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Aline Sax

GRENZ
GÄNGER

Aus dem Niederländischen
von Eva Schweikart

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Inhalt

EINE STADT, ZWEI STAATEN

JULIAN NIEMÖLLER 1961

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

EINUNDDREISSIG

MARTHE LENTZ 1977

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

SYBILLE NIEMÖLLER 1989

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREISSIG

NACHWORT

DIE AUTORIN

EINE STADT, ZWEI STAATEN

Nachdem Deutschland 1945 den Zweiten Weltkrieg verloren hatte, teilten die Siegermächte das Land unter sich in vier Besatzungszonen auf: eine französische, eine britische, eine amerikanische und eine sowjetische. Die bisherige Hauptstadt Berlin, komplett innerhalb der sowjetischen Besatzungszone liegend, wurde ebenfalls in vier Sektoren gegliedert.

Zwischen den westlichen Siegermächten und der kommunistischen Sowjetunion ergaben sich in vielerlei Hinsicht Differenzen. Zu einem Konsens kam es nicht, weil beiden Machtblöcken daran gelegen war, ihren Einfluss in Europa auszuweiten.

Im Mai 1949 wurden die westlichen Besatzungszonen zu einem neuen Staat mit dem Namen Bundesrepublik Deutschland (BRD) vereinigt. Ebenfalls 1949, im Oktober, wurde auch die sowjetische Besatzungszone zu einem eigenen Staat und erhielt den Namen Deutsche Demokratische Republik (DDR). Im Prinzip waren die beiden deutschen Staaten unabhängig, standen jedoch weiterhin stark unter dem Einfluss der ehemaligen Besatzer.

In der BRD als kapitalistischem Staat manifestierte sich vor allem der Einfluss der Vereinigten Staaten von Amerika (USA). In der DDR wurde eine kommunistische Regierung installiert. Wie in der Sowjetunion wies das dortige System Züge einer strengen Diktatur auf und zielte darauf ab, politische Gegner mundtot zu machen.

Wirtschaftlich gesehen entwickelte sich die BRD – unter anderem dank amerikanischer Unterstützung – wesentlich schneller als die DDR, welche die schwerfällige sowjetische Planwirtschaft übernommen hatte. Zwischen den beiden deutschen Staaten entstand eine Kluft, und der zunehmende Wohlstand Westdeutschlands erweckte bei vielen Ostdeutschen Neid.

In Berlin wurden die Westsektoren ebenfalls zusammengefasst: Als Westberlin waren sie der BRD zugeordnet, der Ostteil der Stadt hingegen (Ostberlin) gehörte zur DDR. Die Stadt Berlin wurde zum Brennpunkt des Kalten Kriegs.

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EINS

Ich roch an der Bettwäsche, dass ich im Westen war. Im Osten gab es keine Waschmittel mit Blumenduft. Schlaftrunken drehte ich mich um und schaute zum Fenster. Das erste Morgenlicht fiel durch einen Vorhangspalt ins Zimmer. Ich versuchte, meinen Traum von den Erinnerungen zu trennen, die sich langsam und bruchstückhaft wieder einstellten.

Gestern, nach der Arbeit, waren wir ins Chitchat gegangen, einen beliebten Club, in dem auch viele Amerikaner verkehrten. Wir hatten getanzt und getrunken. Zu viel getrunken. Es war spät geworden. So spät, dass ich keine Lust mehr hatte, noch über die Grenze zu gehen.

Und da war ein Mädchen gewesen … wie hieß sie doch gleich? Ich hatte sie im Chitchat kennengelernt. Sie war mit einer Freundin dort, und diese Freundin wiederum war eine Bekannte von Walter.

Kurzes dunkles Haar. Gute Tänzerin. Paula. Genau, Paula hieß sie.

Langsam drehte ich mich wieder auf die andere Seite. Neben mir lag niemand. Da war nur ein Abdruck auf dem Kopfkissen.

Sie hatte mir angeboten, bei ihr zu übernachten, weil sie ganz in der Nähe wohnte. Ich dachte angestrengt nach, konnte mich aber nicht mehr erinnern, wann wir das Chitchat verlassen hatten und was danach gewesen war. Hatten wir …? Ich hob die Bettdecke an und sah, dass ich meine Unterhosen und die Socken trug. Die übrigen Kleider lagen auf dem Boden verstreut.

Im angrenzenden Raum hinter dem Perlenvorhang hantierte jemand mit Geschirr. Noch einmal schnupperte ich am Kissenbezug, dann hob ich die Beine über die Bettkante. Wenn ich mich langsam bewegte, waren die Kopfschmerzen erträglich. Ich machte mir nicht die Mühe, mich anzuziehen, und ging – so wie ich war – hinüber.

In der Küche war es sehr hell, sodass ich unwillkürlich die Augen zukniff. Das laute Klappern von Tassen, Tellern und Besteck tat mir in den Ohren weh.

»Guten Morgen«, sagte eine muntere Stimme.

Ich öffnete die Augen.

Ein Mädchen mit langen blonden Locken stand am Herd und musterte mich mit amüsiertem Lächeln. Das Fenster war offen, und der hereinstreichende Wind ließ mich frösteln, sodass sich die Härchen an den Armen aufstellten. Dass ich, kaum bekleidet, vor einem wildfremden Mädchen stand, wurde mir erst jetzt bewusst. Aber es war zu spät, sich zu verstecken.

»Willst du dein Ei hart oder weich?«

»Weich«, murmelte ich automatisch. Meine Wangen glühten, obwohl sie mich nicht mehr ansah. Der Tisch war für zwei Personen gedeckt.

»Wo ist Paula?«, fragte ich zögernd.

»Bei der Arbeit.«

An einem Sonntag? Was mochte Paula arbeiten?

Ich fragte aber nicht.

»Ich heiße Heike.«

»Julian«, sagte ich und hatte das Gefühl, meine Anwesenheit erklären, irgendetwas sagen zu müssen, das mich nicht wie einen x-beliebigen Fremden erscheinen ließ.

Auf dem Tisch standen Butter und zwei Marmeladengläser, lauter mir unbekannte Marken. Ich nahm sie nacheinander in die Hand und las verlegenheitshalber die Etiketten.

Heike stellte die Eier in die Eierbecher, setzte sich an den Tisch und forderte mich auf, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

»Du bist von drüben, was?«

Verdutzt starrte ich sie an. Hatte sie das etwa an meiner Unterhose gesehen?

»Ja.«

Wieder lächelte sie.

»Paula hat eine Schwäche für Ostler.«

»Wie bitte?« Ich schaute womöglich noch verdutzter drein. Eine Schwäche für Ostler … etwa so, wie man eine Schwäche für streunende Katzen hat?

Meine Verwirrung schien Heike zu belustigen.

»Sie ist Kommunistin. Absolute Gleichheit. Keine Hierarchien, keine Armen und Reichen. Jeder arbeitet so, wie er kann, und bekommt, was er braucht. Das ist Paulas Credo.«

Ich bestrich eine Scheibe Brot dick mit Butter. Auf politische Diskussionen mit einer Westberlinerin, zumal an einem Sonntagmorgen, verspürte ich absolut keine Lust. Ich köpfte mein Ei, schnitt dann das Brot in Streifen und tunkte einen davon ins Eigelb.

