Über das Buch:
Mit seiner Vergangenheit hat Griffin McCray eigentlich abgeschlossen: Nach einem missglückten Einsatz kündigte er seinen Job als Scharfschütze einer Polizeieinheit und arbeitet seitdem als Park Ranger auf den historischen Schlachtfeldern von Gettysburg. Mit der Ruhe ist es allerdings vorbei, als er auf einer seiner Patrouillen eine Leiche entdeckt und die attraktive Dr. Finley Scott die Ermittlungen aufnimmt.

Für die forensische Anthropologin steht schnell fest, dass der Tote erst kürzlich ermordet wurde, allem Anschein nach von einem professionellen Scharfschützen. Als sich ausgerechnet Declan Gray, FBI, und Parker Mitchell, Gerichtsmediziner, in die Ermittlungen einschalten, gerät Griffin vom Regen in die Traufe. Plötzlich steckt er mittendrin in dem Fall und ihm bleibt keine andere Wahl, als sich seiner Vergangenheit zu stellen …

Über die Autorin:
Dani Pettrey ist für ihre spannenden Romane mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Im deutschsprachigem Raum ist bisher ihre sehr erfolgreiche Alaska-Serie rund um die fünf McKenna-Geschwister erschienen. Sie ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt in Maryland.

 

Kapitel 9

Am nächsten Nachmittag stand Griffin an der Tatortabsperrung um den Fundort der Leiche auf dem Little Round Top. Bald würde das Absperrband entfernt werden und alles wieder seinen gewohnten Gang gehen.

Routine – etwas, das er normalerweise sehr zu schätzen wusste. Doch diesmal bedeutete die Rückkehr zum Alltag, dass Finleys archäologische Grabung heute offiziell endete. Kein täglicher Austausch mehr mit der lebhaften Dr. Scott. Die Vorstellung, sie nicht mehr regelmäßig zu sehen, hinterließ bei ihm ein Gefühl der … Leere und das war völlig inakzeptabel. Ein unverkennbares Warnzeichen, dass er auf Abstand gehen musste.

Griffin rieb sich den Nacken. Es war gut, dass sie ging, auch wenn es sich ganz und gar nicht so anfühlte.

„Hallo!“ Finleys Stimme ertönte aus einiger Entfernung.

Er drehte sich um und sah, wie sie vom unteren Parkplatz auf den Hügel hinaufkam.

„Ich dachte mir, dass ich Sie hier finde.“ Sie trug ihren Arbeitsoverall und ein Paar gepunktete Gummistiefel und sah trotzdem umwerfend aus.

Er versuchte, das Glücksgefühl zu unterdrücken, das ihre Anwesenheit auslöste. „Ich hatte Sie heute gar nicht hier erwartet.“

„Was soll ich sagen?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich einfach nicht losreißen.“

Sein Lächeln wurde breiter und er holte tief Luft. „Ach ja?“

Sie zeigte auf das Grab. „Sie ja offensichtlich auch nicht.“

Das Grab. Klar. Natürlich sprach sie von dem Fundort der Leiche. In gewisser Weise hatte sie auch recht. Eine tote Frau war in seinem Park, in seinem Zuständigkeitsbereich gefunden worden – auf jeden Fall wollte er, dass ihr Mörder zur Rechenschaft gezogen wurde. Aber seit Finley aufgetaucht war, hatte er daran nicht mehr gedacht.

Sie verschränkte die Arme. Ihre rotbraunen Haare, die unter der dunkelgrünen Strickmütze hervorquollen und über ihre Schultern bis auf den Rücken fielen, leuchteten im Licht der Nachmittagssonne. „Haben Sie irgendwas Neues entdeckt?“

„Nein. Ich habe nur versucht, die Umgebung genauer zu betrachten, jetzt, wo der Trubel sich gelegt hat. Ich vermute, wenn die Frau hier vergraben wurde, könnte sie in der Nähe getötet worden sein. Deshalb erkunde ich die möglichen Schießpositionen, obwohl es verrückt ist zu glauben, dass jemand hier im Park ermordet werden kann, ohne dass einer von uns es bemerkt.“

„Sie haben fast 25 Quadratkilometer zu kontrollieren und ich vermute, dass nachts nur eine Person im Dienst ist. Da können Sie unmöglich alles im Blick haben. Außerdem hat er ihr Grab gut versteckt.“

„Ja, da haben Sie recht. Unser Täter ist nicht nur ein geschickter Schütze, sondern falls er auch derjenige war, der die Leiche vergraben hat, deutet die Tatsache, dass er bereit ist, sich die Hände schmutzig zu machen, darauf hin, dass sein Auftrag Mord und Entsorgung umfasste.“ Er sah auf seine Armbanduhr. Es war ihm gar nicht recht zu gehen, wenn Finley hier war, aber er musste sich auf den Weg zum Schießstand machen. „Tut mir leid, aber ich muss los.“

„Fahren Sie jetzt zu Ihrem Bekannten mit der Schießanlage?“

„Ja. Ich habe Declan gesagt, dass ich nach meiner Arbeit hinfahre, also mache ich das besser, bevor sie dort schließen.“ Man konnte dort nur im Freien schießen und es wurde jetzt immer früher dunkel.

Sie wippte auf ihren Stiefeln hin und her. Der Boden war von dem vielen Regen noch etwas feucht. „Wie wäre es, wenn ich mitkomme?“

„Wie bitte?“ Sie wollte ihn zu der Schießanlage begleiten?

„Sebastian hat die Abschlussarbeiten an der Grabung gut im Griff. Das ist sein Tag und er ist ein eifriger Student. Da will ich ihm die Freude nicht nehmen. Außerdem habe ich nichts Besseres vor.“

„Schießstände sind nicht gerade schick.“

Sie warf ihm einen schrägen Blick zu. „Ich bin nicht sicher, was diese Bemerkung über mich aussagt, aber ich vermute, Sie wollen damit andeuten, dass es nichts für mich ist?“

Er konnte sich vorstellen, wie die Männer reagieren würden, wenn Finley dort auftauchte.

