierte in seiner Tasche. Mit zitternden Fingern griff er danach, stoppte den Erinnerungsalarm und zog den Knoten seiner Krawatte fest. Noch einmal schloss er die Augen, noch einmal atmete er tief ein und aus. Dann nickte Curro erneut, lächelte Roberto zu, warf einen letzten Blick auf den Maserati, wiederholte seine Worte – „Wunderbar!“ – und gemeinsam betraten sie das Gebäude, auf dem früher der spanische Name Mundo Seguro – Sichere Welt – und nun seit einigen Jahren in großen gelben Lettern die Worte „International Passive Security“ standen.

„Neuer Name, neues Glück“, hatte der Señor damals in Presseaussendungen offiziell verlautbaren lassen. Das war im Jahr 2002 gewesen. Er hatte recht behalten. Bis zum Namenswechsel hatte die Firma das meiste Geld mit passiven Sicherheitselementen für spanische Kernkraftwerke, Flughäfen und größere Firmen gemacht. Mit dem neuen Namen kam ihr erster, riesiger, monumentaler Auftrag: die Umzäunung von Ceuta und Melilla, den beiden spanischen Enklaven in Marokko. Die zwei Städte, die seit hunderten von Jahren auf afrikanischem Grund und Boden standen und nach wie vor an die ehemalige koloniale Größe Spaniens erinnerten. Die Tatsache, dass International Passive Security, I.P.S., damals diesen Auftrag bekommen hatte, katapultierte die Firma in eine Liga, in die es nur wenige Sicherheitsunternehmen schafften. Anders als die Hauruckaktionen an den europäischen Grenzen in den Jahren 2014 und 2015 scheuten diese zwei Städte von vornherein keine Kosten und Mühen, um ihr Staatsgebiet vor Angreifern zu schützen. Doppelstahlzäune von zuerst drei, später dann sechs Metern Höhe, mehrere Zaunreihen, messerscharfer NATO-Draht an der Oberkante, Wachtürme, Scheinwerfer, Bewegungsmelder, Stolperdrähte, Infrarotkameras. Über hundert Millionen Euro hatten Spanien und die EU in den Ausbau dieser zwanzig Kilometer langen Anlage investiert. Das ergab einen Kilometerpreis von knapp fünf Millionen Euro. Eine weitaus harmlosere Umzäunung um diese zwei Städte hatte auch schon davor existiert, Teile davon ebenfalls von Curros Firma installiert. Das hatte es natürlich auch gebraucht. Die beiden Städte waren spanisches Hoheitsgebiet und durften nicht von jedem betreten werden. Ausschlaggebend für die umfassenden Investitionen waren die Fluchtbewegungen im Jahr 2005 gewesen, als mehrere tausend afrikanische Flüchtlinge, die meisten aus Nigeria, Kamerun oder Mali, gleichzeitig versuchten, die Absperrung zu durchbrechen, um auf EU-Territorium zu gelangen und dort Asyl zu beantragen. Die Menschen kamen in der Nacht, in Massen stürzten sie wie aus dem Nichts auf die Zäune zu, warfen sich dagegen, zerrten an ihnen, versuchten sie umzuschmeißen. Beinahe wäre es ihnen gelungen. Viele kletterten an den Maschendrahtzäunen nach oben und verletzten sich an den messerscharfen Klingen des Stacheldrahts, einige Menschen starben. Die Bilder der verwundeten Flüchtlinge, ihrer blutverschmierten Kleidung, T-Shirts, Jacken und Schuhe, die sich im NATO-Klingendraht verhangen hatten, gingen um die Welt. Das war schlechte Publicity für die zwei wunderschönen, historischen und touristisch wertvollen Städte – und die Enklaven reagierten. Sie verstärkten ihre Schutzvorrichtungen, beziehungsweise ließen die Zäune von Curros Firma verstärken und erhöhen und machten ihre Festung so dicht, dass es nicht nochmals zu einer derartigen Tragödie kommen konnte. Die schrecklichen Bilder der verletzten Flüchtlinge, die Meldung, dass I.P.S. die Zäune und den Stacheldraht geliefert hatte und die Sicherheitsvorkehrungen sogar noch verstärken würde, brachten die ersten Demonstranten vor das blaue Schiebetor. Aus einem Sicherheitsmann wurden zwei, später drei, zu den gefährlichsten Zeiten sogar sechs. Alle bekamen Schlagstöcke und Pfefferspray, alle wurden darauf geschult, diese auch einzusetzen. Die Menschen protestierten, sowohl die spanischen als auch internationale Medien prangerten die Enklaven und I.P.S. an und einige Jahre später fasste die spanische Regierung den Beschluss, die Stacheldrahtzäune, die Melilla und Ceuta beschützten, wieder zu entfernen. Zu viel Aufsehen, zu viel negative Publicity, zu viele Verletzte, hieß es. Es machte den Anschein, als hätten die Gegner gewonnen. Bei I.P.S. wurden Sitzungen einberufen, es wurde viel diskutiert, über weitere Vorgehensweisen, über Maßnahmen, die es zu treffen galt. Demonstranten fanden sich ab diesem Zeitpunkt keine mehr ein. Man konnte wieder ohne Probleme durch das blaue Tor fahren. Im Jahr 2013 dann die Entwarnung. Ein neuer Regierungsbeschluss, der den alten nichtig machte. Dieses Mal in die entgegengesetzte Richtung: Melilla und Ceuta würden ihren Stacheldraht behalten, mehr noch, die Sicherheitsvorkehrungen in beiden Städten würden sogar erhöht werden. Die spanische Regierung beschloss den Bau einer dritten Zaunreihe auf marokkanischem Territorium, ebenfalls mit NATO-Draht. Und wieder bekam I.P.S. den Auftrag. Schnell kamen die Demonstranten zurück.

