Über das Buch

Der Waisenjunge Jack Engle wächst um 1850 im multikulturellen New York auf. Glücksverheißend ist die Stadt, aber auch schmutzig und gefährlich. Doch er ist nicht allein: Sein Freund Tom ist der größte Schlaumeier weit und breit. Der Laufbursche Nathaniel träumt davon, auf einem Pferd die Third Avenue hinunterzugaloppieren. Und in die Quäkerin Martha verliebt sich Jack, zumindest fast. Gemeinsam schaffen sie es, sich in der wimmelnden Metropole zu behaupten.

Diese Geschichte wird in sechs oder weniger Ausgaben abgeschlossen sein. Da uns der Autor das Manuskript vollständig überlassen hat, können wir dem Leser wöchentlich einen solchen Umfang präsentieren, dass er das Ende in dieser Zeit erreicht. – Die Hrsg.

ZUM GELEIT

Freimütig werden wir dir, geneigter Leser, eine wahre Geschichte erzählen. Der Bericht ist in der ersten Person geschrieben; denn ursprünglich hat ihn die Hauptfigur zur Unterhaltung eines geschätzten Freundes flüchtig hingeworfen. Obwohl der vorliegende Bericht durch eine unbedeutende Auslassung hier und einen Einschub dort ein wenig bearbeitet wurde, weicht er im Wesentlichen nicht davon ab. Die Hauptereignisse haben sich in der wackeren Stadt New York tatsächlich so zugetragen; und eine beileibe nicht geringe Anzahl unserer Leser wird sich fragen, warum zum Teufel solche Tatsachen (da sie ihnen längst bekannt sind) überhaupt in den Druck gelangten.

Im Laufe des Berichts geben wir den Darstellern dieses echten Dramas unechte Namen und werfen ihnen aus guten Gründen so viele unserer eigenen Kleider über, dass ihre Identifizierung durch Fremde verhindert wird.

Einige der in dieser Erzählung geschilderten Gestalten sind uns aus anderen als den oben erwähnten Quellen zur Kenntnis gelangt. Diese werden wir, je nachdem, wie es im Interesse des Details liegt, anführen oder verschweigen.

1. KAPITEL

Ein Musterbeispiel für das junge Amerika – der Anwalt in seiner Kanzlei – hohes Alter, ziemlich runtergekommen – Auftritt von Telemach und Odysseus – die Abmachung.

Pünktlich um halb eins, das Licht der Mittagssonne lag flach auf dem Pflaster der Wall Street, stülpte sich ein junger Mann mit dem frommen Namen Nathaniel einen Strohhut, für den er an ebendiesem Morgen fünfundzwanzig Cents ausgegeben hatte, aufs kurzgeschorene Haupt und verkündete seine Absicht, zum Mittagessen zu gehen.

 

COVERT
Rechtsanwalt

prangte auf der zur Kühlung weit geöffneten, befestigten Tür in den Raum hinein (es war eine Kanzlei im Stadtzentrum); und in diesem Moment blickte der echte Covert auf von seinem stoffbezogenen Schreibtisch im hinteren Zimmer, dessen Teppich, Bücherschränke, modriger Geruch, Sessel mit Lederpolstern und drei Fenster, von denen nur eins, und das auch bloß einen Spaltbreit, geöffnet war, es als das Heiligtum des dortigen Herrschers auswiesen. Die Kleidung dieses Gentlemans kennzeichnete ihn als jemanden aus der Sekte der Freunde oder Quäker. Er war recht groß, hatte ziemlich runde Schultern und ein blasses, kantiges, glattrasiertes Gesicht; für jemanden, der Sachkenntnis in Physiognomie besaß, lag in seinen Augen unmissverständlich ein gewisser heuchlerischer satanischer Blick. Da er den Verdacht hegte, dass jener Teil seines Gesichts keinen guten Eindruck machte, hatte er die Angewohnheit, seine Sehorgane niederzuschlagen. In diesem Fall jedoch fielen sie auf seinen Laufburschen.

»Ja, geh zu deinem Mittagessen; ihr beide könnt gehen«, sagte er, »denn ich möchte meine Ruhe haben.«

Daraufhin erhob sich Wigglesworth, der Sekretär, ein tabakduftender alter Mann – er rauchte und kaute unablässig –, von seinem hohen Stuhl in der Ecke, wo er einige Dokumente langsam abgeschrieben hatte.

Alter Wigglesworth! Ich muss an dieser Stelle ein Wort des Lobes und Bedauerns einfügen; denn der Herrgott verlieh dir eine gute Seele, obwohl du ein lächerlicher alter Kauz warst.

