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Ostbucht von Mentone, historisches Foto um 1890

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Mentone, historisches Foto um 1890

Titel

 

Meiner Frau und Reisegefährtin

1.

Ich bin hingefahren. Das Meer ist immer noch das gleiche, dort unten, südsüdlich, wo sich das Italienische mit dem Französischen mischt. Doch die Welt hat sich weiter gedreht.

Dort also haben sie einst einen Winter verbracht, vor endlos langer Zeit. An Heilung war ihnen gelegen, darum haben sie gefleht. Um Rettung. Das Klima würde ihr, Doris, gut tun, den Husten lindern, die Krankheit ihrer Lunge. Die steilen Bergketten sollten die kalten nördlichen Winde abhalten, das mittelländische Meer ihre Haut streicheln und wieder eine Zukunft herbeizaubern. Der leichte Wind, die Sonne. Geschützt. Die Heiterkeit des Lebens. Noch einmal eine Zukunft, Zukunft für beide, die Unzertrennlichen. Sie waren voller Hoffnung. Von der Krankheit selbst aber wusste man damals so gut wie nichts.

Mentone. Menton. Damals wie heute eine weite Reise, es sei denn man fliegt.

Aber ich flog nicht, ich fuhr mit der Bahn. Schließlich hatten sie sich auf einem Bahnhof kennengelernt, Doris und Klaus, sie achtundzwanzig, er neununddreißig. Damals in Kiel, im vorletzten Jahrhundert. Er hatte vor ihr, wenn man es recht bedenkt, eigentlich noch keine Frau gehabt. Er wusste gar nicht, wie sich die Liebe zuträgt. Unberührt war er geblieben, all die Jahre. Er sagt es ja selber: Ich habe die Liebe gar nicht gekannt. Was ich gesungen, war nur die Sehnsucht nach Liebe … Ein einsamer Mann also, trotz seiner dichterischen Erfolge. Hatte er nicht gerade die plattdeutsche Sprache wieder entdeckt, sie literaturfähig gemacht und mit der Gedichtesammlung, die er „Quickborn“ nannte, einen grandiosen Überraschungserfolg gelandet? Schnell war die erste Auflage vergriffen; es folgte die zweite, die dritte, die zehnte. Er könnte also heiter sein, dieser Dichtersmann.

2.

Mein Name ist Voss. Geboren am Landweg, auf einem längst versunkenen Bauernhof, lebe ich nun ganz nahe an einem Fluss. Manchmal sehe ich die Masten der Schiffe, wenn sie vorbeiziehen und über den Deich ragen. Dann fahre ich mit. Aber letztlich verlasse ich meinen Schreibtisch und den weitläufigen Garten nur selten.

Jeder Tag ist anders und jeden Tag sehe ich: die Jahreszeiten. Heute und auch vor hundert oder zweihundert Jahren, Moor, Heide, Marsch, der Geestrand, Viehherden, ein paar geneigte Bäume, die unverwechselbaren Windflüchter, immer nur wenige Menschen.

Ich höre Musik. Auch Gesang, as de Steern an Heben. Eigentlich müsste ich mein Land doch gar nicht mehr verlassen. Höchstens mal auf die andere Seite. Von dort nach hier gucken.

Am Rand der Welt sitzt einer und lacht. Ich könnte auch hier lachen.

Ich stehe auf dem niedrigen Deich. Im Nachmittagslicht mein Fluss. Rehe schwimmen hinüber. Ab und zu springt ein Fisch. Pappeln am Ufer täuschen wie immer viel zu viel Wind vor. Ihre Blätter sind ständig in Bewegung, rascheln. Zu Hause habe ich die Bücher. Alles, was ich weiß und gelernt habe, habe ich in den Büchern gefunden.

