Über Mich Vraa

Foto: Simon Nørlev Nyberg

Mich Vraa, geboren 1954, lebt als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer mit seiner Familie in Odense, Dänemark. Er übertrug u.a. Jonathan Franzen, Ernest Hemingway und Don DeLillo ins Dänische. Sein Roman Die Hoffnung (Hoffmann und Campe 2017) wurde von der Kritik hochgelobt und war für zahlreiche Preise nominiert.

 

 

Der Übersetzer Ulrich Sonnenberg lebt und arbeitet als freier Herausgeber und Übersetzer aus dem Dänischen und Norwegischen in Frankfurt am Main. 2013 erhielt er den Übersetzerpreis des Staatlichen Dänischen Kunstrats.

H.C.J. Lawaetz, Autor von »Peter von Scholten«, 1940

Peter von Scholten in einem Brief an Maria Eide, 1852

18041854

Montag, 16. August

Liebe Maria,

 

blickt man zurück auf das Märchen seines Lebens, erscheinen die Erinnerungen gleißend und köstlich, und doch sind sie auf eine seltsame Art und Weise weniger kostbar, als man es sich gern einbilden möchte. Es ist nun einmal unmöglich, etwas genießen zu wollen, was vorbei ist; besser ist es, sich auf das zu freuen, was uns noch erwartet. Oder über das, was jetzt, in diesem Moment, da ist.

Glaub mir, Maria, das habe ich immer gut gekonnt. Ich habe gelebt, weiß Gott, das habe ich. Und ich habe geliebt, ja. Ich habe alles erreicht, was ich mir vorgenommen habe. Und dennoch …

 

Ich denke so oft an Dich und Deinen Mann und die große Hilfe, die Du mir gewesen bist, als meine Kräfte mich am Ende im Stich ließen. Eine aufrichtigere Freundin kann sich niemand wünschen, und ich vermisse Dich aus tiefstem Herzen und bete, dass es Dir gut gehen möge. Es ist jetzt August, aber hierzulande ist der Sommer ja nur eine blasse Vorstellung, sogar im Vergleich mit dem Weihnachtswetter in Westindien. Obwohl ich weiß, dass ich oft genug über die Hitze gestöhnt habe, vermisse ich sie doch auch. Mein alter Körper ist für Kälte und Sturm nicht geschaffen.

Alt, ja, das bin ich. Gesundheitlich geht es mir nicht gut, aber nach dem Urteil des Obersten Gerichtshofs und der Genugtuung, die ich da

Im Frühjahr habe ich ein hübsches, kleines Anwesen am Kongens Nytorv gekauft, direkt an der Hauptwache. Es sind nur drei Etagen und ein Dachboden, aber ich habe mich recht nett eingerichtet und sogar wieder begonnen, kleine Gesellschaften zu geben. Sollte mich noch jemand Prinz Peter nennen, so geschieht dies hinter meinem Rücken; nach der Rehabilitierung ist mein Umgangskreis mir ausgesprochen freundlich gesonnen; ich bin inzwischen jedenfalls eher Peter als ein Prinz.

Obwohl ich also einigermaßen standesgemäß lebe und nicht gerade einsam bin, merke ich doch, wie mich die Erinnerungen bedrängen. Es ist sicher eine natürliche Folge des Alters, aber wie ich in meiner Einleitung schrieb, können sich Erinnerungen nicht mit den Freuden des Augenblicks messen, dem Leben, das just in diesem Moment gelebt wird.

Sie sind nur so unanständig lebendig, diese Erinnerungen. Gesichter, Orte, Gerüche, alles steht Schlange, um Einzug in die Träume eines alten Mannes zu halten.

Noch heute – und es ist jetzt fast ein halbes Jahrhundert her, dass ich zum ersten Mal das bergige Profil der Inseln im Karibischen Meer sah – höre ich die Ankerkette durch die Klüse unter dem Deck der Brigg rasseln, als wir Charlotte Amalie anliefen. Und ich erinnere mich an den Anblick der hellen Gebäude mit ihren roten Ziegeldächern unter der blendenden Sonne vor dem Bergmassiv. Auf dem Höhenzug über der Stadt lagen größere Anwesen, die Paläste des Kommandantenhügels; von dort ist die Aussicht so unbeschreiblich schön, und die die Meeresbrise bringt den glücklichsten Bewohnern dieser heißen Stadt ein wenig Kühlung.

Es war der 13. August. Ich war gerade zwanzig Jahre alt geworden, und ich glaube sagen zu können, ohne mich einer Übertreibung schuldig zu machen, dass in diesen Jahren kein abenteuerlustigerer Jüngling als ich aus dem königlichen Kopenhagen in die Welt aufgebrochen ist. Meine Reise in das ferne Westindien war gewiss nicht auf meine eigene Initiative zustande gekommen, unterwegs aber hatte ich so viel über die Inseln und ihre bunt gemischte Bevölkerung gehört, dass ich mich unendlich darauf freute, alles mit eigenen Sinnen zu erleben.

