Jutta Sauer

Italienischer Frühling

Jutta Sauer lebt als freie Schriftstellerin und Herausgeberin in Osnabrück. Sie studierte Literatur- und Kunstwissenschaften. 1991–2009 war sie Leiterin des Literaturbüros Westniedersachsen und Geschäftsführerin des Erich-Maria-Remarque-Friedenspreises. Sie veröffentlicht Lyrik, Prosa, Essays sowie Rundfunk-Features und wurde vielfach ausgezeichnet.

Jutta Sauer

Italienischer Frühling

Roman

Ed altri, col desio folle, che spera

Giour forse nel fuoco, perchè splende;

Provan l’altra virtù, quella che ‘encende.

Lasso, il mio loco è ‘n questa ultima schiera.

Vom Licht getroffen, ahnt der Falter zwar,

Dass er nicht taugt, das Feuer zu ertragen;

Doch treibt’s ihn in die Flamme. Mit Behagen

Bringt blind dem Zauber er sein Leben dar.

Francesco Petrarca

Sonett an Madonna Laura, X

Prolog

Es ist Pasqua, Ostersonntag. Die Piazza ist menschenleer, nur ein schwarzer Hund ruht im Schatten der Kirche. Von San Rocco schlägt es vier, obwohl die Turmuhr kurz vor zwölf stehen geblieben ist. Die meisten Bewohner der Gemeinde sind schon zum Cimitero hinauf gegangen, um dort wie immer am Tag der Auferstehung ihre verstorbenen Angehörigen und Freunde zu besuchen.

Anna ist müde, todmüde. Ihr Nachbar, den sie zwei Jahre lang gepflegt hatte, war zum Jahreswechsel unerwartet gestorben. Am Neujahrsmorgen hatte man ihn tot im Bett aufgefunden. Schlafen, sterben und nichts weiter, so einfach kann manchmal der Tod sein.

Seit seiner Beerdigung war Anna nicht mehr auf den Friedhof gegangen, dachte seitdem aber häufiger an ihr eigenes Ende. Wenn man nicht weiß, wie viel Zeit einem noch bleibt, werden die vielen schlaflosen Nächte durch das viele Grübeln auch nicht geselliger. Der Gang ins Centro wurde für Anna jeden Tag mühseliger und war immer von Schmerzen begleitet. Außerdem litt sie zunehmend an Asthmaanfällen.

Eigentlich hatte sie keine Furcht vor dem Tod, der ihr ewiges Herzweh endlich beenden würde, doch eine unbestimmte Angst vor dem Sterben. Dabei hatte sie schon mehrere Menschen, die ihr ans Herz gewachsen waren, bis in den Tod begleitet. Insofern war sie auf ihr eigenes Ende vorbereitet. Seitdem ihr Leben jedoch keine Ablenkung mehr durch die Liebe erfuhr, hatte sie sich mit der Endlichkeit ihres Daseins arrangiert. Es wurde trotzdem nicht leichter, mit der Gewissheit des Todes zu leben. Deshalb beneidete sie manchmal die Tiere, die ohne dieses Bewusstsein sein können. Während einer Taufe war ihr einmal in den Sinn gekommen, der schreiende Säugling hätte unter seinem Taufkleid auch ein Totenhemd an. Über diesen Gedanken war sie sehr erschrocken, konnte ihn aber nicht mehr vergessen.

Man könnte meinen, die Liebe sei vor allem im Tod von Dauer, denkt Anna, als sie sich vom Grab des verstorbenen Nachbarn aufrichtet.

Oben am Kreuz hängt ein Foto von einem jungen Mann, der spöttisch auf sie herab lächelt. Dabei hatte der dort Bestattete noch seinen achtzigsten Geburtstag feiern können, bevor er unerwartet verstarb, man hatte damals nur kein anderes Foto auffinden können. Anna war seine Eitelkeit bis zum Schluss auf die Nerven gegangen.

Alter Macho, murmelt sie verdrießlich, während sie umständlich die mitgebrachten Osterglocken in einer Vase auf dem Grab ordnet.

Die bereits tief stehende Sonne beleuchtet den von Weinbergen und Olivenhainen umgebenen Friedhof inzwischen wie eine Bühne. Vor fast allen der von Blumen bedeckten Gräber haben sich Angehörige und Besucher zum Gebet versammelt. Ein Mann, der einen kräftigen Schluck aus einer Flasche trinkt, kredenzt auch den Nachbarn etwas vom mitgebrachten Wein. Vor einer Grabmauer steht eine junge Frau auf einer Leiter, um mit einer Gießkanne die Vasen mit Wasser aufzufüllen. Zwei Mädchen hüpfen auf den Kieswegen herum und versuchen, einen der bunten Schmetterlinge zu fangen. Unter einer Grabplatte kriecht verschlafen eine Eidechse hervor, verschwindet jedoch gleich wieder unter dem Efeu.