Und wenn ich doch noch einmal auf eine große Reise gehe, dann müsste sie mit Büchern zu tun haben, mit Schrift, mit Sprache, mit einem mir so vertrauten Dichterleben. Das wäre dann eine wirkliche Reise. Ausgang offen. Vielleicht sogar an ein anderes Meer. Und ich werde alles mitnehmen, was mir dabei helfen kann. Allerdings müsste es in zwei Koffer passen; ich habe nur zwei Hände.

Ich packe mir zu all dem anderen Zettelkram also auch seine Briefe in den Koffer, die Briefe an die Braut, an die Zeitung. Und ich will Mentone, gleich hinter der Grenze, an dem Tag erreichen, an dem auch Klaus und Doris dort eintrafen und zunächst im Hotel de la Paix wohnten, bevor sie die Pension Beau Rivage fanden. Das war der 25. Oktober des Jahres 1876.

Ich werde es zumindest versuchen, doch wer weiß, was mir unterwegs widerfährt, vielleicht komme ich auch zu früh, verliere meine Sachen. Aber auf jeden Fall bringe ich uns Drei gesund wieder heim. Das ist versprochen.

Ich reise mit schwerem Gepäck. Natürlich werde ich während der langen Zugreise auch ihr Tagebuch dabei haben, ein Büchlein, mit einer Metallschließe versehen, so klein, dass man es in einer Hand verstecken könnte. Wer es genau wissen will: 7 × 11,6 cm, weißes Papier, blau kariert, im Lauf der Zeit aber matt geworden wie eine verwaschene Bettdecke. Achtzig Seiten hat es, die erste und die letzte ist mit buntem Papier überzogen, darin je eine kleine Einstecktasche aus gleichem Material, mit rotem Leinen befestigt. Bisher habe ich es mir verboten, nachzusehen, ob sich in diesen winzigen Taschen etwas verbirgt, genauso wie ich nicht darüber spreche, wo ich dieses Tagebuch gefunden habe.

Aber ich habe gelernt, ihre Schrift zu lesen. Die deutsche Schreibschrift. Mit der feinen stählernen Spitzfeder, die man in die schwarze Tinte tauchte, fast jubelnd die Unter- und Oberlängen, aber sonst sind die Buchstaben eher klein und sich sehr ähnlich, wie Perlen auf einen Faden gereiht. Sie schreibt: Mittwoch, den 25. Oktober. Fahrt von Genua nach Mentone. Immer dicht am Mittelländischen Meer entlang. Wunder der Vegetation, Erhabenheit der hohen Gebirge, das lässt sich kaum in Worte fassen. Ganze Gärten voller Orangen- und Zitronenbäume, Olivenwälder. Feigenbäume, ja sogar Palmen. Wir können uns nur noch wundern. – Nun also am Ziel, Klaus und ich, Mittwoch, den 25. Oktober 1876 nachmittags Mentone.

Hatte er genügend Tintengeld dabei? Er bettete sie zärtlich. Vom Balkon aus konnten sie das Meer sehen, die silberne Spur.

Ich reise mit schwerem Gepäck. Dazu noch die lederne Kuriertasche, die mich schon mein halbes Leben begleitet. Niemand bringt mich zum Bahnhof. Heide in Holstein. Keine Verspätung. Doch nur mit Mühe lassen sich die beiden Koffer verstauen. Als wenn ich mit Backsteinen verreiste, es sind aber nur Bücher und Briefe, die Zettelkästen. Zahnbürste und Kamm habe ich in der Kuriertasche, die Bleistifte, den Anspitzer und natürlich auch mein eigenes Buch, diese 160 weißen Seiten, sämtlich noch leer, aber sicherheitshalber liniert.

Schon in Altona muss ich umsteigen. Aber von da an geht’s den Globus hinab und nur noch südlich. Wäre ich der Lokomotivführer, hätte ich die Sonne jetzt nur noch von vorn, aber ich bin nur ein Mitreisender, sitze im Großraumwagen ICE Schimmelreiter. Hamburg/Altona–Basel. Wie immer verfliegen sich draußen die Landschaften, verwischen zu einem einzigen Wimmelbild von rückwärtigen Häusern, Graffiti, Baustellen, Stoppeläckern, leeren Landschaften, fernen Kirchtürmen, wartenden Autos, Windrädern, Gewerbegebieten, kleinen Gehölzen und Schilderwäldern.