»Vater!«, rief ich, als ich ihn sah. Ich war erleichtert, ihn nach unserer langen Trennung gesund und munter vor mir zu sehen; es lässt sich ja nie vorhersagen, wie ein Aufenthalt in den Tropen und die Tausende von Seemeilen auf dem Ozean einem Mann zusetzen, nicht zuletzt einem Mann in seinem Alter. Mein Vater, Casimir von Scholten, hatte die fünfzig bereits hinter sich und mehr erlebt als die meisten Männer; ein knappes Jahr hatte er in englischer Kriegsgefangenschaft verbracht, außerdem war er erst ein Jahr zuvor in das Kommandantenhaus in Charlotte Amalie zurückgekehrt.

»Ist das etwa der junge Fähnrich Peter Scholten?«, lauteten seine ersten Worte in einer Mischung aus Strenge und spöttischem Humor, für den er bekannt war. In Wahrheit hätte meine Kadettenausbildung ja längst abgeschlossen sein sollen, aber ehrlich gesagt hatte ich nie das Gefühl gehabt, mich unbedingt sputen zu müssen.

»Beinahe«, erwiderte ich und beeilte mich, das Thema zu wechseln. »Ich freue mich so, dich zu sehen, Vater«, sagte ich und setzte das Lächeln eines glücklichen Sohnes auf. »Wie war die Reise? Du musst mir die neuesten Nachrichten aus Westindien erzählen. Hat nach der englischen Besatzung der Wohlstand wieder Einzug gehalten?«

Mein Vater brummte und bürstete ein wenig Staub von seinem Revers. Er war älter geworden. Seine Haare waren jetzt eher weiß als grau, aber ich sah dieses vertraute Blitzen in seinen Augen. Schon immer hatte er diesen listigen Blick, und hinter seiner hohen Stirn verbarg sich ein scharfer Verstand.

Jetzt glaubst Du möglicherweise, ich hätte vergessen, dass Du meinen Vater ja kennengelernt hast, Maria, das ist indes keineswegs der Fall. Ich erinnere mich sehr gut an Deinen packenden Bericht über den Untergang der Hoffnung und Dein Gespräch mit meinem Vater in Christiansfort: Du warst fünfzehn Jahre alt und nur mit dem frisch gebügelten

 

Eine andere Erinnerung stammt aus der Zeit viele Jahre später, als Du zu Weihnachten mit der Brigantine Deines Vaters auf die Inseln zurückgekehrt bist. Damals kannte ich Dich noch nicht, aber ich kannte Mikkel ein wenig, der uns einander vorstellte. Ich sah sofort, wie verliebt er war, und muss gestehen, dass ich mir bisweilen vorgestellt habe, was zwischen uns hätte geschehen können, wenn seine Liebe nicht für jeden so offenkundig gewesen wäre. Habe ich Dir je gestanden, Maria, wie leicht ich mich damals hätte verlieben können?

Diese Zeit – gerade, als Du angekommen warst – war meine letzte Zeit in Charlotte Amalie; ich segelte nach Dänemark und kam fünf Monate später auf die Insel zurück, auf der Du den größten Teil Deiner Jugend verbracht hast. Das Schicksal wollte es, dass wir unsere Plätze tauschten: Du bist nach Sankt Thomas gekommen und ich nach Saint Croix. Als Generalgouverneur, wohlgemerkt. Ich hatte das Gefühl, einen strahlenden Sieg errungen zu haben. Einen Triumph! In nur zwölf Jahren hatte der demütige Waagemeister den höchsten Posten Westindiens erlangt …

9. Oktober 1795: Kadett P. Scholten wird mit der Rute bestraft, weil er einige seiner Kleidungsstücke verkauft und von dem Geld Kartoffeln und Süßigkeiten gekauft hat.

16. Oktober 1795: Kadett P. Scholten wird mit der Rute bestraft, weil er 12 Schilling einbehalten hat, mit denen Kadett Normann die Aufwartefrau bezahlen wollte, und Süßigkeiten gekauft hat.