Annas Blick fällt auf eine Frau, die sie hier noch nie zuvor gesehen hat. Sie trägt eine ausgeblichene Jeans, ein weißes T-Shirt und eine abgewetzte Lederjacke. Um ihren Hals flattert ein buntes Tuch wie eine Fahne im Wind.

Anna kann ihren Blick nicht von der Fremden lösen, die ziellos über den Friedhof zu laufen scheint. Ab und zu verweilt die Frau vor einem der von Unkraut überwucherten Gräber, setzt ihren unsteten Weg aber nach kurzer Zeit gleich wieder fort. Die Kieselsteine knirschen auf dem von schwarzen Zypressen umsäumten Mittelweg, als sie ganz dicht an Anna vorbei geht. Sie hat ihre Augen hinter einer dunklen Sonnenbrille verborgen, ihr rotblondes Haar leuchtet im Sonnenlicht. Nach ein paar Schritten dreht sie sich plötzlich um, als wäre ihr etwas eingefallen.

Als Anna, die sich auf ein kurzes Gespräch mit einer Nachbarin eingelassen hat, wieder aufblickt, ist die geheimnisvolle Fremde nicht mehr zu sehen.

Sie ist verschwunden, als hätte es sie niemals gegeben.

I

Laura ist erleichtert. Die lange Fahrt über die Autostrada ist überstanden, nun geht es zügig weiter in Richtung Napoli. Nach nur einer Stunde ist Valmontone erreicht, danach muss sie über kurvenreiche Straßen langsamer fahren, bis sie in Olevano Romano ankommt.

Sie hält gleich am Busbahnhof an und erkundigt sich bei den dort Wartenden nach dem Weg zu ihrem Quartier. Ihre Hilfsbereitschaft ist überwältigend. Laura hat zwar nicht alles genau verstanden, findet aber sofort die schmale Gasse, die steil bergauf führt. Vor einem Eisentor, von dem die Rede war, hält sie zögernd an und steigt aus dem Wagen aus. Das Tor ist fest verschlossen, von einem Haus ist gar nichts zu sehen. Zu ihrem Erstaunen öffnen sich auf einmal die beiden Eisenflügel. Laura steigt schnell wieder ein und fährt zügig durch das offene Tor die Rampe hinauf. Die schweren Eisenflügel fallen hinter ihr scheppernd ins Schloss.

Oben auf einem von Büschen umsäumten Parkplatz wartet eine schwarzhaarige Signora. Sie trägt eine bunte Kittelschürze und hat ihre Arme fest auf die Hüften gestützt.

Nachdem Laura ausgestiegen ist, wird sie lautstark von ihr willkommen geheißen.

Incidente stradale?, fragt die Signora mit grimmigem Blick auf den verbeulten Kotflügel und die mit einem Draht notdürftig befestigte Stoßstange.

Laura geht nicht darauf ein. Sie entschuldigt sich für die verspätete Ankunft und reicht der Signora erschöpft die Hand. Die abenteuerliche Anreise kommt ihr inzwischen selbst grotesk vor.

Vor nunmehr drei Tagen war sie am frühen Morgen in Deutschland losgefahren. Es hatte den ganzen Tag lang geregnet. Dennoch hatte sie noch vor Einbruch der Dunkelheit fast die Schweizer Grenze erreicht, die Nacht aber in einem Gasthof in Kandern verbracht. Am nächsten Morgen hatte sie nach dem Frühstück ihre Fahrt durch die Schweiz fortgesetzt. Es regnete noch stärker als am Vortag. Während der Fahrt durch den langen Gotthard-Tunnel stieg zwar etwas Panik in ihr auf, die aber schnell vergessen war, als ihr beim Herausfahren die Sonne ins Gesicht strahlte.