Ich kenne wenige Anblicke, die betrüblicher sind als diese alten Männer, die man heute in New York hier und da sieht; offenbar unbeweibt und kinderlos, äußerst ärmlich, die Lippen über zahnlosen Gaumen eingefallen, mit gammligen, speckigen Lumpen bekleidet, beenden sie ihr Leben auf dem umstrittenen Boden zwischen ehrenhaftem Hungertod und Armenhaus.

Der alte Wigglesworth war einmal wohlsituiert gewesen. Der Grund für seine Verluste und Altersarmut lag mehr oder weniger in nichts anderem als Ausschweifung. Er war nie vollkommen betrunken, aber auch nie ganz nüchtern. Covert hatte ihn nun für einen Wochenlohn von vier Dollar angestellt.

Der zuvor erwähnte Nathaniel war ein schmächtiger Bursche mit grenzenlosem Ehrgeiz; dessen äußerstes Ende und Ziel darin bestand, eines Tages ein schnelles Pferd auf der Third Avenue reiten zu können. Bis dahin rauchte er billige Zigarren, kultivierte auf den zarten Schläfen sein hellbraunes Haar in Form sogenannter Seifenlocken, flitzte aus dem Büro und machte die Botengänge, gelegentlich unterbrochen durch das Schlichten einer Streitigkeit mittels Zunge oder Faust. Denn Nathaniel war mutig und hatte die angeborene Neigung, seine Meinungen notfalls mit Gewalt durchzusetzen.

Erlöst von der Anwesenheit der beiden, saß Mr Covert da, grübelte und schrieb abwechselnd, bis er zuletzt einen Brief beendet hatte, auf den er offenbar beträchtliche Mühen verwendete. – Dann faltete er ihn, steckte ihn in einen Umschlag, versiegelte diesen und verschloss seinen Schreibtisch.

Es klopft an der Tür.

»Herein.«

Zwei Leute treten ein. Der eine ist ein rüstiger Mann mittleren Alters aus der sogenannten Arbeiterklasse; der andere euer untertänigster Diener, der all diese Mühen auf sich nimmt, seine Abenteuer zu eurer Unterhaltung zu erzählen; er heißt Jack Engle und ist zur Zeit dieser Einleitung berstende zwanzig Jahre alt – in Strümpfen fast eins achtzig groß –, trägt ein Paar brauner Augen und dazu passende rote Wangen im Gesicht und betrachtet ziemlich scharf die Mädchen, die auf der Nassau Street von ihrer Arbeit in der Innenstadt nach Hause gehen.

»Mr Covert, wie ich annehme«, sagte mein Begleiter.

»So lautet mein Name, Sir. Wollen Sie sich setzen?«

»Ich heiße Foster«, er machte es sich auf einem Stuhl bequem und legte seinen Hut auf den Tisch, »Sie haben vermutlich gestern eine Notiz von mir erhalten?«

»Oh, ja – ja«, erwiderte der Anwalt gedehnt. Dann sah er mich an: »Und dies ist also der junge Mann?«

»Das ist der junge Mann, Sir; wir sind gekommen, um zu sehen, ob wir die Sache einrichten können. Wissen Sie, ich möchte, dass aus ihm ein Anwalt wird, ein Beruf, der ihm nicht besonders gefällt und den er selbst nicht gewählt hätte. Aber mein Herz hängt daran, und er ist ein Bursche, der mir nachgibt und deshalb zugestimmt hat, dieses Geschäft ein Jahr lang fleißig zu erlernen. Und ich habe zugestimmt, dass er danach seinen eigenen Weg einschlagen darf.«

»Er ist nicht Ihr Sohn, wenn ich’s recht verstanden habe«, sagte Covert.

»Nicht ganz«, antwortete der andere, »doch so nahe daran, dass es keinen Unterschied macht. Jetzt kennen Sie meine Meinung, und da ich ein Mann weniger Worte bin, will ich die ihre erfahren.«

»Nun, Mr Foster, wir werden es auf jeden Fall mit ihm versuchen.«

Dann wandte er sich an mich: »Junger Mann, wenn du morgen Vormittag zwischen neun und zehn zu mir kommst, werde ich mehr Muße für ein Gespräch haben; und dann werden wir beginnen. Doch ich warne dich im Voraus, es wird ganz allein von dir abhängen, wie es mit dir läuft. Meine Rolle besteht nur darin, dir den besten Weg zu weisen.«

Und damit endet das erste Kapitel.