Ab und zu ist auch eine Schrift zu lesen.

Wer lesen kann, ist unbestritten im Vorteil. Sagt man, aber es stimmt.

Gut auch ist die Erfindung der Brille, Fern- und Nahsicht, und kurz vor Göttingen komme ich sogar ins Gespräch. Barbara heißt sie und sitzt mir schon die ganze Zeit gegenüber.

Was ich denn da lese, fragt sie mich, als sie schon fast wieder aussteigen muss. „Einen vergessenen Dichter“, antworte ich wahrheitsgemäß. Das macht sie dann doch neugierig: „Irgendwann werden wir alle vergessen.“

Stimmt. Aber er hatte es besonders schwer, schrieb er doch in zwei verschiedenen Sprachen und wusste nie, in welcher Welt er sich denn nun aufhielt.

„Oh, interessant. Das kann ich mir gut vorstellen …“

„In wenigen Minuten erreichen wir Göttingen“, kommt uns nun eine andere, immer weibliche Stimme dazwischen: „Ausstieg links, Sie haben Anschluss …“

Manchmal würde sie auch singen, erzählt mir Barbara, die Studentin im siebten Semester der Germanistik, und wünscht mir höflich eine gute Weiterfahrt.

Auf dem Bahnsteig sehe ich sie schon bald in eine Unterführung abtauchen, und sie hat tatsächlich eine Gitarre auf den Rücken geschnallt.

Weiterfahrt. Der mir jetzt gegenüber sitzt, klappt, ohne Gruß, sein Laptop auf und möchte gar nicht angesprochen werden.

Der Zug rauscht dahin; die Fenster lassen sich nicht mehr öffnen.

Mir kommt ein ganz kurzes Gedicht in den Kopf, nicht mehr als eine Priamel, ich hab es von Klaus Groth, dem Dichter, gelernt: Dat Künfti is verborgen, / Verborgen is dat Künfti, / Denken is vernünfti, / Vernünfti is dat Denken, / En Keed hett eer Lenken, / Eer Lenken hett de Keed, / Eer Haken hett de Reed, / De Reed hett eer Haken …

So rattern, so rauschen, so hämmern die Züge dahin, ewige Litanei, von hier nach dort. Und weiter. Wie ein Rosenkranz geht mir alles durch die Finger. Jede Rede hat ihren Haken, einen Haken hat jede Rede.

Nächster Halt: Kassel-Wilhelmshöhe.

3.

Es war an einem Sommertag, ganz dünne Schleierwolken über der Stadt, ein leichter Nordost, der das Wasser in die Förde trieb. Kiel zeigte sich in heiteren Farben, der Kalender gab den 13. Juli an.

Sicherheitshalber blättere ich nach: Ja, Dienstag, der 13. Juli 1858.

Klaus Groth wohnte, wie schon im vergangenen Sommer, in der Seebadeanstalt. Dort auch hatte er wieder Umgang mit Ohm Koester und dessen kluger Frau Maria. Louis Koester, reicher Weinkaufmann aus Hamburg, war ein Mann des offenen Wortes. Er hatte Groth bereits in seine Villa nach Hamburg eingeladen, ihm das immerwährende Du angeboten.

Kennengelernt hatten sie sich in jenem Sommer vor fünf Jahren, als Groth aus seinem Fehmarner Exil zurückkehrte und man ihm in Kiel, just in der Seebadeanstalt, eine Stube gemietet hatte. Dort sollte er sich erholen von den Strapazen des Alleinseins. Etwas abseits in der Nähe der Bootsschuppen, wo sich die Miesmuscheln an die Dalben hängten und die Möwen auch auf andere Beute warteten, hatte man ihm eine Kammer eingerichtet.

