Don & Petie Kladstrup

Wein & Krieg

Bordeaux, Champagner und die Schlacht um Frankreichs größten Reichtum

Aus dem Englischen
von Dietmar Zimmer

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Wine and War – The French, the Nazis and the Battle for France’s Greatest Treasure« im Verlag Broadway Basic Books, Doubleday, New York

Historische Beratung: Dr. J. Kim Munholland

© 2001 Don und Petie Kladstrup

Für die deutsche Ausgabe

© 2002 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Finken & Bumiller, Stuttgart,

obere Abbildung: © Steven Rothfeld / gettyimages

untere Abbildung: © akg-images

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94850-9

E-Book: ISBN 978-3-608-11533-8

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

FÜR REGAN UND KWAN-LI,
UNSERE TÖCHTER UND QUELL UNSERER INSPIRATION

Inhalt

Einleitung

Eins – Aus Liebe zum Weinstock

Zwei – Auf der Flucht

Drei – Die »Weinführer«

Vier – Verstecken, beschwindeln, abblitzen lassen

Fünf – Mit knurrendem Magen

Sechs – Wölfe vor den Toren

Sieben – Das Fest

Acht – Die Rettung des Schatzes

Neun – Hitlers »Adlerhorst«

Zehn – Der Kollaborateur

Elf – »Als ich heimkam, war ich alt«

Epilog

Glossar

Anmerkungen

Bibliographie

Verzeichnis der Abbildungen

Danksagungen

Wein- und Champagnerregister

Namenregister

Sach- und Ortsregister

EINLEITUNG

Das Stahltor rührte sich nicht.

Die französischen Soldaten hatten alles versucht – vom Nachschlüssel bis zum Vorschlaghammer. Nichts hatte funktioniert. Jetzt versuchten sie es mit Sprengstoff.

Die Explosion erschütterte den Berg bis hinab ins Tal; Schutt und Geröll stürzten den Abhang hinunter. Als sich der Staub gelegt und der Rauch verzogen hatten, fanden die Soldaten das Tor einen Spaltbreit offen, gerade weit genug, daß Bernard de Nonancourt, ein 23jähriger Sergeant des Heeres aus der Champagne, sich hindurchquetschen konnte. Was er sah, verschlug ihm den Atem.

Vor sich hatte er einen Schatz, für den so mancher Kenner sein Leben gegeben hätte: eine halbe Million Flaschen der besten Weine aller Zeiten, Châteaux Lafite- und Mouton-Rothschild, Château Latour, Château d’Yquem und Romanée-Conti, alle sorgsam verpackt in Holzkisten oder aufgereiht in Regalen, die praktisch jeden Zentimeter des Gewölbes ausfüllten. In einer Ecke fanden sich seltene Portweine und Cognacs, darunter sogar viele aus dem 19. Jahrhundert.

Eines sprang de Nonancourt jedoch sofort ins Auge: Hunderte Flaschen 1928er Champagner der Marke Salon. Fünf Jahre zuvor, als er bei einer anderen Champagnerkellerei arbeitete, hatte er verwundert deutsche Soldaten beobachtet, die in das kleine Champagnestädtchen Le Mesnil-sur-Oger eingerückt waren und kistenweise Flaschen aus den Kellern der Firma Salon schleppten. Und nun stand er vor genau den Flaschen, deren Diebstahl er damals beobachtet hatte.

Der junge Soldat war völlig aufgeregt und konnte das Ganze kaum glauben.

Er konnte es nicht fassen, daß all diese kostbaren Schätze, in einer Höhle knapp unterhalb eines Berggipfels versteckt, einem Mann gehörten, der sich kaum weniger daraus hätte machen können – jemandem, der eigentlich überhaupt keinen Wein mochte.

Dieser Mann war Adolf Hitler.

***

Die Öffnung dieses Weinkellers hätte Bernard de Nonancourt sich vorher nicht träumen lassen. Tatsächlich hatte er noch nicht einmal etwas von der Existenz dieses Gewölbes geahnt. Am 4. Mai 1945 hatte Sergeant de Nonancourt, ein Panzerkommandant in General Leclercs Zweiter Französischer Panzerdivision, höchstens Gedanken dafür übrig, wie schön es war, am Leben geblieben zu sein. Nur wenige Tage zuvor hatte er die gute Nachricht erfahren: Die letzten deutschen Einheiten in Frankreich hatten sich ergeben. Sein Land war – endlich! – befreit. Jetzt drangen die Alliierten in Deutschland weiter vor, ihre Flugzeuge warfen Tausende Tonnen Bomben über deutschen Industrieanlagen, Flugplätzen und Werften ab. Zwar gab es weiterhin einzelne Widerstandsnester, doch die deutschen Truppen waren vollständig auf dem Rückzug, und die Soldaten ergaben sich in großer Zahl. Jeder wußte, daß der Krieg bald zu Ende war.

An jenem freundlichen Frühlingstag – das helle Sonnenlicht brach wärmend durch das frische Blattgrün – befand sich de Nonancourts Einheit unmittelbar vor ihrem Ziel: Berchtesgaden in den bayerischen Alpen, über der Stadt das »Walhalla der Nazigötter, -herren und -meister«,1 wie der Historiker Stephen Ambrose den dortigen Gebäudekomplex hoch oben in den Bergen bezeichnete. Hitler hatte hier ein Anwesen, den Berghof, sowie auf dem Gipfel des Kehlsteins in über 1800 Meter Höhe ein steinernes Panoramagebäude, den sogenannten Adlerhorst, errichten lassen. Auch andere Nazigrößen wie Göring, Goebbels, Himmler und Bormann hatten dort Häuser.

In Berchtesgaden hatten sich die Regierungschefs Europas Ende der 30er Jahre getroffen, um sich von Hitler erniedrigen zu lassen,2 Männer wie der österreichische Bundeskanzler und Außenminister Kurt Schuschnigg oder der britische Premierminister Neville Chamberlain. In Berchtesgaden horteten die Nazis auch einen großen Teil ihrer Kriegsbeute: Gold, Juwelen, Gemälde und andere in den besetzten Ländern geraubte Kunstschätze.