Heike beobachtete mich, die Hände um eine große Tasse gelegt, die den Duft nach echtem Bohnenkaffee verbreitete.

»Ich wohne in Ostberlin, arbeite aber im Westen«, sagte ich mit vollem Mund. »Als Maurer bei Reitmann & Sohn. Mein Kollege Walter hatte gestern Geburtstag, und das haben wir im Chitchat gefeiert. Paula war auch dabei. Seid ihr Freundinnen?«

»Cousinen. In Ostberlin war ich noch nie.«

»Noch nie? Warum nicht? Man kann doch einfach rüber.«

»Ich weiß nicht recht. Es ist mir einfach nie in den Sinn gekommen. Außerdem wohne ich erst seit einem Jahr hier. Ich bin in einem Dorf in Süddeutschland aufgewachsen. Aber dort wollte ich weg. So bin ich hier gelandet, und Paula hat mir Unterschlupf gewährt.« Sie lachte. »Das Abenteuer Berlin, weißt du, die Stadt, in der immer was los ist.«

»Die Stadt, in der ein neuer Krieg ausbrechen wird, meinst du wohl?«

»Glaubst du das?«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Denkst du, die Russen werden Westberlin einnehmen?«

»Die Alliierten haben jedenfalls klar gesagt, dass sie nicht abziehen, auch wenn die Stadt eigentlich im sowjetischen Sektor liegt.« Ich schob ein Stück Brot in den Mund. »Aber Politik interessiert mich nicht sonderlich«, sagte ich, ehe sie einen westlichen Einwand machen konnte.

»Wohnst du schon immer in Berlin?«

»Ja, nur im Krieg war ich eine Zeit lang bei einer Großtante auf dem Land. Aber da war ich noch so klein, dass ich mich kaum erinnere.«

»Ich mag die Stadt sehr«, sagte Heike. »Die vielen Autos. Die Leute, die den Ku’damm entlangflanieren, als gehörte ihnen die Welt. Die Schaufenster und die Leuchtreklamen. Die Mädchen, die mit den amerikanischen Soldaten flirten. Man hat den Eindruck, hier wäre jeder wichtig und würde fabelhafte Sachen erleben. Das Leben in Berlin ist wie ein schneller Wirbel. Ein bisschen wie im Film …« Verträumt blickte sie an mir vorbei.

Was für ein plattes Klischee! Ich nahm rasch einen Schluck Kaffee, damit sie meinen Gesichtsausdruck nicht bemerkte.

»Wahrscheinlich findest du es komisch, dass mir gerade das gefällt«, fuhr Heike fort, »wo du doch schon dein ganzes Leben hier wohnst.«

»Ganz und gar nicht. Du hast beschrieben, was auch alle Ostberliner an Westberlin gut finden.«

»Alle außer dir?«

Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Es hat so seinen Reiz. Aber wohnen wollte ich nicht in Westberlin, da würde ich schnell zu viel kriegen.«

»Darum ziehst du dich abends gern in deine anonyme Mietskaserne zurück?«

Ich starrte sie an.

»Tut mir leid, das hätte ich nicht sagen sollen. War nicht so gemeint.«

Ich starrte sie weiter an. Hatte sie nicht eben erwähnt, sie sei noch nie im Osten gewesen? Warum sagte sie dann so etwas?

»Tut mir leid«, wiederholte sie, diesmal leiser.

Wir aßen schweigend weiter. Heike traute sich offenbar nicht, ein neues Thema anzuschneiden, und ich hatte keine Lust, weiter über Ost und West zu reden.

Das Ei und der Kaffee hatten die aufkommende Übelkeit zurückgedrängt, aber mein Kopf fühlte sich immer noch an, als hätte ihn heute Nacht jemand mit Zement ausgegossen, der jetzt härtete.

Nach dem letzten Schluck stellte ich die Tasse ab und schaute auf meine Uhr. Fast elf.

»Ich muss los, meine Mutter macht sich bestimmt Sorgen, weil ich nicht nach Hause gekommen bin.«

»Du kannst gern noch duschen, wenn du willst«, sagte Heike. »Das wird dir guttun. Die letzte Tür im Flur. Warte, ich geb dir ein Handtuch.«

Sie hatte recht. Die warme Dusche entspannte mich und schien sogar den Zement in meinem Kopf aufzuweichen.

Ich trocknete mich ab und schlüpfte in die Kleider.

Heike hatte in der Zwischenzeit das Geschirr abgeräumt. Auf dem Tisch lag jetzt ein rechteckiges flaches Päckchen.

»Ich … äh … das ist für dich. Das heißt, für deine Mutter. Dann findet sie es vielleicht nicht so schlimm, dass du die ganze Nacht weg warst.« Ein leicht verlegenes Lächeln.

Ich griff danach. Es war eine Nylonstrumpfhose, original verpackt.

»Paula hat mal erwähnt, die Frauen im … äh … ich meine, dass man bei euch … nicht so leicht an solche Strumpfhosen kommt.« Das stimmte. Außerdem war Mutter ganz versessen auf Nylons aus dem Westen. Trotzdem zögerte ich. War mein Ostler-Stolz stärker als die Aussicht, meiner Mutter eine Freude zu machen?

»Danke, darüber wird sie sich freuen«, sagte ich dann und steckte das Päckchen ein. »Und danke auch fürs Frühstück und für die Dusche.«

Heike strahlte. »Gern geschehen.«

Auf dem Weg zur Grenze versuchte ich, mir Paulas Gesicht vorzustellen, was nicht gelang, weil sich immer wieder Heikes Bild davorschob. Völlig in Gedanken versunken, bemerkte ich erst nach einer Weile, dass es angefangen hatte zu regnen. Und auch Wolfgang Wichser sah ich erst, als es schon zu spät war. Wir waren früher in dieselbe Klasse gegangen. Wolfgang war ein komischer Kauz und tat sich mit seinem Vater dicke, der irgendein hohes Tier war. Darum war er von den anderen oft gehänselt worden. Und Wolfgang Wichser wurde er genannt, weil ein Lehrer ihn angeblich auf dem Schulklo beim Wichsen ertappt hatte. Statt den Spitznamen zu ignorieren, drohte er, sein Vater würde uns die Hammelbeine lang ziehen. Dass nichts dergleichen passierte, trug ihm noch mehr Spott ein. Im siebten Schuljahr war seine Familie nach Dresden umgezogen. Jetzt aber war er Grenzpolizist in Berlin.

»Papiere vorzeigen!«, blaffte er mich an, als würde ich die Vorschrift nicht kennen.

Ich hatte mich damals nicht an den Hänseleien beteiligt, er aber scherte alle ehemaligen Schulkameraden über einen Kamm und sah nun eine gute Gelegenheit, seine Überlegenheit auszuspielen. Wolfgang hatte etwas von der opportunistischen Machtgier seines Vaters, der sich vom überzeugten Nazi nahtlos zum strammen Sozialisten gewandelt hatte.