2. KAPITEL

Der ehrenwerte Milchmann und wie er den Leuten vertraute; und das wunderbare Glück, das er eines Morgens hatte, als er einen kostbaren Schatz fand.

Dieses Kapitel muss notwendigerweise hinter das vorangehende zurückblicken.

Unter den frühsten Kunden des Ephraim Foster befand sich eines Morgens ein kleiner, weißhäuptiger Knabe, weder hübsch noch hässlich. Ephraim unterhielt einen Laden in einer der Querstraßen der Grand Street, östlich der Bowery; er verkaufte Milch, Eier und verschiedenes andere – und im Winter fügte er seinen Berufen den eines Lieferanten von Schweine- und Wurstfleisch hinzu, was in der kalten Witterung hierorts ein flotter und florierender Handel ist.

Das schöne Amerika wetteifert mit dem alten Griechenland in der Liebe zum Schweinefleisch. Im Winter kann man allenthalben auf den Straßen die Orte sehen, an denen dieses beliebte Essen ausgeteilt wird; wundervolle rote und weiße Scheiben, mächtige Schinken, frisch oder geräuchert, Seiten und Vorderteile – und manchmal ein grinsender Kopf mit dicken Bäckchen und aufgestellten Ohren. – Einige ziehen das kräftig gewürzte Fleischbrät oder die glibberige Sülze vor.

Bei der Zubereitung der zuletzt erwähnten Waren vollbrachte der ehrenwerte Ephraim stets Wunder; denn die Leute vertrauten ihm – was für einen Fleischverkäufer ziemlich viel bedeutet. Nun, er verdiente dieses Vertrauen. Er verdiente noch mehr. Er war einer der besten Burschen, die je gelebt haben. Bisweilen sagten die Leute, den North River würde er niemals in Brand setzen; trotzdem zockelte Foster, selbst in monetären Angelegenheiten, schneller und zielstrebiger dahin als manche, die im Ruf standen, ausgebuffter zu sein. Ohne darüber nachzudenken, war er grundsätzlich freundlich, freimütig und selbstlos. Dies allerdings auf bescheidene Weise; dennoch: alle Achtung! – Er besaß ein Händchen dafür, gegen die eigenen Interessen zu handeln, weil er dem Käufer großzügig herausgab und nie bei Maß und Gewicht schummelte.

Obwohl das übliche Schild »Kein Treu und Glauben« über dem Tresen hing, hatte Ephraim sehr viel Vertrauen – insbesondere wenn die um Zahlungsaufschub bittende Familie arm oder wenn der Vater oder die Mutter krank war. Dies führte verschiedene Male zu üblen Schulden, die für einen Mann mit seinen Geschäften keine Kleinigkeit waren, trotzdem war es erstaunlich, wie er auf lange Sicht tatsächlich keine Verluste machte.

Einmal, als man eine faustdicke Rechnung bereits völlig abgeschrieben hatte und der Schuldner in einen andern Stadtteil gezogen war, kam der verarmte Schreinergeselle nach Jahresfrist eines kühlen Abends vorbei, weil die Dinge besser bei ihm liefen, um wie ein Mann zu bezahlen und Ephraims Gattin ein hübsches Nähkästchen zu schenken. Ein anderes Mal, als die Schuldenliste einer armen Frau mit kleinen Kindern den Winter über länger und länger wurde – andernfalls hätten sie hungern müssen –, starb der Ehemann, ein trunksüchtiges, faules Subjekt, und die Freundinnen der Frau schafften sie fort. Kurioserweise wurde genau diese Frau wenig später drei Blocks entfernt von einer reichen Familie als Köchin angestellt – wo sie an gutem Ort dick und rosig wurde und nicht nur die alte Schuldenliste bezahlte, so lang wie sie war – (obwohl Ephraim ihr sagte, es spiele keine Rolle und dürfe so weitergehen; woraufhin die Köchin ärgerlich zu werden begann) – sie beglich nicht nur die Rechnung, sondern bescherte ihrem alten Freund auch eine Menge profitabler Kundschaft. Die Geschichte seiner guten Taten kam der Mistress zu Ohren und ging von dort in die Ohren anderer Leute; und Ephraim hatte dabei ganz sicher keine Verluste. So hatte der Mann mit seiner Weichherzigkeit beinahe erreicht, die wirklich miesen Konten auszugleichen; denn nicht immer kamen sie zurück, nachdem er sie aufgegeben hatte – jene unseligen Rechnungen.

