Wendelken, Barbara Nur wer die Hölle kennt

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ISBN 978-3-492-99140-7
© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Covermotiv: © Joao Canziani/Getty Images ( Feuer ) ;
© G.Büttner/Naturbild/OKAPIA/Picture-Alliance ( Haus )

 

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Kapitel 1 1997

Die Brandwunden verheilten langsam, die Verbände an Melodys Händen waren kleiner geworden, und sie konnte die Finger wieder frei bewegen. Die weißen Moosröschen hatte eine Sozialarbeiterin besorgt, genau wie den schwarzen Mantel und die Schuhe, die ihr eine halbe Nummer zu klein waren und drückten.

Zwei Meter vor ihr stand Wulf, er weinte so heftig, dass es seinen Körper schüttelte. Einmal sah es so aus, als würde er auf die Knie sinken, doch er fing sich wieder, machte sich ganz gerade und schippte Erde auf den Sarg, einmal, zweimal, dreimal, dabei schluchzte er den Namen ihrer toten Mutter, Verena. Erneut stieß er die Schaufel in den schwarzen Behälter mit der Erde, machte zwei Schritte zur Seite und ließ ein paar Krumen auf den winzigen Sarg ihres Bruders fallen, aber nur einmal, ein einziges schreckliches Mal. Anschließend legte er den Kopf in den Nacken und heulte wie ein Wolf.

Es hörte sich schaurig an und passte überhaupt nicht zu Wulf, der normalerweise kaum den Mund aufkriegte. Als Nächstes drehte er sich um, sein Blick erfasste Melody, und der Hass darin brannte auf ihren Wangen, als hätte er sie geohrfeigt.

Drohend kam er auf sie zu, mit großen, stampfenden Schritten, und baute sich breitbeinig vor ihr auf.

»Was willst du hier?!« Er brüllte so laut, dass es über den Friedhof schallte: »Ich will sie nicht an den Gräbern sehen!«

Hinter Melodys Rücken setzte verschämtes Gemurmel ein, so leise, dass sie kein Wort verstehen konnte, aber das war auch nicht nötig. Ihr war ohnehin klar, was die Leute über sie redeten. Nur wusste sie nicht, was sie anderes tun sollte, als hier stehen zu bleiben und das alles zu ertragen.

Wulf ging nicht weiter, wie sie es insgeheim gehofft hatte, er trat noch einen Schritt näher und überschüttete sie mit übelsten Beschimpfungen.

»Ich kann nichts dafür.« Es kam ihr so vor, als würde sie seit Tagen nur diesen einen Satz wiederholen. »Ich kann nichts dafür.«

Ihre Worte verhallten ungehört. Niemand stand ihr bei, das Dorf hatte sein Urteil gefällt, schon vor einer Woche, gleich nach dieser entsetzlichen Nacht. Melody gehörte nicht mehr dazu. Sie trug die Schuld an der Katastrophe, einer musste ja schuld sein, damit die anderen ihr Leben wieder ungestört aufnehmen konnten.

Als Wulf Anstalten machte, sich mit seinen hundertzwanzig Kilo Körpermasse auf sie zu stürzen, tauchten die beiden Dorfpolizisten auf, Gerd Wiese und Henning Bremer. Sie fassten nach seinen Oberarmen, einer rechts und einer links, und führten ihn dorthin, wo seine Eltern und sein Bruder auf ihn warteten.

Der Bruder nahm ihn in Empfang. »Beruhige dich, Wulf. Sie bleibt trotz allem ihre Tochter. Streit an ihrem offenen Grab hätte Verena nicht gewollt.«

Wulf ließ sich von ihm fortziehen, aber nicht ohne ihr vorher einen verächtlichen Blick zuzuwerfen. Mörderin, er brauchte es nicht auszusprechen, sie konnte ihn auch so verstehen.

Melody blieb allein zurück, drei Meter von den Gräbern entfernt. Sie konnte sich nicht rühren, stand einfach nur da, mit hängenden Armen, die Lippen fest aufeinandergepresst. Tränen rannen über ihr bleiches Gesicht, doch sie schaffte es nicht, die Hand zu heben und sie fortzuwischen. Gern hätte sie gewusst, wie viele Tränen ein Mensch weinen konnte, aber darauf gab es wohl keine Antwort.

Eine Hand legte sich auf ihren Rücken, sie gehörte dem Pastor, der sie mit sanftem Druck vorwärtsschob, bis sie direkt vor dem viereckigen Loch stand, das ausgekleidet war mit grünem Tuch, das wohl aussehen sollte wie ein Rasen. Unten stand der Sarg, geschmückt mit einem großen Gesteck aus roten Rosen. Der schwarze Talar des Pastors roch unangenehm muffig, und Melody fragte sich, was mit ihr los war. Warum fielen ihr so unwichtige Dinge auf wie das grüne Tuch oder der strenge Geruch des Pastors? War sie ein schlechter Mensch, weil sie bei der Beerdigung ihrer Mutter über solche Nebensächlichkeiten nachdachte? Sie starrte auf die weißen Rosen in ihrer Hand, eine kleine Ewigkeit lang, bis der Pastor murmelte, dass sie jetzt die Blumen ins Grab fallen lassen solle.

Melody überlegte, wie viel Schwung es brauchte, drei weiße Rosen einen Meter nach vorn zu werfen, ohne dass es zornig wirkte oder trotzig. Am Ende zielte sie so schlecht, dass der Strauß nicht dort landete, wo sie es sich vorgestellt hatte, mitten auf dem Sarg, am besten direkt auf Wulfs blutroten Rosen, sondern so weit rechts, dass einer der Blütenköpfe über den Rand des Sargs hinausragte.

»Jetzt gehst du zu Michel«, murmelte der Pastor.

Also machte sie einen Schritt zur Seite und dann noch einen und noch einen und noch einen. Michels Grab lag vier Trippelschritte von dem ihrer Mutter entfernt. Mit leisem Schluchzen zog Melody einen winzigen Teddybären aus der Manteltasche. Ihr kleiner Bruder hatte Teddys geliebt, und sein eigener war verbrannt. Michel, sie konnte gar nicht fassen, dass er dort unten in der kleinen Holzkiste liegen sollte. Eingesperrt. Am liebsten wäre sie runter in die Grube gesprungen, um sich zu vergewissern, dass sie ihm wirklich nicht mehr helfen konnte. Was für ein unsinniger Gedanke, Michel war tot. Michel, der sich im Dunkeln gefürchtet hatte, musste jetzt für immer in tiefster Finsternis bleiben.

Unter den Blicken der riesigen Trauergemeinde, die meisten kannte sie nur vom Sehen, manche überhaupt nicht, flüchtete Melody sich zu der jungen Sozialarbeiterin, die so wirkte, als würde sie am liebsten weglaufen – ohne Melody.

»Nimm es nicht persönlich«, flüsterte sie, und dass es wohl besser wäre, jetzt zu gehen.

Und so verließ die fünfzehnjährige Melody Bella Matzke den Friedhof und gleich darauf ihr Dorf, und sie sollte erst viele Jahre später zurückkehren.