Zwei Jahre später, im Jahr 2015, als die große Flüchtlingswelle über Mitteleuropa zusammenbrach, gab es von der EU die erste von vielen offiziellen Ausschreibungen zum Schutz der europäischen Grenzen. Ein Millionengeschäft. Derjenige, der den Fuß in die Tür kriegte, wäre der neue Ansprechpartner für ganz Europa. Nun war Curros Zeit endlich gekommen. Er hatte sich auf ein derartiges Riesenprojekt vorbereitet, hatte die Flüchtlingsbewegung als einer von wenigen kommen sehen, hatte mit dem Señor bereits zwei Jahre zuvor darüber gesprochen, und man hatte ihm versichert, dass, würde seine Prognose stimmen, er der Mann sei, die Gespräche zu führen. Griechenland hatte bereits 2012, da immer mehr Flüchtlinge über den Landweg aus der Türkei in die EU kamen, einen etwa zehn Kilometer langen, doppelten Stacheldrahtzaun an einem Grenzabschnitt errichten lassen. Eine lächerliche Geschichte eigentlich. Damals erkannte die EU-Kommission noch nicht die Notwendigkeit derartiger Schutzmaßnahmen. Griechenland war pleite und so beteiligte sich die Türkei mit etlichen Millionen Euro an der Finanzierung. Den Auftrag vergab man an eine griechische Sicherheitsfirma, die nicht wirklich wusste, was sie tat. I.P.S. versuchte damals, sich ins Spiel zu bringen, doch die Geldgeber bissen nicht an. Letztendlich brachte der Zaun nichts.