Sie schob die Hände in ihre Hosentaschen. „Sehen Sie es doch mal so: Es wird viel natürlicher wirken, wenn Sie einer Freundin das Schießen beibringen und wir nebenbei ein paar Fragen stellen, als wenn Sie nur dort auftauchen, um Antworten zu bekommen.“

„J…a.“

„Gut. Nachdem das geklärt ist, ziehe ich mich schnell um. Ich habe Sachen im Auto. Dauert keine zehn Minuten.“

Neun Minuten später lehnte Griffin an seinem Pick-up, einen Becher Kaffee in der Hand, während im Flaschenhalter am Beifahrersitz ein zweiter Becher auf Finley wartete. Wie versprochen brauchte sie keine zehn Minuten, um ihre Arbeitsklamotten durch eine dunkle Jeans, schwarze kniehohe Stiefel, ein leuchtend blaues Oberteil und eine schmal geschnittene schwarze Fleecejacke mit blauem Futter zu ersetzen.

Wenn sie die Schießanlage betrat, würde sie in diesem Aufzug einigen die Köpfe verdrehen, aber das wäre sowieso der Fall – egal, was sie trug. Diese Dame war einfach hinreißend. Noch ein Grund, warum es eine ganz, ganz schlechte Idee war, mehr Zeit miteinander zu verbringen. Griffin wünschte nur, er wäre nicht so froh darüber.

 

* * *

 

Finley sah zu Griffin hinüber, dessen markante Gesichtszüge vor dem Gegenlicht der Nachmittagssonne scharf hervortraten. Warum war er kein Scharfschütze mehr?

„Also …“, sie drehte sich auf dem Beifahrersitz so, dass sie ihm zugewandt war, „… erzählen Sie mir mehr von dem Job als Scharfschütze.“

„Es ist ein Beruf, der Präzision, Disziplin und Beherrschung erfordert.“

„Wie haben Sie sich auf den Beruf vorbereitet?“

Er erklärte, dass das Schießen auf Zielscheiben ihn schon früh begeistert hatte, dass er anschließend eine Ausbildung bei der Polizei gemacht hatte und dann in Quantico eine Zusatzqualifikation erwerben konnte als Mitglied einer handverlesenen Truppe, die für den Einsatz bei Terrorangriffen oder Geiselnahmen jeglicher Art ausgebildet wurde.

„Es klingt so, als wäre der Beruf eine echte Berufung für Sie gewesen – und Sie waren offensichtlich gut darin.“

„So war es.“ Das einsilbige Wort fühlte sich in der Kehle stumpf an und kam nur kratzend heraus.

Finley wusste, dass sie ein Risiko einging, wenn sie einen introvertierten Mann drängte, von sich zu erzählen. Aber sie war fasziniert.

„Darf ich fragen, was geschehen ist?“

Griffin seufzte tief. „Ich war in der taktischen Spezialeinheit SWAT bei der Polizei von Baltimore“, begann er. „Spezialisiert auf Geiselnahmen.“ Sie merkte, wie sein Körper sich anspannte. „Ein Anruf kam rein. Eine Geiselnahme im vorletzten Sommer. Ich kam zum Ort des Geschehens. Ein Mann bedrohte eine Frau mit einer Waffe – eine versuchte Vergewaltigung, bei der er gestört worden war. Jemand hatte sie schreien gehört und sich zwei Streifenpolizisten geschnappt, die er in einem Imbiss an der Ecke gesehen hatte.

Die Beamten hatten den Verdächtigen schnell in die Ecke getrieben. Er saß in der Klemme und wusste es, also hielt er der Frau eine Pistole an den Kopf und drohte zu schießen, wenn sie ihn nicht gehen lassen würden. Ein Unterhändler für Geiselnahmen und unsere Spezialeinheit wurden alarmiert. Wir hatten ihn in dem Haus der Frau umzingelt.

Der Unterhändler hatte ihn so weit beruhigt – jedenfalls dachten wir das. Aber dann kam der Entführer zur Tür herausgerannt, die Waffe an der Schläfe der Frau, und versuchte abzuhauen. Ich hatte ihn im Visier, aber ich habe zu lange gezögert.“ Sein Unterkiefer zuckte. „Ich kannte den Mann. Tim Bowers. Wir waren im gleichen Sportklub. Hatten jede Woche Squash zusammen gespielt und anschließend zusammen gegessen.“

„Es ist doch ganz normal, dass Sie darüber nachgedacht haben.“

„Für einen Zivilisten mag das eine normale Reaktion sein, aber nicht für einen Profi. Ich hatte das Zielobjekt im Visier und freie Schussbahn. Als ich zögerte, bewegte sich Tim aus meinem Schussfeld. Stattdessen schoss der Scharfschütze auf dem gegenüberliegenden Dach. Er war aber nicht so gut. Er traf Tim zwar, aber der Schuss war nicht tödlich, jedenfalls nicht sofort. Tim konnte noch abdrücken und Judith Connelly erschießen, bevor er selbst zusammenbrach. Eine unschuldige Frau ist meinetwegen gestorben.“

„Sie waren nicht der Geiselnehmer und Sie waren schon gar nicht der, der abgedrückt hat.“

Der Schmerz war in seinem ganzen Gesicht zu lesen. „Genau.“

Blöde Wortwahl. „Ich meine, Tim Bowers ist für Judiths Tod verantwortlich. Nicht Sie.“

„Es war meine Aufgabe, sie zu beschützen. Ich war dafür ausgebildet, den Abzug zu betätigen, sobald ich freie Sicht auf den Täter habe. Und mich nicht von Emotionen ablenken zu lassen.“

 

* * *

 

Griffin bog auf den Parkplatz der Schießanlage und stellte den Motor aus. Er konnte es Finley nicht verübeln, dass sie neugierig war, und aus irgendeinem Grund war es ihm wichtig, ihr die Wahrheit zu sagen. Es war an der Zeit. Besser, wenn sie es von vornherein wusste.