Chiasso lag schon hinter ihr, als der nächste Tunnel auftauchte. In der Dunkelheit konnte Laura noch im Rückspiegel erkennen, dass sich auf der linken Spur ein Fahrzeug näherte, das bald auf gleicher Höhe mit ihr fuhr. Plötzlich wurde ihr Wagen durch einen heftigen Stoß erschüttert. Laura hielt sich am Lenkrad fest und versuchte, langsam weiterzufahren. Dabei vernahm sie ein metallisches Geräusch, das zunehmend lauter wurde. Hitze stieg ihr ins Gesicht, während die Rückleuchten des vor ihr her fahrenden Autos blasser wurden. Sie hupte ununterbrochen und beschleunigte ihre Fahrt, um so schnell wie möglich aus dem Tunnel herauszukommen. Zum Glück hatte der Unfallverursacher nach der Ausfahrt aus dem Tunnel am Straßenrand angehalten. Lauras Hand zitterte, als sie den Motor abstellte. Sie stieg sofort aus, um sich den Schaden anzusehen. Nur der linke Kotflügel war etwas lädiert, aber die Stoßstange hing vor den Vorderreifen herunter.

Aus dem roten Fiat mit italienischem Nummernschild stieg umständlich ein Greis. Er kam langsam und mit gesenktem Kopf auf Laura zu, während ununterbrochen Lastwagen, die aus dem Tunnel kamen, an ihnen vorbeifuhren. Er sprach sie zunächst italienisch und dann in schlechtem Englisch an. Nachdem er sich den Schaden angesehen hatte, drückte er Laura einen Zettel in die Hand, auf dem anscheinend seine Versicherungsdaten notiert waren. Sie schüttelte den Kopf, als er sich schnell verabschieden wollte. Zunächst stellte er sich taub, willigte dann aber ein, an der nächsten Raststätte die Polizei zu verständigen.

Laura schob die abgerissene Stoßstange vorsichtig auf die verbogene Halterung, bevor sie wieder in ihren Wagen stieg. Weil sie nur ganz langsam hinter dem Fiat her fahren konnte, hatte sie große Mühe, den Anschluss nicht zu verlieren.

Als endlich die Raststätte erreicht war, parkte sie neben dem Wagen des alten Mannes, der bereits vor dem Reisezentrum wartete. Erst beim Aussteigen bemerkte Laura, dass noch eine alte Signora neben dem Greis im Wagen saß, die sie böse aus dem geöffneten Fenster anblickte.

Nun mussten sich alle in Geduld üben. Es dauerte über eine Stunde, bis die telefonisch herbeigerufene Polizia stradale eintraf.

Eine Bagatelle, befanden die in schwarzes Leder gekleideten Polizisten, nachdem sie sich den Schaden angesehen hatten. Ihr Interesse galt ohnehin nur dem neuen Fiat ihres greisen Landsmanns, an dessen rechtem Kotflügel lediglich der Lack leicht verkratzt war.

Es dauerte eine weitere Stunde, bis die Polizisten die Aussagen der am Unfall Beteiligten aufgenommen hatten. Laura hatte darauf bestanden, den Verlauf aus ihrer Sicht in deutscher Sprache selbst aufzuschreiben, bevor sie das Dokument unterzeichnete.

Ein Tankwart, der alles beobachtet hatte, befestigte die Stoßstange mit einem rostigen Draht an der Halterung und montierte gleich noch zwei neue Wischer an der Frontscheibe. Danach füllte er den Tank bis zum Anschlag mit Benzin und berechnete für seine Dienste nur zweihunderttausend Lire, einen Sonderpreis für die Signora, wie er behauptete.

God bless you, rief der Greis, als Laura nach mehr als zwei Stunden Aufenthalt endlich weiterfahren konnte. Bis zur Einfahrt in die Autostrada konnte sie im Rückspiegel noch sehen, wie der Alte mit den beiden Polizisten und dem Tankwart hinter ihr her winkte.

Schon kurze Zeit später befand sie sich mitten im Berufsverkehr der mehrspurigen Autostrada um Milano. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an die Geschwindigkeit angepasst hatte. Dabei wurde sie mehrfach von einem silbernen Ferrari überholt. Der Fahrer hupte unentwegt, gestikulierte und winkte ihr zu. Sie war verunsichert, weil sie befürchtete, dass an ihrem Wagen etwas nicht in Ordnung wäre. Der rasante Fahrer überholte sie plötzlich von rechts und hielt kurz darauf auf dem Seitenstreifen an. Dabei leuchteten die Bremslichter des Ferraris hell auf. Laura fuhr entschlossen weiter, aber schon nach kurzer Zeit war der silberne Ferrari wieder in ihrem Rückspiegel zu sehen. Der Fahrer setzte seine gefährliche Rallye jetzt auf der linken Spur fort. Erst nach weiteren riskanten Überholmanövern war er auf einmal im dichten Verkehr verschwunden und das unsinnige Spiel endlich zu Ende.

Wegen der durch den Unfall verlorenen Zeit entschloss sich Laura, ihre Reise bei Einbruch der Dunkelheit zu unterbrechen. Sie blieb in Fidenza, wo sie in einem kleinen Hotel übernachtete.