Ich gab ihm meinen Ausweis, in dem er unnötig lange herumblätterte.

»Welcher Tag ist heute?«, fragte er ohne aufzublicken.

»Sonntag«, gab ich zurück. Der Regen lief mir kalt in den Kragen. Wolfgang stand unter dem Dach seines Grenzerkabuffs und sah keinen Grund zur Eile.

»Sonntag, aha! Und was hat ein Grenzgänger am Sonntag im kapitalistischen Westen verloren? Sind dir unsere Frauen nicht gut genug?«

Mir blieb kurz die Sprache weg.

»Komm schon, deine Sorte Profiteure kenn ich doch. Im Osten von den billigen Mieten, der sozialen Absicherung und den niedrigen Preisen profitieren, aber im Westen Geld scheffeln, den Kapitalisten markieren und die Ami-Weiber flachlegen.« Er spuckte vor mir aus.

Zugegeben, ich verdiente im Westen wesentlich besser und der Wechselkurs war günstig, aber mich deshalb einen Profiteur zu nennen …

Ich war versucht, ihn am Uniformkragen zu packen und zu schreien, es gehe ihnen einen feuchten Kehricht an, wo ich mein Geld verdiente und ausgab. Aber ich tat es nicht. Schließlich war er im Dienst, und ich wollte keine Scherereien. Grenzgänger wie ich waren im Osten ohnehin nicht sonderlich beliebt. Die Leute hielten uns für Verräter am Staat – einem Staat, für den sie selbst kein gutes Wort übrighatten. Und wenn sich eine Chance ergäbe, würden sie es nicht anders machen als ich.

»Was ist in der Tasche?«

»Drei Millionen Dollar in kleinen Scheinen.«

Er riss mir die Tasche weg und zog den Reißverschluss auf.

Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und blinzelte, weil mir das Wasser von den Brauen in die Augen rann.

Wolfgang kramte in meinen Sachen herum, nahm etwas heraus und ließ unvermittelt die Tasche fallen. Sie landete in einer Pfütze. Ich bemühte mich, den Ärger hinunterzuschlucken.

Er hielt mir die Strumpfhose hin. »Und was ist das? Westprodukte schmuggeln, was? Weißt du, welche Strafe darauf steht?« Er beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht kaum fünf Zentimeter vor meinem war.

Ich wich zurück und bückte mich nach der Tasche, die an der Unterseite klatschnass war. Mit einem wütenden Ruck zog ich den Reißverschluss zu und biss die Zähne zusammen.

»Das muss ich beschlagnahmen.« Er wollte die Strumpfhose einstecken, was nicht so recht gelang, weil er in der anderen Hand immer noch meinen Ausweis hielt. »Und Meldung erstatten, versteht sich.«

»Das lässt du schön bleiben. Sonst kannst du die Strumpfhose nämlich nicht selber behalten!« Ich riss ihm meinen Ausweis weg und ging weiter.

»Und ob ich das melde!«, schrie er mir nach. »Darauf kannst du Gift nehmen, Niemöller!« Seine Stimme überschlug sich.

Ich zwang mich, nicht zu rennen. Er wird mich schon nicht verfolgen, dachte ich und bog in die nächste Seitenstraße ein. Dort trat ich mit Wucht gegen eine Mülltonne, die umfiel und aufs Pflaster krachte. Am liebsten hätte ich kehrtgemacht und das Arschloch in seiner adretten Uniform in den nassen Straßendreck gestoßen. Was fiel ihm ein, mir Schmuggel zu unterstellen? Das war doch reine Schikane. Beim nächsten Mal, nahm ich mir vor, lasse ich mir so etwas nicht mehr gefallen. Und dann rannte ich doch los, rannte mir den ganzen Ärger aus dem Leib … auch darüber, dass er meine Erinnerung an Heike getrübt hatte.

ZWEI

Die ganze Woche ging mir Heike nicht aus dem Sinn. Als Walter fragte, ob ich am Sonntag mit zum Wannsee wolle, und augenzwinkernd meinte, Paula sei auch mit von der Partie, traute ich mich nicht zu fragen, ob Heike ebenfalls dabei wäre.

Das Knattern von Walters Moped weckte vermutlich die ganze Nachbarschaft auf und entlockte meinem Vater ein unwilliges Knurren. Rasch packte ich mein Handtuch ein, verabschiedete mich und ging nach unten.

Walter sah in seiner kurzen weißen Hose, den weißen Turnschuhen und dem gestreiften Hemd wie ein Hollywoodstar aus.

»Morgen!«, rief er mir munter zu.

Ich schwang mich auf den Sozius. Es war herrliches Wetter, und die Fahrt zum Wannsee – gut fünfundzwanzig Kilometer durch ganz Westberlin – würde ein Genuss.

Die Grenzer musterten uns abfällig – wir machten wohl den Eindruck von dekadenten Amerikanern –, ließen uns aber ohne Probleme passieren.

Wir sausten an geschlossenen Geschäften und schlafenden Wohnhäusern vorbei, während die Sonne hinter uns höher stieg. Dass es wegen des Mopedlärms unmöglich war, sich zu unterhalten, störte mich nicht. Ich schloss die Augen und spürte den Fahrtwind in den Haaren. Irgendwann würde ich mir auch so ein Ding zulegen … wenn ich eine eigene Wohnung zugewiesen bekam, wie mein älterer Bruder Rolf. Solange ich noch zu Hause wohnte, würde mein Vater es nicht erlauben. Weil er es für unnütz hielt: Ich hätte doch ein Fahrrad, meinte er immer, das reiche ja wohl.

Wir waren nicht die Einzigen, die den Sonntag am Wannsee verbringen wollten. Von der Bushaltestelle aus strebten Dutzende mit Picknickkörben, Klappstühlen, Wasserbällen und Luftmatratzen dem Strandbad zu, das für ganz Berlin ein Anziehungspunkt war. Wir jedoch fuhren vorbei, denn nicht nur mir graute vor den Menschenmassen – Walter und den anderen zum Glück auch. Von unserem Stammplatz, einem Stück Strand hinter den Bäumen, schien sonst niemand zu wissen.

Walter stellte das Moped ab. Heini, Ernst, Charlotte, Max und zwei Mädchen, die ich nicht kannte, waren bereits da. Sie hatten ihre Taschen auf einen Haufen geworfen, und die Mädchen zogen sich gerade um. Walter hatte mich zwar in seine Clique eingeführt, aber im Grunde war ich nur dann dabei, wenn er mich einlud. Andere Freunde als ihn und seine Leute hatte ich nicht. Die Schulkameraden von früher meldeten sich nicht mehr, seit ich im Westen arbeitete. Was mich wenig kümmerte, denn in Walters Clique fühlte ich mich wohl, weil keiner mich schief ansah.

Während er unsere Sachen vom Moped nahm, stießen noch drei weitere Mädchen zur Gruppe. Alle in kurzen Hosen und mit großen Sonnenbrillen und Strohhüten, sodass sie wie Drillinge wirkten.