Koester, zwanzig Jahre älter als Groth, verbrachte die Sommer regelmäßig zur Erholung an der Förde, und schon bald war er mit dem fremden, sehr erschöpft aussehenden Mann ins Gespräch gekommen: „Sie sind wohl leidend“, sagte Koester, worauf ihn Groth fragend ansah, und seitdem ist das Gespräch nicht mehr abgerissen.

Sie waren jetzt wie Neffe und Onkel. Ohm sagte der eine, Klaus der andere.

Und heute nun, fünf Sommer später, sollte der Ohm Schicksal spielen, denn es hatte sich vornehmer Besuch angekündigt. Eine junge Dame aus Bremen. Doris Finke.

Groth aber wusste gar nicht, wen er dort abholte, auf dem Kieler Bahnhof. Der Ohm hat ihn geschickt: „Mach du das, Klaus, ich habe heute keine Zeit. Hier hast du Geld für die Blumen. Sie ist die älteste Tochter meines guten Freundes Albert Finke aus Bremen. Und denke daran, sie ist geschwächt, nach dem Tod ihrer Mutter, die sie jahrelang gepflegt hat. Sei behutsam mit ihr. Und bringe sie zu uns in die Seebadeanstalt. Wir haben dort ein Zimmer für sie reserviert. Die Seeluft wird ihr gut tun, der Strand, die Sonne. Um halb vier trifft ihr Zug ein. Sie soll sich erholen, einfach nur erholen. Du machst das schon. Aber verspäte dich nicht.“

„Ja“, hatte er da nur geantwortet und war dem Blick des väterlichen Freundes ausgewichen. Verspätet hatte er sich noch nie, und trotzdem erschien ihm vieles wie: Zu spät!

Ja, er würde es machen. Es gab in seinem Leben doch viel zu wenige Gelegenheiten. Ein einziges Mal hatte er sich verliebt, wirklich verliebt, damals in Heide, wo man auf eine Weise vereinsamen konnte, dass es einem den Atem raubt. Warum drop mi dat Og in de Seel denn so deep? Warum trock mi wat Fremds na dat Mäden heran? Ik seeg di blots vun widen un weer di geern so neeg …

Eine dunkle Schönheit war es, sie selbst hat es wohl erst später erfahren, dass da einer war, der sie liebte, aber nur in Gedanken und in Gedichten. Mathilde hieß sie und war des Landschreibers Tochter. Er aber, der zukünftige Dichter, flüchtete in die Verbannung. Nach Fehmarn, zu seinem Freund Selle, dem Organisten. Öde war die Insel und flach. Dort richtete er sich sechs Jahre ein, das heißt: er versteckte sich, fand aber auch endlich seinen Beruf, er dichtete, jetzt auch auf Plattdeutsch, er wurde ein Sänger.

Wa klingst du schön! / Wa büst du mi vertrut! / Weer ok min Hart as Stahl un Steen, / Du drevst den Stolt herut …

Als ihn der Ruhm dann erreichte, fiel er fast um. Die Welt hatte ihn, Klaus Groth, entdeckt. Mit Gedichten hatte er sich ihr genähert.

Nun war eingetreten, was er sich so sehnlichst erwünscht, wonach er sich verzehrt hatte. Und Kiel empfing den Dichter mit Ehren und schickte ihn auf Tournee durchs deutsche Vaterland, nach Bonn, nach Dresden, in den Schwarzwald, wo man ihn gar nicht mehr recht verstand: „Dat kloppt mi luud in Bossen, ik weet ni, wat ik will …“

So oft wusste er nicht, was er wollte.

Und beschloss dann, zum Asketen zu werden, um sich für das Werk seines Lebens zu rüsten.

Allerdings war er zu jedem Gefühl fähig. Auf dem Papier sowieso.

Nun fuhr der Zug ein. Eine riesige Dampfwolke wie bestellt. Der alte Bahnhof in Kiel, an der Klinke, die Blumen in der Hand.