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Den Mittelpunkt dieses »Walhalla« bildete natürlich der Berghof, Hitlers Wohnsitz, der nach außen wie ein Alpenhaus aussah, das auf einen Bergrücken gebaut war. Tatsächlich war es alles andere als das. Ein Besucher berichtete: »Hinter den idyllischen weißen Mauern und Blumen in den Fensterkästen versteckte sich eine palastartige Festung mit erstaunlichen Proportionen und Symbolen von Macht und Reichtum, die an ein mittelalterliches Schloß erinnerten.« Das Wohnzimmer des Berghofs war 18 Meter lang und 15 Meter breit, »so groß, daß sich die Besucher darin ganz verloren vorkamen«. Schwere Holzmöbel im alpenländischen Stil standen vor einem jadegrünen Kamin. Die Wände waren vollgehängt mit Gobelins und italienischen Gemälden. Es waren so viele Gemälde so vieler unterschiedlicher Stile, »daß der Raum eher dem Panoptikum eines verschrobenen Gemäldesammlers glich«.3

Nur wenige erhielten Zutritt zum »Adlerhorst«, einer mehrere hundert Meter höher gelegenen regelrechten Festung. Hitler selbst soll nur ganze drei Mal dort oben gewesen sein und sich beklagt haben, es sei zu hoch gelegen, die Luft dort zu dünn, und das Atmen falle ihm schwer. Dennoch war der »Adlerhorst« ein ingenieurtechnisches Meisterwerk. Erbaut über einen Zeitraum von drei Jahren und ausgelegt, um Bomben und Artillerieangriffen zu widerstehen, konnte die Anlage nur durch einen Aufzug erreicht werden, dessen Schacht in den harten Fels gesprengt worden war.

Nun, fünf Jahre später, stand de Nonancourt während einer Rast am Fuß des Berges und blickte zum Gipfel hinauf. Er versuchte, an die unermeßlichen Schrecken zu denken, die dort oben in einer so malerischen Umgebung ausgedacht worden waren. Da riß ihn ein Vorgesetzter aus seinen düsteren Phantasien.

»Sie da, de Nonancourt, Sie sind doch aus der Champagne, oder?«

Bevor Bernard antworten konnte, fuhr der Offizier mit fester Stimme fort: »Dann müssen Sie sich ja gut mit Weinen auskennen. Kommen Sie mal mit.«

Bernard sprang von seinem Panzer und folgte dem Offizier zu dessen Geländewagen, wo bereits eine kleine Gruppe anderer Soldaten versammelt war. »Dort oben«, sagte der Offizier und zeigte auf den »Adlerhorst« an der Spitze des Obersalzbergs, »ist ein Gewölbe mit einem richtigen Weinkeller. Dort hat Hitler den ganzen Wein versteckt, den er in Frankreich gestohlen hat. Den holen wir uns jetzt zurück, und jetzt sind Sie gefragt, de Nonancourt!«

Bernard war verblüfft. Er wußte, daß die Deutschen Millionen Flaschen Wein aus Frankreich geraubt hatten; er war sogar Augenzeuge einiger dieser Raubzüge gewesen, in dem Ort, wo er damals arbeitete. Aber ein Weinkeller auf einem Berggipfel – das war kaum zu glauben. Und die Aussicht, derjenige zu sein, der diese Schatzkammer als erster betreten sollte, kam ihm doch ziemlich verrückt vor.

Bernard wußte, daß seine Aufgabe nicht leicht war. Der 2400 Meter hohe Gipfel war steil, und einige Passagen des Aufstiegs waren wahrscheinlich vermint. Er fragte sich, ob nicht auch der Keller selbst mit Sprengfallen gesichert war.

Beim Gedanken an den Aufstieg und den möglichen Fund kam dann aber doch ein Hochgefühl in ihm auf. Seit dem Überfall der deutschen Truppen auf Frankreich 1940 hatte er wie viele andere junge Franzosen gehofft, der Krieg würde lange genug dauern, daß er selbst noch an der Befreiung würde teilnehmen und so in die Geschichte eingehen können. Jetzt wurde ihm klar, daß seine Chance gekommen war, denn Hitlers Flaschensammlung war viel mehr als nur ein Weinkeller; sie war ein Symbol für die Grausamkeit Nazi-Deutschlands und seine Gier nach den Schätzen und Reichtümern der Welt.

Wie aber kam ein junger Mann aus der Champagne nach Berchtesgaden und wurde einer der wenigen Augenzeugen der Schätze, die Hitler für sich selbst zusammengerafft hatte? Dies ist eine der faszinierendsten Geschichten des Zweiten Weltkriegs.

Wir selbst hatten durch einen bloßen Zufall davon erfahren.

***

Alles begann mit einem Ratespiel bei einer Weinprobe.

Wir waren im Loiretal unterwegs, um Gaston Huet von der Kellerei Vouvray zu einem Plan der französischen Regierung zu interviewen. Diese wollte in der Gegend einen neuen Tunnel für den Hochgeschwindigkeitszug TGV bauen. Die örtlichen Winzer, darunter Huet, damals Bürgermeister von Vouvray, waren auf den Barrikaden. Sie fürchteten, die Bahnlinie würde ihre Weinberge zerstören und ihre Weine ruinieren, die in den umliegenden Kalksteinhöhlen lagerten.

»In den Gewölben liegen Hunderttausende Flaschen«, sagte Huet, der sich an die Spitze der Protestbewegung gesetzt hatte. »Die Erschütterungen durch die Züge könnten katastrophale Folgen haben.«

Plötzlich entschuldigte sich Huet und verließ den Raum. Er kam mit einer Flasche und drei Gläsern zurück. »Das hier ist einer der Gründe, warum ich gegen diesen Zug bin«, meinte er und zeigte uns die Flasche, die kein Etikett trug. Sie war voller Spinnweben und staubbedeckt. Ohne noch ein einziges weiteres Wort zu verlieren, entkorkte Huet die Flasche und begann, die Gläser zu füllen. Der Wein hatte eine leuchtend goldene Farbe. Wir schauten einander erwartungsvoll an und blickten dann auf Huet. Ein verschmitztes Lächeln zog über sein Gesicht.

»Bitte, probieren Sie!«, forderte er uns auf.

Schon der erste Schluck machte uns ohne jeden Zweifel klar, daß wir es hier mit einem ganz außerordentlichen Tropfen zu tun hatten. Der Wein war umwerfend. Er war von üppiger Süße, und dennoch so frisch und lebendig, daß man hätte meinen können, er sei gerade erst frisch gekeltert worden – und das sagten wir Huet auch.

»Um was für einen Jahrgang handelt es sich wohl?«, fragte Huet.

Wir tippten auf 1976, ein großer Jahrgang für Loireweine, doch der Winzer schüttelte den Kopf und ließ uns noch einmal raten. 1969? Die gleiche Reaktion. Dann etwa 1959? Auch falsch.

Huets gute Laune steigerte sich mit jeder unserer falschen Antworten. Wir entschieden uns, noch einen Versuch zu wagen. »Wie wär’s mit 1953?« Es sollte eher nach einem kennerischen Kommentar klingen als nach einer Frage, doch Huet ließ sich zu keiner Antwort bewegen. Sein Grinsen wurde noch ein wenig breiter, während wir immer noch damit beschäftigt waren, was wir da wohl einen Moment zuvor gekostet hatten.

»1947!«, sagte er schließlich. »Das ist möglicherweise der beste Wein, den ich je gemacht habe.« Das klang liebevoll und stolz zugleich, so wie jemand von seinem Lieblingsenkel spricht.