Am Morgen begann es gleich wieder zu regnen. Nach ihrer Fahrt durch die Emilia Romagna musste sie zwischen Bologna und Florenz wieder zahlreiche Tunnel passieren, was bei ihr zu Beklemmungen führte. Zum Glück waren die meisten aber so kurz, dass schon während der Einfahrt das Licht an ihrem Ende zu sehen war.

Unerwartet befand sich Laura plötzlich in einem Schneetreiben, das sich schnell verdichtete. Wegen der schlechten Sicht versuchte sie, sich an den Rückleuchten eines vor ihr her kriechenden Lastkraftwagens zu orientieren.

Zum Glück war dieser Spuk so schnell vorbei, wie er gekommen war. In der Toskana wurde die Wolkendecke vom Wind aufgerissen, die Sonne strahlte, alles war grün und die Witterung so mild, wie man es sich nur wünschen konnte.

Kurz vor Tevere Ovest entschloss sie sich, noch eine Pause zu machen, um die aufkommende Müdigkeit mit einem Espresso zu bekämpfen. Laura parkte auf dem einzigen freien Platz direkt vor der Raststätte. Obwohl drinnen ziemlich viel Betrieb war, wurde sie gleich bedient.

Als sie nach wenigen Minuten zurückkehrte und in ihren Wagen einsteigen wollte, stieg eine unerklärliche Hitze in ihr hoch. Sie zog ihre Strickjacke aus und hob verwundert die Landkarte auf, die vom Nebensitz gefallen war. Um ihre Jacke auf den Rücksitz zu legen, schob sie die Lehne nach vorn. Der Aktenkoffer, der dort gelegen hatte, war nicht mehr da. Laura griff verunsichert unter den Fahrersitz. Der Koffer blieb verschwunden. Ihr Herz stolperte, Schweißperlen traten ihr auf die Stirn. Sie war sich ganz sicher, dass sie den Wagen fest verschlossen hatte, bevor sie in die Raststätte gegangen war.

Nachdem sie mehrmals um den Wagen herum gelaufen war und sämtliche Türen überprüft hatte, war alles klar. Wahrscheinlich war es den dreisten Dieben gelungen, unbemerkt das Schloss der Beifahrertür zu knacken und mit ihrer Beute in der Menge von Touristen zu verschwinden.

Neben Lauras Wagen hatte schon bei ihrer Ankunft ein Jeep mit englischem Kennzeichen geparkt. Darin saß eng umschlungen ein Paar, das sich pausenlos küsste. Laura klopfte mit beiden Händen gegen die Scheibe, bis die Frau verwirrt das Fenster herunter kurbelte. Natürlich hatte sie überhaupt nichts bemerkt.

Laura eilte zum Informationsschalter. Von dort aus rief man die Polizei an, die diesmal schon nach einer halben Stunde eintraf. Wieder Fragen, Achselzucken, Routine.

Die Zeit vor und nach Ostern ist Hochsaison für Diebe, meinten die Polizisten. Organisierte Banden erleichtern hier Pilger und Touristen schon auf dem Weg nach Rom um ihr Gepäck. Scusi, das kann die Polizei leider nicht verhindern. Verluste sind der Questura zu melden, am besten im Ufficio Stranieri in der Via Genova in Roma. Arrivederci!

Eine sinnlose Beute, dachte Laura. Nichts als beschriebenes Papier, ihre über ein Jahr gesammelten Recherchen für die geplante Arbeit, ein paar Bücher, Schreibutensilien, ein Tranquilizer für alle Fälle und eine Ersatzbrille. Nichts von Wert für Diebe, für sie aber unersetzlich.

Laura hatte es als ein großes Glück empfunden, von einem renommierten Kunstmagazin den Auftrag zu erhalten, einen Beitrag über die Bedeutung Olevano Romanos als Zentrum der Landschaftsmalerei zu verfassen. Mit dem in Aussicht gestellten Honorar wollte sie ihre Reise und den Aufenthalt finanzieren. Viele Jahre hatte sie überhaupt nicht verreisen können, weil sie noch ein Darlehen für ihr Studium abzahlen musste, zumal sie erst nach einer kaufmännischen Lehre mit dem Kunststudium begonnen hatte. Die meisten Freundinnen aus der Schulzeit waren längst verheiratet, was ihr die Eltern ständig vorhielten. Nach dem erfolgreichen Studium und einigen Werkverträgen hatte Laura zum Glück gleich eine feste Anstellung als Kuratorin gefunden, während viele ihrer Kommilitonen arbeitslos blieben oder ihren Lebensunterhalt mit allen möglichen Jobs verdienen mussten. Einer ihrer promovierten Kollegen hatte sogar als Kurier für eine Pizzeria arbeiten müssen. Laura hatte ihre Anstellung im Historischen Museum deshalb als Privileg empfunden, obwohl sie dort seit Jahren vorwiegend nur mit Arbeiten für selten wechselnde Ausstellungen beschäftigt war.