Als der Zug kreischend zum Stillstand kam und der Nebel sich lichtete, wäre er am liebsten wieder fortgerannt, mit seinen langen Beinen, 39 Jahre jetzt immerhin schon alt.

Aber dann stand er genau dort, wo sie aus dem Waggon trat. Niemand half ihr mit dem Gepäck. Fast hätte er die Blumen fallen gelassen, die Levkojen.

Doch wenig später schon saßen sie im Boot, die einzigen Passagiere, und der Ruderer ließ sich Zeit und verzichtete auf das Hilfssegel. Das Wasser der Förde so heiter, so hilfsbereit, die vorüberziehenden Ufer gaben sich alle Mühe. Schön war es.

Gesprochen wurde wenig.

Sieben Wochen sollten es werden. Sommer Tag und Nacht. Und die Kieler Seebadeanstalt, unterhalb des Düsternbrooker Gehölzes, ein ganz besonderer Ort, unberührt noch. Zusammen gebadet haben sie nicht. Aber unter einem Dach gewohnt. Und die Tage miteinander verbracht.

4.

Der mit dem Laptop ist nicht mehr da. Vielleicht hat er nur gespielt. Oder die entscheidende Formel gelöst. Ich weiß nichts von ihm. In den Fingern war er sehr beweglich. Vielleicht hat er auch ein Gedicht geschrieben, eines, das sich gar nicht reimt. Wir sind heute abwesender denn je.

Mein ICE aber nimmt nun Fahrt auf. Und vor jedem Tunnel beschleunigt der Lokomotivführer, denn dann geht es geradeaus und alles ist hindernisfrei. 180, 200 Stundenkilometer. Aber die Waggonbeleuchtung schützt uns vor der Dunkelheit. Instinktiv schließe ich meine Augen, und als ich sie wieder öffne, sitze ich bereits im Speisewagen und habe die Tagessuppe bestellt. Dazu ein kleines Bier. Und an dem Tischchen mir gegenüber hat eine Platz genommen, die ich kenne: Annamedder! Hallo! Als wäre sie einem Gedicht entsprungen.

Sie ist es wirklich, mit ihrem Flachskopf und ihren Pausbacken, süßer noch, wie der Dichter sagt, as Tweebacken. Und sogleich fängt sie an zu reden, ich kann geradezu sehen, wie ihre Zunge geht, as een Lammersteert. Auch wenn ich nicht alles verstehe, wird mir leichter ums Herz. Noch ist nichts verloren. Kannst mi utwrengn as’n Fatdok, ja, du kannst mich auswringen wie ein Fahrtuch. Auch in die Ecke stellen wie einen Handstock, so lange du meiner Phantasie auf die Beine hilfst, ist alles gut. Dann kommt der Schaffner, und gibt meinem Online-Ticket endlich den ersehnten Zangenabdruck. Spätestens jetzt hat sich Annamedder, Annameller wieder verflüchtigt.

In Frankfurt dann wie eh und je der Sackbahnhof. Goethe-Stadt Frankfurt. Sein Geburtshaus soll es immer noch geben. Aber ich bleibe im Bahnhof; über mir die gewaltige Glaskuppel. Kiel hat mehrere Bahnhöfe gehabt. Von dem ersten, dem an der Klinke, dem mit den zwei Türmen und den zwei Fahnenmasten, erzählen heute nur noch alte Bilder und Stiche. Sie könnten einen Untertitel tragen: Stätte der Begegnung zwischen K.G. und D.F. 1857.

Aber schon sind wir wieder unterwegs. Offene Strecken nun. Süddeutschland. Gewachsene Kulturlandschaften. Linkerhand die Bergstraße, Weinberge, Obstgärten. In ihrem Tagebuch, in dem kleinsten ihrer drei Tagebücher, ich kann es immer noch leicht in einer Hand verstecken, lese ich das nun alles nach: Montag, den 16. Oktober 1876, nach Basel. Lange aber schöne Fahrt, die Bergstraße fruchtbar und schön, der Weinbau reich.