1. April 1796: Kadett P. Scholten wird mit der Rute bestraft, weil er den Leutnant betrügen wollte.

4. April 1796: Kadett P. Scholten wird wegen Unordnung mit der Rute bestraft.

13. Oktober 1799: Hausarrest wegen Faulheit.

27. Oktober 1799: Hausarrest wegen Faulheit.

3. November 1799: Hausarrest wegen Faulheit.

11. November 1799: Hausarrest wegen Faulheit.

17. November 1799: Hausarrest wegen Faulheit.

24. November 1799: Hausarrest wegen Faulheit.

1. Dezember 1799: Hausarrest wegen Faulheit.

20. April 1800: Hausarrest wegen Faulheit.

2. November 1800: Hausarrest wegen Faulheit.

30. November 1800: Hausarrest wegen Faulheit.

18. Mai 1803: Kadett Scholten hat gestern die Pflegerin der Krankenstation auf sehr unanständige Weise behandelt, er hat sie zu Boden gewor

Mittwoch, der 18. August

Liebste Maria, ich habe bisweilen mit dem Gedanken gespielt, meine Erinnerungen zu schreiben. Ich habe mir sagen lassen, dass der brave Admiral Birch Dahlerup, den ich den größten Teil meines Lebens kenne und wohl meinen Freund nennen darf, sehr umfangreiche Memoiren verfasst, die er abzuschließen hofft, bevor er diese Welt verlässt. Nun ist Dahlerup ein Mann mit so vielen Orden und Auszeichnungen, dass man sich wundern muss, wie seine Hemdbrust all dieses Metall tragen kann; außerdem hat er ein sehr abenteuerliches und ereignisreiches Leben geführt, im Vergleich dazu verblasst meines geradezu. Ich habe mich überwiegend in Westindien aufgehalten, während Dahlerup sämtliche Weltmeere befahren hat und seine abwechslungsreiche Karriere als Oberbefehlshaber der österreichisch-ungarischen Marine beendete.

Während ich lediglich drei kleinen Inseln die Freiheit brachte!

Allerdings geht mir auch durch den Kopf, dass die Eile, die Dahlerups Arbeit angeblich prägt, möglicherweise durchaus sinnvoll ist. Er ist sechs Jahre jünger und vermutlich weitaus gesünder als ich, also ist das Risiko, dass ich sterbe, bevor ich auch nur mit dem dritten Kapitel beginne, einigermaßen real. Und doch verspüre ich durchaus ein gewisses Bedürfnis, von meinem Leben zu erzählen und meine Dummheiten zu bekennen.

 

Irgendwann heute Nacht gerieten einige ausländische Seeleute, die sich in Nyhavn um den Verstand gesoffen hatten, vor der Hauptwache in ein Handgemenge mit ein paar Schauerleuten. Angeblich mussten sie die

Jetzt ist es natürlich unmöglich, noch einmal einzuschlafen; ich werde es nicht einmal versuchen. Daher habe ich mich an meinen neuen Schreibtisch gesetzt – eine beinahe getreue Kopie des schönen Möbelstücks, an dem ich im Amtssitz des Gouverneurs in Christianssted gearbeitet habe –, das Tintenfass geöffnet und den Stift hineingetaucht, um weiter an dem Brief an meine liebe Freundin zu schreiben, an Dich, Maria.

 

Die Dummheiten der Jugend. Nun ja, sind sie nicht großartig? Da steht man als junger, kaum zwanzig Jahre alter Nichtsnutz am Kai von Charlotte Amalie mitten in der heißen Sonne, die manche Farben zu stehlen und andere zu verstärken scheint, und ist umgeben von den sonderbarsten Eindrücken. Alle möglichen Schiffe mit hohen Masten schaukelten am Kai: Briggs und Schoner, Fregatten, Schaluppen und Galeassen, ein aufgebrachtes Piratenschiff, groß wie ein Linienschiff, aber eine ganze Bordseite war abgesprengt, sodass man bis auf das verkohlte Zwischendeck sehen konnte. Klebrige Fässer mit Muskovado-Zucker und Rum wurden von schwitzenden Negern polternd über die Pflastersteine und ausgelegten Planken gerollt. Die eigenartig gekräuselten Haare über den weißen, starrenden Augen ihrer glänzenden Gesichter sahen aus wie wollene Helme.

Sie wirken erschreckend fremdartig auf einen jungen Mann, der vorher nur ganz selten einmal einen Neger gesehen hat. Und ich muss gestehen, dass ich mir an jenem Tag keine Gedanken darüber gemacht habe, dass sie unfrei waren und für die weißen Kaufleute Sklavenarbeit verrichteten. In meinen Augen waren sie nur eigenartig und ein wenig unheimlich.

Schiffe anderer Länder – französische, schwedische, niederländische, amerikanische – haben in den Kriegsjahren mit dem Dannebrog am Achtersteven und dänischen Kriegsschiffen als Eskorte den Ozean überquert. Jede Dünung auf dem Meer war ein dänischer Reichstaler, jeder Stern am Nachthimmel eine westindische Kurantmünze. Und wenn die Schiffe in Charlotte Amalie anlegen und ihre Waren verzollen, strömt noch mehr Geld in die dänische Kolonialgesellschaft. Sankt Thomas ist ein Schlachtschwein, dessen Speck aus purem Gold besteht.