Er stieg aus und atmete tief die kalte Luft ein.

Der Waffenladen und das Büro der Schießanlage waren in einer großen umgebauten roten Scheune untergebracht. Der Schießstand selbst befand sich auf der anderen Seite eines alten Weizenfeldes – oder eigentlich mehrerer Felder.

Griffin legte eine Hand auf Finleys Rücken und ignorierte das angenehme Gefühl, das ihn dabei durchflutete. Es war anmaßend von ihm, aber diese bezaubernde Dame löste irgendwie einen Beschützerinstinkt in ihm aus. An ihrem leisen Lächeln sah er, dass sie ihm die Geste nicht übel nahm. „Gehen wir rein.“

„Griff“, sagte der ältere Mann, der an der Ladentheke stand, als sie eintraten. „Wie ich sehe, hast du eine Freundin mitgebracht.“ Seine grauen Augen funkelten.

Griffins Hand blieb unverwandt auf Finleys Taille liegen. „Hi. Darf ich dir Finley Scott vorstellen?“

„Finley“, nickte der Mann. „Ein ungewöhnlicher Name.“

„Eine einzigartige Dame“, sagte Griffin. Er wandte den Blick nicht von Gunny ab, aber er spürte das Lächeln auf Finleys Lippen, ohne es zu sehen.

„Haben Sie schon mal geschossen?“, fragte Gunny sie.

„Nein, Sir, aber ich will es schon lange lernen.“

„Sir?“ Er schüttelte den Kopf und lachte krächzend. „Ich glaube, ich war noch nie ein ‚Sir‘.“

„Oh, tut mir leid …“ Sie runzelte die Stirn.

„Sie“, sagte er lächelnd, „können mich Gunny nennen.“

„Gunny?“

„So nennen mich alle.“

„Gunny war Sergeant im Waffendienst der Marine und der Name ist hängen geblieben“, erklärte Griffin ihr.

„Oh“, sagte sie. „Danke für den Dienst, den Sie unserem Land erwiesen haben.“

Seine Augen leuchteten vor Stolz. „Heutzutage bekommt man nicht viel Dank. Aber damals während des Vietnamkriegs, als ich gedient habe, war es noch viel schlimmer.“

„Das tut mir leid.“

„Sie haben das doch gar nicht mehr erlebt.“

„Den Schluss.“

„Aber Sie sind viel zu jung, um sich daran zu erinnern.“

„Ich arbeite …“ Gerade noch rechtzeitig verbesserte sie sich. „Ich studiere die Wirkung von Kriegen auf die Opfer.“

„Ah.“ Gunny machte sich wieder daran, seine Waffe zu reinigen. „Lesen ist eine Sache. Es zu erleben eine andere.“ Er zeigte mit dem Kinn auf Griffin. „Das kann Griff bestätigen.“

Griffin nickte ernst.

„Jetzt sag nicht, dass du immer noch untergetaucht bist.“

„Es war ein Berufswechsel, Gun.“

„Egal.“ Der alte Mann zuckte mit den Schultern.

Konnte er nicht einmal hier auftauchen, ohne dass Gunny darauf zu sprechen kam?

„Finley und ich würden gerne eine Bahn mieten.“

„Habt ihr eure Ausrüstung dabei?“

„Ja.“

„Dann nehmt Bahn 4 – und viel Glück, Miss. Bin gespannt, ob Sie Ihre Sache so gut machen, wie ich es vermute.“

„Wie gesagt, ich habe noch nie eine Waffe abgefeuert.“

„Das bedeutet nicht, dass Sie nicht die angeborene Fähigkeit haben. Für manche Menschen ist es wie atmen – ganz natürlich. So wie bei Griff hier. Er kann Ihnen erzählen …“

Griffin hob eine Hand. „Langweilen wir die arme Finley nicht mit alten Geschichten.“

„So alt sind die nun auch wieder nicht.“

Griffin nahm die Bögen mit den aufgemalten Zielscheiben. „Danke, Gunny.“

Gunny zwinkerte ihm grinsend zu und nahm wieder seinen Lappen in die Hand.

„Er macht einen netten Eindruck“, bemerkte Finley, als sie das Gebäude durch den Hintereingang verließen.

„Streitlustig trifft es eher.“

„Warum haben Sie ihm keine Fragen gestellt?“

„Nachdem wir geschossen haben.“

 

Kapitel 10

Am Schießstand war zu dieser Tageszeit nicht viel los. Nur auf einer Handvoll Bahnen waren ein paar Männer am Üben. Eine hölzerne Dachkonstruktion schützte sie vor blendendem Licht und Wetter.

Gunny hatte ihnen Bahn 4 gegeben, die Schüsse bis zu dreihundert Metern Entfernung erlaubte, aber Finley zuliebe würden sie bei fünfundzwanzig Metern anfangen.

Griffin befestigte die Zielscheibe aus Papier an dem Gestell und ging dann zu ihr zurück. Dabei fiel ihm auf, dass ihr rötliches Haar in der Spätnachmittagssonne umwerfend aussah.

Sie knabberte an ihrer Unterlippe.

„Nervös?“, fragte er und nahm seine 22-Kaliber-Pistole in die Hand.