Gleich nach ihrer Ankunft in Olevano Romano hat Laura damit begonnen, mit Hilfe der Signora das Gepäck auszuladen und in ihr Quartier hinaufzutragen. Dabei sieht sie einen Mann auf der Terrasse, der eine Zigarette nach der anderen raucht. Es handelt sich um Alex, einen Künstler, der schon seit Wochen Gast im Haus ist, wie ihr die Signora verrät. Sie spricht mit ihm über etwas, was Laura nicht verstehen kann. Er kommt danach jedoch mit listigem Lächeln auf sie zu und teilt ihr mit, dass er sie auf Wunsch der Signora am nächsten Morgen zur Questura in Rom begleiten würde.

Die Fahrt nach Rom wird eine Rallye gegen alle Verkehrsregeln der Welt.

Man muss nur klar äußern, was man will, und das dann auch tun, erklärt Alex, der lässig Lauras Wagen lenkt.

Aus dem offenen Seitenfenster winkt er Passanten und anderen Fahrern zu, hupt Fußgänger von der Straße und lässt zwischendurch auch mal das Lenkrad los, um sich eine neue Zigarette zu drehen. Ohne erkennbaren Grund wechselt er von der rechten Spur auf die linke und tauscht sich beim unvermeidlichen Halt an einer roten Ampel mit dem Fahrer eines anderen Wagens über die Route aus. Anscheinend hat er sich total verfahren, was er aber nicht zugeben will. Ohne erkennbaren Anlass tritt Alex auf einer Einbahnstraße so hart auf die Bremse, dass Laura mit dem Kopf gegen die Frontscheibe fliegt. Als sie aufschreit, lacht er und fährt in Schlangenlinien weiter. Laura fordert ihn auf, sofort anzuhalten.

Auf meinem rechten Ohr höre ich fast nichts, sagt er grinsend und wirft seine Kippe aus dem Fenster.

Er fährt an immer neuen und dann wieder den gleichen Plätzen und Fontänen vorbei. Laura fühlt sich wie in einer Geisterbahn, schließt die Augen, reißt sie beim Quietschen der Bremsen aber gleich wieder auf. Irgendwie hat der Gott des Zufalls sie tatsächlich zur Questura geleitet. Erst nachdem Alex versprochen hat, unter Aufsicht der Polizei im Halteverbot zu warten, steigt Laura endlich aus.

Im Ufficio Stranieri herrscht Hochbetrieb. Die Menschen haben dort eine Warteschlange gebildet, an die Laura sich anschließt. Trotzdem dauert es gar nicht lange, bis sie vorgelassen wird. Die Abfertigung erfolgt schnell und problemlos. Nur ein Formular mit den Angaben zum Verlust ist auszufüllen, das mit einem amtlichem Stempel und der Unterschrift des Beamten versehen wird. Als Geschädigte erhält Laura eine Kopie, die sie zusammengefaltet in ihre Handtasche steckt. Eine Bagatelle für die Behörde, aber notwendige Formalität für die Versicherung, sofern man eine hat, ansonsten ein völlig überflüssiger Vorgang.

Alex wartet nicht am vereinbarten Platz. Laura blickt sich ratlos um, bis sie bemerkt, wie jemand aus einem der im Kreisel fahrenden Autos mit einer Zigarette in der Hand aus dem Fenster winkt. Sie läuft mitten durch den Verkehr, zwängt sich durch die von Alex von innen aufgehaltene Tür in den Wagen und lässt sich erschöpft auf den Sitz fallen.

Es fängt leicht an zu regnen, als sie gegen Abend die Stadt verlassen. Wegen des dichten Verkehrs ist Alex gezwungen, nun etwas langsamer zu fahren. Am Straßenrand kann Laura einige Hütten erkennen, die von Zelten, alten Campingwagen und großen Müllbergen umgeben sind.

Roma vor Rom, erklärt ihr Alex und schaltet das Radio an. Mehrfach wechselt er die Sender, bis schließlich italienische Popmusik erklingt.

Laura bewundert sprachlos den großen Regenbogen, der die vierspurige Autostrada von einer Seite bis zur anderen überspannt.