Als wir den Wein im Glas schwenkten, entfaltete er ein himmlisches Aroma von Honig und Aprikosen. Wir fragten Huet, der damals schon über 80 Jahre alt war, ob er jemals etwas Besseres getrunken hätte. Obwohl unsere Frage eher rhetorisch gemeint war, machte der alte Winzer eine lange Pause und wurde dann ganz ernst.

»Nur ein einziges Mal«, meinte er nachdenklich. »Das war während meiner Kriegsgefangenschaft im Zweiten Weltkrieg in Deutschland.« Und dann erzählte er uns eine der faszinierendsten Geschichten, die wir je gehört hatten – eine Geschichte über Mut, Einsamkeit, Verzweiflung und, zu guter Letzt, wie eine winzige Menge Wein Huet und seinen Mitgefangenen half, fünf Jahre Kriegsgefangenschaft zu überleben. »Ich kann mich noch nicht einmal genau daran erinnern, was das damals war«, meinte Huet. »Es war nicht mehr als ein Fingerhut voll, doch es war mein einziger Wein in den ganzen fünf Jahren, und es war wie eine Offenbarung.«

Eine Offenbarung für ihn, ein Rätsel für uns. Wir hatten nie zuvor über einen Zusammenhang zwischen Krieg und Wein nachgedacht. Dann jedoch erfuhren wir, daß diese beiden Begriffe bereits eine lange Geschichte eint. Schon im 6. Jahrhundert vor Christus befahl Kyros der Große, König von Persien, seinen Truppen Wein als Mittel gegen Infektionen und andere Krankheiten. Auch Julius Cäsar und Napoleon Bonaparte waren von den wohltätigen Wirkungen des Alkohols überzeugt.4

Napoleon ließ sogar ganze Wagenladungen von Champagner bei seinen Feldzügen mitführen, zumindest bei den meisten. Manche meinten sogar, daß er die Schlacht von Waterloo deswegen verlor, weil er nicht genug Zeit gehabt habe, Champagner mitzunehmen, und deswegen auf das belgische Bier als Stärkungsmittel angewiesen war.

Vielleicht auch eingedenk dieser historischen Erfahrung wurden den französischen Soldaten dann im Ersten Weltkrieg Champagnerkisten mitgegeben, um ihre Moral in den Schützengräben aufrechtzuerhalten. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs schickte die französische Regierung Vorrichtungen und Rezepte zur Zubereitung von Glühwein an die Front. Ein Regierungsverantwortlicher äußerte damals: »Eine Ration Glühwein ist nicht teuer, aber sehr hilfreich zur Vermeidung von Seuchen und um das Leben der Soldaten etwas zu erleichtern.«5

Seinen Höhepunkt als kriegsentscheidender Faktor erlebte der Wein vielleicht aber schon 300 Jahre früher, während des Dreißigjährigen Krieges, wo durch ihn die Zerstörung von Rothenburg ob der Tauber abgewendet werden konnte. Nach Angaben des Weinexperten Herbert M. Baus »war Rothenburg den 30 000 Mann zählenden Truppen des kaiserlichen Feldherrn Tilly ausgeliefert, als dieser in einem Anflug von Großmut versprach, die Stadt zu verschonen, wenn einer ihrer Ratsherren einen Weinkrug von dreieinhalb Litern in einem Zug leeren konnte. Bürgermeister Nusch zeigte sich der Herausforderung gewachsen, und der Ort seiner Heldentat wird bis heute Freudengäßchen genannt.«6

Für uns hat die Freude am Wein immer auch besonders darin bestanden, den Genuß mit Freunden teilen zu können. Einer der größten Weine, die wir je serviert bekamen, war ein Grand Vin de Château Latour von 1905. Er war hervorragend, einfach unbeschreiblich, doch der Genuß wurde noch dadurch gesteigert, daß wir ihn mit einem guten Freund teilen durften, der ebenfalls diesem großen Jahrgang angehörte.

Und da war noch diese Flasche Rosé, die – in aller Offenheit – wirklich nichts Besonderes war, doch daß wir sie zusammen mit guten Freunden an jenem warmen Sommertag tranken, ließ diesen Tag zu einem ganz besonderen werden und uns diesen Wein ebensowenig vergessen – wenn auch auf seine eigene Art – wie den Latour von 1905.

André Simon, der bekannte französische Weinkenner, beschrieb Wein als »guten Ratgeber, einen wahren Freund, der uns niemals langweilt oder ärgert: Mit ihm schlafen wir weder ein, noch bleiben wir allzu wach … er ist immer bereit, uns aufzuheitern, zu helfen, ohne jedoch zuviel dafür von uns zu verlangen.«7

Und doch trieben uns die phantastischen Weine, die wir bisher kennengelernt haben, gelegentlich auch dazu, Fragen zu stellen. Die Geschichte von Gaston Huet hatte uns neugierig gemacht. Im Laufe der folgenden Jahre trafen wir uns mit weiteren Weinbauern und ließen uns deren Kriegserlebnisse erzählen; einige davon waren lustig, und andere rührten ans Herz. Und je mehr wir zuhörten, desto mehr wurde uns klar, daß wir diese Geschichten, wie so manche Flasche Wein, mit anderen teilen mochten. Wir fanden, daß diese Geschichten es wert waren, bewahrt und veröffentlicht zu werden – und zwar in diesem Buch.

Das Sammeln der Geschichten war nicht immer einfach. Einige Zeitzeugen hatten Angst und weigerten sich, über eine Zeit zu berichten, die überschattet wurde durch diejenigen, die mit dem Feind kollaboriert und versucht hatten, aus dem Krieg Profit zu schlagen. »Das ist eine viel zu heikle Angelegenheit«, sagte uns einer, der ein Interview ablehnte. »Es ist besser, die Toten ruhen und die Lebenden in Frieden leben zu lassen.«

Zahlreiche Dokumente im Zusammenhang mit der Kollaboration von Franzosen mit den deutschen Eroberern standen bis vor kurzem unter Verschluß. Andere waren noch gegen Ende des Krieges auf Befehl des deutschen Oberkommandos vernichtet worden.

Dann hatten wir mit Gedächtnisschwierigkeiten unserer Interviewpartner zu kämpfen, und zahlreiche Zeitzeugen lebten natürlich inzwischen nicht mehr. Mehr als einmal erhielten wir unmittelbar vor einem vereinbarten Interviewtermin die Nachricht, unser Gesprächspartner sei leider vor kurzem verstorben.

Obwohl unser Projekt also tatsächlich ein gewisser Wettlauf mit der Zeit war, mußten wir gelegentlich ganz langsam und behutsam vorgehen. Die Menschen der Kriegsgeneration wollten nicht immer offen über ihre Erinnerungen sprechen. Ihre erste Reaktion war oft: »Oh, das ist doch schon so lange her. Ich weiß das alles nicht mehr so genau …« Sie schwiegen, und es wurde still im Raum. Doch dann fiel ihnen gelegentlich doch noch etwas ein: »Aber wissen Sie, an eine Sache erinnere ich mich noch …« – und oft bekamen wir dann noch eine wundervolle Geschichte zu hören.