Ich breitete mein Handtuch aus, und als ich mein Hemd aufknöpfte, stand plötzlich eines der Drillingsmädchen vor mir.

»He, warum hast du mich nicht angerufen?«, sagte sie, machte einen Schmollmund und ließ ihre Finger über meine Brust wandern.

Paula. Es war Paula …

»Wir haben zu Hause kein Telefon.«

Mit schief gelegtem Kopf sah sie mich an. Haben die im Osten wirklich kein Telefon?, sah ich sie denken.

Sie beschloss, die Entschuldigung gelten zu lassen. »Ich freu mich jedenfalls, dass du da bist!«

Sie holte ihr Handtuch hervor und legte es neben meines in den Sand.

Noch immer konnte ich mich nicht erinnern, was letzte Sonnabendnacht gewesen war. Nichts, vermutete ich, aber Paulas Verhalten nach zu urteilen, wohl doch etwas …

Den ganzen Tag über tat sie, als wären wir ein Pärchen. Wir schwammen, spielten Fußball, sonnten uns … und Paula wich nie von meiner Seite und hatte ständig irgendwelche Anliegen. Ich sollte ihr den Rücken eincremen, die Tasche rübergeben, mit ihr in den See hinausschwimmen, von den Keksen nehmen, die sie mitgebracht hatte. Allmählich wurde mir unbehaglich. Besonders beim Rückeneincremen und als sie im Wasser die Arme um mich schlang.

Erst als ich Heike sah, verstand ich, warum.

Am späten Nachmittag – ich spielte gerade mit Walter, Max und Paula Karten – tauchte sie mit einem halben Ölfass und einer großen Tasche voller Essen auf.

»Jetzt wird gegrillt!«, rief Max. Er und Walter füllten Sand in das Fass, schichteten Reisig und Papier darauf und hielten ein Streichholz daran. Rasch noch einen Rost darüber, und kaum eine Viertelstunde später stieg mir der Duft gebratener Frikadellen in die Nase und erinnerte mich daran, dass ich, abgesehen von ein paar Keksen, seit dem Morgen nichts gegessen hatte.

Die letzten Schwimmer kamen aus dem Wasser, die Handtücher wurden im Kreis um das Grillfass gelegt, und Heike stellte Schüsseln mit Salat, Tomaten und Mais bereit – alles ohne mich auch nur ein einziges Mal anzusehen. Walter hatte inzwischen einen Eimer Bierflaschen besorgt.

Wir aßen, rissen Witze, lachten. Heike saß mir im Kreis gegenüber, und ich schaute durch die flirrende Hitze zu ihr hin. Plötzlich lächelte sie mich an, und ich wünschte mir nichts mehr, als neben ihr zu sitzen statt neben Paula.

Als alle satt waren, wurde der Ölfassgrill zum Lagerfeuer umfunktioniert. Es dämmerte bereits, war aber noch angenehm warm. Max nahm seine Gitarre zur Hand und spielte ein paar bekannte Titel von Chuck Berry und Elvis. Als er eine langsame Ballade intonierte, die einige mitsangen, schmiegte Paula sich an mich. Ich murmelte eine Entschuldigung und stand auf. Ihr penetrantes Gehabe ging mir auf die Nerven. Ich lief zum Ufer. Das Wasser war ebenso schwarz wie die Silhouetten der Bäume, die unser Strandstück säumten. Irgendwo auf dem See flog ein Wasservogel auf. Ich setzte mich in den Sand, und die Gitarrenklänge und Stimmen wurden zu einer Art Hintergrundrauschen. »Keine Lust mitzusingen?« Heike stand neben mir. Ich hatte sie überhaupt nicht kommen hören.

»Oder keine Lust auf Paula?«

»Oje, war das so deutlich?«, fragte ich halb schuldbewusst.

»Für mich schon, für sie eher nicht.« Sie lachte verhalten.

»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was letzte Sonnabendnacht passiert ist«, gab ich zu. »Aber es sieht ganz so aus, als würde Paula daraus irgendwelche Rechte ableiten.« Ich drückte mich bewusst vage aus, um Heike nicht vor den Kopf zu stoßen.

»Keine Bange, es ist nichts passiert. Das hat Paula mir erzählt.«

»Erzählt?«

»Frauen reden nun mal über solche Dinge.« Wieder lachte sie. »Paula hat die Tendenz, sich an Männer ranzuschmeißen. Mach dir nichts draus …« Sie setzte sich neben mich und legte ihre Hand, die mir noch viel wärmer vorkam als der Sand, auf meine. »Was hat deine Mutter zu der Strumpfhose gesagt?«

Ein paar Enten flogen über das Wasser.

»Sie war begeistert«, log ich. »Danke noch mal.« Verdammt. Ich hätte mich damals überzeugender bedanken sollen.

Hinter uns stimmte Max All I have to do is dream von den Everly Brothers an. Diesmal sang keiner mit, alle lauschten der Melodie. Heike rückte näher, legte den Kopf an meine Schulter und summte leise mit. Ich schlang meinen Arm um sie, und so saßen wir da, bis das Lied zu Ende war. Auch als Max ein schnelleres Stück zu spielen begann und die anderen wieder mitsangen, machte sie keine Anstalten aufzustehen. Nur der Zeigefinger ihrer rechten Hand bewegte sich – sie malte damit kleine Kreise auf meinen Schenkel. Ich erwiderte die Zärtlichkeit, indem ich mit dem Daumen über ihren Oberarm strich.

Und als sie mir das Gesicht zuwandte, küsste ich sie.

DREI

Die Erinnerung an den Sonntag am See trug mich durch die Woche. An Paula versuchte ich nicht mehr zu denken. Zugegeben: Es war feige von mir, ihr auszuweichen, aber letztlich war ich ihr keine Rechenschaft schuldig, war sie es doch, die sich aufdrängte. Und was für Gefühle hegte ich für Heike? Hatte ich mich von der romantischen Stimmung hinreißen lassen, oder war da mehr im Spiel?

Walter stieß mich an, als wir unsere Kellen sauber machten. »Ich glaube, du hast Besuch.« Er grinste.

Am Bauzaun stand Heike. In einer kurzen Hose und einer weißen Bluse.

Ziemlich unsicher ging ich auf sie zu. Wie sollte ich sie begrüßen? Mit einem einfachen »Hallo«? Oder mit einem Kuss?

Sie nahm mir die Entscheidung ab, indem sie mich umarmte und auf den Mund küsste. Ich spürte Walters Blick im Rücken.

»Na du?«, sagte sie munter. »Fertig mit der Arbeit?«

Ich sah mich um. Walter machte mir ein Zeichen, dass ich gehen konnte.

»Ja, gerade eben.«

»Fein, dann mal los. Im City läuft ein klasse Film.« Sie nahm meine Hand.

Ich wechselte im Bauwagen schnell die Kleider und ließ mich nur zu gern mitziehen. Das City war eines der Grenzkinos mit ermäßigtem Eintritt für Ostberliner. Dort liefen amerikanische Streifen, die in der DDR nicht gezeigt wurden, und europäische Filme waren im City viel früher zu sehen als bei uns. Vorab kamen immer die Nachrichten der Woche, aus westlicher Sicht, versteht sich.