II

In den Alimentari und Pasticcerie werden überall riesige Ostereier und gebackene Osterlämmer angeboten, aber auch Tauben mit und ohne Schokoladenguss. Laura hatte sich am Morgen für eine Colomba von Motta entschieden, um der Signora damit eine Freude zu bereiten. Alex, den sie im Centro getroffen hatte, zeigte ihr stolz ein rosa Blumengebinde, das er als Ostergeschenk besorgt hatte.

Die Signora schien außer sich vor Freude zu sein, als beide mit den Geschenken durch die offene Tür in ihre Küche kamen. Sie stellte gleich die Espressokanne auf den Gasherd. Nach nur kurzer Zeit standen die mit heißem Espresso gefüllten Tässchen auf dem Tisch. Dazu bot sie selbst gebackenen Kuchen an.

Die Unterhaltung zwischen ihr und Alex war wie immer lebhaft. Laura hatte Mühe, ihrem Gespräch zu folgen, was die Signora schnell bemerkte. Sie lächelte Laura freundlich zu und bat sie, wie Alex doch einfach Lucia zu ihr zu sagen.

Und wie heißen Sie mit Vornamen?, fragte sie dann.

Laura.

Ich freue mich, dass man auch in Deutschland diesen Namen kennt, sagte Lucia und drückte ihr fest die Hand.

Am Karfreitag ist die Signora schon am frühen Morgen damit beschäftigt, sämtliche Blumen vor dem Haus zu gießen. Bereits am Abend zuvor hatte sie noch einige Pflanzkübel ins Freie gestellt. An der schattigen Nordseite blühen schon die Azaleen.

Laura schaut ihr eine Weile durch das geöffnete Fenster bei der Arbeit zu. Sie selbst hat zu nichts Lust, nicht einmal zum Lesen. Im Salon flimmert seit Stunden der Bildschirm. Obwohl sie nicht alles verstehen kann, stellt sie jedoch bald fest, dass die Qualität wahrhaftiger Bilder eine fremde Sprache verständlicher und jemanden, der allein ist, weniger einsam machen kann.

RAITRE sendet eine spanische Produktion. Es geht dabei um das Findelkind Marcello, das in einem Kloster aufgezogen wird. Der Junge findet bei den Mönchen die Geborgenheit, die normalerweise nur eine Mutter einem Kind geben kann. Nachdem ein reicher Graf das Kloster besucht hat, darf er den Jungen mit Zustimmung der Mönche mitnehmen. Der Graf will auf diese Weise seiner kinderlosen Gattin ein Kind und Marcello eine Mutter schenken.

Bald stellt sich heraus, dass die Gräfin nicht dazu fähig ist, eine gute Mutter zu sein. Marcello verspürt schnell ein unstillbares Heimweh nach seinen Padres und flüchtet, als sich eine Gelegenheit dazu bietet, vor der gräflichen Stiefmutter. Er findet in das Kloster zurück, in dem er einst glücklich und geborgen war. Die freundlichen Mönche nehmen ihn wieder auf und verstecken ihn vor der Außenwelt. Marcello darf aus der Welt der Macht in die Allmacht des kindlichen Glaubens zurückkehren.

Marcello, s’é pane e vino, sagt eine männliche Stimme in Anlehnung an das Abendmahl. Das Brot ist der Körper des Menschen, der Wein seine Seele.

Während Marcello sich an einen der geliebten Mönche schmiegt und selig in seinen Armen einschläft, trinkt Laura einen Schluck Wein aus ihrem Glas. Er schmeckt irgendwie bitter.

Am Ostersonntag ist es bereits elf Uhr, als Laura erwacht. Sie hat dennoch überhaupt keine Lust, das Bett zu verlassen. Am liebsten würde sie den Feiertag einfach verschlafen.

Sie hasst die Sonntage, solange sie denken kann. Dabei ist sie ein Sonntagskind, wie die Mutter ihr immer stolz erzählt hatte, als ob die Geburt an einem Sonntag eine Auszeichnung wäre.

Es muss ein trübseliger Sonntag gewesen sein, als sie an einem kalten Wintersonntag kurz vor Frühlingsanfang auf die Welt gekommen war. Der Vater war noch als Soldat in Russland, niemand hatte eine Ahnung, ob er lebend zurückkehren würde.

Laura hatte ihren Geburtstag immer als eine Verpflichtung für ein glückliches Leben empfunden, aber die Sonntage, an die sie sich noch erinnern konnte, waren vor allem langweilig. Selten genug kam mal unerwarteter Besuch. Die Sonntage blieben trostlos und leer, auch als sie längst erwachsen war.