Mannheim, Heidelberg, Karlsruhe, Offenburg. Nicht einmal in Freiburg steige ich aus. Aber in Basel. Und siehe da, beide Koffer sind noch da. Niemand außer mir weiß, was ich darin alles verwahre: Auch seine Gedichte. Und die gepressten Pflanzen. Seine Erinnerungen. Dazu die Jahresgaben. Auch ihre Briefe, besonders die an die Kinder. Eine Zigarrenkiste voller Fotos. Meine Welt von A bis Z. Ich habe alles dabei. Selbstverständlich auch das Fernglas, das gute alte Steiner. Das Barometer von Sturm bis Schönwetter. Und, nicht zu vergessen, das Thermometer, in Celsius und Réaumur. Ich bin also gerüstet für jeden Fall.

Jetzt also Basel. Bitte alle aussteigen. Der Nachtzug nach Genua geht erst in drei Stunden. Vielleicht könnte die Zeit reichen, noch einmal die Hasenburg aufzusuchen, jenes Lokal für alle Generationen, für die Säufer und Philosophen, die Studenten und Händler, wo es die Rösti mit dem Läberli für ein paar Franken und Rappen gab.

Aber wohin mit den steineschweren Koffern?

Es dauert, bis ich die Schließfächer gefunden und das System begriffen habe, doch dann: Drei Stunden, ganz befreit. Immer wieder lange ich mir in die Hosentasche, ja, er ist noch da, noch da, der Schlüssel zum großen Schließfach.

Ich gehe über die Rheinbrücke, unter mir im letzten Dämmerlicht die eiligen Wellen. Basel liegt sehr schön. Der Rhein so köstlich. Stumm ragt das Münster gegen den aufziehenden Nachthimmel. Ich gehe vorbei am Hotel Zu den Drei Königen am Rhein (immer noch eine erste Adresse, bereits der Dichter Groth logierte hier mit seiner Frau vor 142 Jahren), überquere den Barfüßerplatz, dann den Marktplatz, rechterhand das Rathaus, und schon bin ich in der Schneidergasse und stehe tatsächlich vor der Hasenburg, Nummer 20, Château Lapin.

Drinnen sind nur wenige Tische besetzt. Ringsum an den braun getäfelten Wänden die Kleiderhaken. Da kannst du hängenlassen, was du willst. Und immer noch die beiden ausgestopften Hasen überm Tresen, in ein aufrechtes Gespräch vertieft. Die Hasenburg ist die Beiz der kleinen Leute, aber auch Dichter hat es hier gehabt und entflogene schräge Vögel. Man konnte sogar den Hut aufbehalten und Schulden machen, die bis heute nicht bezahlt wurden. Aber morgen!

An einem der Tische sitzt einer, den ich auch schon lange kenne, in bloten Kopp mit swarte Haar, as Törf so brun un sunderbar, ein Mann wie aus allen Zeiten gefallen, seet un sweeg un heel de magern Hann’ in Schot. Doch der lässt sich bestimmt nicht mehr ansprechen. Und siehe, schon schüttelt er den Kopf und seufzt und hebt das Glas mit dem Obstwasser an die Lippen.

Bereits als Kind, in der Grundschule, bin ich dem Dichter begegnet, und ich war nicht das einzige. Die ganze Klasse konnte es im Chor aufsagen, Herr Frahm, der Lehrer, dirigierte: Lütt Matten de Has / de maak sik een Spaß, / he weer bi’t Studeern, / dat danzen to lehrn … Lauter Jungs waren wir; die Mädchen in der anderen Klasse bei Frau Schubert, Adolf-Bartels-Schule in der Adolf-Bartels-Straße zu Heide. Und dass man studieren muss, um das Tanzen zu lernen, hat mich mein ganzes Leben lang beschäftigt. Dabei tanzt doch nur der mit allen, der am Rande steht.