All dies weiß der junge Nichtsnutz durchaus; nach zwei Monaten auf dem Meer in Gesellschaft seines Vaters, des Kommandanten, und mit Seeleuten, die Westindien besser kennen als Vestervig, ist er mit dem politischen und ökonomischen Spiel, das die Geldmühle auf den Westindischen Inseln antreibt, einigermaßen vertraut. Doch als er hier am Kai von Charlotte Amalie steht, fesseln andere Dinge seinen Blick: die Geschäftigkeit des Hafens; einige farbige Frauenzimmer, vermutlich freie Mulattinnen, in vornehmen, aber dünnen und ziemlich lose sitzenden Kleidern, die unter einem Baldachin aus blaugestreiftem Stoff in einem kompletten Kauderwelsch plaudern und lachen; drei Sklavenmädchen mit nacktem Oberkörper, alles reizende Wesen, die einem älteren Mann in Reithosen, weißem Hemd und gestreifter Weste gehorsam zu einem Etablissement namens Emily’s Hotel folgen.

Der junge Mann ist fasziniert von allem, was er sieht, und er spürt kaum, wie sein Vater ihn am Arm zieht …

 

Wir wurden am Kai von einem Hauptmann und sechs Soldaten in Tropenuniformen empfangen. Sie standen in der glühenden Sonne, der Hauptmann trat vor und salutierte, mein Vater erwiderte den Gruß.

»Hauptmann Molberg«, sagte mein Vater. »Ich habe meinen Sohn Peter mitgebracht. Gerade von der Landkadettenakademie entlassen, um hier auf Sankt Thomas als Fähnrich bei den westindischen Streitkräften zu dienen.«

Der Kapitän salutierte erneut, und ich erwiderte seinen Gruß, vielleicht mit etwas weniger militärischem Anstand, als es sich gehörte.

»Fähnrich von Scholten«, bellte der Offizier.

»Herr Hauptmann«, sagte ich. Einen Moment sahen wir uns in die Augen. Ich lächelte ihm zu, er erwiderte mein Lächeln nicht.

Die kleine Abteilung Soldaten eskortierte uns durch die Stadt zum Amtssitz des Gouverneurs in der Dronningensgade, wo ich herzlich von meinen Geschwistern und meiner Mutter empfangen wurde, die ein halbes Jahr zuvor vierzig Jahre alt geworden, aber noch immer eine hübsche und elegante Frau war. Ich habe meine älteste Tochter, die schon immer mein Liebling gewesen ist, nach ihr benannt.

Anschließend bat mein Vater mich, und niemanden sonst, ihn in sein study zu begleiten, wie er das geräumige Arbeitszimmer mit den hübschen Fensterläden und den vornehmen westindischen Möbeln bezeichnete. Ein schwarzer Diener in Livree servierte uns eine Kanne kühles Wasser und zwei ordentliche Rum Punch mit Zitrone – ein Getränk, das ich bereits an Bord des Packschiffes zu schätzen gelernt hatte. Der Diener verließ den Raum und kehrte mit einer Schale aufgeschnittener Früchte zurück, von denen ich die meisten nicht hätte beim Namen nennen können. Die Spitze einer Ananas verriet jedoch, dass einige der saftigen Stücke von dieser Frucht stammten; ich hatte eine Ananas bisher nur auf Gemälden gesehen – in Europa hielt man sie für eine so vornehme Speise, dass einige Adelsfamilien ihr charakteristisches Profil in ihre Wappen aufgenommen hatten. Der Diener ging, und ich blickte ihm nach – einigermaßen überrascht über diese förmliche Bewirtung.

»Wie viele Bedienstete hast du hier im Haus, Vater?«, fragte ich ihn.

Mein Vater trank einen Schluck. Er schloss die Augen und behielt den Rum einen Augenblick im Mund. Dann schluckte er und sah mich an.

»Das sind fünf. Sind sie alle …«

Vater nickte. Er wusste offenbar, was ich ihn fragen wollte.

»Ja«, erwiderte er. »Natürlich ist es billiger, Neger nur anzumieten, auf lange Sicht ist es jedoch besser, sie selbst zu besitzen. Das erleichtert die Zusammenarbeit ungemein.« Auf seinem Gesicht zeigte sich sein freundliches, aber hintergründiges Lächeln.

Ich probierte den Rum. Plötzlich musste ich lachen. »Was kostet ein Koch?«, erkundigte ich mich, allerdings eher aus Spaß.

Meinen Vater schien die Frage nicht zu verwundern.

»Ungefähr vierhundert Reichstaler«, antwortete er.