Solcherart waren die Persönlichkeiten, auf die zu treffen der kleine, flachshäuptige Knabe das Glück hatte. Er schien keinerlei Morgentoilette verrichtet zu haben; er war barhäuptig und barfüßig; schließlich war er ungefähr zehn Jahre alt.

»Und wer bist du, junger Mann?«, fragte Ephraim, denn er hatte den Jungen nie zuvor gesehen, obwohl er das Kind jeder Mutter im Umkreis von zehn Blocks kannte oder zu kennen glaubte.

Der Blondschopf blickte dem Ladenbesitzer ins Gesicht und erwiderte, dass man ihn üblicherweise Jack nannte.

»Und woher kommst du?«, fuhr Ephraim fort.

Der junge Herr Jack blickte wieder zu ihm hinauf, gab jedoch keinerlei Antwort. Er atmete tief ein und wieder aus – jenes Halbseufzen, das Kinder zuweilen von sich geben: wobei sein Blick nach wie vor auf Ephraim haftete.

»Ich will etwas zum Frühstück«, kam es ihm schließlich kühn über die Lippen.

Ephraim unterbrach für einen Augenblick seine Arbeit, die Stände und Milchkannen vor die Tür zu schleifen; dem kurzen Erstaunen folgte etwas, das befriedigter Eitelkeit aufs Haar glich. Nicht jeder Mann, und auch nicht jede Frau, wäre von einem Unglückswurm in Jacks lakonischer Redeweise angesprochen worden. Es war nicht die Art von Dreistigkeit oder abgebrühtem Ton, mit der gewöhnliche Bettler zuschlugen. Es war vielmehr, als sagte er –: Sir, ich sehe, dass Sie ein gutes Herz haben und dass es Ihnen stets Freude bereitet, mildtätig zu sein.

Da war noch etwas anderes. Vor zehn Monaten hatte Ephraim ein weißes Köpfchen besessen, das sich von Jacks nicht sehr unterschied, bloß ein gutes Stück jünger. Doch eines melancholischen Abends war es sein Schicksal, Untersuchungsgegenstand dreier Doktoren der Medizin zu sein, die es an fünf aufeinanderfolgenden Tagen behandelten. Am Ende dieser Tage war das weiße Köpfchen weißer als je zuvor, denn es war tot. Von diesem Augenblick an erwärmte sich das Herz des guten Burschen für Kinder mit noch tieferer Wärme denn vormals.

Ohne weiteres Gewese und ohne darüber zu sprechen, schienen der Milchmann und das Kind durch stille Übereinkunft ein Bündnis im Geist zu schließen. – Der neue Gehilfe blieb; und die beiden halfen einander bei allen Vorbereitungen und Verrichtungen. Der Blondschopf bespritzte die Wegplatten vorm Laden und fegte sie; dasselbe hätte er mit dem Boden drinnen getan – wenn der Besitzer es nicht schon selbst erledigt hätte.

Beim Wischen und Wuseln hielt Ephraim mehr als einmal unterm Einfluss einer sinnenden Ablenkung inne; wahrscheinlich erwog er in Gedanken die Chancen für die Ernsthaftigkeit des Neuankömmlings – denn von Zeit zu Zeit nahm er ihn genau in Augenschein. Welche Vorstellungen durch den Blondschopf schwirrten, habe ich inzwischen vergessen.

Doch ich sollte darüber noch einiges wissen, denn der einsame junge Vagabund, der in dieser Perle von Milchmann einen Freund fand, das war ich selbst. Ob es dir klar war oder nicht, Ephraim, der christliche Geist trieb dich an. Wäre ich mit einer mürrischen Antwort abgewiesen worden, dann wäre ein Körper – oder vielleicht eine Seele – verloren gewesen; ich war nämlich zutiefst verzweifelt. – Elternlos und heimatlos – exakt am Wendepunkt, an welchem sich die Vertrautheit mit dem Verbrechen zu etwas Schlimmerem entwickelte –: das war ich, als du mich aufnahmst und für mich sorgtest.

3. KAPITEL

Etwas zur genauen Betrachtung für jene, die im Jahr zweihundert an Stuhlgeld zahlen und das Abendmahl aus silbernen und goldenen Gefäßen entgegennehmen: Billjiggs, sein Leben und Sterben: Wunden und das Balsam dafür.

Heute habe ich eine verworrene und nur zuweilen deutliche Erinnerung an mein Schicksal vor dem Morgen beim Milchmann.