Kapitel 2

Mit einem lauten Knall flog die Schlafzimmertür auf. Roland. Schläfrig versuchte Melody, die Zahlen auf dem Wecker zu erkennen, 4:23 Uhr. Sie wusste genau, was jetzt passieren würde. Unter der Bettdecke ballte sie ihre Hände zu Fäusten, gleichzeitig hielt sie die Augen geschlossen und versuchte, ganz ruhig und gleichmäßig zu atmen. Wenn es ihr gelang, tiefen Schlaf vorzutäuschen, ließ er sie vielleicht ausnahmsweise in Ruhe.

Sie konnte hören, wie Roland sich seiner Kleidung entledigte, die Schuhe polterten gegen die Wand, die Jeans landete auf dem Boden, was sie am Klimpern des Schlüsselbunds erkannte, der mit einem Karabinerhaken an einer Gürtelschlaufe befestigt war, dann senkte sich die Matratze, und ihre Bettdecke wurde beiseitegerissen. Er wollte Sex, jetzt, und es war ihm herzlich einerlei, ob sie wach war oder er sie wecken musste.

»Komm …« Ungeduldig schob Roland ihr Nachthemd nach oben.

In diesem Moment öffnete sich die Tür. Eine schmale Straße aus Licht fiel ins Zimmer, und ein kleiner Junge im Schlafanzug tapste darauf zögernd vorwärts. »Mama?«

»Raus!«, brüllte Roland. »Wenn du noch einmal aus deinem Zimmer kommst, schließe ich dich ein, kapiert?«

Wenn sie jetzt aufstand und sich um Linus kümmerte, würde die Situation eskalieren, so wie vorgestern. Ihre Schläfe tat immer noch weh von seinem heftigen Schlag. Immer dreht sich alles um den Jungen, aber ich bin auch noch da!

»Du hast ihn geweckt«, murmelte sie mit zittriger Stimme. »Versuch doch einfach, leise zu sein, wenn du nach Hause kommst. Dann würde er gar nichts mitkriegen.«

»Du erwartest ja wohl nicht ernsthaft, dass ich in meiner eigenen Wohnung auf Zehenspitzen schleiche, nur weil du deinen Bengel so verzogen hast«, blaffte er. »Eins verspreche ich dir: Wenn wir erst ein eigenes Kind haben, wird das anders!«

Linus ist mein eigenes Kind, dachte sie, sprach es aber nicht aus, weil es ihn nur noch mehr aufgebracht hätte.

»Vergiss den Hosenscheißer!«

Er fasste nach ihrer Schulter und drehte sie auf den Rücken. Mit angehaltenem Atem ließ Melody es zu, dass er sich an ihrem Körper abreagierte, sich an der Vorstellung aufgeilte, ihr ein Kind zu machen, bis er mit heftigem Schnaufen kam und sich von ihr herunterrollte. Wenige Minuten später fiel er in tiefen Schlaf. Sie wartete, bis seine Atemfrequenz sich verlangsamt hatte, dann ließ sie sich behutsam aus dem Bett gleiten.

Linus lag ganz hinten an der Wand, mit dem Gesicht zur Tür, als wollte er Wache halten. Er war eingeschlafen, doch seine Wangen sahen verschmiert aus, und sie wusste, dass er sich in den Schlaf geweint hatte. Ihr armer kleiner Junge. Ein weiteres Mal wurde ihr klar, dass sie hier wegmusste, bevor Roland seine empfindsame Seele endgültig zerbrach.

Aber wohin?

Nachdem Melody mit achtzehn endlich die Wohngruppe verlassen durfte, hatte sie sich jahrelang treiben lassen, Drogen, Alkohol, durchfeierte Nächte, verschlafene Tage. Ihr Körper war ihr vollkommen egal, ihre Seele konnte sie nicht spüren. Ihr fehlte die Vorstellung, was sie mit ihrem Leben anfangen könnte. Sie probierte alles Mögliche aus: Ein Praktikum in einem Kindergarten, sechs Wochen in einer Gärtnerei, dann jobbte sie fünf Monate bei einer Firma, die Werbefilme drehte. Auf Dauer war ihr alles zu anstrengend, und sie tauchte wieder in die Drogenszene ab. Zweimal landete sie in der Psychiatrie, beim letzten Mal musste sie ein halbes Jahr bleiben.

Auf der Station lernte sie Gerrit Labohm kennen, den einzigen Sohn wohlhabender Eltern, der gegen seine Drogensucht kämpfte. Gerrit war ein Jahr jünger als sie selbst, schrecklich dünn, regelrecht ausgezehrt, aber so blond wie Thore, ihre Jugendliebe, und er wollte sie unbedingt heiraten. Noch in der Klinik willigte Melody ein.

Im Nachhinein war es neben Gerrits blondem Haar vor allem sein Name, der ihr gefallen hatte. Labohm, das hörte sich so stark und vertrauenerweckend an wie aus Stein gemeißelt. Ganz anders als Matzke, die Verkleinerungsform von Matz. Als Melody Labohm würde sie ihr Leben endlich in den Griff kriegen, davon war sie überzeugt. Sie heirateten zum Entsetzen seiner Familie tatsächlich und bezogen eine winzige Wohnung unter dem Dach, in der es immer zu kalt war, sogar im Hochsommer. Viel Geld hatten sie nicht, dafür aber jede Menge gute Vorsätze. Sie wollten endlich Tritt fassen im Leben.

Gerrit begann ein Soziologiestudium, was seine Eltern hoch erfreute, Melody machte eine Ausbildung als Erzieherin. Sie liebte Kinder, und die Arbeit machte ihr Freude. Dann verliebte Gerrit sich in eine Kommilitonin aus gutem Haus und trennte sich mit der Begründung, dass Melody ihn täglich an die schlimmste Zeit seines Lebens erinnern würde. Das Einzige, das uns verbindet, ist unser Aufenthalt in der Psychiatrie.

Vielleicht stimmte das sogar; seit er studierte, hatten sie sich nicht mehr viel zu sagen, trotzdem war sie am Boden zerstört. Noch heute brauchte sie nur daran zu denken, wie entschieden er sich ihrer entledigt hatte, um sich schlecht und wertlos zu fühlen. Nach seinem Auszug ging sie einfach nicht mehr zur Arbeit, hing bei den falschen Leuten rum und konsumierte schon bald wieder alles, was ihr Denken erfolgreich ausschaltete. Ein weiteres Mal stürzte Melody ins Bodenlose.

Sie befand sich auf dem direkten Weg zur Hölle, als sie feststellte, dass sie schwanger war, sie wusste nicht mal, von wem. Doch in dem Augenblick, als sie das winzige Herz auf dem Monitor in der Frauenarztpraxis sah, das so schnell und aufgeregt puckerte, dass ihr vor Rührung die Tränen kamen, wusste sie mit absoluter Gewissheit, dass sie dieses kleine Etwas in ihrem Bauch beschützen musste. Von dem Moment an war sie clean, ihr ungeborenes Kind hatte sie gerettet.