Mein Stolz ließ es nicht zu, den Ostpreis zu zahlen; ich holte mein Westgeld aus der Tasche und kaufte zwei Karten. Wie der Film hieß und wovon er handelte, hatte ich schon am Abend, als ich über die Grenze ging, vergessen. In deutlicher Erinnerung dagegen blieb mir, dass Heikes Arm die ganze Zeit den meinen berührt hatte. Haut an Haut.

Heike gegenüber hatte ich keinerlei Gefühl des Fremdseins. Es war viel eher so, als würden wir uns seit Jahren kennen und wären uns ebenso lange vertraut. Sie holte mich öfter von der Arbeit ab, und dann aßen wir zusammen in der Stadt oder gingen mit Walter und der Clique in die Kneipe. Ost-West-Politik war kein Thema zwischen ihr und mir, stattdessen sprachen wir über Filme, Musik und unsere Zukunftspläne. Ich stellte fest, dass wir in vielem übereinstimmten.

Heike arbeitete als Stenotypistin in der Bestellabteilung eines großen Möbelhauses. Sie erzählte mir von der grässlichen Kollegin am Schreibtisch gegenüber und von ihrem Chef, der dauernd anzügliche Scherze machte. Wenn sie merkte, dass ihre Geschichten mich amüsierten, vergaß sie den Ärger und brach selbst in Lachen aus. Und wir überlegten uns Dutzende Arten, wie man es dem Abteilungsleiter heimzahlen könnte.

Paula hatte mittlerweile einen anderen an der Angel und dachte nicht mehr an mich. Wenn sie mit ihm unterwegs war, ging ich abends mit Heike nach Hause, die dann für uns beide kochte. Irgendwann kam die unvermeidliche Frage: »Wann nimmst du mich mal mit in den Osten?«

Bisher hatten wir uns immer im Westen getroffen, und mir fiel wieder ein, dass sie beim Kennenlernen gesagt hatte, sie sei noch nie in Ostberlin gewesen.

VIER

Als Walter sein Kofferradio ausschaltete, wusste ich, dass die Arbeit für heute beendet war. Statt noch ein paar Worte zu reden wie sonst, ging ich rasch in den Bauwagen und zog mich um. Ich hatte meine Levi’s und ein weißes Hemd mitgenommen. Heike sollte von einem schick gekleideten Julian abgeholt werden. Dass ich in dieser Aufmachung jenseits der Grenze auffallen würde, war mir egal. Ich schlüpfte in meine feuerroten Westschuhe und packte die Arbeitskleidung und meine Sicherheitsschuhe in die Tasche. Walter, der dabei war, ein paar Sachen wegzuräumen, rief ich einen Gruß zu und machte mich auf den Weg. Die Sonne schien, und ich pfiff einen Song von Elvis, der vorhin im Radio gelaufen war.

Heike erwartete mich bereits an der Wohnungstür. Sie trug einen weiten Rock und ein kurzes Jäckchen, hatte die Haare hochgesteckt und Lippenstift aufgetragen – wie um groß auszugehen. Ein klein wenig ähnelte sie der jungen Marilyn Monroe.

»Bist du bereit für einen Besuch im sozialistischen Paradies?«

Einen Moment lang meinte ich, Zweifel in ihrem Blick zu erkennen, dann aber lächelte sie und hielt mir den Arm hin. Ich hakte sie unter wie ein echter Gentleman, und wir gingen zusammen die Treppe hinab.

Draußen ließ sie meinen Arm wieder los.

Wir nahmen einen anderen Grenzübergang, weil ich nicht wieder Wolfgang Wichser über den Weg laufen und mich vor Heike von ihm schikanieren lassen wollte.

Der Grenzer ließ sich unsere Ausweise zeigen, verglich die Fotos mit unseren Gesichtern und gab sie dann wortlos zurück.

»Tasche aufmachen!«, forderte er mich barsch auf.

Heikes Augen wurden groß, und sie holte tief Luft.

Lässig reichte ich dem Mann meine Tasche und summte dabei die Melodie, die mir noch immer durch den Kopf ging. Er sah mich irritiert an, zog den Reißverschluss auf, warf einen raschen Blick auf den Inhalt und machte die Tasche wieder zu. »In Ordnung. Weitergehen«, brummte er.

Als wir ein paar Meter von ihm entfernt waren, griff Heike nach meiner Hand. »Du, das war ein Elvis-Lied!«

Ich schritt zielbewusst aus. Am Morgen hatte ich mir genau überlegt, welche Strecke ich mit Heike gehen wollte.

Als Erstes sollte sie den Alexanderplatz sehen. Und danach noch so manches andere, von dem ich glaubte, es würde ihr Eindruck machen. Als sie aber neben mir durch die düsteren schmucklosen Straßen ging, die so ganz anders waren als jene im Westen mit ihren Leuchtreklamen, kamen mir Zweifel, und ich schämte mich für die heruntergekommenen Häuser, deren Putz von den Mauern bröckelte, und die unkrautüberwucherten Trümmerhaufen dazwischen. Die Kleider der Leute, die uns entgegenkamen, musste Heike als hoffnungslos altmodisch empfinden.

Wir kamen zum Gendarmenmarkt, und mit einem Mal sah ich den Platz mit ihren Augen. Den Französischen Dom mit seinen hohen Säulen und dem runden Turm hatte ich bisher immer als imposantes altes Bauwerk empfunden. Jetzt aber stach es mir viel mehr in die Augen, dass die Kuppel fehlte und das Dach des Nebengebäudes schadhaft war. Ich ließ die Schultern sinken. Was hatte ich Heike eigentlich zu bieten? Unsere wenigen Sehenswürdigkeiten nahmen sich mehr als bescheiden aus.

In den neueren Stadtteilen betrachtete sie scheinbar interessiert die Denkmäler von Stalin und anderen kommunistischen Führern und bewunderte pflichtmäßig die in sozialistischer Zeit entstandenen großen Wohnblocks. Über die Warteschlangen vor den Läden und deren leere Schaufenster verlor sie kein Wort und zuckte auch beim Anblick politischer Parolen auf Plakatwänden nicht mit der Wimper. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie enttäuscht war. Darum schlug ich den Weg zum Park ein. Bäume, Rasen und Bänke waren schließlich in Ost und West gleich, unabhängig vom System.

Im Volkspark Friedrichshain atmete ich erleichtert auf. Dort schoben Mütter Kinderwagen vor sich her, spielten Jungen Fußball und saßen Mädchen kichernd im Gras. Die Fontänen des Märchenbrunnens spien Wasser empor und rundeten das harmonische Bild ab. Wir standen vor den Steinskulpturen am Beckenrand, die Märchenfiguren darstellten.

»Hast du ein Lieblingsmärchen, Julian?«, fragte Heike.

Darüber hatte ich noch nie nachgedacht. Heike dagegen schon. Sie schwärmte für Dornröschen. Ihre Großmutter, erzählte sie, habe auch ein Spinnrad besessen. So kamen wir von Märchen auf Großmütter, auf Winterabende im Advent mit Lebkuchenduft und andere Kindheitserinnerungen. Wir redeten und lachten, und darüber vergaß ich meinen gescheiterten Versuch, ihr zu beweisen, dass auch Ostberlin viel Schönes zu bieten habe.