Ich erinnere mich, dass wir eine Weile kein Wort sprachen. Ich glaube, meinem Vater war klar, dass ich das Bedürfnis hatte, eine Weile einfach nur dazusitzen und mich daran zu gewöhnen, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Er nippte an seinem Punch und aß ein paar Früchte. Ich nahm mir ein Stück Ananas. Als sich unsere Blicke über dem niedrigen, blankpolierten Tisch mit der Obstschale trafen, lächelte er mir zu und nickte auffordernd. Als wollte er sagen: Greif nur zu, mein Sohn. Und er meinte nicht nur die Früchte. Sondern alles – die Fruchtbarkeit der Inseln, die hübschen, farbigen Frauen, das Klima, den übermäßigen Wohlstand.

Ich wusste, dass es so kommen würde: Alles in dieser sonderbaren Welt wollte ich probieren. Sie sollte bald mein sein.

 

Jetzt ist es kurz nach sechs, und ich bin wieder müde, aber ich weiß, dass ich nicht schlafen kann. Die Sonne ist aufgegangen, es sieht aus, als sei das Regenwetter für dieses Mal überstanden. Vielleicht wird es ein schöner Tag.

Ich werde jetzt in die Bredgade gehen und mich an glücklichere Zeiten erinnern. Viele Jahre wohnte meine Familie dort, wenn ich von den Inseln nach Hause kam. Dort bekam ich hin und wieder auch Besuch aus Amalienborg, sowohl von Frederik als auch von Christian; es war die Zeit,

Ich lernte Scholten während meiner ersten Kriegsgefangenschaft 1808 in Reading kennen. Er war ungefähr sechs Jahre älter als ich und voller Lebenslust, ganz offensichtlich ein freier und offener Charakter, aber durchaus vornehm und gewitzt; ein Libertin, jedoch mit Selbstbeherrschung, intelligent und mit einem angeborenen Sinn für Anstand und das Schöne im Allgemeinen ausgestattet. Ohne Wissen oder Geistesbildung und ohne den Willen, beides selbst zu erwerben, aber nicht ohne Achtung dieser Fähigkeiten bei anderen. Von Natur aus begabt mit einem erstaunlichen Scharfsinn und dem seltenen Talent, genau die Menschen zu finden und sich zunutze zu machen, die er benötigte. Sein Talent war praktischer Natur, er besaß einen natürlichen gesunden Menschenverstand und die große Fähigkeit, andere Menschen zusammenzubringen und zu führen. Trotz aller Pracht, der Sucht nach Glanz sowie einer unbegrenzten Gastfreundschaft hielt er in seiner Lebensart und seinem Genuss doch auch Maß. Gutherzig und versöhnlich war er, teils von Natur aus, teils aus Klugheit.

Der Schreck über den furchtbaren Brand, der unglücklicherweise am 22. November ausbrach und einen Großteil der Stadt Sankt Thomas zerstörte, hatte die höchst betrübliche Folge des Todes meiner Ehefrau Cathrine Elisabeth am Tage danach um zehn Uhr abends. Sie war vier Tage zuvor am gewöhnlichen westindischen Fieber erkrankt und befand sich bereits auf dem Wege der Besserung, als sie aus Furcht, das Feuer könnte auf das Wohnhaus des Kommandanten übergreifen, fortgebracht wurde. Dadurch verschlimmerte sich ihre Krankheit derart, dass keine Rettung mehr möglich war. Jeder, der meine Situation mit sieben hinterlassenen Kindern, von denen das jüngste ein Mädchen im Alter von acht Monaten ist, kennt, wird den unersetzlichen Verlust ermessen können, den ich erlitten habe. Dies sei allen Verwandten und Freunden mit der Bitte mitgeteilt, von Kondolenzschreiben abzusehen.

 

C.W.v. Scholten

Kommandant auf Sankt Thomas in Amerika.

Mein lieber, treuer Freund!

 

Ich hätte Dir längst von meiner langen Reise schreiben sollen und bereue, ein so nachlässiger Briefschreiber zu sein. Denn ich kann Dich in dieser Stunde nicht mit langen, spannenden Berichten von meiner Reise über das Meer und meinen ersten Monaten in Westindien unterhalten, wie ich es Dir bei meiner Abreise versprochen habe. Vor gut einer Woche ist etwas Furchtbares geschehen, das noch immer all meine Gedanken beherrscht, und nur darüber kann ich schreiben.

Meine geliebte Mutter ist tot! Du weißt, wie sehr ich an ihr hing, und verstehst daher, welch ein Schlag es für mich ist, sie verloren zu haben. Noch dazu durch einen hässlichen Brand, der leicht hätte vermieden werden können!

Ich war erst ein paar Monate in Charlotte Amalie, als große Teile dieser hübschen Stadt am 22. November bis auf die Grundmauern niederbrannten. Mehr als die Hälfte aller Häuser wurde ein Raub der Flammen, und gut ein Dutzend Menschen kam ums Leben, einige davon bei dem Versuch, in der Stadt ihr Hab und Gut zu retten. Meine Mutter gehörte nicht zu ihnen. Das Kommandantengebäude in der Dronningensgade brannte nicht, obwohl das Feuer im Haus der Westindischen Handelsgesellschaft auf der gegenüberliegenden Straßenseite ausgebrochen war.