„Ein bisschen.“ Sie trat von einem Fuß auf den anderen, die Kälte war beißend kalt. „Aber auch gespannt.“ Ihre blauen Augen leuchteten vor Begeisterung. „Ich wollte immer schon mal schießen lernen.“

„Aus irgendeinem besonderen Grund?“

Finley schob die Hände in die Taschen ihrer Jeans und stieß mit der Schuhspitze gegen die Betonplatte auf dem Boden. „Ich finde einfach, es ist ganz praktisch für eine Frau, das zu können.“

Er war sicher, dass sich hinter ihrem Wunsch, schießen zu lernen, mehr verbarg, aber er würde sie nicht bedrängen. Besser als viele andere wusste er Privatsphäre zu schätzen. „Bevor wir anfangen, müssen wir die Sicherheitsregeln für diesen Nachmittag besprechen.“

„Natürlich.“

„Erstens müssen Sie darauf achten, dass Sie immer mit gesicherter Waffe beginnen.“ Er stellte sich hinter sie, legte die Arme um ihre Taille und umfasste ihre Hände. Ein Feuerwerk durchfuhr ihn und ließ seine Nervenenden zusammenzucken.

Finley lächelte ihm über die Schulter zu … Überraschung im Blick.

Warum Überraschung?

Raste ihr Herz auch so wie seines?

Er hätte sie nie mitnehmen dürfen. Die Zeit, die er mit Finley Scott verbrachte, war gefährlich.

Griffin schluckte mit trockener Kehle, sprach aber weiter: „Und richten Sie die Waffe immer auf die Zielscheibe.“

„Meinen Sie so?“, fragte sie.

Perfekt. „Genau“, brachte er heraus. „Sie stehen genau richtig. Und jetzt entsichern Sie die Waffe, dann nehmen Sie den Finger vom Abzugsbügel und legen ihn auf das Abzugszüngel.“

Sie hörte aufmerksam zu und tat, was er sagte.

„Als Nächstes zielen Sie.“

Finley nickte, wobei ihre seidigen Haare seine Wange berührten und ihn am Kinn kitzelten.

Sie war bereit, aber er war noch nicht bereit, sie loszulassen, weil er wusste, dass er wahrscheinlich nie wieder die Arme so um sie legen würde.

„Wenn Sie das Ziel gut im Visier haben, betätigen Sie langsam den Abzug. Mit einer ruhigen Bewegung.“

„Verstanden.“

Widerstrebend zog Griffin die Arme fort und trat einen Schritt zurück, während sein Herz wie verrückt weiterhämmerte. Das war ganz, ganz schlecht.

Ihr Schuss hingegen war alles andere als das. Die Waffe löste aus und ein kurzer Blick durchs Fernglas bestätigte ihm, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. „Super.“

„Wirklich?“ Finley blickte auf und strahlte ihn an – die Augen leuchteten, die Wangen schimmerten rosig und ihr Lächeln zauberte ein herrliches Grübchen in ihre rechte Wange.

Ihr Glücksgefühl war ansteckend und ihre Gegenwart machte süchtig. Diese Frau hatte einfach etwas, was ihn fesselte.

„Sehen Sie selbst“, sagte er und reichte ihr das Fernglas.

Als Finley ihren Volltreffer sah, wurde ihr Lächeln noch strahlender – wenn das überhaupt möglich war. „Ich mache meinen guten Lehrer dafür verantwortlich.“

Griffin erwiderte ihr Lächeln. Klar, dass sie das sagen würde. „Wollen Sie noch mal?“

„Auf jeden Fall!“

Eine Stunde später beschlossen sie, dass es besser war, sich wieder dem eigentlichen Zweck ihres Besuchs zuzuwenden – dem Fragenstellen. Finley hatte inzwischen eine ziemlich große Fangemeinde gewonnen. Etliche Männer kamen vorbei, um ihr zu ihrem Naturtalent im Schießen zu gratulieren.

Griffin kannte ein paar von den Männern, also fing er beiläufig an, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, wobei er zuerst nach der Dragunow fragte und so tat, als überlegte er, eine zu kaufen – nicht dass es ihm etwas ausmachen würde, seiner Sammlung eine hinzuzufügen. Es war eine beeindruckende Waffe.

Beinahe alle sagten, er solle mit einem Mann namens Vern Michaels reden. Michaels war früher Scharfschütze gewesen und hatte im Ersten Golfkrieg das rechte Bein verloren. Er hatte eine Auszeichnung erhalten und schoss jeden Tag auf Gunnys Anlage.

„Wenn jemand etwas Nützliches weiß, welche Schützen dieses Gewehr besitzen und wo man weitere Auskünfte bekommt, dann ist es Vern“, sagte Tag.

„Danke, Kumpel.“ Griffin gab Tag und seinem Freund Bill die Hand. Tag und Griff waren bei zahlreichen Wettkämpfen gegeneinander angetreten und hatten bei der Jugendolympiade drei Jahre in Folge den ersten und zweiten Platz belegt.

„Hab dich letztes Jahr beim Mammut-Scharfschießen vermisst“, bemerkte Tag.

„Ja.“ Griffin rieb sich den Nacken. Er war sich der Tatsache, dass Finley neugierig zuhörte, sehr wohl bewusst. „Ich brauchte mal eine Pause.“ Wie konnte er nach dem, was passiert war, weiterhin an Schießturnieren teilnehmen?

„Ist jedenfalls schön, dich zu sehen, Mann. Hoffentlich sehen wir uns nächstes Jahr beim Wettkampf.“

Griffin nickte vage, so als wäre er sich noch unsicher, aber seine Entscheidung stand bereits fest. Keine Auszeichnungen mehr für eine Fertigkeit, bei der er versagt hatte, als das Leben einer Frau auf dem Spiel gestanden hatte.

„Ich habe gehört, die Lady ist eine ganz ordentliche Schützin“, grinste Gunny, als Griffin und Finley den Laden betraten. Seine falschen Zähne blitzten.