Aufgrund ihrer Vorgeschichte wurden die Schwangerschaft und die ersten drei Jahre ihrer Mutterschaft engmaschig vom Jugendamt betreut, man hatte verständliche Angst, dass Melody wieder in die Sucht abrutschen und ihr Kind vernachlässigen könnte. Doch sie schaffte alles mit Bravour, und kurz nach Linus’ drittem Geburtstag verabschiedete ihre Sozialarbeiterin sich mit den Worten: »Ich bin sicher, Sie kriegen das jetzt auch allein auf die Reihe. Und wenn was ist, haben Sie meine Telefonnummer.«

Kurz danach traf sie Roland, ganz unspektakulär beim Einkaufen, und verliebte sich. Er war genau der Mann, den sie brauchte, eine Mauer, die sie vor der Welt beschützen würde, zwölf Jahre älter und im Leben angekommen. Sie zogen zusammen. Am Anfang funktionierte es wunderbar, sie bildeten eine richtige kleine Familie, Papa, Mama und Linus. Melody kümmerte sich darum, dass sie es schön hatten, hübsche Vorhänge, passende Sofakissen und ein neuer Teppichboden, auf dem Linus das Krabbeln und dann das Laufen lernte. Roland fuhr den Kleinen nachmittags spazieren, er wickelte ihn und fütterte den Abendbrei, bevor er zur Arbeit ging. Er arbeitete als Türsteher in einer Disco und war abends nie zu Hause.

Dreimal die Woche besuchte er nachmittags ein Fitnessstudio. Seine Ernährung bestand vor allem aus Nudeln, Fleisch und Quark, den er einfach aus der Packung löffelte, dazu schüttete er ominöse Kapseln und Eiweiß-Shakes in sich rein, die er für viel Geld in seinem Studio kaufte. Ein Türsteher musste so aussehen, dass potenzielle Krawallmacher gleich abgeschreckt werden.

Dann gab ihm ein Freund den Tipp, das Studio zu wechseln. Seitdem hatte er beträchtlich an Muskelmasse zugelegt. Melody wusste, dass es nicht am Training lag, sondern an den Tabletten, die er jetzt schluckte und die ein Vermögen kosteten. Anabole Steroide. Längst fand sie ihn nicht mehr attraktiv, manchmal sah sie einen bulligen Kampfhund vor sich, wenn sie ihn anschaute. Aber damit hätte sie sich noch abfinden können. Schlimmer war seine Wesensveränderung. Roland fuhr bei jeder Kleinigkeit aus der Haut. Wenn sie etwas Falsches sagte, hagelte es üble Beschimpfungen, manchmal sogar Schläge. Wahrscheinlich handelte es sich um eine Nebenwirkung der Anabolika, jedenfalls stand das so im Internet. Dass Männer davon impotent werden konnten, stand dort auch, aber davon merkte sie nichts, im Gegenteil.

Wenn Roland gegen Morgen ins Bett kam, wollte er Sex. Ständig faselte er von einem eigenen Kind. Er bestand darauf, dass Melody die Pille absetzte. Doch sie hatte sich heimlich eine neue Packung besorgt und sie zwischen den Putzmitteln versteckt, weil ein Mann wie Roland niemals diesen Schrank öffnen würde. Sie wollte nicht schwanger werden, weil ihr klar war, dass Roland sein leibliches Kind tausendmal mehr lieben würde als Linus, der ihn mehr und mehr zu nerven schien.

Behutsam strich sie mit den Fingerspitzen über Linus’ nass geschwitzte Locken. Es gab keine Alternative, sie musste Roland verlassen.

Kapitel 3

Vor zwei Tagen war Nola van Heerden in ihren roten Mini gestiegen, um sich über die verstopfte Autobahn nach Isernhagen zu kämpfen, wo ihre Eltern in einer wunderschönen Jugendstilvilla lebten. Ihr Stiefvater hatte zum Geburtstag eingeladen. Sie schätzte Bernhard, und sie wusste, dass er sich über ihre Anwesenheit freute. Er hatte keine eigenen Kinder und behandelte Nola wie seine Tochter, obwohl sie es ihm am Anfang nicht leicht gemacht hatte.

Nur eine kleine Feier, hieß es im Vorfeld, dennoch hatte ihre Mutter die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen, als Nola ihr zeigte, was sie anzuziehen gedachte. Unmöglich, so kannst du nicht rumlaufen. Wir sind hier nicht irgendwer, vergiss das bitte nicht! Sie hätte etwas Passendes für ihre Tochter parat: ein eng geschnittenes schwarzes Kleid mit Spaghettiträgern. Nach dem todlangweiligen Sektempfang hatte sie sich noch anhören müssen, dass sie viel zu selten zu Besuch kam, wahrscheinlich muss ich erst lebensgefährlich erkranken, damit du dir mal Zeit für deine Mutter nimmst. Abgesehen von ihrer Kleidung sah auch ihr Haar unmöglich aus, ich wusste ja gleich, dass es in dieser Kleinstadt keinen Friseur gibt, der mit deinen störrischen Locken zurechtkommt. Am Ende folgte die Frage, weshalb sie trotz ihrer vierunddreißig Lebensjahre keinen Mann fürs Leben und vor allem kein Kind vorweisen konnte. In deinem Alter war ich Mutter einer vierzehnjährigen Tochter, frisch verliebt – und glücklich. Bist du glücklich? Nein, natürlich nicht. Du wirkst einsam, mein Kind, einsam und verlassen.

Entnervt war Nola ins Bett geflüchtet, um den Mann anzurufen, dem ihr Herz gehörte und von dem ihre Mutter nichts wusste. Sie hatte wirres Zeug geträumt und schlecht geschlafen.

Der Frühstückstisch war im Wintergarten gedeckt, sehr geschmackvoll in Gelb und Weiß, allein die Blumen mussten ein kleines Vermögen gekostet haben. Ihre Mutter schwärmte von ihrem neuen Friseur, der mit seiner Schere wahre Wunder bewirken könne, und versuchte, ihr ein zweites Brötchen aufzudrängen, angeblich sah sie verhungert aus. Nola beneidete ihren Stiefvater, der nicht in die Unterhaltung einbezogen wurde und sich beim Kaffee seinem iPad widmen durfte.

»Bernhard«, nörgelte Sheila Enders in diesem Moment. »Könntest du das Ding denn wenigstens beim Essen beiseitelegen?«

»Sofort, Schatz. Bin gleich fertig«, versicherte Bernhard Enders, ohne den Blick zu erheben. Er war der Eigentümer einer äußerst erfolgreichen Kette von Geschäften, die »Just for cooks« hießen, ein Name, der von vornherein ausschloss, dass es hier Schneebesen für zwei Euro gab oder billige Plastikschüsseln. Vielmehr wurde Küchenzubehör der gehobenen Preisklasse angeboten, für Kochprofis und solche, die sich dafür hielten und mit der Ausstattung ihrer Küche prahlten.

»Ich habe dich gebeten, das Ding abzustellen.«

»Gleich.«

Das Geplänkel zwischen den Eheleuten schenkte Nola die Freiheit, in ihrer eigenen Gedankenwelt zu verschwinden. Nein, sie war weder einsam noch unglücklich, und ihre Haare fand sie auch in Ordnung.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, quengelte ihre Mutter. »Hört mir überhaupt jemand an diesem Tisch zu?«

»Natürlich«, versicherte Bernhard, und Nola nickte zerstreut.

»Wollen wir nach dem Frühstück in die Stadt fahren, Nola? Ich würde dir gern was Vernünftiges zum Anziehen kaufen.«

Am liebsten würdest du dir eine andere Tochter kaufen, ein braves Anziehpüppchen.

»Tut mir leid, Mama. Aber ich stecke bis zum Hals in einer wichtigen Ermittlung. Ich muss nach dem Frühstück wieder los.« Das war eine schamlose Lüge, aber sie hatte einfach keine Lust mehr auf die ewig gleichen Tiraden ihrer Mutter.