Zweifellos habt ihr, unter der Voraussetzung, dass ihr in New York gelebt oder es je besucht habt, viele kleine Vagabunden in dreckigen Lumpen und ohne Hemd gesehen. Meist streunen sie in irgendwo aufgeklaubten Männerstiefeln umher, deren Unproportionalität es notwendig für sie macht, mit den Füßen zu schlurfen, ohne sie vom Boden zu heben. Die schlurrende Bewegung, die sie auf diese Weise erworben haben, behalten sie manchmal ein Leben lang bei.

Niemand kümmert sich, scheint sich um diese jugendlichen Gammler zu kümmern. Einige sind Kinder der Schande und Ausgestoßene, denn sie wären ihren Erzeugern eine dauernde Erinnerung der Schmach. Einige sind Waisen der ärmsten Schichten. Andere laufen vor der Brutalität ihrer Eltern fort, die schließlich doch bei Hoch und bei Niedrig reichlich vorhanden ist. Wiederum andere verschlägt’s des Lebensunterhalts wegen auf die Straße; jene, die von Natur aus ihre Beschützer sein sollten, leben in Trunkenheit und Leichtsinn.

Die Enthüllungen in den Berichten des Polizeichefs über diesen umfänglichen Teil der sogenannten kommenden Generation sind in ihren nackten Tatsachen weit jenseits der Phantasie eines Romanschriftstellers schrecklich und romantisch.

Das, woran ich mich an mein Leben vor meiner Einführung im zweiten Kapitel erinnere, war zumeist bei dieser Gesellschaftsschicht angesiedelt. Tatsächlich waren wir Wanderer auf dem Angesicht der Erde; obwohl unsere Reisen nicht über die Stadtgrenze und die Orte im Umkreis von einigen Meilen hinausführten. Das einzige Prinzip, das uns beherrschte, war der Lebensinstinkt, ganz animalisch: zu essen (falls wir etwas bekommen konnten), wenn wir hungrig waren, und uns hinzulegen und zu schlafen, wo auch immer die Müdigkeit uns überwältigte.

Ich erinnere mich sehr genau an einen höchst vertrauten Kumpan, mit dem ich Glück und Abenteuer teilte; und er tat dasselbe mit mir. Er war etwas älter als ich selbst. Er sagte immer, sein Name sei William oder Bill Jiggs; wir nannten ihn aber aus Bequemlichkeit Billjiggs.

Billjiggs war ein ganz prachtvoller Bursche. Wenn in gehobener Stimmung oder bestens gelaunt, pflegte er sich wahrhaftig selbst als einen der Kerls zu verkünden, von denen man in der Heiligen Schrift liest; allerdings sagte er nie genau, welchen der zahlreichen Helden er meinte. Er hatte rotes, sehr rotes Haar. Es war nie gekämmt; doch alle paar Tage schnitt es der Freund, der zufällig der geschickteste war; manchmal mit der Schere, manchmal mit dem Klappmesser, das zu diesem Zweck geschärft wurde; und einmal, wie ich mich entsinne, mit einer Breitaxt. Ich hatte die Ehre, bei dieser Gelegenheit das Gerät in die Hand zu nehmen. Ein paar Zimmerleute, die an einem neuen Haus arbeiteten, waren in der Nähe zum Mittagessen gegangen und hatten ihr Werkzeug herumliegen lassen. Armer Billjiggs! Ich stand kurz davor, ihm den Schädel zu öffnen.

Mein Freund erlaubte nie, dass mich höhere Macht oder Arglist beschwindelten; und obwohl ich zu klein war, um bei seinen Querelen viel Gewicht in die Waagschale zu werfen, gelang es mir bisweilen doch, in den Fällen, in denen die Chancen ziemlich gleich standen, die Balance zu seinen Gunsten zu verschieben. Billjiggs war nämlich rauflustig; beim geringsten Anlass geriet er in Querelen und Streitigkeiten und wurde manchmal fürchterlich verdroschen.

Eines Tages, so erinnere ich mich, stürzte sich Billjiggs wegen einer barschen Erwiderung auf eine kritische Bemerkung über eine gewisse fleckige Mütze, die ein Junge bevorzugt auf dem Kopf trug, auf besagten Jungen, der beträchtlich größer war als er selbst. Der mit der fleckigen Mütze kam bei dem immer heißeren Kampf deutlich am schlechtesten weg; als er genötigt war, einen dicken Pflasterstein zu packen, der auf der Straße herumlag, versetzte er Billjiggs solch einen Hieb an die Schläfe, dass dieser bewusstlos zu Boden sank und das Blut herausströmte; der Sieger gab ordentlich Fersengeld dazu.