Solche Nachrichten machten natürlich schnell die Runde. Hoffentlich galt das auch für die Antwort, die sie brauchten.

„Wann kommt Vern Michaels normalerweise rein?“ Scharfschützen wie Vern, die täglich kamen, waren berechenbar und wussten über alles Bescheid. Es klang wie die perfekte Mischung. Wenn jemand irgendwelche Kollegen in der Gegend kannte, dann war es ein Typ wie Michaels.

Gunny kniff die Augen zusammen. „Wieso interessiert dich Vern?“

Natürlich war Gunny darauf bedacht, seine Stammkunden zu schützen.

„Ich habe ein paar Fragen zu einem Gewehr. Und man sagt, er sei der Richtige für diese Fragen.“

Gunny hob die Arme und zeigte auf die umfangreiche Waffensammlung in den Glasvitrinen rund um die u-förmige Theke, hinter der er stand. „Hast du schon mal überlegt, dass ich auch das eine oder andere wissen könnte?“

„Natürlich. Dich wollte ich sowieso fragen. Ich dachte nur, Vern zu fragen, schadet auch nicht. Je mehr Infos, desto besser.“

„Für welche Waffe interessierst du dich denn?“

„Die Dragunow.“

Gunny presste die Lippen aufeinander. „Und warum gerade die?“

Griff sah sich um, weil er nicht wollte, dass jemand sie belauschte, und senkte die Stimme. „Wir untersuchen einen Fall, bei dem ein Scharfschütze im letzten Winter einen Mord begangen hat.“

„Oder Anfang des Frühjahrs“, fügte Finley hinzu.

Gunny funkelte Griffin an. „Ach ja? Und du glaubst, da musst du meine Kunden verhören?“

„Nein. Es geht nicht darum, dass ich jemanden hier verdächtige. Ich fand nur, dass ich am besten an einem Ort anfange, den ich kenne.“ Obwohl es nicht gern gesehen wurde, wenn man im eigenen Umfeld solche Fragen stellte.

Gunnys Miene war immer noch skeptisch und die Muskeln in seinem Kiefer zuckten. „Geht es um das Grab in Gettysburg?“

Griffin nickte.

„Sie haben davon gehört?“, fragte Finley überrascht.

„War überall in den Nachrichten. Ich weiß, dass Griffin da arbeitet. Und jetzt ist er hier und fragt nach einem Mord.“ Wieder presste Gunny die blassen Lippen aufeinander. „Da ist es nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen. Selbst für einen alten Knacker wie mich.“

„Und, irgendwelche Ideen?“

„Hier habe ich noch keine Dragunow gesehen, aber Vern kennt sich in der Gegend ziemlich gut aus. Wahrscheinlich weiß er, welche Schützen dieses Gewehr bevorzugen – mal angenommen, der Scharfschütze kommt von hier.“

„Oder aus dem Umkreis“, fügte Griffin hinzu.

„Gefällt mir nicht, einen Auftragskiller mit diesen Fähigkeiten irgendwo hierzuhaben.“

„Das heißt, du hast von keinem gehört?“

Gunnys bleiche Wangen röteten sich. „Was habe ich gerade gesagt?“

Verstanden. Gunny würde nichts mehr sagen. „Danke für die Auskunft.“

Er zog die grauen Augenbrauen hoch. „Ich nehme an, du kommst wieder?“

„Es sei denn, du willst mir Verns Adresse geben.“

Gunny sah ihn an, als wollte er sagen: Hast du den Verstand verloren, Junge?

„Dachte ich mir. Dann bis morgen.“

„Prima.“ Gunny gab sich keine Mühe, seine Verärgerung zu verbergen.

„Warum ist er so sauer?“, fragte Finley leise, als sie auf den Ausgang zusteuerten.

„Weil wir sein Geschäft dazu benutzen, einen Killer zu finden.“

Sie blickte über die Schulter zu dem älteren Mann zurück. „Meinen Sie, Gunny hat einen Verdacht, wer der Killer sein könnte?“

Griffin seufzte. „Ich glaube, Gunny ist so schlau zu wissen, dass es in der Gegend viele wirklich gute Schützen gibt – wahrscheinlich eine Handvoll Scharfschützen von den Spezialeinheiten in der Region oder ehemalige Soldaten, die nach ihrem aktiven Dienst wieder hierhergezogen sind. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass unser Mörder von hier stammt oder zumindest hier gelandet ist. Und ich fürchte, er wird alles tun, damit seine Identität und die unseres Opfers verborgen bleiben.“

 

* * *

Die Sonne stand schon tief am Horizont und nur noch wenige Fahrzeuge standen auf dem Schotterparkplatz, als sie hinaustraten. Inzwischen war es bestimmt zehn Grad kälter als bei ihrer Ankunft.

Finley drehte sich zu Griffin um, weil sie ihn fragen wollte, was Gunny wohl vermutete. Sie erschrak, als er plötzlich die Augen aufriss und wie erstarrt stehen blieb. Er neigte den Kopf nach rechts, blinzelte und musterte dann sekundenlang den bewaldeten Hang zu ihrer Rechten, bevor er brüllte: „Runter!“

Instinktiv ließ Finley sich auf die Erde fallen, wobei ihre Ellbogen den Aufprall schmerzhaft abfingen. Was war los? Panik durchfuhr sie wie ein Messer, das einen Fisch filetiert – so heftig, dass es ihr den Magen umdrehte.

Griffin rollte sich neben sie unter den Wagen und zog sie hinter das Rad, die Arme fest um sie gelegt.

„Was ist los?“ Ihr Puls raste.

„Heckenschütze, glaube ich. Zwölf Uhr. Ungefähr hundert Meter entfernt.“

„Ein Heckenschütze? Meinen Sie …?“ Natürlich war er es. Wie wahrscheinlich war es, dass ein anderer Scharfschütze sie im Visier hatte? „Was sollen wir machen?“

„Sie steigen in den Wagen und legen sich auf den Fußboden. Ich verfolge ihn.“ Er öffnete ihr die Tür und half ihr hinein.