In der Hasenburg, das muss man ihr lassen, kann man, wie der Dichter sagt, bequem spazierensitzen. Zu sehen und zu erleben gibt es hier immer etwas.

Es kommen die Röstis, die Spiegeleier, Läberli mit Zwiebeln und schaumbekrönt das Bier im Henkelkrug. Ein Prosit auf das Leben!

„’N Guten“ sagt die Wirtin, die Liselotte heißt, und nie etwas anderes war als Wirtin: „Sii chömmet wohl us em Norde, gell?“

Der am Tisch hebt nun doch die Hand, wie einen verlorenen Gruß, dann mümmelt er weiter vor sich hin in einer fremden Sprache, bün so mööd vun Töben.

Wem fahre ich eigentlich voraus?

5.

Die alte Kieler Seebadeanstalt, auf Höhe vom Düsternbrook, sah aus wie ein griechischer Tempel. Eine Säulenreihe, vierzehn dorische Säulen konnte man zählen, boten den Gästen ein Entreé, das sie sogleich über den Alltag erhob.

Holzstege führten ins Wasser der Förde hinaus, mit weiß gestrichenen Geländern. Auch gab es einen kleinen Strand, mit Sand und hellem Muschelgrund.

Der Bademeister, von allen nur Badeheinrich genannt, ritt jeden Abend mit seinem Kaltblut ins Wasser, die Badekarren an Land zu ziehen und sie für den nächsten Tag vorzubereiten. Männer und Frauen badeten natürlich getrennt; die Kinder bei den Frauen.

Klaus Groth badete nur bis zum Knie.

Doris war mutiger, aber Klaus verbot es sich hinzusehen.

Doch eigentlich kamen nur am Morgen und Abend ein paar Besucher zum Baden heraus. Sonst war überwiegend Stille. Und die wenigen ansässigen Gäste verloren sich im weiten Raum. Dabei war der Sommer 1858 trocken und warm, mehr Schönwetter- denn Regenwolken.

Die Seebadeanstalt war auch ein gediegenes Hotel, eine Pension besonders für länger bleibende Gäste. Klaus hatte ein Zimmer mit Blick auf das Wasser. Doris lebte einen Flur über ihm und hatte den selben Blick, nur um ein paar Meter höher gesetzt.

Die Kieler Förde ist eine Bucht im baltischen Meer, die sich tief ins Land hineinschiebt. Das Geschenk kann man annehmen, da kann man eine Stadt gründen, eine Hafenstadt, den Seehandel eröffnen, Fische fangen, vielleicht sogar eine Universität gründen, auf Werften die neuen Kriegsschiffe bauen, Flagge zeigen.

Doch noch waren die Ufer nicht von Marine und Werften beansprucht, noch ging die Natur bis ans Meer, die Bäume neigten sich über die von den Wellen glatt geschliffenen Kiesel, da kamen die Lieder herüber, die alten Singweisen, all menni Schipper keem to Hus, de lang vergeten weer.

Ein Himmel zum Jubilieren. Die Seebrise lässt ihr Halstuch flattern, nein, hebt es himmelwärts, wenn auch nur zentimeterweise.

„Fräulein Finke, Sie können es mir glauben, denn ich bin an diesem Ort sehr zu Hause, hier kommt man zu sich selbst. Jeder Bewegung haftet hier eine gewisse Leichtigkeit an. Sehen Sie doch nur die Segel, mit dem halben Wind dort auf der Förde, sie streben hinaus …“

Doris Finke sah alles, auch diesen Mann, von dem sie, wenn sie ehrlich war, noch nie etwas gehört hatte. Ein so ernster, ein so seltsamer Mann, nicht unbedingt eine Schönheit, aber einer, der seine Worte setzen konnte.

Warum nur war er geschickt worden, sie am Bahnhof abzuholen?