Ich erwähne diesen Zwischenfall, weil ich dadurch zum ersten Mal jener Person ansichtig wurde, die Jahre später (wie der Leser im Verlaufe der Geschichte herausfinden wird) eine wichtige Rolle in meinem Leben spielte.

Billjiggs trug man zum nächstgelegenen Keller, wo ihm Stärkungen verabreicht wurden. Eine alte Quäkerdame und ein Mädchen in meinem Alter schienen die Einzigen im Haus zu sein. Die alte Dame verhielt sich sehr freundlich; nachdem sie Billjiggs schmutzigen, blutigen Kopf gereinigt und Pflaster aus der benachbarten Apotheke angelegt hatte, verband sie ihn mit ihrem eignen großen, sauberen, weißen Leinentaschentuch. Das kleine Mädchen musste den Knoten festziehen, denn die Finger der alten Dame waren nicht beweglich genug. Das tat sie sehr zart und ordentlich; weshalb sie mir, als ich sie betrachtete, ein kleiner rotwangiger Engel des Himmels zu sein schien.

Später hob Billjiggs dieses Taschentuch auf und konnte nicht bewegt werden, sich von ihm zu trennen. Einige Jahre später nahm er es mit nach Mexiko, wo den armen Kerl eine üblere Wunde als die von einem Pflasterstein erwischte; keine alte Quäkerdame kümmerte sich um ihn; eine Wunde, die ihm ein Grab zwischen stachligen Kakteen bescherte.

Das war Billjiggs Ende; doch es gibt viele junge Männer, die schlimmer sind als er, sie kleiden sich in saubere Hemden mit Stehkrägen und gehen am Sonntag zur Kirche.

Dieses Mädchen – die alte Dame nannte es Martha – sprach auch zu mir sehr freundlich; und als wir fortgingen, sagte mir die alte Dame, ich sollte gelegentlich zur ihr kommen, um mitzunehmen, was sie an Essen oder Kleidung abzugeben hatte.

Ich weiß nicht warum, aber weder ich selbst noch mein Freund haben je wieder einen Fuß in diesen Keller gesetzt, sogar als wir am Verhungern waren. Beinahe zum ersten Mal in unserem Leben wurden wir mit vernünftiger Güte behandelt, als wären wir echte menschliche Wesen. Ich weiß, was mich betraf, so erinnerte ich mich nicht, je zuvor von einem solchen Gefühl berührt worden zu sein. Obwohl ich für die alte Dame oder das Mädchen gestorben wäre, fühlte ich ihnen gegenüber doch so etwas wie Stolz; vielleicht ihrer guten Meinung wegen.

Bis auf den heutigen Tag habe ich den Eindruck, dass die kleine Episode, die ich soeben geschildert habe; dass das gütige alte Gesicht, umschlossen von einer schlichten, spitzenbesetzten Haube, das silberne Haar glattgestrichen, und das andere Gesicht, Symbol der Reinheit und kindlichen Güte, und der flüchtige Blick, den ich erhielt auf ein glückliches, friedliches, redliches, wohlgeordnetes Leben –: ich sage, mein Glaube ist, dass all dies später den Einfluss eines guten Geistes auf mich ausübte. Das Kind, das ich war (ah, wie viel tiefer denken Kinder, als sich die meisten Leute vorstellen!), erkannte etwas vom moralischen Unterschied zwischen der Gemeinheit und Armut und Niedrigkeit meiner sozialen Schicht und dem Feingefühl, der Gesundheit und Sicherheit jener Quäkerfamilie. Ich wusste, ich war aus demselben Fleisch und Blut und von derselben Natur wie sie. Ich war angespornt und ach noch viel stärker befördert durch ihre wahrhaft respektvolle Freundlichkeit, als sie sich träumen ließen!

Und das ist eine Erwägung, worauf der Theoretiker gesellschaftlicher Übelstände ein Riesengebäude errichten kann – da ich jedoch nur den Gang der Ereignisse notiere, will ich es jedem selbst überlassen, der diese Absätze liest, die gedanklichen Schlüsse daraus zu ziehen.

4. KAPITEL

Ein Hinweis für erfolglose Schulmeister und Eltern; die erste Frau, in die ich mich verliebte; wie meine Flegeljahre verliefen; ich fange bei dem hohen Tier an, was ein Essen zu dritt mit sich bringt.