„Sie machen was?“

„Ich finde heraus, wer uns im Visier hat.“ Er schlug die Wagentür zu.

Der Boden des Wagens war kalt. Die Gummischutzmatten mit den dicken Rillen drückten sich in Hals, Arme und Beine, als sie zusammengerollt darauflag, eingeklemmt zwischen den Pedalen und dem Fahrersitz. Die Erinnerung daran, hilflos mit strammen Schnüren gefesselt zu sein und sich nicht rühren zu können, presste ihr die Kehle zu, sodass sie kaum atmen konnte. Sie bemühte sich, tief einzuatmen, während ihr der kalte Schweiß auf der Stirn stand. Es fröstelte sie und ihre Gedanken wanderten zu Griffin.

Wie konnte er dem Killer nur folgen? Hatte er denn gar keine Angst?

Sie kniff die Augen fest zu und betete. Bitte, Jesus, mach, dass ihm nichts passiert. Dass uns nichts passiert. Hilf mir zu atmen. Hilf mir, mich zu beruhigen. Bitte bewahre uns.

Sie machte ihrem Herzen weiter Luft und flehte ihren Herrn an, sie beide zu beschützen. Mit jeder Minute, die Griffin wegblieb, nahm die Panik zu, die sie zu verschlingen drohte.

Bitte, Herr.

 

* * *

 

Griffin öffnete die Wagentür seines Pick-ups. Finley fuhr so plötzlich hoch, dass sie sich den Kopf am unteren Rand des Lenkrads stieß.

„Ich bin’s.“ Er legte eine Hand beruhigend auf ihren Arm. „Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.“

Sie rieb sich den Kopf und ihre Lippen bebten. „Ist er fort?“

Er nickte. „Jetzt sind wir sicher.“ Er half ihr auf den Fahrersitz. „Kommen Sie, ich sehe mir mal Ihren Kopf an. Der Stoß war ganz schön heftig.“

Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht und legte die Hände so sanft um ihr Gesicht, wie er konnte. Ihre Haut fühlte sich unter seinen Händen kalt und klamm an. Sie hatte panische Angst.

„Ich mache erst mal die Heizung an.“ Griffin zog den Autoschlüssel aus der Tasche und ließ den Motor an. Dann machte er sich wieder daran, ihre Stirn zu begutachten.

„Was ist denn da draußen passiert?“

„Als ich bei dem Ort, an dem er sich niedergelassen hatte, ankam, war er schon weg.“ Eine Beule formte sich an ihrem Haaransatz. „Ich sehe mal nach, ob ich ein Kühlpäckchen in meiner Erste-Hilfe-Ausrüstung habe.“ Er machte Anstalten, die Tasche zu holen, aber Finley hielt seinen Arm fest.

„Woher wussten Sie, dass der Kerl da draußen war und uns beobachtet hat? Haben Sie ihn gesehen?“

„Ich habe einen kleinen Lichtschein gesehen, wo nichts reflektieren dürfte. Abgesehen davon habe ich ihn gespürt.“

„Gespürt?“

„Das ist Teil der Ausbildung zum Scharfschützen. Man muss lernen, den Feind zu entdecken oder zu spüren.“

„Ich will ja nicht zweifeln …“

Er lachte. „Aber …?“ Neugier und Fakten zu erforschen, war ihr zur zweiten Natur geworden, deshalb machte sie ihre Arbeit so gut.

„Wenn er fort war, als Sie dort ankamen, wieso sind Sie sich dann so sicher, dass er überhaupt da war?“

„Abdrücke im trockenen Gras.“

„Wollte er uns erschießen?“

„Ich glaube nicht.“

Sie runzelte die Stirn. „Warum nicht? Das verstehe ich nicht.“

„Er hätte eine bessere Sicht gehabt, bevor wir beim Wagen ankamen.“ Es war vielleicht keine ideale Schussposition gewesen, vor allem, wenn Finley die Zielscheibe gewesen war, aber es wäre seine beste Chance gewesen. Beim Wagen hatte er keine freie Sicht mehr gehabt.

Wenn Finley die Zielscheibe war

Griffin atmete tief ein und langsam wieder aus, während er versuchte, seine Wut zu beherrschen. Wenn ihr irgendetwas zugestoßen wäre …

Das würde er auf keinen Fall zulassen. Nicht in seinem Zuständigkeitsbereich. „Von jetzt an kleben Sie an mir wie eine Klette“, befahl er.

Sie zog die Nase kraus, was so süß aussah, dass er trotz der Umstände lächeln musste. „Wie bitte?“

„Ich kann nicht sicher sein, dass er uns nur beobachtet hat. Er könnte doch auf einen geeigneten Moment gewartet haben, um zuzuschlagen. So oder so haben Sie mich am Hals, bis wir diesen Kerl geschnappt haben.“ Was diese Sache betraf, würde er keine Diskussion zulassen.

Sehr zu seinem Erstaunen nickte Finley, als sie auf den Beifahrersitz hinüberrutschte. Er war dankbar für ihren Mangel an Protest. Im Visier eines Scharfschützen zu sein, konnte jeden Protest sehr schnell im Keim ersticken.

Danke, Vater, dass du uns heute beschützt hast. Bitte hilf mir, Finley zu beschützen. Nimm uns unter den Schutz deiner Fittiche. Umgib uns mit einer Hecke der Bewahrung und führe uns zu dem Mörder, bevor er zu uns kommt.

Und er war hinter ihnen her. Das spürte Griffin bis in die Knochen. Der Kerl hatte sie im Visier.