Sofort änderte Sheila Enders ihre Taktik, indem sie vom Angriffsmodus in die Rolle der überbesorgten Mutter wechselte. »Das ist schrecklich«, jammerte sie und griff nach Nolas Oberarm. »Warum muss meine Tochter sich ständig mit so furchtbaren Dingen auseinandersetzen? Nicht mal hier bei uns schaltest du ab, dabei haben wir uns seit Wochen nicht gesehen. Willst du so dein ganzes Leben verbringen, Nola? Immer mit den Gedanken bei der Arbeit? Welcher Mann soll das denn mitmachen? Und erst die armen Kinder …«

»Bernhard arbeitet doch auch am Wochenende.« Ihrem Stiefvater gegenüber mochte es unfair sein, den Schwarzen Peter einfach weiterzureichen, doch irgendwie musste Nola sich verteidigen. Bernhard ließ die Klagen seiner Frau wortlos über sich ergehen, während er weiterhin auf sein iPad schielte.

»Bernhard ist eben Geschäftsmann«, seufzte Sheila resigniert. »Da gibt es nun mal keinen geregelten Feierabend. Dafür verdient er auch eine Menge Geld. Im Gegensatz zu dir. Bei deinem Gehalt frage ich mich wirklich, wie man sich für die paar Kröten so aufopfern kann.«

»Die paar Kröten? Andere Menschen wären froh, wenn sie so viel Geld verdienen könnten, regelmäßig, jeden Monat. Außerdem macht meine Arbeit mir Spaß.«

»So siehst du aber nicht aus. Du siehst eher aus wie eine junge Frau, die kaum Schlaf kriegt und nichts Richtiges isst. Wann hast du zuletzt gekocht? Richtig gekocht, meine ich.«

»Letztes Wochenende«, schwindelte Nola. Mit vierunddreißig musste sie sich ja wohl nicht mehr vor ihrer Mutter rechtfertigen. »Ein Hähnchen vom Markt, gefüllt mit frischen Kräutern. Hat natürlich zwei Tage gereicht.«

»Na gut. Das klingt ja ganz ordentlich.« Ihre Mutter lächelte versöhnt. »Ich hab dir was zurechtgestellt, einen Niedergartopf und zwei Kochbücher. Sehr praktisch für berufstätige Frauen. Das ist momentan der Renner in unseren Läden. Du bereitest das Fleisch mittags zu und lässt es sechs bis acht Stunden garen. Und keine Sorge, da brennt nichts an. Wenn du abends nach Hause kommst, ist alles fertig. Und es schmeckt himmlisch. Stimmt’s, Bernhard?«

»Du meinst, ich soll das Ding anstellen und aus dem Haus gehen?«, vergewisserte Nola sich.

»Ja, sicher, das ist völlig ungefährlich.«

Nola verkniff sich den Hinweis darauf, dass sie mittags nicht zu Hause war und ganz bestimmt keine Lust verspürte, gleich nach dem Aufstehen Fleisch zuzubereiten, damit es acht Stunden vor sich hin schmurgelte. Was, wenn sie Überstunden machen musste?

»Übrigens werden wir zum Ende des Jahres expandieren, unter anderem eine Filiale in Leer. Wir haben schon einen Laden anvisiert.« Sheila Enders holte tief Luft. »Wenn du unbedingt in dieser Kleinstadt bleiben willst, überleg doch mal in Ruhe, ob das nicht der bessere Job für dich wäre. Filialleiterin! Wir stellen dir eine versierte Kraft an die Seite, bis du dich eingearbeitet hast. Nola, Kleines, denk an die Zukunft. Kriminalpolizei, immer nur Mord und Totschlag. Und eines Tages kommt einer daher und erschießt dich!«

Mit den Worten »Oh, schon so spät? Mist, ich muss sofort los« beendete Nola sowohl das Gespräch als auch das Familienfrühstück. In ihrem Zimmer stopfte sie sämtliche Klamotten in die Tasche, dann stürzte sie die Treppe runter Richtung Tür. Ihre Mutter folgte ihr auf dem Fuß, in der Hand den Niedergartopf, den Nola gar zu gern vergessen hätte. Wenigstens war er nicht so groß wie befürchtet. Sie konnte ihn auf den Schlafzimmerschrank stellen, zu dem unbenutzten Raclette und der noch originalverpackten Eismaschine.

Von Isernhagen bis Bremen fühlte Nola sich unzulänglich, eine schlecht gekleidete, schlecht frisierte, unbemannte Frau, die den falschen Beruf ergriffen hatte, zu wenig Geld verdiente und in der verkehrten Stadt lebte. Nicht zu vergessen ernährte diese unmögliche Frau sich auch noch vollkommen ungesund. Kurz vor dem Bremer Kreuz war sie genervt von einer Frau im Alter ihrer Mutter, die mit einem schnittigen Sportwagen über die Autobahn schlich, auf der linken Spur wohlgemerkt, obwohl rechts alles frei war. Offensichtlich war sie der Ansicht, dass ein silbrig glänzendes E-Klasse-Cabrio von Mercedes auf die Überholspur gehörte, egal wie schnell man damit fuhr. Selbst Nola hielt es irgendwann nicht mehr aus und überholte ebenfalls rechts. Dabei warf sie der Frau jede Menge giftiger Blicke zu, die diese mit starr nach vorn gerichteten Augen ignorierte. Wahrscheinlich stolzierte sie genauso selbstherrlich durch das Leben wie Sheila Enders, die als irisches Au-pair-Mädchen in Deutschland ein Kind von einem Mann bekommen hatte, dessen Namen zu nennen sie sich bis heute weigerte. Eine ungelernte Verkäuferin, die ihren Chef geheiratet hatte und so zu Geld gekommen war, das sie gern unter die Leute brachte. Befähigte dieses Leben sie wirklich dazu, anderen Menschen gute Ratschläge zu erteilen?

Nola legte ihre neue Lieblings-CD von den Lumineers ein, und mit jedem Kilometer fühlte sie sich besser. Verdammt noch mal, sie war weder unglücklich noch einsam!

Kapitel 4

In einer buchstäblichen Nacht-und-Nebel-Aktion hatte Melody die Beziehung zu Roland beendet. Sie war einfach mit Linus verschwunden, und es hatte sich angefühlt wie eine Flucht. Die Übergangswohnung war klein und dunkel und kein Ort, an dem sie bleiben wollte. Eher planlos war sie durch die großen Immobilienportale im Netz gesurft und dabei auf ein Haus in ihrem Heimatdorf Martinsfehn gestoßen. Sie erkannte es sofort. Die Küsterin hatte dort gewohnt. Inzwischen war sie offenbar verstorben, und es gab keine Erben. Sie hatte ihr Haus der Evangelischen Kirchengemeinde vermacht, die es nun anbot.

Ganz von selbst war Melody eingefallen, was die Therapeutin immer wieder gesagt hatte: Sie müssen sich mit der Vergangenheit aussöhnen. Fangen Sie dort an, wo Ihr Leben aus dem Ruder gelaufen ist. Plötzlich schienen die Worte einen Sinn zu ergeben. Entwurzelt durch ein schreckliches Unglück, mäanderte sie heimatlos durch das Leben, wusste nicht, wohin sie gehörte. All die Jahre hatte sie sich danach gesehnt, irgendwo anzukommen, und jetzt wusste sie, wo der Ort sich befand, an dem sie sich endlich zu Hause fühlen würde. In Martinsfehn.