Der Sonntag ist der einsamste Wochentag für jeden, der allein ist. Szomorú vasárnap, trauriger Sonntag, ist der Titel eines Liedes des ungarischen Vorkriegskomponisten Rezsö Seres. Mit dieser Melodie lässt sich manchmal die Grenze zwischen Leben und Tod überwinden wie selten genug mit der Liebe.

Laura hatte das sentimentale Lied gleich berührt, als sie es zum ersten Mal hörte. Es hatte ihr so etwas wie eine eigene Identität vermittelt, wenn sie an einem der verhassten Sonntage mal wieder allein war.

Von einem ungarischen Kunststudenten hatte sie erfahren, dass sich doppelt so viele Menschen in seiner Heimat das Leben nehmen wie in Deutschland.

Dagegen scheint die katholische Kirche in ihrem Mutterland für die meisten eine zuverlässige Familie zu sein. Die italienische Übung von Improvisation lässt nur selten Sentimentalität aufkommen. Vermutlich braucht der Mensch ohnehin nur die wenigen Dinge, die auf einem Eselskarren Platz finden. Für die letzte Reise braucht niemand mehr Gepäck.

Durch das geöffnete Fenster steigen verführerische Düfte aus Lucias Küche in das Schlafzimmer. Laura bleibt noch eine Weile auf der Bettkante sitzen, bevor sie sich dazu entschließt, endlich aufzustehen.

In der Küche füllt sie zuerst etwas Espresso-Pulver in die Kanne, gießt Wasser darauf und öffnet den Gashahn. Weil keine Streichhölzer da sind, sucht sie in ihrer Handtasche nach einem Feuerzeug. Als sie es gefunden hat, hält sie es unschlüssig in der Hand. Aus der Küche riecht es süß nach Weiterschlafen, während von draußen das Lachen von Kindern zu hören ist. Laura eilt zum Herd, wo es ihr nach einigen Versuchen schließlich gelingt, das ausströmende Gas mit dem Feuerzeug anzuzünden. Ihre Hand zittert, nachdem sie die Kanne auf dem Eisenring über dem blauen Feuerkranz abgestellt hat.

Sie öffnet weit die Flügel des Küchenfensters. Sonnenstrahlen fallen auf ihr blasses Gesicht. Schon nach kurzer Zeit ist das Zischen des aufsteigenden Wassers zu hören. Es riecht zwar noch etwas nach Gas, vor allem aber nach frischem Espresso. Laura gießt ihn in eine kleine Tasse und beißt nach dem immer unvergleichlichen ersten Schluck in ein trockenes Cornetto.

Am Nachmittag hört Laura merkwürdige Geräusche an der Terrassentür, kann draußen aber niemanden sehen. Sie schaltet den Fernsehapparat lauter.

Il Papa, der Vatikan, der von Menschenmassen besetzte Petersplatz und Buona Pasqua auf allen Kanälen. Ihr Blick gleitet durch das Fenster über das Bergpanorama. Sie entschließt sich zu einem Spaziergang zum Friedhof oben am Hang.

Unten auf der Terrasse begegnet sie Lucia, die sich dort mit ihrem Osterbesuch aufhält.

Buona pasqua, ruft die Signora und winkt Laura freundlich zu sich heran.

Tutta mia famiglia, sagt sie mit stolzem Blick auf ihren Mann und die um sie versammelten Söhne, Schwiegertöchter und Enkel.

Laura grüßt verlegen und läuft schnell die Treppe zur Straße hinunter.

Auch ein Friedhof hat seine Ruhezeiten. Zwischen zwölf und sechzehn Uhr und in der Nacht ist er geschlossen, wie auf dem Schild am Eingang zu lesen ist. Während dieser Zeit darf niemand die Totenruhe stören.

Laura ist überrascht. An einem Osterfeiertag hätte sie hier nicht so viele Besucher erwartet. Die bunten Blumen auf den Gräbern sind ein lebendiger Kontrast zur Melancholie der dunklen Zypressen und zum Weiß des Marmors. Von den Fotografien an den Grabkreuzen blicken gelassen die Verstorbenen herab. Nur von den Toten der älteren Gräber wie dem von Giovanni Pistello, der 1925 fast achtzigjährig starb, oder dem 1892 im Alter von vierundsechzig Jahren verstorbenen Berliner Maler Otto Brandt, der hier von seinen römischen Freunden bestattet wurde, kann man sich kein Bildnis machen, weil es keines gibt.