Dann, als der Krieg in Syrien in die Gänge kam, beschloss Ungarn, sich vor dem Ansturm der Flüchtlinge zu schützen. Im Gegensatz zu Griechenland wollte es jedoch keinen zehn Kilometer, sondern einen hundertfünfundsiebzig Kilometer langen Zaun zu Serbien, für den sie ursprünglich 21 Millionen Euro budgetiert hatten. Über diese Zahl hatte Curro nur den Kopf geschüttelt. „Illusorisch“, murmelte er, und holte die Herren am Verhandlungstisch auf den Boden der Tatsachen. Es gab viel Murren, doch Curro war der Experte. Und er sollte recht behalten. Nach dem Bau beliefen sich die Kosten letztendlich auf vierundneunzig Millionen Euro, was einen Kilometerpreis von über fünfhundertdreißigtausend Euro ergab. Um dieses Geld bekam Ungarn natürlich auch keine Standard-, sondern eine Luxusausführung, einen vier Meter hohen Maschendrahtzaun mit Betonfundament, Stahlgestänge und Klingendraht an der oberen Kante wie auch am Fuß des Zauns. I.P.S. verdiente prächtig. Und doch war Curro bei diesen Verhandlungen nur bedingt erfolgreich gewesen. Ungarn bestellte zwar das Material bei I.P.S., der Aufbau selbst wurde dann aber an eine andere, lokale Firma vergeben. Es gab damals noch viele Mitbewerber, einige erkannten das Potenzial, kämpften verbissen und versuchten, die Preise zu drücken, wo es nur ging. Nach dem teuren Ungarn-Deal musste I.P.S. beziehungsweise Curro – als Vertreter, als Aushängeschild, als Gesicht der Firma – hart darum kämpfen, den Ruf als reiner Luxusanbieter wieder loszuwerden. Viele Gegner von Grenzzäunen wollten sich über die Kosten informieren, durchforsteten ein paar Minuten lang das Internet und stießen auf die beiden spanischen Enklaven Melilla und Ceuta. Dann überschlugen sie kurz die Zahlen und gaben in Interviews an, dass Zäune viel zu teuer seien, dass Spanien und die EU über hundert Millionen Euro investiert hatten, um diese gerade mal zwanzig Kilometer lange Anlage zu bauen. Und kamen so zu dem Trugschluss, dass Grenzzäune fünf Millionen Euro pro Kilometer kosteten. Ein völliger Blödsinn, natürlich. Curros Aufgabe war, die Entscheidungsträger von der Wahrheit zu überzeugen. Entschied man sich für die billigste Variante, kam der Laufmeter gerade mal auf fünf Euro. Doch andererseits hielt die billigste Variante natürlich langfristig niemanden davon ab, eine Grenze zu überqueren, das war klar.

Die Grenzgegner wurden immer mehr. Plötzlich gab es Mitbewerber, wie zum Beispiel den deutschen Drahtgroßhändler Mutanox – er hatte bis dahin Justizanstalten mit NATO-Draht ausgestattet –, die nun nichts mehr mit Grenzschutz zu tun haben wollten. Sie gaben an, im Gegensatz zu anderen Firmen nicht über ihre starken moralischen Bedenken hinwegsehen zu können. Das kam bei vielen gut an. In Wahrheit wären diese Firmen jedoch nicht in der Lage gewesen, die monumentalen Anforderungen der Grenzsicherung zu stemmen. Sie hatten nicht die Ressourcen, hunderte Kilometer oft unwegsamen Geländes mit Zäunen abzuriegeln. Doch wen interessierte schon die Wahrheit? Derartige Aussagen über moralische Bedenken, die schnell ihren Weg auf soziale Netzwerke fanden, wo sie dann geteilt, kommentiert und geliked wurden, kratzten gehörig am Ruf von International Passive Security und erschwerten Curros Arbeit ungemein. Er bat die damalige Praktikantin, die dreiundzwanzigjährige Blanca aus Madrid mit den wunderbar runden Hüften, ihm diese sozialen Netzwerke näherzubringen, und sie zeigte Curro, wie viel Macht Facebook, Twitter und all die anderen Plattformen besaßen. Sie legte gemeinsam mit Curro einen gefakten Account für ihn an, veranschaulichte ihm, wie sehr der Ruf der Firma online unter den Anschuldigungen litt, doch auf der anderen Seite auch, wie schnell solche Nachrichten wieder von anderen, schlimmeren Meldungen, Aussagen und Hetzkampagnen von Politikern oder aktuellen Tagesgeschehnissen verdrängt wurden.

„Hast du kein schlechtes Gewissen?“, hatte ihn Blanca einmal gefragt, nachdem er die kurze Affäre mit ihr bereits beendet hatte. Es war keine große Sache, weder die Affäre noch die Trennung, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Schnell und unkompliziert, für beide nur ein Spiel. Sie, die sich beweisen wollte, dass sie einen erfahrenen und einflussreichen Mann verführen konnte, er, der sich durch den schnellen und leidenschaftlichen Sex mit der attraktiven Praktikantin um Jahre verjüngt fühlte. Blanca war an ihrem letzten Arbeitstag in seinem Büro gestanden, um sich zu verabschieden. Ihre Frage stellte sie so leise, dass es Curros Assistent im Vorzimmer nicht hören konnte.

„Ein schlechtes Gewissen“, hatte Curro ihre Worte wiederholt, ebenfalls flüsternd, und an das gemeinsame Geheimnis gedacht.

„Eure Zäune töten Menschen“, sagte sie leise.