Auf einmal kamen Erinnerungen hoch, Erinnerungen an glückliche Momente. Ihr erster Schultag, die rosarote Zuckertüte und das Kleid mit den Rüschenärmeln, Picknick mit ihren Freundinnen im Garten von Simones Eltern, die Pferde auf dem Hof, vor allem Flöckchen, ihr eigenes Pony, der erste Kuss und Thore natürlich, ihre große Liebe.

Von dem Geld, das die Lebensversicherung für den Tod ihrer Mutter ausgezahlt hatte und das unangetastet auf einem Konto lag, weil Melody sich sehr zu Rolands Ärger geweigert hatte, dieses Blutgeld anzurühren, kaufte sie das Haus. Und heute wagte sie sich zum ersten Mal auf den Friedhof.

In der alten Bäckerei gegenüber vom Friedhof hatte jemand ein Blumengeschäft eröffnet. Melody entschied sich für ein fertig bepflanztes Weidenkörbchen. Die hellblauen Glockenblumen auf hauchdünnen Stängeln wirkten zart und schutzbedürftig und schienen genau richtig zu sein für einen Zweijährigen.

Bevor sie durch das bogenförmige Friedhofstor schritt, holte sie einen kleinen Teddy aus weißer Keramik aus ihrer Tasche und setzte ihn mitten in die Glockenblumen. Für einen Moment schnürte ihre Kehle sich zusammen, es mochte dumm sein, doch sie war ziemlich aufgeregt.

Vor zwanzig Jahren hatte sie den Friedhof zum letzten Mal betreten, an die Beerdigung erinnerte sie sich als einen der schrecklichsten Tage in ihrem Leben. Es fiel ihr schwer, daran zu denken. Zweimal verlief sie sich auf dem großen Gelände. Sie wollte schon aufgeben, als sie endlich das Grab entdeckte.

Weiße Eisbegonien und dunkelrote Geranien blühten um die Wette, die Erde war von Unkraut befreit und sorgfältig geharkt, und auf dem Grabstein aus silbergrauem Granit erhob sich ein Pferd mit wallender Mähne auf die Hinterbeine, ein Barockpferd, wie es in der klassischen Dressur geritten wurde.

Verena Matzke hatte ihre sportlichen Erfolge als Springreiterin gefeiert, sie züchtete Holsteiner mit dem Ziel, ein Ausnahmetalent mit besonderem Springvermögen hervorzubringen. Das Pferd auf dem Grabstein hätte ihr nicht gefallen. Auch wenn Melody sich dafür schämte, es fühlte sich gut an, dass Wulf das falsche Pferd ausgesucht hatte.

Von Michel war nicht mehr viel geblieben, nur sein Name unter dem seiner Mutter, Michel Tobias Matzke, 1994 bis 1997.

Dass allein der Anblick seines Namens so schmerzhaft sein würde, hatte Melody nicht erwartet. Längst vergessen geglaubte Bilder tauchten vor ihrem inneren Auge auf, ein kleiner blonder Junge mit gelben Gummistiefeln, der in seiner Sandkiste spielte, lachte und die Arme nach ihr ausstreckte, der nicht schlafen konnte, wenn sie ihm nichts vorsummte.

Michel, kleiner Michel, du fehlst mir so. Mit leisem Wimmern sank sie vor der Umrandung aus dunklem Granit in die Knie, und es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit gefasst hatte, dass sie das kleine Körbchen mit den Blumen abstellen konnte.

Michel wäre jetzt zweiundzwanzig, ein junger Mann, vielleicht genauso uneins mit der Welt, wie sie es in dem Alter gewesen war, oder erwachsen und vernünftig. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie er aussehen könnte, schmal und sehnig wie ihre Mutter oder groß und bullig wie sein Vater, doch es wollte ihr nicht gelingen. Für sie würde Michel auf ewig ein kleiner blonder Sonnenschein mit strahlend blauen Augen bleiben, und sie würde alles geben für ein einziges Foto.

Eine Hand tippte auf ihre Schulter. »Hallo, Melody, bist du es wirklich? Ich werd verrückt. Erkennst du mich? Ist ja schon eine Weile her. Ich bin Simone.«

Mit dem Handrücken wischte Melody die Tränen fort, dann schaute sie blinzelnd hoch. Simone hatte sich kaum verändert. Dreiviertellange Jeans, hochhackige Sandalen und eine schwarze, durchsichtige Bluse über einem Top, ebenfalls schwarz und sehr tief ausgeschnitten. Ihr Haar war zu einer komplizierten Frisur geflochten. Genau wie damals wirkte sie so entschlossen wie jemand, der es gewohnt war, seinen Willen durchzusetzen. Wenn sie zurückdachte, hatte immer Simone bestimmt, wo es langging.

Melody erhob sich, sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen, und verschränkte sie schließlich hinter ihrem Rücken, doch damit war Simone nicht einverstanden. Sie machte einen Schritt nach vorn und riss Melody überschwänglich in die Arme.

»Mensch, Melody, wie schön! Ich freu mich. Mir war immer klar, dass du eines Tages zurückkommen wirst. Du siehst aus wie deine Mutter, wie aus dem Gesicht geschnitten. Bis auf die Augen, ihre waren ja immer so kalt und ohne jedes Gefühl, ganz anders als deine. Keine Angst, du bist nicht wie sie.« Ohne zu zögern, griff sie hinter Melodys Körper und holte eine Hand nach vorn und drehte die Innenfläche nach oben. Als sie die rosarote Kraterlandschaft aus Narben entdeckte, strich sie vorsichtig darüber. »Ich hoffe, das tut nicht mehr weh.«

»Nein«, sagte Melody rau. Die zärtliche Berührung war ihr unangenehm, eine Grenzüberschreitung. Sie hatte Simone ewig nicht gesehen, und sie konnte es nicht leiden, wenn jemand ihre Narben ansah oder, schlimmer noch, berührte.

»Glaubst du an Schicksal?« Sie ließ Melody keine Zeit für eine Antwort. »Ich schon. Es ist kein Zufall, dass du ausgerechnet jetzt wieder hier auftauchst. Ich will nämlich rausfinden, was damals wirklich passiert ist, und du musst mir dabei helfen.«

»Wie soll ich das denn anstellen?«

Simones Finger drückten noch fester zu. »Erinnere dich! Du weißt mehr als jeder andere! Du bist der Schlüssel zur Wahrheit!«

»Ich kann mich an nichts erinnern«, schleuderte Melody ihr entgegen. »An gar nichts. Ich weiß nur das, was alle wissen, sogar noch weniger. Ich sehe nur das Feuer vor mir, ich kann es sogar riechen, immer noch. Direkt nach der Beerdigung hat man mich weggebracht, in eine Wohngruppe nach Lübeck. Ich weiß nicht mal, was die Polizei rausgefunden hat.«

»Nichts, nur dass es Brandstiftung war.«

Auf einmal tauchte das Bild dieses widerlichen Kommissars vor Melodys innerem Auge auf, sein herablassendes Grinsen. An den hatte sie ewig nicht mehr gedacht.