Aber auch jüngere Personen, die wir ansprachen, zögerten gelegentlich.

»Entschuldigen Sie, aber ich war damals doch noch ein Kind«, hörten wir nur allzu oft. »Ich kann mich an nichts mehr erinnern.« Aber nicht selten gab es durchaus noch Erinnerungen, und gerade diese Geschichten halfen uns manchmal erst recht weiter und lieferten uns besonders erhellende Einsichten in diese verwickelte Zeit.

Zum Beispiel Jean-Michel Cazes, Eigentümer von Château Lynch-Bages und Château Pichon Longueville Baron im Bordelais. Durch ihn erfuhren wir, daß der Krieg nicht nur auf den Schlachtfeldern, sondern gelegentlich sogar schon auf den Kinderspielplätzen tobte. Im Herbst 1940, so der damals achtjährige Cazes, wollten nach den Sommerferien alle »Deutsche« spielen. »Die Deutschen kamen uns damals alle so stark und klug vor«, erinnerte er sich. Zwei Jahre später, als die Besatzung auch im Alltagsleben der Franzosen deutliche Spuren hinterlassen hatte, änderte sich das. »Spätestens damals wollten alle in den Untergrund, sich der Résistance anschließen und gegen die Deutschen kämpfen. Das war so viel romantischer.« Und schließlich, als der Druck der Besatzungsarmee immer stärker wurde, wich die Romantik dem Realismus. »Wir beobachteten die Deutschen immer beim Marschieren, und da kamen sie uns nicht mehr nur einfach stark, sondern richtig furchteinflößend vor.« Und je mehr sich das Kriegsglück gegen die Deutschen wendete, veränderten sich auch die Spiele der Kinder auf der Straße: »Irgendwann wollten wir dann alle nur noch Amerikaner sein«, erinnerte sich Cazes. Am Ende des Krieges hatten sich alle völlig umorientiert: Überall spielte man nun »Cowboy und Indianer«.

Viele unserer Gesprächspartner stammten aus Familien mit langer Weinbautradition. Sie verstanden nicht nur viel vom Wein, sondern hatten auch einen oder sogar zwei Kriege miterlebt. Sie wußten also, was Überleben heißt. Für die Rothschilds von Château Lafite-Rothschild im Bordelais bedeutete dies, das Land zu verlassen, bevor die Deutschen ihren Besitz beschlagnahmten. Für Henri Jayer aus Vosne-Romanée im Burgund hieß es, Wein gegen Lebensmittel zu tauschen, um seine Familie zu ernähren. Für Prinz Philippe Poniatowski aus Vouvray bedeutete es, seine besten Weine auf seinem Hof zu vergraben, um nach dem Krieg damit wieder sein Geschäft aufnehmen zu können.

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Zum Überleben waren jedoch nicht immer Verzweiflungstaten notwendig; manchmal hatten Menschen auch einfach Glück. So wurde René Couly aus Chinon durch eine Reifenpanne gerettet. »Mein Vater war gerade als Lastwagenfahrer eingezogen worden, denn das konnte er«, erzählte uns sein Sohn. »Er folgte mit dem LKW seiner Kompanie, als ihn plötzlich eine Reifenpanne zum Stehen brachte. Er mußte den Reifen reparieren, während der Rest seiner Einheit in einen Hinterhalt geriet. Alle wurden gefangengenommen – außer ihm. Anschließend wendete mein Vater kurzerhand und fuhr zurück zu seinem Hof.«

Obwohl wir die meisten Informationen unseren Gesprächspartnern verdanken, kam es gelegentlich doch auch vor, daß der Wein selbst uns etwas »erzählte«. So sprach der 1940er La Tâche, den wir mit Robert Drouhin verkosteten, einem der renommiertesten Winzer und Weinhändler Burgunds, Bände über die Schwierigkeiten, die in jenem Kriegsjahr überwunden werden mußten, um einen guten Wein herzustellen. So waren 1940 die meisten Burgunderreben von Mehltau befallen, weil die Deutschen alle Metalle für ihre Kriegsmaschinerie konfisziert hatten, darunter auch Kupfer. Damit gab es für die Winzer aber auch kein Kupfersulfat, das als Mittel gegen Pilzerkrankungen der Reben eingesetzt wurde. Doch die Reben von La Tâche auf dem Weingut der Romanée-Conti hatten die Seuche damals überlebt, und der Wein war ein passender Höhepunkt unseres wundervollen Essens mit Drouhin. Zu dem Wein notierten wir später: »Schöne Farbe, würziges Bouquet, ein wenig verblaßt, aber immer noch elegant und charmant.«

Eine Flasche, die wir bei einer weiteren Gelegenheit zusammen mit Drouhin leerten, erzählte eine ganz andere Geschichte. Es war ein Weißwein, ein 1940er Clos des Mouches, ein sehr seltener Tropfen und einer der ersten weißen Clos de Mouches, den Roberts Vater je hergestellt hatte. Leider war der Wein ungenießbar geworden. Er war bräunlich und völlig maderisiert. »Der ist nicht mehr gut«, meinte Madame Françoise Drouhin, runzelte leicht die Stirn und stellte ihr Glas ab. »Interessant«, meinte dagegen ihr Gatte. Und er hatte recht. Wir konnten die Probleme praktisch schmecken, die die Drouhins bei der Herstellung dieses Weins gehabt haben mußten. Wir rochen eine Spur Pilz und hatten einen Hauch des Todes in der Nase.

Und noch etwas fiel uns auf: Die Flasche, in die der Wein abgefüllt war, war blaßblau anstatt des sonst üblichen Grünbraun, einer Farbe, die die Burgunder als feuilles mortes, also als »tote Blätter« oder »Herbstlaub« bezeichnen. »Dieser Wein könnte 1942 abgefüllt worden sein«, überlegte Monsieur Drouhin, »als jeder die alten Flaschen wiederverwenden mußte oder alles nehmen mußte, was es gerade gab. Daher auch die ungewöhnlichen Glasfarben.«