Curro atmete erleichtert auf. Das hatte sie gemeint. Über sein simples Gegenargument musste er keine Sekunde lang nachdenken: Die Länder brauchten Schutz. Und würden sie, sprich I.P.S., diesen Schutz nicht bieten, würde es eine andere Firma tun.

Blanca schien halbwegs überzeugt und zuckte mit den Schultern. Einige Stunden später war ihr Praktikum beendet, und sie ging wieder zurück nach Madrid. Ein Jahr danach sah er auf seinem gefälschten Facebook-Account die Fotos ihrer Sponsion. Er hatte erwartet, dass sie sich wieder bei I.P.S. bewerben würde. Oder zumindest, dass sie sich bei ihm meldete, damit er für sie ein gutes Wort einlegen oder ein Empfehlungsschreiben ausstellen könnte. Beides war nicht der Fall gewesen. Inzwischen dachte er fast nicht mehr an sie.

Damals, zu der Zeit, als Blanca ihm diese Frage gestellt hatte, reiste Curro viel, besichtigte die potenziellen Gebiete, die I.P.S. beliefern konnte, die Türkei, Bulgarien, Mazedonien, Kroatien, Slowenien, Deutschland, Österreich, wurde ständig von Journalisten belagert, gab kurze, manchmal auch etwas längere Interviews, wenn ein möglicher Auftraggeber darum bat; verhandelte mit den Repräsentanten dieser Auftraggeber, mit Vertretern der Bundesbeschaffungsgesellschaften, rechnete ihnen vor, präsentierte die Firmenstruktur, die unterschiedlichen Produkte, erklärte, zu welchen Konditionen sie liefern konnten, überzeugte, beruhigte, beunruhigte, versicherte, verunsicherte, zeigte auf, dass es keine Alternativen gab, dass International Passive Security Erfahrung mitbrachte, dass sie schnell, solide und genau seien, sofort handeln und produzieren konnten, schneller als andere, zuverlässiger, und dass sie in der Lage waren, hunderte von Kilometern innerhalb kürzester Zeit mit Stacheldrahtzaun zu sichern. Er überzeugte Politiker, indem er ihnen aufzeigte, dass sie durch den sofortigen Aufbau der Zäune ihre Versprechen halten konnten. Die Menschen würden das Resultat sofort sehen und sich bei der nächsten Wahl dafür bedanken. Er stellte Einkaufslisten für die verschiedenen Länder zusammen: Soundso viele tausend Laufmeter Maschengeflecht, Gittermatten, Metallpfosten … Und, natürlich, das wichtigste und stärkste Produkt der Firma, das auf keiner Liste fehlen durfte, der Dauerbrenner: NATO-Klingendraht, genannt „Cuchilla 25“. Der Draht, der auch Melilla und Ceuta vor Angriffen schützte. Die Zahl Fünfundzwanzig gab die Länge der rasiermesserscharfen Klingen in Millimetern an. I.P.S. war der einzige Anbieter in Europa, der diesen besonderen Stacheldraht herstellte. Diese Tatsache, die harten Fakten und Curros Verhandlungsgeschick waren Gründe, weshalb I.P.S. Anfang 2017 auch den Zuschuss bekommen hatte, der die Stellung von International Passive Security ein für alle Mal in Stein meißelte. Obwohl Angela Merkel nach wie vor predigte, dass Zäune keine Lösung seien, sahen das die restlichen Staaten anders und nahmen Curros Angebot an. Zuerst Griechenland mit seinen lächerlichen zehn Kilometern, dann Bulgarien – zweiundzwanzig Kilometer gesichert durch Nato-Draht –, die gesamte Grenze zur Türkei, dann Ungarn, danach Österreich, das dem Beispiel des Nachbarn folgte und Ende 2015 einen Grenzzaun zu Slowenien errichten ließ. I.P.S. übernahm die Lieferung und die Installation. Nach und nach zogen andere Staaten nach. Zunächst vorsichtig. Mazedonien wollte zuerst eine geregelte Durchreise, später, als der politische Druck stärker wurde, entschied es sich anders. Grenzen zu, „geregelte Durchreise“ gehörte der Vergangenheit an. Die Länder der Ost- sowie der Westbalkanroute, Serbien, Rumänien. Alle machten sie dicht. I.P.S. übernahm die meisten Lieferungen und größtenteils auch den Aufbau. Das Geld floss, doch die Konkurrenz mischte mit und kassierte ebenfalls. Bis zu dem Tag, an dem die Verhandlungen über die Regulierung des Flüchtlingsstroms zwischen EU und Türkei zu einem erfolgreichen Ende kamen, als die EU stolze 3,2 Milliarden Euro lockermachte und die Türkei daraufhin versicherte, sie würde sich um das „Problem“ kümmern. Kein Durchwinken mehr. Bis hierhin und nicht weiter. Zurück ja, aber nicht weiter. Und das mithilfe des Militärs, mit scharfen Kontrollen an den Grenzen, zu Land und zu Wasser, mit Rückführungen, einer Zero-Tolerance-Politik gegenüber Schleppern, mit Abschiebelagern, die an Gefängnisse erinnerten. Und natürlich ein Zaun. Ein langer, undurchdringlicher Zaun zwischen der Türkei, Bulgarien, Griechenland und Syrien, an türkischen Hotspots, in Çesme, Bademli und Ayvalik. Zäune und eine ewig lange Mauer an der südlichen Grenze zu Syrien, hunderte Kilometer, zigtausende Rollen Cuchilla 25, an Land, entlang der Küste, zum Teil sogar durchs Wasser. Kein Vorbeikommen zu Fuß, kein Vorbeikommen mit einem Schlauchboot. Am Ende der Verhandlungen, als I.P.S. – anders: als Curro – schließlich den Zuschlag bekam, zeigten ihm die Verhandlungspartner Bilder: Flüchtlinge, die unter den Zäunen durchrobbten, Väter, die ihre Kinder über den Stacheldraht hoben, Familien, die Teppiche über die Zäune warfen, um sich so vor den messerscharfen Klingen zu schützen, Männer, die den Zaun mit Handschuhen anhoben. „Genau das wollen wir nicht mehr“, erklärte man Curro. „Damit muss Schluss sein.“ Curro hatte ernst genickt und zugestimmt. Da hatten sie schon recht. Das war schlampige Arbeit und kam davon, wenn zwar das Material stimmte, der Aufbau jedoch von Amateuren übernommen wurde. Er versicherte: Wenn I.P.S. sämtliche Schritte übernehmen würde, gehörten derartige Bilder der Vergangenheit an.