Welchen Samen des Bösen und der Erniedrigung mein Straßenleben in meinen Charakter gepflanzt hat, ehe ich meine Bleibe bei Ephraim Foster fand, er hatte später keine Möglichkeit zu wachsen. Seine Frau und er selbst behandelten mich wie ihren eigenen Sohn; ja, besser noch, als viele Leute ihre Söhne behandeln. Freundlichkeit erstickte alle lauernden Neigungen zur Bosheit in mir; und das Gefühl, das mir bloß für einen kurzen Augenblick im Geist aufflackerte, als wir im Keller des Hauses der Quäkerdame waren, bekam hier Gestalt und Ausdauer; ich liebte diese raue Schale von einem Kerl mit einer Liebe, die nur von der Zuneigung zu meiner guten Mutter (wie ich sie stets nannte) übertroffen wurde – seiner Gattin Violet.

Violet! so hieß eine, für die ich ein unaufhörliches Gefühl hege, bis mein Herz aufhört.

Ich will sie beschreiben.

Diese Frau mit dem Namen einer zarten, schmächtigen Blume war so groß und breit wie ein stattlicher Mann. Als Ephraim sie geheiratet hatte, war sie ein Mädchen vom Lande und liebte es, im Freien zu arbeiten. Ihre Gesichtszüge waren derb; doch ihre Haut war rein und gesund; und ihre Augen strahlten fortwährend fröhlich und voller Bereitschaft zu gefallen. Sie hatte wenig Bildung und das, was man nach heutigem überzüchteten Geschmack ›Intellekt‹ nennt. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung von den heutzutage sogenannten Frauenrechten oder den erhabensten Wundern der Geologie. Aber sie besaß eine schöne Seele; und ihre derben Gesichtszüge waren für mich von größerer Lieblichkeit erhellt als die Madonnen der italienischen Meister.

Violet verfügte bei aller Pferdestärke über die Sanftmut einer Taube. Wie süß schmeckte das erste Mahl, das sie mir zubereitete; wie frisch und duftend waren die behaglichen Kleidungsstücke, die sie mir an jenem Morgen nach einem Bad in einer großen Wanne im Holzhaus zum Anziehen gab; und wie freundlich der Ton, in dem ich an jenem Tag an die Bräuche an diesem Ort erinnert wurde. Denn Violet war eine kritische Haushälterin; Schmutz war in ihren Augen ein Gräuel.

Geduldige, umsichtige, selbstverleugnende Mutter! gesegnet ist das Haus, gesegnet sind die Kinder, bei denen eine wie du zu finden ist.

Hier vergingen fast zehn Jahre meines Lebens ruhig und glücklich. Einen Großteil der letzten sechs verbrachte ich in der Schule, obwohl ich oft damit aufhören und irgendeinen Beruf ergreifen wollte; das wollten jedoch meine Eltern nicht. Sie waren recht erfolgreich: und sagten, dass sie bis jetzt anständig verdient hätten und nun ich allmählich an der Reihe sei, wenn sie älter würden.

Ephraim hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass ich dem Anwaltsberuf folgen sollte. Ich widersprach ihm darin nicht ständig, nachdem ich herausgefunden hatte, dass es keine üble Idee war; in Wahrheit jedoch stimmte sie überhaupt nicht mit meiner eigenen Vorstellung überein.

Das leuchtendste Juwel, sagte der persische Dichter, das am Halse eines jungen Mannes funkelt, ist der Abenteuergeist. Ich spürte diesen Geist in mir; aber ich unterdrückte ihn, brachte ihn zum Verstummen, denn ich achtete die Gefühle derer, die mich in ein Leben gehoben hatten, das so genannt zu werden verdient.

Meine Vorstellung beim Rechtsanwalt Covert kennt ihr bereits. Ich ging am nächsten Tag vereinbarungsgemäß zu ihm und machte den Anfang. Dieser bestand schlicht darin, dass mir mein Brotherr einen Abriss über die für einen Studenten der Rechte wesentlichen Werke gab; und darin, mich mit der Kanzlei vertraut zu machen, um mir die Ungewohntheit zu nehmen.

Nathaniel, der Laufbursche, amüsierte mich sehr, und ich verspürte aufrichtiges Mitleid mit dem alten Wigglesworth; noch bevor der Morgen verstrichen war, kamen wir drei gut miteinander aus. Nat war ziemlich vorlaut, verfügte aber über einen Fundus echten Witzes, mit dem er einigermaßen verschwenderisch umging – zur rechten und zur falschen Zeit. Er begrüßte mich gravitätisch als »Don César de Bazan«; einer Ähnlichkeit wegen, die er zwischen mir und dem Schauspieler jener Rolle im Theater, das Nathaniel mit einem gelegentlichen Shilling und seiner Anwesenheit zu beehren pflegte, entdeckt zu haben meinte. Von da an bestand er darauf, mich Don César zu nennen.