Schließlich standen wir von unserer Parkbank auf, denn ich hatte zu Hause versprochen, Heike zum Abendessen mitzubringen. Mir passte das zwar nicht sonderlich, aber ich wollte Mutter nicht enttäuschen.

Dass Heike nervös war, merkte ich daran, dass sie auf der Treppe zu unserer Wohnung mehrmals ihren Rock glatt strich. Ich nickte ihr aufmunternd zu und hoffte, dass mein Vater nicht allzu schlecht gelaunt sein würde.

Wir waren keine fünf Minuten zu spät, trotzdem saß er bereits wartend am Tisch.

Heike begrüßte ihn höflich, er dagegen ließ nur ein Knurren hören. Mutter kam aus der Küche und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Auch ihr war die Nervosität anzumerken.

Sie hatte sich mächtig ins Zeug gelegt und einen köstlichen Schmortopf gekocht. Heike lobte das Essen, und meine Mutter errötete – etwas, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Ansonsten verlief das Tischgespräch ziemlich gezwungen. Aber wenigstens sah mein Vater davon ab, Heike ins Kreuzverhör zu nehmen. Und meine kleine Schwester Franziska war nicht allzu vorlaut, jedenfalls nicht zu Anfang.

»Ich bin bei der Freien Deutschen Jugend«, legte sie bald darauf los. »Uns geht es darum, die Freundschaft mit der Sowjetunion zu vertiefen und alle Völker der Welt im Kampf gegen den Imperialismus zu unterstützen.«

Ich verdrehte die Augen, Heike jedoch lächelte, nickte und schien sich nicht an Franziskas belehrendem Tonfall zu stören. Fieberhaft suchte ich nach einem anderen Thema, doch mir wollte nichts einfallen. Über das Wetter hatten wir bereits geredet …

»Darf ich Ihnen noch einmal auftun?«, fragte meine Mutter Heike.

»Sehr gern, danke. Es schmeckt wunderbar«, sagte Heike freundlich. »Das Gericht erinnert mich an Irish Stew. Falls Sie mal nach Irland …« Sie brach ab.

Wie sollte meine Mutter je nach Irland kommen und dort Irish Stew essen?

»Wir waren im Volkspark«, versuchte ich, die peinliche Situation zu überspielen. »Ganz schön viele Leute dort.«

Heike pflichtete mir sofort bei: »Ja, und der Märchenbrunnen mit seinen Figuren ist eine Pracht.«

Meine Mutter nickte, dann herrschte Schweigen.

Ein bedrückendes Schweigen. Es war deutlich zu spüren, dass jeder, den Blick auf seinen Teller gerichtet, angestrengt überlegte, worüber man noch sprechen könnte.

Erst als alle satt waren und Mutter sich ans Tischabräumen machte, wurde die Stille durchbrochen, wenngleich nur von Geschirrklappern.

Dann klopfte es.

Ich stand auf und ging zur Wohnungstür.

Es war unsere Nachbarin Frau Schulze. Ihr Mann und ihre drei Söhne waren im Krieg umgekommen. Sie selbst hatte sich danach von einer überzeugten Nationalsozialistin zur ebenso überzeugten Kommunistin gewandelt, hörte den ganzen Tag DDR-Radio und ging abends in der Nachbarschaft herum, um allen das Neueste zu erzählen.

Noch ehe sie etwas sagen konnte, stand meine Entscheidung: Ich würde Heike sofort zur Grenze bringen. Dass Vater mir hinterher wegen des überstürzten Aufbruchs Vorhaltungen machen würde, war mir egal. Die Schulze sollte auf keinen Fall mitbekommen, dass ich eine Freundin im Westen hatte. Sie behandelte mich ohnehin schon wie Abschaum. Außerdem hatte ich Heike nicht hergebracht, damit sie sich in einem fort DDR-Propaganda anhören musste.

»Das junge Fräulein hat aber ausgefallene Kleider an«, hörte ich sie noch sagen, bevor ich die Wohnungstür hinter uns zuzog.

Wir gingen nicht gleich zur Grenze, sondern schlenderten noch eine Weile durch meinen Teil der Stadt, während in ihrem die Sonne unterging. Ich hatte nicht mehr den Drang, Heike irgendwelche Sehenswürdigkeiten zu zeigen, und sah die Umgebung auch nicht mehr mit ihren Augen, sondern genoss einfach unser Zusammensein. Ohne viel zu reden, gingen wir Hand in Hand.

Als Heike fröstelte, legte ich meinen Arm um sie, und als es dann noch kühler wurde, machten wir uns zur Grenze auf.

Dort verabschiedeten wir uns.

»Es war schön, Julian«, sagte Heike.

Ich zog die Augenbrauen hoch. Schön? Diese hässliche Stadt?

Die mühsame Unterhaltung bei Tisch? Franziskas Arroganz?

»Jetzt verstehe ich dich besser«, fügte sie hinzu.

Ich wollte protestieren, doch sie legte mir den Finger auf die Lippen.

»Ich weiß, dass du anders denkst als deine Schwester. Und dass du dich in der DDR nicht zu Hause fühlst, auch wenn sie dein Land ist. Es war mutig von dir, mir das alles zu zeigen. Es war … ehrlich. Danke dafür.«

Nach diesen Worten küsste sie mich leicht auf die Wange.

FÜNF

Als es klingelte, schielte ich mit einem Auge zum Wecker. Sie waren viel zu früh dran – typisch für meinen Schwager Hermann. Wir wollten doch erst um elf zu unserer Datsche ein Stück außerhalb der Stadt aufbrechen.

Stöhnend drehte ich mich um und zog mir die Decke über den Kopf, hörte aber trotzdem die schnellen Schritte von Marthe und Florian im Flur.

»Tag, Oma!«, rief Marthe. »Ich hab heut Geburtstag!«

Als wüsste das nicht jeder in der Familie.

Heike und ich waren gestern mit Marthe im Zoologischen Garten gewesen, quasi als verfrühtes Geburtstagsgeschenk. Dort hatte die Kleine zu allen möglichen Leuten »Morgen werde ich sooooo viel Jahre« gesagt und dabei vier Finger hochgehalten.

Die Wohnungstür schlug zu. Meine ältere Schwester Gudrun sagte etwas. Was, konnte ich nicht verstehen, aber ihre Stimme klang aufgeregt. Und auch Hermann sprach ungewöhnlich laut. Was war da los?

Als ich ins Wohnzimmer kam, saß Vater vor dem Radio. Mutter, Gudrun und Hermann standen neben ihm, lauschten angestrengt und starrten den Apparat an, als könnten sie ihm dadurch mehr Informationen entlocken. Weil die Nachrichten schon fast zu Ende waren, begriff ich nicht, worum es ging.

Vater stellte den amerikanischen Sender RIAS ein.