Ihre Worte schienen Simone nicht zu stören. »Pass mal auf, Süße. Ich finde raus, was damals passiert ist, und schreibe ein Buch darüber. Das wird ’ne ganz große Sache.«

»Ohne mich«, sagte Melody dumpf. »Für mich ist das Vergangenheit. Ich bin hergezogen, um einen Neuanfang zu machen. Ich will nicht mehr an damals denken!« Die letzten beiden Worte schrie sie beinahe, und sie nahm im Augenwinkel wahr, dass eine Frau stehen blieb und den Kopf schüttelte. Ja, recht hatte sie, auf dem Friedhof sollte man nicht rumbrüllen.

Simone ließ sich nicht beirren. »Ich kann verstehen, dass du gerade andere Dinge im Kopf hast. Aber es ist wichtig, Melody, auch für dich, glaub es mir. Du wirst erst deinen Frieden finden, wenn alles aufgeklärt ist.«

Was bildete Simone sich eigentlich ein? Dass Melody immer noch nach ihrer Pfeife tanzen würde, genau wie damals? Trotzig befreite sie ihre Hand aus der Umklammerung. »Mach dir keine Hoffnungen, ich werde dir nicht helfen. Ich will nichts damit zu tun haben. Seit zwanzig Jahren versuche ich, diese Nacht zu vergessen. Das ist vorbei. Endgültig vorbei.«

»Nein, da irrst du dich. Es ist erst vorbei, wenn die Wahrheit ans Licht kommt und der Täter zur Rechenschaft gezogen wird.« Simone legte eine Hand an ihre Kehle, dann flüsterte sie rau: »Der Täter lebt immer noch in Martinsfehn, davon bin ich überzeugt. Er lebt, und die anderen sind tot. Findest du das gerecht?«

Melody gab keine Antwort, sie drehte sich um und hockte sich wieder vor das Grab, mit dem Rücken zu Simone. Sie würde sich erst wieder rühren, wenn ihre ehemalige Freundin wegging. Doch den Gefallen tat Simone ihr nicht. Sie ließ sich neben Melody in die Knie sinken und fasste erneut nach ihrer Hand.

»Mensch, erzähl doch mal, was machst du? Bist du verheiratet? Hast du Kinder?«

»Geschieden. Ein Sohn, Linus, er ist fünf. Ich bin vor drei Wochen zurückgekommen. Ich dachte, es ist positiv für Linus, auf dem Land aufzuwachsen.«

»Ja, klingt doch gut. Ich hab übermorgen Geburtstag und will morgen Abend reinfeiern. Du musst unbedingt kommen.«

Melody erfuhr, dass Simone nach der Schule eine Ausbildung als Fotografin gemacht und vor einiger Zeit Haus und Laden von ihrem Chef übernommen hatte. »Der Fotoladen an der Hauptstraße. Die Feier findet draußen statt. Deinen Sohn kannst du ruhig mitbringen. Wenn er müde wird, legen wir ihn oben in meiner Wohnung ins Bett. Kein Problem. Meine Neffen und Nichten haben auch schon dort geschlafen.«

Kurz entschlossen sagte Melody zu. Unter Leute zu gehen, war genau der richtige Weg, um hier Fuß zu fassen, anzuknüpfen an glückliche Zeiten. Sie hatte keinem hier etwas angetan und konnte hoch erhobenen Hauptes auf jeden zugehen.

»Siehst du den dunkelhaarigen Typ da, vor dem Grab mit den Sonnenblumen? Das ist Renke Nordmann, der leitet jetzt das Polizeirevier. Kannst du dich noch an ihn erinnern? Er muss fünf Jahre älter sein als wir.«

»Nee, tut mir leid.«

»War auch nicht so der Burner. Wollte schon immer Polizist werden und hat sich auch so benommen, total langweilig. Hat Handball gespielt, glaub ich. Jetzt sieht er natürlich ganz ansehnlich aus. Ist verwitwet, und es gibt so einige Frauen im Dorf, die ihn gern trösten würden. Aber der will keine Neue.«

Melody kniff die Augen zusammen, damit sie den Mann besser erkennen konnte. »Er sieht auf jeden Fall sehr viel attraktiver aus als Gerd Wiese damals.«

»Dazu gehört ja nicht viel.«

Sie kicherten gleichzeitig los, und plötzlich war die alte Verbundenheit wieder da.

Zu Hause betrachtete Melody sich lange im Spiegel. Sah sie wirklich aus wie ihre Mutter? Sie wusste es nicht. Sämtliche Bilder und Fotoalben waren dem Brand zum Opfer gefallen. In ihrer Erinnerung schaute ihre Mutter sehr schmal aus, streng und nicht gerade freundlich. Verena Matzke hatte sich nie zurechtgemacht. Melody kannte sie nur in Reithosen, knöchelhohen Stiefeletten und dunklen Poloshirts, mit oder ohne Jacke, je nach Jahreszeit. Und doch konnte ihre Mutter lächeln und plötzlich wunderschön aussehen, so schön, dass sie Männer dazu bringen konnte, alles für sie zu tun.

Mit beiden Händen griff Melody in ihr Haar und legte es eng an den Kopf. Ja, eine gewisse Ähnlichkeit ließ sich nicht leugnen, auch wenn sie nicht so hager war und schon gar nicht so muskulös. Rasch ließ sie das Haar wieder nach vorn fallen und bauschte es mit den Händen auf. Sie wollte nicht aussehen wie ihre Mutter. Um nichts in der Welt wollte sie dieser furchtbaren Frau ähnlich sein.

Kapitel 5

Auf dem Friedhof von Martinsfehn kniete ein dunkelhaariger Mann in Jeans und einem grauen Shirt vor einem Urnengrab. Er hatte Blumen mitgebracht, einen Strauß ganz in Weiß und Rosa gehalten, den er in eine Vase aus grünem Kunststoff drapierte.

Der Mann hieß Renke Nordmann, Hauptkommissar Nordmann, er war vierzig Jahre alt und leitete das Polizeirevier in Martinsfehn. Vor fünf Jahren war der Mann noch glücklich verheiratet gewesen und Vater einer elfjährigen Tochter. Er hatte mit seiner Familie in einer der beiden Neubausiedlungen des Ortes gewohnt und bei der Kriminalpolizei in Leer gearbeitet, im Ersten Kommissariat, wo alle Kapitaldelikte bis hin zu Mord landeten. Darüber, dass sein privates Glück enden könnte, hatte er nie ernsthaft nachgedacht, bis bei seiner Frau Krebs diagnostiziert wurde.

Drei Jahre später war er bereits Witwer. Als alleinerziehender Vater einer dreizehnjährigen Tochter musste er sein Leben neu ordnen, er wurde Revierleiter in seinem Wohnort, um mehr Zeit für Aleena zu haben, die sich immer mehr zum Ebenbild ihrer Mutter entwickelte. Sein Leben verlief wieder in geordneten Bahnen, Britta, seine Frau, fehlte natürlich, doch Renke und Aleena bildeten ein gutes Zweierteam. Vor acht Monaten verlor Renke Nordmann auch seine Tochter, sie fiel einem Gewaltverbrechen zum Opfer.