Aber Mutter war krank und hatte Fieber, und aus Furcht, das Feuer könnte sich über die Straße ausbreiten und zur Bedrohung für das Kom

Ich selbst war tagsüber mit Kameraden aus dem westindischen Heer, wo ich jetzt den Rang eines Leutnants bekleide, mit einem Segelboot unterwegs gewesen. Wir waren zu einer Insel vor Charlotte Amalie gesegelt, um im Meer zu schwimmen und eine Suppenschildkröte zu fangen. Wir kamen spät zurück in den Hafen, und bereits als wir das Boot kurz nach sieben Uhr abends vertäuten, sahen wir über dem königlichen Viertel Rauch aufsteigen – eine schwarze Rauchsäule wie von einem großen Lagerfeuer stand am Abendhimmel; von einer unsichtbaren Flamme schien sie erleuchtet zu werden, und ich wusste sofort, dass der Brand sehr nah am Haus meines Vaters ausgebrochen sein musste. Ich rannte sogleich los und hörte kaum die verblüfften Rufe meiner Kameraden hinter mir.

Es ist nur ein kurzer Weg vom Hafen bis zum Ende der Dronningsgade nördlich des Forts, in der das Haus meines Vaters steht. In der Dunkelheit lief ich den Hügel hinauf, während der Lichtschein am Himmel vor mir wuchs – aus irgendeinem Grund war mir klar, dass das Feuer außer Kontrolle geraten sein musste. Charlotte Amalies Straßen, auch die vornehmsten im königlichen Viertel, sind schmal, an einigen Stellen nur knapp acht Ellen von Mauer zu Mauer, und oft genug liegen sie voller Kisten, Ballen und Stapel mit irgendwelchen Dingen. Wenn ein Feuer erst einmal ausgebrochen ist, kann es so von Haus zu Haus springen, wie eine Lunte, die die Pulverladung einer Kanone entzündet.

Als ich ankam, war ich dermaßen außer Atem, dass mir schwindlig wurde und ich eine Weile meine Hände auf die Knie stützen musste. Mir bot sich ein unfassbarer Anblick, eine Szene wie aus einem Albtraum: Das Haus auf der anderen Straßenseite war vollständig von Flammen eingehüllt, und einige Neger – fünf oder sechs Mann – standen als Silhouetten vor dem Feuer; beinahe nackt, vor Schweiß glänzend, einer von ihnen mit blutigen Schultern und Armen. Sie sahen aus wie gelähmt, sei es vor Passivität oder aufgrund ausbleibender Befehle.

Ich dachte nur an meine Familie. Und in diesem Moment sah ich meinen Vater. Seine große Gestalt erschien in der Tür des Kommandantengebäudes, er hielt meine Mutter in den Armen, wie ein Bräutigam, der seine Braut über die Türschwelle ihres gemeinsamen Heims trägt. Und genau das tat er ja auch, nur dass er sie den umgekehrten Weg hinaustrug.

Nach meinen Eltern kam mein älterer Bruder Jost, der wie ich als Leutnant im westindischen Heer dient. Er sah verwirrt und ängstlich aus, sein Gesicht war bleich. Mehrere meiner Geschwister folgten ihm, Frederik und Adelgunde, die beide ein paar Jahre jünger sind als ich. Adelgunde trug die nicht einmal ein Jahr alte Louise in ihren Armen, und der kleine fünfjährige Wilhelm hielt sich neben ihr an ihrem Kleid fest. Ich lief auf die Tür zu.

»Vater!«, schrie ich durch das Brodeln des Feuers und der Rufe der Männer. »Was ist passiert?« Eine dümmliche Frage, die er auch nicht beantwortete. Er sah mich ernst, aber gefasst an und sagte: »Peter! Gut, dass du zu Hause bist. Geh ins Haus und hol mein Archiv. Meine Papiere! Schaff sie hinaus! Und alles, was du sonst noch retten kannst. Das Feuer breitet sich aus!«

Ich sah meine Mutter an, die schlapp in seinen Armen hing. Sie war bei Bewusstsein, aber sie wirkte apathisch, die Augen waren matt und nur halb geöffnet. Die Angst muss mir deutlich im Gesicht gestanden haben, denn mein Vater sagte nur ein einziges Wort zur Erklärung ihres Aussehens: »Opiumtropfen.«

Sie war betäubt; vielleicht war sie so krank, dass sie anders nicht hätte transportiert werden können, vielleicht hatte sie solche Angst, dass sie dagegen angekämpft hatte. Nun hing sie in den Armen ihres Mannes, und ich nickte ihm zu und lief in das dunkle Haus, um das Archiv des Kommandanten zu finden.