»… Senat und Bevölkerung von Berlin erwarten, dass die Westmächte energische Schritte bei der sowjetischen Regierung unternehmen werden«, tönte die Stimme des Westberliner Bürgermeisters Willy Brandt.

»Was ist los?«, fragte ich, und erst jetzt bemerkten die anderen mich.

»Sie machen die Grenze dicht.«

»Die Grenze dicht? Warum das?«

Gudrun zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Jedenfalls heißt es im Radio, dass sie Stacheldraht spannen und keinen mehr durchlassen.«

»Für wie lange?«

»Wer weiß das schon? Für immer?«

Wie konnte das sein? Gestern noch hatten wir zweimal die Grenze passiert, um in den Zoo zu gehen. Dabei war uns nichts aufgefallen; alles war wie immer gewesen.

»Ich seh mir das an!«, rief ich, bereits im Flur, um die Schuhe anzuziehen.

»Sei vorsichtig«, mahnte Mutter. »Wenn die Russen …«

Aber ich hörte schon nicht mehr hin.

Draußen rannte ich los. Es waren jede Menge Leute auf der Straße. Nicht das übliche Sonntagmorgenvolk, wie mir auffiel, als ich Männer in Hemdsärmeln überholte und Frauen, die ihre Babys auf dem Arm trugen, statt sie im Kinderwagen zu schieben. Man sah, dass sie in aller Eile vom Frühstückstisch aufgebrochen waren. Und die Aufregung war regelrecht zu spüren. Wie von einem riesigen Magneten angezogen, strebten alle in dieselbe Richtung: zur Grenze.

Was Gudrun gesagt hatte, wollte ich erst glauben, wenn ich es mit eigenen Augen sah. Die Grenze dicht machen, womöglich auf ganzer Länge – das war doch ein Unding! Das konnten sie einfach nicht machen! Berlin war eine Stadt, wenn auch in Ost und West geteilt.

Die Leute vor mir – inzwischen wahre Massen – bogen ab, folgten dem lauten Gehämmer. Und dann blieben plötzlich alle stehen. Ich drängte mich nach vorn, so gut es ging.

Gudrun hatte recht.

Unmittelbar vor der Kreuzung mit der Bernauer Straße rammten Bauarbeiter Betonpfähle in den Boden. Hinter ihnen lagen große Stacheldrahtrollen, das Ganze bewacht von Volkspolizisten mit Maschinenpistolen. Mit starrem Blick standen sie da, als würden sie uns gar nicht wahrnehmen.

Ich war wie versteinert, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Nur noch entgeistert hinschauen. Das Dröhnen der Presslufthämmer, mit denen die Straße aufgebrochen wurde, betäubte mich geradezu. Mir war, als sähe ich einen Film, nicht ein reales Geschehen.

Auch drüben, auf der Westberliner Seite, hatte sich eine Menschenmenge eingefunden. Die Leute standen ebenso regungslos da wie wir. Nur dass sie nicht von bewaffneten Polizisten in Schach gehalten wurden. Eine eisige Kälte befiel mich. Sie schlossen tatsächlich die Grenze, und zwar nicht nur für ein paar Stunden, wie das schon öfter der Fall gewesen war. Diesmal war es ernst, todernst.

Heike!, zuckte es mir durch den Kopf. Heike wollte doch mit uns zur Datsche! Meine Gedanken überschlugen sich. Wie spät war es? Wie lange waren die Bauarbeiter schon zugange? Hatte sie es noch geschafft, nach Ostberlin zu kommen? Vielleicht mit der U-Bahn? Gut möglich, dass die Bahnen noch fuhren … Ich musste schleunigst nach Hause, wahrscheinlich wartete sie dort auf mich. Kaum dass ich den Vopos den Rücken zukehrte, löste sich meine Starre, und das Blut pulsierte wieder. Ich rannte los, weg von der Grenze. Unterwegs hielt ich Ausschau nach Heike. Ich sah etliche blonde Mädchen, nicht aber sie.

Völlig außer Puste kam ich zu Hause an. Im Wohnzimmer saß mein Vater noch immer vor dem Radio. Florian und Marthe tobten herum. Mutter und Gudrun besprachen etwas, was nicht einfach war, weil die Kinder einen Höllenlärm machten.

Mein Kommen nahm keiner wahr.

»He! Hört mal zu!«, rief ich laut.

Erst da sahen sie mich.

»Ist Heike gekommen?«

Mutter schüttelte den Kopf. Ihre Miene wurde mitleidig, als ihr klar wurde, was das bedeutete.

»Ach, Julian …«, sagte sie leise.

Ich biss mir auf die Lippe. Vielleicht kam Heike ja noch. Bestimmt war sie auf dem Weg hierher.

»Onkel Julian, bist du fertig?« Florian zupfte mich am Ärmel.

»Wir wollen doch zur Datsche!«, ergänzte Marthe.

Ich ging nicht auf die beiden ein.

»Wir haben uns entschlossen, doch zu fahren«, sagte Gudrun leise. »Schon der Kinder wegen. Hier können wir ja nichts ausrichten.«

»Aber wenn Heike …«

»Ach, Julian …«, sagte meine Mutter wieder. »Die Grenze …«

»Ein bisschen warten können wir wohl noch!«, fiel ich ihr ins Wort.

Vater löste den Blick vom Radio. »Was habt ihr vor?«, fragte er wie geistesabwesend.

»Wir fahren zur Datsche«, sagte Gudrun. »Es hat keinen Sinn hierzubleiben. Wenn es zu Kämpfen kommt …«

Ich schüttelte entschieden den Kopf. Solange ich nicht wusste, was mit Heike war, konnte ich unmöglich mitgehen.

Franziska kam ins Zimmer, mit Sonnenbrille und einem grotesk großen Strohhut auf dem Kopf. »Gehen wir?«

»Heike ist noch nicht da!«, fuhr ich sie an.

»Die kann jetzt sowieso nicht mehr mit.« Sie reckte das Kinn in die Luft.

Gudrun legte mir die Hand auf den Arm. »Du verstehst doch, Julian, dass es sinnlos ist, hier herumzusitzen. Und wir wollen doch Marthes Geburtstag feiern. Die Kinder freuen sich so darauf.«

Ich nickte, ohne weiter hinzuhören. »Dann geht. Ich bleibe hier.«

Ich blieb mitten im Wohnzimmer stehen, und sie gingen an mir vorbei, ohne dass ich es so recht registrierte. Wie eine gestrandete Boje im ablaufenden Meerwasser kam ich mir vor.

»Aber mach keine Dummheiten«, sagte Mutter noch, bevor sie die Tür hinter sich zuzog.

Als ihre Schritte auf der Treppe verhallten, war es still in der Wohnung. Minutenlang stand ich da und lauschte auf die Türklingel. Aber da war nur ein Dröhnen in meinem Kopf, das Dröhnen der Presslufthämmer.

Ich schaute auf meine Armbanduhr. Heike hätte längst hier sein müssen. Vielleicht sollte ich noch einmal zur Grenze gehen. Womöglich stand sie inzwischen dort, auf der anderen Seite.

Es klopfte.

Ich rannte zur Tür und riss sie auf.