„Ich will Sie nun nicht weiter aufhalten, Sie werden sich erst einmal von der Reise erholen wollen und Ihr Zimmer beziehen …“

„Ich danke Ihnen sehr.“ Mehr sagte sie nicht, und es stand auch schon das Dienstpersonal der Seebadeanstalt bereit, um sich um all ihre Gepäckstücke zu kümmern, auch um die Hutschachtel.

Groth verbeugte sich; plötzlich fiel ihm kein Wort mehr ein, kein einziges.

Doch bereits beim Frühstück des nächsten Tages trafen sie sich wieder.

Sie musste lächeln, aber nur für sich und ganz unsichtbar. Ihm klopfte etwas in der Brust. Alles war gedeckt.

Man saß an einem Vierertisch, ganz in der Nähe eines der großen Bogenfenster. Im Osten geht die Sonne auf, also drüben, jenseits des Wassers auf der anderen Seite der Förde, über Heikendorf, Möltenort, bezaubernde, noch still schlummernde Dörfer. Und diese Sonne, nun schon halbhoch am Himmel stehend, warf ihr Licht auf den Frühstückstisch.

Ohm Koester nahm das Ei aus dem Becher und hob es an dieses Licht, hoffentlich hartgekocht, dachte er im Stillen. Er mochte die Weichen nicht.

Maria, seine Frau, hatte genug zu erzählen: Von Goethe und dass man es doch nun unwiederbringlich versäumt hatte, ihn noch zu Lebzeiten zu treffen, aber nach Frankfurt könne man ja jederzeit, Geburt bleibt Geburt und sein Geburtshaus stünde dort bereit und freue sich auf Besucher.

Auch mein Geburtshaus steht noch, dachte Klaus Groth bei sich, hütete sich aber, es zu sagen. In Heide steht es, mein Großvater, mein Obbe hat es gebaut, 1796 schon, und er auch war der erste, der mir Geschichten erzählte, von Odysseus, Homer, Sokrates, beim Heuen und im Torf. Und er auch sagte: „Du hast so eine schöne Stimme, erfreue damit noch viele Menschen.“

Ohm Koester ließ sich noch einmal Kaffee nachschenken; nun die Quittenmarmelade, dazu dann doch das weiche, das weiße Brot.

Klaus Groth, er saß dem Fräulein Finke gegenüber, musste ständig seinen Blick senken. Immer waren da ihre Augen, groß und weit auseinander stehend in ihrem blassen Gesicht.

Sie sprach noch weniger als er, der die Worte doch sonst so gut setzen konnte.

Als sie mit leiser Stimme um Vollkornbrot bat, freute ihn das sehr.

Sie ist eine Gute, dachte er; auch wenn sie aus reichem Hause stammt, scheute sie keine Arbeit. Aber die Pflege der sterbenskranken Mutter war wohl doch über ihre Kräfte gegangen. Er schloss einmal ganz kurz seine Augen. Sie sah es. Am Nachbartisch wurde gelacht. Die Sommerfrischler können das, grundlos lachen; der Tag gehörte ihnen.

Nach dem Frühstück ging man noch einmal zurück auf die Zimmer.

Später würde man sich auf die Terrasse begeben, die Sonnenschirme zurechtrücken, lesen oder auch den Möwen zusehen, die ihre Bissen oft schon im Flug fingen.

Klaus aber musste hinauf in den Wald, ins Düsternbrooker Gehölz. Laufen, sich bewegen, mit dem Spazierstock kleine Steine in die Luft schnippen, als wären sie Gedanken, die ihm nicht zustanden. Ja, sie war ein Mensch, zu dem es ihn hinzog, keine überwältigende Schönheit, sie war etwas ganz Anderes. Sie war die, auf die er gewartet hatte, all die Jahre. Er spürte, wie sich etwas in ihm verkrampfte, längst hatte er den Weg verlassen, es flüsterte und rauschte, Libellen standen in der Luft, es klopfte, das Gehölz um ihn her.

Höhup, höhup, as een Fiddler op sien Barg.