Als er zum Himmel hinaufblickte, war er froh über die hereinbrechende Dunkelheit, die ihnen eine zusätzliche Tarnung bot.

Er war wirklich davon überzeugt, dass ihr Beobachter lediglich das war – ein Beobachter –, jedenfalls im Moment. Aber er würde kein Risiko eingehen, schon gar nicht, wenn es um Finley ging. Sein Beschützerinstinkt war in höchster Alarmbereitschaft. In diesem Augenblick beschloss er, Urlaub zu nehmen, bis er sicher sein konnte, dass sie außer Gefahr war. Ihm standen noch jede Menge freie Tage zu.

„Woher wusste er, dass wir bei der Schießanlage sein würden?“, fragte Finley, noch immer fröstelnd.

Griffin drehte die Heizung weiter auf und fuhr vom Parkplatz.

„Ist er uns dorthin gefolgt? War er einer der Männer, mit denen wir gesprochen haben? Hat er sich da draußen auf die Lauer gelegt und auf uns gewartet?“

Es war eine bedrückende Vorstellung, dass sie dem Mörder Auge in Auge gegenübergestanden haben könnten, aber der Gedanke, dass der Mann ihnen vielleicht gefolgt war, beunruhigte Griffin mehr. Denn das bedeutete, dass er die ganze Zeit in ihrer Nähe gewesen sein musste.

 

Kapitel 11

Finley und Griffin betraten das Labor kurz nach sechs an diesem Abend. Noch immer raste Finleys Herz und stolperte auf beunruhigende Weise. Ob das von dem Schreck vorhin kam oder von dem Wissen, dass der Scharfschütze sie im Visier hatte, oder von der Tatsache, dass Griffin sie nicht mehr aus den Augen lassen würde, wusste sie nicht genau. So oder so spürte sie das harte, schnelle Klopfen.

Patricia, die Unentbehrliche, die dafür sorgte, dass das Labor funktionierte und alles Nötige vorrätig war, kam ihnen in Mantel und Schal entgegen.

„Wie geht es dir?“, begrüßte Finley sie, wobei sie hoffte, dass Patricia ihr diese Frage nicht stellen würde.

„Ich kann immer noch nicht fassen, dass John tot ist.“

„Ich auch nicht.“

Mit einem Seufzer schüttelte Patricia den Kopf. „Tut mir leid, dass ich wegmuss, aber ich habe nur noch eine halbe Stunde, um Matt von seinem Fußballtraining abzuholen, und bei dem Verkehr auf der 95 um diese Uhrzeit … ich bin sowieso schon spät dran.“

„Gute Fahrt.“

„Danke. Oh, UPS hat vor ein paar Stunden ein Paket geliefert. Ich habe dem Kurier gesagt, dass er es wie üblich auf deinen Schreibtisch legen soll.“

„Danke dir.“

Patricia lächelte. „Euch beiden noch einen schönen Abend.“ Sie zog ihren Mitarbeiterausweis durch das Lesegerät und zwinkerte Finley zu, bevor die Tür sich automatisch öffnete und sie nach draußen trat.

Finley versuchte, ihre Anspielung zu ignorieren, und konzentrierte sich auf die große Digitaluhr an der Wand – blau leuchtende Zahlen vor dem schwarzen rechteckigen Hintergrund. „Die anderen müssten auch gleich hier sein. Möchten Sie einen Kaffee oder Espresso, während wir warten?“

„Gerne. Ein doppelter Espresso wäre nett.“

„Keine Ahnung, wie Sie danach schlafen wollen, aber kein Problem.“ Oder wie sein Körper mit noch mehr Adrenalin fertigwerden würde. Sie selbst war immer noch angespannt – die Nervenenden in ihren Fingerspitzen und Zehen kribbelten förmlich.

Finley ging voran zu ihrem Büro und warf ihre Tasche auf das dunkelblaue Sofa, auf dem sich blau-weiße Kissen mit maritimen Motiven stapelten – Bilder von Meeresschildkröten, Krebsen und Seesternen zierten die weiche Rückenlehne. Viel Zeit konnte sie auf dem Sofa nicht verbringen, aber es war ein schöner Platz zum Sitzen und Lesen, wenn sie etwas recherchieren musste.

Sie ging zu der Espressomaschine, die sie von ihrer letzten Romreise mitgebracht hatte, und schaltete sie ein. Die Maschine erwachte schnurrend zum Leben, während die Bohnen gemahlen wurden und der intensive Duft von geröstetem Kaffee durch den Raum zog. Finley presste das Kaffeepulver in den Siebträger, setzte ihn ein und betätigte die Taste für den Espresso. Die Maschine baute mit einem hohen Pfeifen Druck auf, bevor die ebenholzfarbene Flüssigkeit herausrann. Sie wartete, bis die Crema sich gebildet hatte, dann drückte sie wieder auf die Taste und reichte Griffin die Tasse.

„Danke. Das duftet köstlich. Sie auch?“ Seine Augen weiteten sich. „Ich meine … Nehmen Sie nicht auch einen Espresso?“ Er lehnte sich an den Tresen und nahm einen Schluck, die Wangen unter dem abendlichen Bartschatten leicht gerötet. Sie hätte nie gedacht, dass sie jemals erleben würde, wie Ranger McCray verlegen wurde.

Sie zog eine andere silberne Dose aus dem Schrank. „Entkoffeiniert.“

Er grinste spöttisch. „Und was bringt der dann?“

„Glauben Sie mir, Sie wollen mich nicht erleben, wenn ich nicht geschlafen habe.“ Finley begann den Prozess des Espressomachens von Neuem und genoss auch diesmal den beruhigenden Duft der Kaffeebohnen.

Griffin führte die kleine blaue Tasse an seine Lippen. „Habe ich doch schon.“ Dann trank er noch einen Schluck.