Eine Zeit lang sah es so aus, als könnte er diesen Schicksalsschlag nicht überwinden. Die Erinnerungen an sein Leben als Ehemann und Vater wurden zu einem düsteren, klebrigen Sumpf, der ihn immer tiefer nach unten zog, bis er endgültig darin zu versinken drohte. Um wieder Luft zu bekommen und nach vorn schauen zu können, verkaufte er das Familienhaus und bezog eine Neubauwohnung am Marktplatz. Nach ein paar unerfreulichen Monaten, in denen er weitaus mehr Rotwein trank, als ihm guttat, entschied er sich, einen alten Traum zu verwirklichen und das halb verfallene Haus seiner Großmutter zu sanieren. Während der Umbauphase, für die er zwei Jahre angesetzt hatte, lebte er in einem Wohnwagen, der direkt neben dem Haus stand. Es war das erste Mal, dass er etwas in Angriff nahm, das Britta nicht mitgetragen hätte.

Und noch etwas war passiert, das Britta nicht gefallen hätte. Es gab wieder eine Frau in seinem Leben, auch wenn er sich noch schwer damit tat, ihr einen festen Platz in seinem Alltag einzuräumen. An dunklen Tagen fühlte es sich immer noch wie Betrug an, eine andere Frau zu lieben, und da half es gar nichts, dass sein Therapeut behauptet hatte, dass man eine Tote nicht betrügen konnte. Andererseits hatte er Renke von einer neuen Beziehung abgeraten, solange er sich seiner toten Frau verpflichtet fühlte. Aber Renke gehörte nicht zu den Menschen, die ihr Leben von Außenstehenden bestimmen ließen.

»Sie tut mir gut«, murmelte er, während er die Vase mit den Blumen ein wenig nach rechts rückte, damit man die Namen auf dem Stein besser lesen konnte.

Früher hatte er viele Stunden hier auf dem Friedhof verbracht, um Zwiesprache mit seiner toten Frau zu halten. Inzwischen kam er sehr viel seltener her, und er blieb auch nicht mehr so lange. Sein Therapeut wäre sicher zufrieden mit dieser Entwicklung.

Als er aufschaute, bemerkte er eine schlanke blonde Frau, die er hier noch nie gesehen hatte. Jetzt kam Simone Jakobi dazu. Ihr gehörte der Fotoladen an der Hauptstraße. Simone war so etwas wie der Paradiesvogel im Dorf, eine Frau, die das Talent besaß, sich bei jeder Gelegenheit in Szene zu setzen. Sein Typ war sie nicht, er fand alles an Simone eine Spur zu heftig, ihre laute Stimme, ihre Art, sich zu kleiden, sogar ihre Bewegungen störten ihn, dieses übertriebene Gestikulieren, das jedes ihrer Worte unterstrich.

Die beiden Frauen schienen sich zu kennen. Nach kurzem Zögern fielen sie einander in die Arme, wobei das Ganze eindeutig von Simone ausging. Sie stürzte sich auf die Frau, und die ergab sich in ihr Schicksal. Beinahe meinte er, sie seufzen zu hören. Das war natürlich Blödsinn, er stand ja viel zu weit entfernt.

Renke fragte sich, wer die Fremde wohl sein mochte und was sie hier auf dem Friedhof wollte.

Kapitel 6 1997

Melody Bella Matzke, Rufname Melody, verdankte ihre Vornamen der Welsh-Ponystute, mit der ihre Mutter als Kind die ersten Turniererfolge feiern durfte, Melody la Belle. Sie war die Tochter der bekannten Springreiterin Verena Matzke, die nach einem Verkehrsunfall, bei dem ihr Ehemann ums Leben gekommen war, nicht mehr sportmäßig reiten konnte und jetzt einen Pferdehof mit Reitbetrieb führte, in Martinsfehn, einem kleinen, unbedeutenden Nest in Ostfriesland.

Bereits als Kleinkind wurde Melody auf ein Pferd gesetzt, doch sie hatte niemals den Ehrgeiz verspürt, in die großen Fußstapfen ihrer Mutter zu treten, die als Ersatzreiterin für die deutsche Olympiamannschaft 1984 mit ihrem Pferd nach Los Angeles fliegen durfte. Dass ihre Tochter ihr nicht nacheifern wollte, bedeutete für Verena Matzke eine große Enttäuschung, wie sie immer wieder durchklingen ließ. Ein bisschen mehr hab ich schon von dir erwartet, hier stehen die besten Pferde im Stall und warten auf eine gute Reiterin, und du willst nur im Gelände rumjuckeln.

Seit einem Jahr war Melody überhaupt nicht mehr in den Sattel gestiegen. Reiten machte ihr einfach keinen Spaß, jedenfalls nicht die Art von Reiten, die ihre Mutter von ihr erwartete. Dennoch liebte sie Pferde, und wenn ihre Zeit es zuließ, half sie sehr gern im Stall. Doch vor allem kümmerte sie sich neben der Schule um ihren kleinen Bruder Michel. Ihre Mutter kriegte das ja nicht auf die Reihe.

Melody stützte ihre Ellenbogen auf die Umrandung des Springplatzes. Sie kaute Kaugummi und ließ den Unterkiefer dabei übertrieben kreisen. Ihre Mutter hasste das, angeblich sah es ordinär aus. Gerade darum steckte ständig ein Kaugummi in Melodys Mund, sie genoss es, ihre Mutter zu provozieren.

Ihr Blick folgte Daniela Finke, die auf Cherokee saß, dem Lieblingspferd ihrer Mutter, einer großrahmigen Holsteinerstute mit erstklassiger Abstammung und immensem Sprungvermögen. Es galt als Auszeichnung, wenn man auch nur probeweise auf Cherokees Rücken Platz nehmen durfte, doch Daniela durfte das Tier regelmäßig reiten. Sie konnte wirklich stolz auf sich sein, und leider war sie es auch. Die Stute konnte diverse Platzierungen im S-Springen vorweisen, war aber schwierig im Umgang. Männer duldete sie überhaupt nicht im Sattel, und auf eine harte Hand reagierte sie mit Steigen. Verena Matzke hatte lange nach einer passenden Reiterin für das Tier gesucht und diese in ihrer Auszubildenden gefunden.

Selbst Melody, die Daniela nicht ausstehen konnte, musste zugeben, dass sie eine exzellente Reiterin war. Früher, als Daniela noch eins der vielen Mädchen war, die zum Reiten auf den Hof kamen, und Melody die von allen beneidete Tochter der Besitzerin, waren sie noch gut miteinander ausgekommen. Doch die Vorzeichen hatten sich geändert.

Die Siebzehnjährige absolvierte hier eine Ausbildung zur Bereiterin, sie wohnte auf dem Hof, und Verena Matzke sah es als ihre Berufung an, Danielas großes Talent zu fördern. Sie träumte davon, aus ihrer Auszubildenden eine erfolgreiche Springreiterin zu machen, und dafür ließ sie die junge Frau sehr hart trainieren.

Daniela schienen die hohen Anforderungen nichts auszumachen, wahrscheinlich brannte in ihr derselbe Ehrgeiz wie in ihrer Chefin. Am letzten Wochenende hatte sie auf Norderney ein M-Springen gewonnen. Es war ihr bislang größter Erfolg, und seither trug sie die Nase noch ein Stück höher.