 

Mitten in der erstickenden Hitze, dem Gestank und dem Lärm der lodernden Stadt stand ich mit einer Kiste Papiere im Arm und sah mich nach ein paar Negern um, die mir helfen könnten, auch noch den Rest herauszutragen. Doch als ich endlich einen Schwarzen sah, hätte ich die Kiste beinahe fallengelassen: Er glänzte vor Schweiß wie ein Pferd nach einem Rennen und hielt mit wilden, weit aufgerissenen Augen in der einen Hand einen langen Säbel und in der anderen ein Messer oder einen Dolch. Er sah genauso aus wie einer dieser wahnsinnigen Piraten, die Charlotte Amalie früher verwüstet hatten und in den Straßen der Stadt mit Schubkarren voller Silbermünzen umhergefahren waren.

Offenbar war ich schnell genug zurück ins Haus gesprungen, sodass der Verrückte mich nicht bemerkte, denn er rannte schwer atmend am Haus vorbei. Vorsichtig blickte ich hinaus und sah, dass ihm weitere folgten: schwarze, glänzende Gestalten mit blankgezogenen Waffen. Es sah tatsächlich nach einem Negeraufstand aus!

Als sie verschwunden waren, stieß ich die Tür auf und lief die Straße hinunter zu der Gruppe, die die Häuser eingerissen hatte. Nun sahen sie untätig zu, wie die Flammen die Reste der Häuser auffraßen. Einige Ellen von ihren schwarzen Gestalten entfernt stand mein älterer Bruder mit ein paar Soldaten. Auch sein Gesicht glänzte vor Schweiß, er hob die Hand und wischte sich über die Stirn.

»Jost!«, rief ich. »Jost!«

Er drehte sich um, als ich ihn schon fast erreicht hatte. »Die Neger plündern die Stadt!«, rief ich. »Sie sind bewaffnet!«

»Er schlägt Alarm!«, rief Jost mir zu. »Ich hatte das Gerücht auch schon gehört. Ein paar Neger haben sich betrunken und dann einige Geschäfte geplündert. Aber es sind nur wenige, wir werden sie schon kriegen.«

Jene Nacht war das reinste Chaos, Voss, das kann ich Dir sagen. Ich blieb bei meinem Bruder, zusammen mit den wenigen Negern und Soldaten versuchten wir, das Feuer einzudämmen. Es erwies sich jedoch als eine hoffnungslose Aufgabe, das Feuer wütete, wie es ihm passte. Der einzige Trost war, dass die alte Kommandantur aussah, als würde sie es überstehen. Das Feuer bewegte sich in eine andere Richtung, Vaters Dokumente würden nicht in Flammen aufgehen.

Nach einiger Zeit kam Hauptmann Motzfeldt von der Artillerieeinheit des Heeres mit einer Abteilung stöhnend die Straße hinauf, die Männer zogen zwei leichte Feldkanonen hinter sich her. Er salutierte mit einer rußgeschwärzten Hand, kniff wegen des beißenden Rauchs die Augen zu und sagte etwas so Merkwürdiges, dass ich dachte, ich hätte mich verhört.

»Auf Befehl des Kommandanten müssen wir die Häuser zusammenschießen, damit das Feuer sich nicht weiter ausbreitet.« Er zeigte mit der Hand zu dem Ende der Straße, wo die Flammen die Häuser noch nicht erreicht hatten. Bis dorthin war die Straße jedoch auf der einen Seite ein brodelndes Flammenmeer, auf der anderen gab es lediglich vereinzelte Brände; es war ein verlorener Kampf.

»Was sagen Sie?«, rief Jost, dem Verzweiflung und Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben standen.

Der Hauptmann zeigte diesmal mit der Hand auf die beiden Kanonen. »Schießen! Gebäude! Zerstören!«, brüllte er. »Die Ausbreitung des Feuers verhindern!«

Jost sah den Offizier an wie einen Mann, der den Verstand verloren hat. Dann atmete er tief durch und beherrschte sich, was ihm offensichtlich schwerfiel.

Der Hauptmann blickte auf die brennenden Häuser und sah dann meinen großen Bruder an. Einen Moment war er still. Dann sagte er zu meiner Überraschung:

»Sie haben recht, Herr Leutnant. Das ist, als versuche man, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben. Aber die Stadt … sie brennt nieder.«

Jost nickte. »Große Teile bestimmt.« Er seufzte und fuhr sich über das rußgeschwärzte Kinn. Plötzlich wandte er sich zu mir. »Hast du Mutter gesehen?«, erkundigte er sich. Ich schüttelte den Kopf. »Vater ist mit ihr und den Kleinen ins Fort gegangen. Er sagte, ich solle seine Papiere in Sicherheit bringen.«

»Was machst du dann noch hier?«, erwiderte Jost brüsk, aber brüderlich. Ich drehte mich zur Kommandantur um. Noch war sie nicht beschädigt. Die Häuserreihe auf der anderen Straßenseite war ein qualmender Ruinenhaufen.