Der Platz auf dem alten Friedhof reicht für die vielen Toten aus zwei Jahrhunderten längst nicht mehr aus. Wie für die Lebenden unten im Tal gibt es auch hier oben neue Bauwerke, die nicht einmal mehr im Tod individuelle Formen zulassen. Während auf dem alten Friedhof wenigstens noch die Gräber der Kinder von steinernen Engeln behütet werden, sind die neuen kaum mehr zu unterscheiden. Nur das Grab des jungen Pietro, der im Mai 1995 im Alter von nur einundzwanzig Jahren gestorben ist, wird von einem Teddybären behütet, der hier als Grabwächter zurückgelassen wurde. Am schlichten Holzkreuz hängen Pietros persönliche Reliquien, ein Nicki-Tuch und der Schal eines Fußballvereins. Auf dem Foto am Kreuz ist er am Gipfel ganz oben angekommen.

Angeblich kennt der Tod keine Klassen. Trotzdem können sich einige anscheinend nicht einmal die Marmorplatte leisten, mit der das genormte Fach für die Urne in der Mauer verschlossen wird. Der Tod war in den Kreditrahmen ihres Lebens noch nicht eingeplant. Daneben gibt es aber auch prächtige Gruften und Kapellen wie die der Baldis, Rocchios, Santeses, Carlettis oder wie die alten Familien der Gemeinde heißen, die von langer Tradition erzählen. Man könnte meinen, die schweigende Gemeinde auf dem Friedhof wäre inzwischen mindestens so groß wie die unten im lebendigen Ort.

Nachdem Laura mehrmals über den Kiesweg unter den alten Zypressen entlang gelaufen ist, bleibt sie ab und zu stehen, um ein Foto oder eine Gravur auf einem der Grabsteine näher zu betrachten.

Vor der großen Grabstätte der Paolettis verharrt sie besonders lange. Hier sind Angelo, Secondina und Roberto bestattet worden, alle drei nicht einmal zwanzig Jahre alt. Was für eine Tragödie für die Familie, welche Geschichten liegen hier begraben. Alle, die an der Grabstätte vorbeigehen, bekreuzigen sich vor so viel Unglück.

Es gibt aber auch einige von Unkraut überwucherte Gräber, um die sich anscheinend niemand mehr kümmert. Sie sind ein beredtes Zeugnis für den Tod der Trauer, die auch nicht unsterblich zu sein scheint.

Es ist kühl geworden. Laura bindet das bunte Seidentuch fester um ihren Hals. Dabei sieht sie, wie hinter einem Grab eine alte Frau in gebückter Haltung Osterglocken in einer Vase ordnet. Die hellen Augen der Alten scheinen sie zu verfolgen, bis sie sich plötzlich abwendet, weil sie von einer Frau angesprochen wird.

Eine große Wolke schiebt sich vor die Sonne, als Laura mit schnellen Schritten die steile Treppe zur Straße hinunter läuft. Noch auf dem Weg zum Haus beschließt sie, dem deutschen Maler Otto Brandt in den nächsten Tagen eine Rose auf sein Grab zu legen.

Am Abend vernimmt Laura wieder ein Kratzen an der Terrassentür. Sie legt ihr Buch zur Seite, erhebt sich aus dem Sessel und schaut in die Dämmerung hinaus.

Draußen sieht sie eine schwarze Katze, die klagend vor der Tür steht.

Du bleibst, wo du bist, denkt Laura und setzt sich wieder hin, doch die Katze gibt nicht auf. Mit Hilfe ihrer Krallen klettert sie immer wieder an der Tür hoch und schaut mit leuchtenden Augen durch die Glasscheibe, bis sie erschöpft auf der Fußmatte landet.

Laura öffnet widerwillig die Tür. Die Katze huscht an ihr vorbei, rennt sofort in die Küche und setzt sich vor dem Kühlschrank nieder.

Sie sieht sich das Tier genauer an. Aus dem mageren Körper stehen seitlich die Rippen heraus, ein Ohr ist eingerissen, das schwarze Fell matt und räudig. Nur am Hals leuchtet ein weißer Fleck, der aussieht wie ein herzförmiges Amulett.

Laura öffnet den Kühlschrank, nimmt die Milch heraus und gießt etwas davon in eine Untertasse. Die Katze springt an ihr hoch, bevor sie das Gefäß auf dem Boden abstellen kann. In Windeseile hat sie die Milch auf geschleckt. Danach setzt sich das Tier wieder vor den Kühlschrank und beginnt sich zu kratzen.

Schön bist du ja nicht, sagt Laura zur Katze, die sich schnurrend an ihre Beine schmiegt. Trotzdem werde ich dich Bella nennen.