Doch wohin auch immer wir kamen, mit wem wir auch sprachen, eines wurde immer wieder betont, das Eine war unüberhörbar: wie wichtig Wein für Frankreich ist. Wein ist nicht nur einfach ein Getränk oder eine Handelsware, die man aus einer Flasche serviert. Wein ist viel mehr. Wie die französische Flagge, die Trikolore, bewegt der Wein Herz und Seele des Landes. »Der Wein läßt uns stolz auf unsere Vergangenheit sein«, meinte ein Regierungsvertreter, »er macht uns Mut und Hoffnung.« Wie sonst auch könnte man erklären, warum die vignerons, die Winzer der Champagne, sich 1915 noch an die Lese machten, obwohl bereits die ersten Granatsplitter die Weinberge durchpflügten. Oder warum König Karl VII. nach der Eroberung Burgunds 1447 als ersten Herrschaftsakt die gesamten Weinbestände von Volnay für sich selbst beschlagnahmen ließ. Oder warum ein Priester in einem kleinen Champagnedorf noch vor nicht allzu langer Zeit seinen Schäfchen predigte: »Unser Champagner ist nicht nur dazu da, um damit Geld zu verdienen. Er soll die Menschen auch froh machen.«

Vielleicht hat der französische Wein auch etwas Spirituelles. »Unser Wein reift langsam und edel; er trägt die Hoffnung auf ein langes Leben in sich«, erklärte mir ein Winzer. »Wir wissen, daß unser Land vor uns da war und auch noch da sein wird, wenn wir längst nicht mehr sind. Mit unserem Wein haben wir Kriege überstanden, die Revolution und die Reblaus. Jede Lese erfüllt aufs neue die Versprechen des Frühlings. Wir leben in einem ständigen Kreislauf. Das gibt uns einen Hauch von Ewigkeit.«

Vor einiger Zeit gab die französische Regierung eine Studie in Auftrag, um herauszufinden, was die Franzosen zu dem macht, was sie sind, oder genauer, wie es einer der Forscher ausdrückte, »die Grundlagen des französischen Geschichtsbewußtseins und der historischen Identität zu ergründen«. Am Ende der Untersuchung stand ein Bericht in sieben Bänden. Unter anderem waren die Franzosen befragt worden, was sie selbst an sich als »typisch französisch« empfanden. Auf den Plätzen eins bis drei der Antworten gab es wenig Überraschungen: Hier wurde genannt, in Frankreich geboren zu sein, die Freiheit verteidigen zu wollen sowie die französische Sprache. Doch gleich danach auf Platz vier kam – der Wein: insbesondere das Wissen um »guten« Wein und die Fähigkeit, einen solchen schätzen zu wissen. Für die Forscher freilich handelte es sich hierbei nicht um eine Überraschung. Sie kamen zu dem Schluß: »Wein ist ein Teil unserer Geschichte. Er ist das, was uns als Franzosen ausmacht.«8

Im Jahre 1932, ein Jahr vor der Machtergreifung Hitlers in Deutschland, hielt Hubert de Mirepoix, Präsident der französischen Winzervereinigung, auf der Jahrestagung der Organisation eine Rede darüber, »wie Wein zur französischen Rasse beigetragen hat, indem er ihr Fröhlichkeit und guten Geschmack gegeben hat, Qualitäten, die sie zutiefst unterscheidet von Leuten, die eine Menge Bier trinken«.9

Obwohl dieses Buch von Wein und Krieg handelt, ist es eigentlich kein Weinbuch, aber auch kein Buch über den Krieg. Es handelt von Menschen, die Witz, Fröhlichkeit und guten Geschmack versprühen und deren Liebe zur Rebe und Hingabe an einen Beruf ihnen beim Überleben half und bei ihrem Triumph über eines der dunkelsten und schwierigsten Kapitel der französischen Geschichte.

EINS

AUS LIEBE ZUM WEINSTOCK

Im späten August 1939 brach unter den französischen Weinbauern Aufregung um die Ernte aus. Zwei Monate vorher hatte alles noch so gut ausgesehen. Das Wetter war schön und versprach einen hervorragenden Jahrgang. Dann schlug das Wetter um. Sechs Wochen lang regnete es ununterbrochen, und die Temperaturen fielen in den Keller.

Ähnlich stand es um die Stimmung der Winzer, die sich in Bad Kreuznach an der Nahe zum internationalen Weinkongreß versammelt hatten.10 Zuerst schien es kein anderes Thema als das Wetter zu geben – bis der nächste Redner angekündigt wurde. Es war Walther Darré, Reichsminister für Ernährung und Landwirtschaft (der als »Reichsbauernführer« auch einer der führenden Blut-und-Boden-Ideologen des Regimes war). Teilnehmer der Tagung hatten sich zuvor bereits daran gestoßen, daß der Versammlungsraum von einem großen Porträt Adolf Hitlers dominiert wurde. Auch sie hatten mit wachsender Besorgnis die Annexion Österreichs, die Besetzung von Teilen der Tschechoslowakei und den Abschluß eines militärischen Beistandspaktes mit Italiens Diktator Benito Mussolini verfolgt. Viele spürten bereits, daß ein Kriegsausbruch nur einen Schritt weit entfernt war, und erwarteten eine Äußerung Darrés zu den jüngsten Ereignissen.

Doch als der Reichsminister das Podium bestieg, sprach er keineswegs über Krieg. Nicht einmal über Wein. Vielmehr rief er die Kongreßteilnehmer dazu auf, die Eigeninteressen der Winzer und Weinkellereien zu überwinden und sich statt dessen für die gegenseitige Verständigung friedliebender Völker einzusetzen. Das Auditorium zeigte sich nachhaltig verwundert.

Die Zuhörerschaft wußte nicht, daß fast zum gleichen Zeitpunkt Hitler selbst eine ganz andere Rede hielt – vor dem »Oberkommando der Wehrmacht« –, und zwar in Berchtesgaden, dem bevorzugten Urlaubsort der Nazigrößen. Der Führer unterrichtete seine Generäle über die unmittelbar bevorstehenden Ereignisse und erinnerte sie eindringlich: »Unsere Gegner sind kleine Würmer … Worauf es ankommt, wenn man einen Krieg beginnt und führt, ist nicht die Rechtschaffenheit, sondern der Sieg. Zeigen Sie kein Mitleid. Gehen Sie mit brutaler Entschlossenheit vor.«11

Kaum eine Woche später überfielen seine Truppen Polen. Es war der 1. September 1939. Die französischen Teilnehmer der Winzertagung wurden sofort nach Hause gerufen. Zwei Tage später erklärte Frankreich, gemeinsam mit Großbritannien, Australien und Neuseeland, Deutschland den Krieg.

***

Zum zweiten Mal innerhalb von kaum mehr als einer Generation standen die französischen Weinbauern vor der leidvollen Aufgabe, die Ernte einzubringen, bevor ihre Weinberge in Schlachtfelder verwandelt wurden. Wie 1914 organisierte die Regierung eine außerordentliche Hilfsaktion. Winzer wurden von der Einberufung zurückgestellt, Soldaten zur Weinlese eingesetzt, und Pferde kleiner Winzereibetriebe entgingen bis zum Ende der Weinlese der Requirierung.