„Ein Zaun symbolisiert eine Grenze“, sagte Curro gerne. Zwei Seiten, die voneinander getrennt werden. Bis man sie wieder öffnete, gäbe es nur Nord oder Süd, Ost oder West. Ein illegales Überqueren sei inakzeptabel.

Curro hatte geschickt argumentiert, zeigte auf, dass ein guter Zaun sich rechne. Er bedeutete weniger Illegale, mehr Geld für die Steuerzahler und weniger Kosten für Versorgung, Flüchtlingsheime, Integrationskurse und was sonst noch alles. Ein guter Zaun half dem Staat zu sparen. Das sahen letztendlich alle ein. Sowohl die Türkei als auch die EU.

I.P.S. hatte gewonnen. Curro hatte gewonnen. Und sein Erfolg wurde belohnt.

Curro ging über die Treppe in den zweiten Stock, verabschiedete sich von Roberto, dessen Büro am anderen Ende des langen Gangs lag, und passierte den Schreibtisch seines siebenundzwanzigjährigen Assistenten Paulo, der gewissenhaft sämtliche Telefonate und Gesprächspartner abfing, sie filterte und letztendlich nur einen Bruchteil davon zu ihm durchließ. Trotz seines jungen Alters machte er seine Arbeit hervorragend, und Curro war unglaublich froh ob seines Helfers. Beim Vorbeigehen nickte er Paulo zu, dieser wandte seinen Blick vom Bildschirm ab, richtete sich auf und lächelte seinen Chef an.

„Ist er da?“, fragte Paulo. Curro deutete mit dem Kinn aus dem Fenster. Paulo sprang auf und schaute hinaus auf den Parkplatz. „Wow!“, rief er bewundernd. Jetzt war es Curro, der lächelte. „Wie viel PS?“

„Vierhundertfünfzig.“

Paulo pfiff anerkennend durch die Zähne.

„Der nächste Termin?“, fragte Curro.

Paulo kannte den Tagesplan stets auswendig. „Erst um zehn“, sagte er.

„Gut“, sagte Curro leise, „Gut, gut“, ging in sein Büro, fuhr seinen Computer hoch und begann, seine E-Mails zu checken.