»Treiben, verdammt«, hörte Melody ihre Mutter schreien. »Sie bleibt gleich stehen. Los, die Beine ran! Und die Zügel kürzer, mein Gott, wie lange reitest du schon bei mir?«

Vor Anstrengung schoss Daniela das Blut in die Wangen, sie biss die Lippen zusammen, presste die Waden noch enger an den Pferdekörper und erreichte, dass Cherokee noch einen Zahn zulegte, punktgenau absprang und scheinbar schwerelos über das einen Meter dreißig hohe Hindernis schwebte, den Rücken leicht aufgewölbt. Ja, so sollte es aussehen, ein Sprung wie aus dem Lehrbuch.

Verena rang sich ein »Na bitte« ab. Lob war nicht ihre Sache.

Melody wusste, wie viel Kraft es brauchte, um die Stute zu so einem perfekten Sprung zu animieren, Kraft, an der es ihr selbst mangelte. Sie war einfach zu dünn. Kürzlich hatte ihre Lehrerin sie beiseitegenommen und gefragt, ob Melody Probleme hätte und ob sie regelmäßig essen würde. Sie schien zu glauben, dass Melody an Magersucht litt.

Völliger Blödsinn, Melody wusste selbst, dass sie mit ein paar Kilos mehr auf den Rippen hübscher aussehen würde, doch sie kriegte es einfach nicht hin, mehr zu essen. Und so hässlich konnte sie wohl nicht sein, immerhin hatte sich ein Junge wie Thore in sie verliebt, einer, bei dem die Mädchen Schlange standen. Er nannte sie Kleine Spitzmaus und meinte das als Kompliment, und er sagte, dass er sie wunderschön finde.

Das konnte Melody überhaupt nicht verstehen. Selbst konnte sie ihr Spiegelbild nicht leiden. Ihr Gesicht fand sie zu dreieckig, die Lippen zu schmal. Außerdem bereute sie zutiefst, dass sie vor einem halben Jahr ihre langen Haare abgeschnitten hatte, auch wenn Simone, ihre Freundin, meinte, dass die neue Frisur ihr gut stehen würde. Das kann nicht jeder tragen, Melody. Deine Augen wirken jetzt viel größer. Mit der neuen Frisur hatte sie eigentlich ihre Mutter schockieren wollen, doch Verena Matzkes einzige Reaktion bestand aus einem spöttischen Grinsen, als wüsste sie bereits, dass Melody sich selbst schon bald am meisten über die kurzen Haare ärgern würde.

Seufzend schaute Melody auf ihre Uhr, sechs Uhr, sie drehte sich zu Michel um, der breitbeinig in der Sandkiste saß, die sein Vater für ihn gebaut hatte, direkt neben der Reithalle, damit Verena tagsüber ein Auge auf ihren Sohn haben konnte. Natürlich schaute sie kein einziges Mal in Michels Richtung. Michel zu beaufsichtigen, zählte zu Melodys Aufgaben, jedenfalls dann, wenn sein Vater nicht anwesend war, so wie jetzt. Wulf befand sich mit seinem Lkw irgendwo in Süddeutschland und würde erst morgen wiederkommen. Melody war froh darüber. Sie hasste es, wenn Wulf zu Hause war, weil er sich keine Mühe gab zu verbergen, wie sehr ihn Melodys Anwesenheit störte.

Ihr Blick wanderte wieder zu ihrem kleinen Bruder. Vorhin hatte Michel auf Flöckchen gesessen, der Ponystute, auf der Melody das Reiten gelernt hatte. Inzwischen war Flöckchen alt und bekam ihr Gnadenbrot auf dem Hof. Ihre einzige Aufgabe bestand darin, Michel an das Reiten zu gewöhnen, und das machte sie bravourös. Mit einer Engelsgeduld schaukelte sie den kleinen Zappelphilipp über den Platz. Sobald er vier war, sollte Michel sein erstes Turnier auf Flöckchen bestreiten, in der Führzügelklasse. Melody wusste jetzt schon, wer das Pony dabei am Strick halten musste, nicht etwa die stolze Mutter, die hatte keine Zeit für so einen Pipifax, sondern sie.

»Hey, wir beide gehen jetzt rein. Baden und Abendessen.«

Michel zog einen Flunsch und hielt ihr die blaue Schaufel entgegen, mit der er gerade Löcher in den Sand buddelte. »Will nicht«, jammerte er, überlegte es sich im nächsten Augenblick aber anders. Er ließ die Schaufel fallen und stürzte sich in Melodys ausgebreitete Arme. Jetzt musste sie ihn dreimal in die Runde schwenken, dann war er zufrieden und sie auch, weil es ihr ein weiteres Mal gelungen war, den Kleinen ohne Gebrüll ins Haus zu kriegen. Ihre Mutter schaffte das nie.

»Nicht so viel Tempo, verdammt!«, kreischte Verena Matzke auf dem Reitplatz. »Wie soll sie da die Wendung schaffen?«

Der Klang ihrer Stimme ließ Michel zusammenzucken. Melody drückte ihn beruhigend an ihren Körper. Tja, Daniela, man kann es ihr eben nie recht machen, dachte sie voller Schadenfreude. Im Stillen beglückwünschte sie sich ein weiteres Mal zu ihrer Entscheidung, nicht mehr zu reiten. In dieser Hinsicht konnte ihre Mutter sie wenigstens nicht mehr kleinmachen.

Dafür fielen Verena Matzke tausend andere Dinge ein, um ihre Tochter runterzuputzen. Und wenn sie ausnahmsweise mal nichts zu meckern fand, was selten genug vorkam, regte Wulf sich über die Tochter seiner Freundin auf.

Wulf Leutnant war vor vier Jahren hier eingezogen, und er machte kein Geheimnis daraus, dass er seine Freundin lieber für sich allein gehabt hätte, sie und seinen Sohn Michel. Aber Melody war nun einmal da, Verenas große Tochter, die ihn misstrauisch beäugte und schnippische Antworten gab, sobald er sie ansprach. Neuerdings nannte er sie nur noch Rotzgöre. Muss die Rotzgöre den ganzen Abend hier sitzen? Wozu hat sie ein eigenes Zimmer? Melody war jedes Mal froh, wenn er in seinen roten Kombi stieg und vom Hof rollte.

Das alte Bauernhaus, in dem sie wohnten, lag genau gegenüber von den Stallungen und den beiden Reitplätzen, getrennt durch eine schmale, asphaltierte Straße. Weil es hier so gut wie keinen Verkehr gab, sorgte sich niemand, dass Michel überfahren werden könnte.

Nach dem Tod ihres Mannes hatte Verena Matzke von dem Geld der Lebensversicherung und dem Verkauf des Familienhauses den alten, abgelegenen Hof mit den anliegenden Ländereien gekauft und gegenüber vom Haus eine Reithalle, großzügige Stallungen für fünfzig Pferde und zwei Reitplätze errichten lassen.

In die Renovierung des Wohnhauses hatte sie so gut wie kein Geld gesteckt, das war ihr nicht wichtig, sie hielt sich dort ja nur zum Schlafen auf. Die Pferde waren ihr Leben und nicht ihre Tochter, die damals gerade sieben war und sich abends allein ins Bett bringen musste, weil ihre Mutter bis spätabends im Stall zu tun hatte. Bis heute hatte sich nichts an Verena Matzkes Prioritäten geändert. Auch ihr zweites Kind musste zusehen, wie es ohne ihre Unterstützung groß wurde. Doch anders als Melody hatte Michel eine ältere Schwester, die sich liebevoll um ihn kümmerte.