Die Menschen erinnerten sich noch allzugut an die Schrecken des letzten Krieges, an diesen »Krieg, um alle Kriege zu beenden« (so ein damals in den USA gängiges geflügeltes Wort) – an die Grausamkeiten, Entbehrungen, und vor allem an die schrecklichen Verluste an Menschenleben. Bei einer Bevölkerung von 40 Millionen wurden im Ersten Weltkrieg fast anderthalb Millionen junger Franzosen, die an der Schwelle des Erwerbslebens standen, getötet. Eine weitere Million Männer hatten Gliedmaßen verloren oder waren anderweitig so schwer verwundet, daß sie nicht mehr arbeiten konnten.

Fast jede französische Familie war von diesem Aderlaß betroffen – auch die Drouhins aus dem Burgund, die Miailhes aus dem Bordelais, die Nonancourts aus der Champagne, die Hugels aus dem Elsaß und die Huets aus dem Loiretal.

Gaston Huets Vater kehrte mit von Senfgas verätzten Lungen als Kriegsinvalide zurück. Auch Bernard de Nonancourts Vater litt sehr unter den Schrecken des Stellungskriegs im Schützengraben und starb kurz nach dem Krieg.

Die Mutter von Jean Miailhe hatte bei einem Angriff der deutschen Truppen auf ihr Dorf in Nordfrankreich ihre gesamte Familie verloren.

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Die Familie Hugel, die nicht länger ihre französische Staatsangehörigkeit besaß, als das Elsaß nach dem Krieg von 1870/71 von den Deutschen annektiert worden war, hatte ihren Sohn nach Frankreich geschickt, damit er der Zwangsrekrutierung zur deutschen Armee entging.

Maurice Drouhin, der den Ersten Weltkrieg in den Schützengräben überlebt hatte, entging zwar körperlichen Verwundungen, doch die Alpträume jener Erlebnisse quälten ihn noch Jahre später.

Wie fast alle Menschen in Frankreich zitterten auch diese Winzerfamilien vor dem Gespenst eines drohenden neuen Krieges.

Frankreich hatte den Ersten Weltkrieg gewonnen, doch der Preis dafür war ein schrecklicher gewesen. Würde es sich einen weiteren solchen Sieg leisten können? Viele Franzosen bezweifelten das, darunter auch Maurice Drouhin, der die Schrecken des Krieges aus der Nähe kennengelernt hatte.

***

Erinnerungen an seine Familie und seinen Weinberg waren Maurice Drouhins einziger Trost, als er mit seinen Männern in den blutgetränkten, schlammigen Schützengräben in Nordfrankreich kauerte und über einen Streifen Niemandsland hinweg den Feind beobachtete. Obwohl der Winter 1915 noch einen Teil des Landes im Griff hatte, wußte Maurice, daß zu Hause in Burgund die Reben allmählich zu treiben und die Arbeiter mit dem Beschneiden der Pflanzen beginnen würden. Wenn er die Augen schloß, konnte er es sich lebhaft vorstellen, die Männer mit ihren Werkzeugen, die sich langsam die langen Reihen der Rebstöcke entlangarbeiteten. Und er konnte fast die Kirchturmglocken hören, die sie jeden Tag zur Arbeit riefen.

Diese Glocken waren das erste, was Maurice jeden Morgen beim Aufwachen zu Hause in Beaune zu hören bekam. Für ihn gehörten diese Klänge zum Leben mit den Weinbergen. Er hörte sie über die Dörfer und die Weizenfelder, sie riefen die Kinder zur Schule und die Mütter zum Markt, die sich dort auf die Suche nach den frischesten Produkten des Tages machten. Die Glocken verkündeten die Zeit zum Mittag- und Abendessen, sie riefen die Menschen zum Beten und Feiern. Doch als der Erste Weltkrieg ausgebrochen war, da riefen sie die Menschen auch zum Trauern.

Jetzt, auf den Schlachtfeldern in Nordfrankreich, war Maurice vom Lärm der Artillerie und des Maschinengewehrfeuers umgeben, und von den Schreien der Verwundeten. Einmal sah er, wie sich inmitten eines Gefechts ein getroffener deutscher Soldat auf dem Boden krümmte und nicht mehr aufstehen konnte. Die Deutschen wagten sich nicht in den Kugelhagel, um ihren Kameraden zu bergen. Doch da befahl Maurice seinen Männern, das Feuer einzustellen, und hißte eine weiße Flagge. Anschließend rief er in tadellosem Deutsch den Soldaten gegenüber zu: »Holt euren Kameraden rüber. So lange schießen wir nicht.« Hastig kümmerten sich die Deutschen um den Verwundeten. Bevor sie jedoch hinter die Linien zurückkehrten, hielten sie direkt vor Maurice an und salutierten.

Später beschrieb Maurice den Vorfall in einem Brief an seine Frau Pauline. Diese war so gerührt, daß sie die Geschichte an eine Lokalzeitung weitergab, die sie veröffentlichte. Unter der Schlagzeile »Glorreiche Stunden« stand zu lesen: »Die Stunde des Ruhms schlägt nicht nur dem Helden auf dem Schlachtfeld, sondern auch so mancher Tat im Alltag, denn auch nach dem Krieg erweist sich des Soldaten wahres Herz und sein Charakter.«

Maurice wurde für seinen Kriegseinsatz hoch dekoriert, unter anderem mit der »Medaille für besondere Leistungen« der Regierung der Vereinigten Staaten, für die er von General Douglas MacArthur persönlich vorgeschlagen worden war. Doch bei allem Stolz über diese Medaille und sein Leben als Soldat waren Maurice seine Weinberge noch wichtiger – sie waren der Ort, wohin er zurückkehren konnte, als der »Krieg, um alle Kriege zu beenden«, endlich zu Ende war.

***

Das Leben zu dieser Zeit wurde noch von Legenden und Mythen bestimmt und hatte sich in vielerlei Hinsicht seit dem Mittelalter kaum verändert. »Es war damals unkomplizierter in den Weinbergen«, erinnerte sich Maurice’ Sohn Robert Jahre später. »Unsere Lebensweise war wie unsere Art, Wein herzustellen, noch sehr naturverbunden und ursprünglich, très à l’ancienne

Sie kelterten ihren Wein noch genauso, wie es ihre Väter und Großväter getan hatten. Es gab keine fremden Experten, und so verließ sich jeder auf die erlernten Traditionen, mit denen er aufgewachsen war.

Gepflügt wurde mit dem Pferd. Beim Pflanzen, Ernten und Beschneiden der Reben beachtete man die Phasen des Mondes. Ältere Leute erinnerten die Jüngeren oft daran, daß das Geheimnis des Beschneidens einst entdeckt wurde, als sich der Esel des heiligen Martin einmal in einem Weinberg verlief.