»Das ist jetzt eh zu spät«, antwortete ich.

 

Am folgenden Tag stand der Rauch noch immer über der Stadt, aber das Feuer war in den zentralen Teilen eingedämmt. Dort war die Hälfte aller Häuser niedergebrannt. Das Feuer hatte sich in westlicher Richtung ausgebreitet, bis es die Häuser erreichte, die so armselig waren, dass sie ihm keine Nahrung lieferten. Es erlosch von selbst, und die Feuerwehr erstickte die Reste.

Es stellte sich heraus, dass einige Neger in einem Anfall von Übermut bei einem Leichenbestatter in der Vimmelskaftsgade eingebrochen waren und sich mit dem Rum zum Konservieren der Toten um den Verstand gesoffen hatten. Dann hatten sie auf der Suche nach Waffen und anderen Wertgegenständen ein paar Geschäfte und Häuser geplündert.

Meine Mutter lebte bis zum Abend. Dann griff sie plötzlich nach der Hand meines Vaters, der an ihrer Seite saß, und sagte seinen Namen, »Casimir«, und ein einziges Wort, »Feuer!«. Ihre Lungen leerten sich, sie schnappte noch einmal nach Luft und starb.

In diesen Tagen haben wir alle die halbe Stadt und wir Geschwister eine Hälfte unserer Eltern verloren. Noch immer sind wir in tiefer Trauer, und ich kann dir jetzt nicht mehr erzählen, verspreche aber feierlich, Dir bald wieder zu schreiben.

 

Dein Freund Peter

Hochverehrtes Fräulein Maria Frederiksen,

 

ich schreibe Ihnen im Namen meines Klienten, des Pflanzers Jan Marcussen. Ich weiß, dass Sie Herrn Marcussen nicht persönlich kennengelernt haben und vielleicht sogar nicht einmal wissen, wer er ist. Erlauben Sie mir daher, Ihnen zunächst einige etwas komplizierte Zusammenhänge darzulegen.

 

Bevor Herr Jan Marcussen sich gegen Ende der achtziger Jahre des 18. Jahrhunderts auf der Westindischen Insel Sankt Thomas niederließ, tat er Dienst als Schiffsarzt auf der Kopenhagener Fregatte Hoffnung Ihres Herrn Vaters. Die Fregatte lag einige Monate im Dock von Charlotte Amalie, und in dieser Zeit wurden Ihr Vater und Herr Jan Marcussen sehr enge Freunde. Sie bewohnten ein Haus in der Kronprinsensgade, und als Ihre Frau Mutter im Juli 1788 niederkommen sollte, stand ihr der ehemalige Schiffsarzt bei der Geburt zur Seite. Ich kann Ihnen somit verraten, dass Sie – wenngleich Sie sich vermutlich nicht daran erinnern können, Herrn Jan Marcussen begegnet zu sein – doch zumindest bei dieser Gelegenheit mit ihm in einem Raum gewesen sind!

 

Einige Monate nach Ihrer Geburt gingen Ihre Eltern mit Ihnen an Bord der Fregatte Hoffnung und segelten zurück nach Dänemark. Mein Klient hatte keinen Grund, etwas anderes zu glauben, als dass Sie in Dänemark

 

Im selben Jahr musste mein Klient feststellen, dass er an der Schwindsucht erkrankt war. In den Monaten danach wurde sein eigentlich so lebenstüchtiger Körper immer schwächer, und als Herr Jan Marcussen der Tatsache in die Augen sehen musste, dass er nicht mehr viele Jahre zu leben hätte, beschloss er, seinen Nachlass zu regeln, und schrieb ein Testament.

 

Sie, Fräulein Maria Frederiksen, werden in diesem Testament als seine Haupterbin benannt. Mein Klient hat beschlossen, Ihnen die Plantage Solitude mit all ihren Gebäuden und einem Grundstück von insgesamt 612 Morgen Land zu vererben.

 

Ich muss unverzüglich hinzufügen, dass Herr Jan Marcussen noch lebt und es ihm ein wenig besser geht als erwartet. Wenn ich Ihnen dennoch bereits jetzt schreibe, so liegt dies am Wunsch meines Klienten, Sie noch zu seinen Lebzeiten von der Begünstigung wissen zu lassen. Wir sprechen hier über einen Besitz von großem Handelswert, wenngleich ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt auch keinen Zugang zu einer präzisen Bewertung habe.