»Mein Herr vergesse nicht, dass das Bankett unserer wartet«, sagte der edle Jungspund mit drolliger Ehrerbietung.

Es war halb eins, und ich wollte ein günstiges Mittagessen zur Feier dieses wichtigen Abschnitts meiner Karriere spendieren.

Wir wussten, dass Mr Covert um diese Zeit zu einem Treffen mit einigen Klienten verabredet war und (was sehr oft geschah, wie mir Wigglesworth sagte) seinen Wunsch nach freier Bahn kundttat.

Die Parteien kamen unserm Aufbruch zuvor. Zwei Damen trafen in einer Kutsche ein, die wir vor der Tür sahen; auf dem Bock saß ein großer schwarzer Fahrer, bekleidet mit einer Pelerine.

Diese Damen (auch das erzählte mir Wigglesworth auf der Straße) waren die reiche Madame Seligny und ihre Tochter. Madame war ziemlich dick und ziemlich rot, hatte eine Hakennase und durchdringende schwarze Augen. Ihre Gestalt glitzerte und raschelte von Juwelen und Seide, wobei sie bei jeder Bewegung einen strengen Moschusgeruch verströmte. Sie trug eine gelbe Seidenhaube auf dem Hinterkopf; ihre dicken, mit weißem Ziegenleder behandschuhten Hände pressten ein parfümiertes Taschentuch aus teurer Spitze an die zuvor erwähnte Nase. Sie watschelte mehr, als dass sie ging, und sank schnaufend in den großen Stuhl, den Mr Covert ihr hingestellt hatte.

Rebecca, die Tochter, zeigte attraktivere Verve. Sie war ein prachtvolles Muster israelitischer Schönheit, groß und schlank und in vollreifer Weiblichkeit. Obwohl vermögend, hatte sie sich geschmackvoll gekleidet, fast ohne die Vorliebe ihrer Nation für Schmuck.

Als ich die Stufen hinabstieg, bemerkte ich, dass Mr Covert die Tür von innen schloss und verriegelte.

Unser Mittagessen wurde mit viel Beifall und nicht geringer Fröhlichkeit verspeist. Wir hatten prickelnden Apfelwein; Nathaniel verkündete, dass er sich durch ihn verjüngt fühlte. Auch Wigglesworth wurde heiter und brachte einen Toast aus, bei dem er mir wünschte, dass ich das größte Glück haben möge, welches das Gesetz zu geben habe.

»Das«, sagte Nat, »hieße, dass du bleibst, wo du bist, und keinen Fuß mehr in Coverts Kanzlei setzt. Denn falls du die Meinung eines Kindes über ihn erfahren willst, so ist –«

Doch der Junge unterbrach sich plötzlich, und binnen kurzem vertagten wir uns.

Im nächsten Kapitel werde ich die von Nat hinterlassene Lücke füllen und erzählen, wie ich mit dem Gesetz zurechtkam.

Fortsetzung folgt.

5. KAPITEL

Ein junger Mann in verwirrender Zwickmühle; einige Weisheiten dazu; Nathaniel und sein Hund; ich sehe eine junge Dame unter Umständen, die ihre Geduld auf die Probe stellen.

Konnte ich es ertragen? Würde es mein junges Blut nicht in etwas Melasseähnliches verwandeln – etwas, das man wägt und misst, samt Tara, Gutgewicht und den klugen Plaudereien der soliden, kahlköpfigen, respektablen alten Herren mit dem Bleistift in der einen und dem leeren Notizbüchlein in der andern Hand? Konnte solch eine ewige Prozession von Kapiteln eins, Überschriften zwei und Absätzen drei ein anderes Ergebnis zeitigen, als dass mein Gehirn sich drehte wie die Erde um ihre Achse? Wäre es nicht besser, das Problem mutig zu klären, indem man einen Rat aus Ephraim Foster, Violet und Covert einberuft, um ihnen offen zu sagen, ich hätte herausgefunden, dass weder ich für das Studium der Rechte geeignet sei noch das Studium der Rechte für mich; und höflich, doch bestimmt zu verkünden, dass meine Bestimmung nicht weiter verfolgt werden sollte?