Das sei, so erzählten sie, im Jahre 345 geschehen, als St. Martin, in Felle gehüllt und auf einem Esel reitend, auf eine Inspektionsreise zu einigen der Weinberge aufbrach, die seinem Kloster in der Nähe von Tours im Loiretal gehörten. Er liebte den Wein und hatte im Laufe der Jahre viel zur Weiterbildung der Mönche in den neuesten Weinbaumethoden beigetragen. Bei dieser Gelegenheit band er einmal seinen Esel an einer Zeile von Reben fest, um etwas zu erledigen. Als er zurückkehrte, stellte er zu seinem Schrecken fest, daß der Esel die Weinstöcke angefressen hatte; einige waren sogar fast vollständig abgekaut. Im darauffolgenden Jahr dagegen waren die Mönche erstaunt, daß gerade diese Reben besonders gut wuchsen und die besten Früchte hervorbrachten. Die Mönche ließen sich dieses Ereignis eine Lehre sein, und das Beschneiden der Reben gehörte von da an zu ihren regelmäßigen Tätigkeiten.

Das Tagwerk im Weinberg begann früh, und Feierabend war erst, wenn alle Arbeit getan war. Eine feste Stundenzahl pro Schicht gab es nicht. Durch das Beschneiden, Überprüfen auf Krankheiten und Festbinden von Trieben, die sich gelockert hatten – und all dies Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat –, kannten die Arbeiter schließlich jeden einzelnen Rebstock. Sie überließen es den Weinstöcken, den Lebensrhythmus und das Tempo der Menschen festzulegen.

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Nach der Lese wurden die Trauben mit den bloßen Füßen zerstampft. Dann wurde die Traubenmaische in riesige Bottiche gefüllt, woran sich ein Vorgang anschloß, der pigeage genannt wurde. Hierzu stiegen die Arbeiter nackt in die schäumende Flüssigkeit. Sie hielten sich an Ketten fest, die über ihrem Kopf angebracht waren, tauchten ein und zogen sich wieder hoch – und das wieder und wieder, wodurch das Gemisch belüftet und die Gärung unterstützt wurde. Das war eine gefährliche Arbeit. Fast jedes Jahr ertranken einige Arbeiter oder erstickten an dem Kohlendioxid, das bei der Gärung des Mostes freiwurde. Bei den Opfern handelte es sich meist um Männer, denn in einigen Teilen Frankreichs waren die Frauen während der Weinlese vom Weingut verbannt – nicht wenige glaubten, durch ihre Anwesenheit würde der Wein sauer.

Und doch war die Zeit der Weinlese immer die fröhlichste im ganzen Jahr. Wenn die letzten Trauben geerntet und auf einem Pferdekarren verladen waren, wurde der Wagen mit wilden Blumen geschmückt und ein Blumenstrauß für die Gutsherrin gebunden. Diese hängte den Strauß dann über den Eingang zum Weinkeller, der cave, wo er dann bis zur nächsten Lese Glück bringen und natürlich für guten Wein sorgen sollte. Außerdem verstreute man Weinlaub auf der Erde, um die »guten Geister« zum Dableiben zu veranlassen.

Die Zeit, so erinnerte sich Robert Drouhin, hatte damals fast etwas Magisches; sie erschien ihm geradezu unendlich. Bei Rundgängen über die Felder hielten er und sein Vater oft an, um sich lange und ausführlich mit den Arbeitern zu unterhalten.

»Damals hatten die Leute noch viel mehr Charakter. Sie nahmen nie ein Blatt vor den Mund, um meinem Vater ihre Meinung zu sagen oder wie ihrer Ansicht nach einzelne Dinge zu regeln seien, und mein Vater hörte ihnen immer aufmerksam zu. Und für mich waren das die Augenblicke, in denen ich die Reben lieben lernte.«

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Unglücklicherweise waren die Reben in jener Zeit zwischen den Kriegen in einem miserablen Zustand. Eine schlechte Ernte folgte der anderen, und das nicht nur wegen des Wetters. Vielmehr hatten zum Beispiel die Schlachten des Ersten Weltkriegs, die auch in der Champagne tobten, zahlreiche Anbauflächen verwüstet. Die Hänge waren von Schützengräben durchzogen, und riesige Krater übersäten die Erde. Am schlimmsten waren die Überreste von chemischen Kampfstoffen, die manche Anbaufläche auf Jahre hinaus unbrauchbar machten.

Der »Große Krieg«12 war überdies zu einem Zeitpunkt ausgebrochen, als sich die französischen Winzer gerade einigermaßen von einer anderen Plage erholt hatten: Die Reblaus, lateinisch Phylloxera, ein Schadinsekt, das die Wurzeln der Weinreben zerstört, hatte Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts heimgesucht und zahlreiche Anbauflächen in etwas verwandelt, das ein Winzer einmal »Reihen von kahlen Holzstümpfen« nannte, die die Flächen »wie riesige Friedhöfe« aussehen ließen.13 Im Laufe von 30 Jahren befiel die Plage nach und nach jeden einzelnen Weinberg Frankreichs, und die französische Regierung schrieb eine Belohnung von 300 000 Francs für ein Mittel gegen die Krankheit aus. Daraufhin wurden alle möglichen Lösungsvorschläge gemacht, darunter auch einige besonders bizarre, wie etwa, neben jeden Weinstock eine lebende Kröte zu setzen oder die Reben mit Weißwein zu bewässern. Manche Winzer bewässerten ihre Felder statt dessen mit Meerwasser, andere besprühten ihre Pflanzen mit allen möglichen Chemikalien – oder verbrannten sie einfach. Doch nichts schien zu funktionieren.

Die Lösung – so stellte sich schließlich heraus – war etwas vollkommen Unfranzösisches. Pflanzenzüchter entdeckten, daß die Reben gerettet werden konnten, wenn man sie auf Wurzelstöcke von amerikanischen Reben aufpfropfte, die gegen die Reblaus resistent waren. Doch das war ein langer und kostspieliger Prozeß. Sämtliche Weinstöcke im ganzen Land mußten ausgegraben und neu gepflanzt werden. Dann dauerte es nochmals einige Jahre, bis die neuen Pflanzen Früchte trugen, und nochmals eine ganze Zeit, bis sie hohe Erträge liefern konnten.14

Gerade als sich die Situation einige Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu normalisieren begann, brach das nächste Unglück über die Winzer herein: die Weltwirtschaftskrise. Ihre Auswirkungen auf den Weinbau waren abermals verheerend. In der Champagne konnten die größten Kellereien den Winzern ihre Trauben nicht mehr abkaufen. Im Elsaß gingen Winzer in großer Zahl bankrott oder gaben den Weinbau auf. Die Weinbauern im Bordelais mußten zum ersten Mal in der Geschichte Preise hinnehmen, die unter dem Landesdurchschnitt lagen. Im Burgund ging die hergestellte Weinmenge um 40 Prozent zurück, weil fast die Hälfte der Rebflächen nicht bewirtschaftet wurde.15 Sogar die berühmte Domaine de la Romanée-Conti stand auf dem Spiel, doch die Eigentümerfamilie wollte nicht aufgeben. »Mein Vater sagte, das Gut sei wie eine Art wertvoller Schmuck, den eine Frau in ihrer Schatulle aufbewahrt«, erinnerte sich Aubert de Villaine. »Sie trägt ihn nicht jeden Tag, doch sie ist entschlossen, ihn immer zu behalten, um ihn noch ihren Kindern weiterzugeben.«