Es war mein älterer Bruder Rolf.

Enttäuscht ging ich wieder ins Wohnzimmer, und Rolf folgte mir. »Habt ihr es schon gehört?« Sein Gesicht war gerötet.

Ich nickte düster. »Die anderen sind zur Datsche gefahren.«

»Zur Datsche? Wo hier …« Rolf sah mich ungläubig an.

Ich zuckte mit den Schultern. »Gudrun wollte nicht in der Stadt sein, wenn ein neuer Krieg ausbricht.«

Rolf setzte sich auf die Sofakante. »Glaubst du auch, dass es Krieg geben wird?«

Wieder zuckte ich mit den Schultern. »Die Amerikaner werden nicht so einfach hinnehmen, dass Westberlin komplett abgeriegelt wird.«

»Die Russen sind darauf eingestellt«, meinte Rolf. »Ich hab auf dem Weg hierher ihre Lastwagen gesehen. Panzer nicht, aber sie behalten alles genauestens im Blick.«

Ich schluckte. Sollten sie wirklich wieder einen neuen Krieg anzetteln? So kurz nach dem letzten?

»Machen sie die Grenze denn auf der ganzen Länge dicht?«, fragte ich.

Jetzt war es an Rolf, mit den Schultern zu zucken. »Ich weiß nur, was ich im Radio gehört habe.« Er seufzte. »Die Partei will uns im Osten halten. Mit Stacheldraht …«

»Ich gehe zur Grenze«, sagte ich. Hier herumzusitzen und zu grübeln, ob es Krieg gab oder nicht, brachte uns nicht weiter. »Kommst du mit?«

»Nein, ich …«

Ich wartete Rolfs Antwort nicht ab. »Meine Freundin Heike wollte mit uns zur Datsche. Vielleicht ist sie gerade noch rübergekommen.«

»Wohl eher nicht. Aber wenn du auf Nummer sicher gehen willst, dann häng einen Zettel an die Tür.«

An diese Möglichkeit hatte ich überhaupt nicht gedacht.

Liebste Heike,

bin in der Stadt. Warte bitte hier auf mich.

Die anderen sind zur Datsche gefahren. Bin bald wieder da.

Gruß

J

Ich klebte den Zettel an die Wohnungstür. Dann ging ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Treppe hinunter, holte mein Fahrrad aus dem Keller und fuhr in Richtung Westen. Wenn die Amerikaner etwas gegen die Grenzschließung unternehmen würden, dann bestimmt am Brandenburger Tor.

Vor acht Jahren war es zu einem Aufstand gekommen. Ein Bauarbeiterstreik hatte sich zu einer umfassenden Protestbewegung ausgeweitet. Die Russen hatten mit Panzern dagegengehalten. Und die Vopos hatten die Demonstranten unter Beschuss genommen. Ob es heute wieder so sein würde?

Ich trat kräftiger in die Pedale. Mir fiel auf, dass jetzt noch viel mehr Leute auf der Straße waren. Und auch mehr Polizei. Ein Lastwagen mit Soldaten überholte mich.

Am Pariser Platz angekommen, sah ich, dass von einem Aufstand nicht die Rede sein konnte. Ganz im Gegenteil: Es herrschte Grabesstille. Die Vopos bildeten mit gezückten Waffen eine undurchdringliche Reihe vor den Stacheldrahtrollen. Jenseits des Brandenburger Tors drängten sich jede Menge Westler und verfolgten das Geschehen mit unverhohlener Neugier. Auf sie waren keine Waffen gerichtet, nur ein paar Polizisten standen dort herum, mit den Händen in den Taschen. Auf unserer Seite waren inzwischen nicht nur Wasserwerfer, sondern auch Panzer aufgefahren worden. Eine überflüssige Maßnahme, wie es schien, denn keiner traute sich an die Grenze heran.

Wo blieben die Amis? Wo ihre Bulldozer, um den Stacheldrahtverhau platt zu walzen?

Die Hand am Fahrradlenker, ging ich an der Grenze entlang. Ein Stück weiter sah ich Leute aufgeregt miteinander reden. Ich steuerte auf sie zu, vielleicht wussten sie ja mehr.

Plötzlich kam Bewegung in die Menge der Westberliner auf der anderen Seite.

»Kommt rüber!« Ein paar von ihnen gestikulierten heftig, andere begannen, am Stacheldraht zu zerren. »Los, wir reißen den Zaun ein!« Und ehe ich mich’s versah, hatten auch schon drei Ostler die Barriere überwunden.

Sollte ich auch … in meinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Einfach das Rad hinwerfen und rüber … in den Westen, zu Heike? Alles zurücklassen? Ich hatte nichts bei mir, würde auch nicht Abschied nehmen können.

Aber da war die Gelegenheit schon vorbei. Die Grenzwächter hatten Verstärkung herbeigerufen und Bauarbeiter, die den Stacheldraht wieder richteten. Zwei Vopos postierten sich davor, die Waffe im Anschlag, um uns auf Abstand zu halten.

»Manfred!« Eine Frau neben mir rannte auf die Grenze zu. Ein Mann – ihr Liebster? – auf der anderen Seite setzte sich ebenfalls in Bewegung, wurde aber von Westberlinern zurückgehalten, die auf ihn einredeten, um ihn von der Rückkehr abzubringen.

»Manfred, ich komme auch!« Die Frau hatte den Stacheldraht erreicht und wollte darüberklettern, blieb aber mit der Jacke hängen. Sie wurde von den Vopos gepackt und, erbärmlich schluchzend, weggeschleift. Niemand unternahm etwas dagegen. Mir wurde innerlich eiskalt. Man hatte nicht nur mitten durch meine Stadt Stacheldraht gezogen, sondern auch mitten durch mein Leben. Schon jetzt hatte ich das Gefühl, mir die Hände daran aufgerissen zu haben. Benommen ging ich weiter.

Überall das gleiche Bild. Schweigende Menschen beiderseits der Grenze, die einander so ungläubig anstarrten, als wären sie gerade aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht. Vopos mit unbewegten Mienen. Und dazu der Lärm der Bautrupps.

Als ein britischer Jeep mit drei Soldaten auftauchte, hielten alle den Atem an. Aber sie fuhren nicht einmal bis an die Grenze heran, sondern sahen sich nur um, zuckten mit den Schultern und verschwanden wieder. Ihr Interesse an unserer Lage schien nicht sonderlich groß zu sein.

Widerstand leisteten einzig eine Handvoll westdeutsche Jungs um die siebzehn in schwarzen Lederjacken und mit Schmalztollen. Sie kamen auf ihren Mopeds angebraust, beschimpften die Vopos und warfen Steine auf eine Gruppe Männer mit Parteiabzeichen am Revers. Aber ehe die Situation eskalieren konnte, wurden sie von westdeutschen Polizisten zurückgedrängt: »Keine Provokationen!«

Ich wollte mich abwenden und gehen, brachte es aber nicht fertig. So wie Unfallzeugen eigentlich nicht sehen wollen, was passiert ist, sich aber auch nicht von dem schrecklichen Anblick losreißen können.

eine