Hierzu traf de Villaines Vater den gleichen Entschluß wie zahlreiche andere Winzer vor ihm, die überleben wollten: Er nahm einen neuen, zusätzlichen Job an. Es war bereits sein dritter. Er leitete schon das Familiengut und die Firma Romanée-Conti; jetzt begann er noch, in einer Bank mitzuarbeiten. »Mein Vater hatte immer zu tun«, erzählte de Villaine, »aber er liebte eben Romanée-Conti über alles und nutzte jeden freien Augenblick, um hier zu arbeiten.«

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Obwohl die Domaine de la Romanée-Conti erst 1959 wieder Gewinn einbrachte, setzte sie doch schon zuvor die Maßstäbe für großen Burgunder – niemals hätten sie aus finanziellen Erwägungen Abstriche an der Qualität gemacht. Das war etwas, das Maurice Drouhin bewunderte und zutiefst respektierte.

Und weil ohnehin kaum Profit zu erzielen war, entschloß sich Maurice zu einem großen Risiko und konzentrierte sich mit seinem Gewerbe nur noch auf eine einzige Ware: hervorragende Burgunderweine. »Mein Vater hatte eine Vision, einen ganz neuen Maßstab für Qualität«, erzählte uns Robert. »Er wollte Weine erschaffen, die ein getreues Ebenbild ihres terroir waren.«

Maurice hatte eine maison du vin classique geerbt. Das hieß, man verkaufte dies und das und stellte nebenher auch noch ein wenig Wein her. Dies sollte sich zuallererst ändern. Der alte Drouhin erklärte: »Ab heute gibt es in meinem Haus keinen Tropfen mehr außer Burgunderwein.« Und diese Tropfen sollten auch noch zu den besten gehören. Er dachte an die großen Weine der in Schwierigkeiten geratenen Kellerei Domaine de la Romanée-Conti und war überzeugt: »Das ist die Zukunft.« Also begann Maurice Mitte der 1930er Jahre, 60 Prozent der Produktion der Domäne aufzukaufen und zu vertreiben. Zugleich drängte er seine Kellermeister, die Qualität seiner eigenen Weine, der Maison Joseph Drouhin, zu verbessern, indem er den Leitsatz von Monsieur de Villaine von Romanée-Conti übernahm, der der Ansicht war, der Winzer stelle nur einen Vermittler zwischen Boden und Wein dar, der sich so wenig wie möglich einmischen sollte.

Indem er der Qualität einen solchen Stellenwert einräumte, hatte sich Maurice in diesem Moment, noch ohne es zu ahnen, an die Spitze einer Entwicklung gestellt, die die französische Weinlandschaft völlig umkrempeln sollte. Bis dahin erfolgte die Weinherstellung weitgehend nach alten Traditionen und Erfahrungen; es gab mehr eher zufällige oder instinktive Erkenntnisse als solche, die auf wissenschaftlichen Grundlagen beruhten. Es gab nur wenige feste Regeln. So war zum Beispiel die Menge an Zucker nicht begrenzt, die von den Winzern gewöhnlich dem Traubensaft zugesetzt wurde, um den Alkoholgehalt des Weines zu erhöhen, wenn die Trauben nicht völlig ausreifen konnten. Nur allzu oft wurde dieser Notbehelf jedoch von Winzern mißbraucht, um ihre Trauben früher ernten zu können. Ihr Motto hieß »Quantität vor Qualität – Masse statt Klasse«. Das erschien ihnen als der beste Weg, möglichst viel Geld zu verdienen. So pflanzten sie Hochleistungssorten an, die jedoch minderwertige Trauben hervorbrachten und damit natürlich auch absehbar schlechteren Wein. Um diese Schwächen auszugleichen, süßten sie großzügig mit Zucker und Sirup nach und erhielten so üppige, süffige Weine, die eher zum Kauen als zum Trinken geeignet waren. Oftmals war »ein guter Burgunder« gar kein Burgunder, sondern mit Weinen aus dem Rhônetal und aus Algerien verschnitten.

Schließlich entschieden einige Winzer wie Maurice Drouhin, daß solche Zustände nicht länger tragbar waren. Ihre Lösung bestand aus nur drei Wörtern: Appellation d’Origine contrôlée – kurz »A.O.C.« (»kontrollierte Ursprungsbezeichnung«). Das bedeutete nichts anderes, als daß in der Flasche auch das sein sollte, was auf dem Etikett stand. Burgunder sollte nur aus Trauben bestehen, die tatsächlich im Burgund gewachsen waren; gleiches sollte für Bordeauxweine und Sorten aus anderen Regionen gelten. Verschnittene Weine sollte es nicht mehr geben.16

Doch die A.O.C. sollte noch mehr über einen Wein aussagen als nur die geographische Herkunft. Der Kriterienkatalog umfaßte genaue Vorschriften über den Anbau, den Schnitt und die Düngung der Reben und den Beginn der Lese. Auch die Weinherstellung selbst sollte bestimmten Regeln genügen.

Nichts von alledem gelang über Nacht. Wie Remington Norman, ein Master of Wine, der viel über Burgunderweine veröffentlicht hat, es ausdrückte, entstand das A.O.C.-System »nicht als Geistesblitz eines begnadeten Gesetzgebers, sondern entwickelte sich über fast vier Jahrzehnte, bevor es dann ab 1920 allmählich in feste Gesetzesform gegossen wurde.«

Das größte Kopfzerbrechen bereitete die effiziente Umsetzung der Qualitätsanforderungen. Mit gerade einmal einem Dutzend Inspektoren war es praktisch unmöglich, all die Tausende Winzer zu überwachen, die, jeder für sich, kreativ in ihren Weinkellern werkelten und immer wieder mal ein wenig von diesem mit einem wenig von jenem mischten. Der bekannte französische Weinjournalist André Simon schrieb einmal über das Verschneiden von Weinen: »In gewisser Weise ist es etwas Ähnliches wie Küssen – es mag sich um etwas vollkommen Unschuldiges handeln, doch es kann einen auch schnell vom schmalen Pfad der Pflicht und Tugend abbringen.«17 Das galt besonders für Bordeauxweine: In manchen Jahren stammten die Trauben der als »Bordeaux« deklarierten Weine nur zu einem Drittel aus dieser Region.

Um solchen Praktiken einen Riegel vorzuschieben, gründeten Drouhin und einige andere Winzer im Jahre 1935 das Comité national des Appellations d’Origine, das noch heute als Institut national des Appellations d’Origine contrôlées