Sie zog eine Augenbraue hoch. Wann hatte er sie unausgeschlafen gesehen? „Ach ja … natürlich.“ In der Nacht, in der sie die Leiche gefunden hatten. Sie waren die ganze Nacht aufgeblieben. „Ihr Kaffee hat dabei geholfen.“

„Das freut mich, aber das hier …“ Er hob seine Tasse hoch. „Das ist tausendmal besser.“

„Es ist nicht so leicht, Illy zu schlagen.“ Was Kaffee betraf, war Finley wählerisch.

Sie setzten sich auf das Sofa und Finley legte die Füße auf den Hocker. Ihr Herzschlag hatte sich endlich zu einem friedlichen, zufriedenen Rhythmus beruhigt. Sie war zutiefst dankbar für Griffins unerschütterliche Gegenwart in jener Nacht und auch heute wieder. Er hatte ihr geholfen, die Ruhe zu bewahren, trotz der lauernden Gefahren. Bisher war sie davon überzeugt gewesen, dass ihr mitternächtlicher Besucher bei Gettysburg nur neugierig auf ihren Fund gewesen war, aber nach ihrer Begegnung mit dem Heckenschützen heute Abend musste sie diese Einschätzung revidieren. Als Finleys Blick zu ihrem Schreibtisch wanderte, fiel ihr das Paket ein, das Patricia erwähnt hatte, und sie runzelte die Stirn. „Das ist merkwürdig.“

„Was?“

„Patricia hat gesagt, UPS hätte ein Paket auf meinen Schreibtisch gelegt, aber da ist nichts.“ Sie stand auf und ging zum Tisch, wo sie sich umsah. Sie spähte unter den Schreibtisch, für den Fall, dass das Paket heruntergefallen war, aber es war nichts zu sehen.

Griffin half ihr bei der Suche im restlichen Büro.

„Kann es sein, dass jemand anders es genommen hat?“, fragte er, als sie alles abgesucht hatten.

Sie schüttelte den Kopf. „Nicht, ohne dass ich es zuerst gegenzeichne.“ Es gab ein festes Protokoll, das befolgt werden musste.

„Vielleicht wurde es ins falsche Büro gelegt.“

„Ed – das ist der Paketbote – kennt mein Büro. Ich mache ihm immer einen Cappuccino, wenn er vorbeikommt.“

„Vielleicht war es nicht Ed.“

„Hm. Es könnte natürlich sein, dass jemand anders ihn vertreten hat.“ Das war schon ein, zwei Mal vorgekommen. „Patricia hat Ed auch nicht namentlich erwähnt. Sie hat nur von dem UPS-Boten gesprochen.“

„Das ist dann bestimmt der Grund.“

„Was ist der Grund wofür?“, fragte Declan von der Tür aus, während er die Augenbrauen hochzog und grinste. „Ich hoffe, ich störe nicht.“

Finley unterdrückte ein Stirnrunzeln. Es war ihr nicht recht, dass ihre Zweisamkeit mit Griffin gestört wurde. Sie hatte das Gefühl, dass sie ihn endlich besser kennenlernte und hinter die schroffe Fassade blicken konnte, die er gerne aufrechterhielt.

Ihn heute in Aktion zu sehen … seine schützende Hand auf ihrem Rücken zu spüren, seine starken Arme um sie – wenn auch nur kurz –, hatte Gefühle in ihr geweckt, die sie nicht mehr gehabt hatte, seit …

Sofort zog sich ihr Magen zusammen.

Auf der anderen Seite hatte die Situation mit dem Scharfschützen auch andere Gefühle in ihr wachgerufen, mit denen sie täglich kämpfte – Angst und Verletzlichkeit. Nichts Neues. Nicht seit letztem Jahr. Nicht seit Brent Howard.

Declan schwang sich auf die Kante von Finleys Schreibtisch. „Was macht ihr zwei?“

„Wir suchen ein verschwundenes Paket“, antwortete Griffin.

„Super.“ Declan klatschte in die Hände. „Ich helfe euch.“

„Wobei hilfst du?“, fragte Parker, der in diesem Moment hereinkam.

„Wie es aussieht, suchen wir ein Paket, das vermisst wird“, erklärte Declan.

„Macht euch keine Gedanken deswegen“, warf Finley ein, während sie gegen das flaue Gefühl im Magen ankämpfte, das von dem Gedanken an Brent Howard ausgelöst wurde. „Ich frage morgen die Kollegen. Ich bin sicher, dass es hier irgendwo ist.“ Hoffentlich enthielt es nichts, was schnell bearbeitet werden musste.

„Im Aufenthaltsraum wartet unser Abendessen vom Chinarestaurant“, verkündete Declan.

„Fantastisch.“ Finley rieb sich den knurrenden Magen. „Ich bin halb verhungert.“

Und sie hoffte, das Essen würde gegen die Übelkeit helfen. Gestern Nacht hatte sie wieder Albträume gehabt, zweifellos ausgelöst von dem Fund der Leiche. Sie musste sich das abgewöhnen. Das war nun mal ihr Beruf und sie wollte nicht, dass Brent Howard ihr die Leidenschaft für ihre Arbeit raubte. Ihren Frieden hatte er ihr schon genommen. Sie würde nicht zulassen, dass er noch mehr bekam.

Bitte, Herr, mach, dass dieser Fall von jetzt an in geregelten Bahnen verläuft. Lass nicht zu, dass ein zweiter Howard-Fall daraus wird.

Aber im tiefsten Innern wusste sie, dass dieser Fall alles andere als normal verlaufen würde. Gott schien sie für viel stärker zu halten, als sie war.

 

* * *

 

Griffin betrat den Aufenthaltsraum. Eine hoch gewachsene, schlanke Frau mit glänzenden blonden Haaren erwartete sie.

„Hört mal alle her, ich möchte euch meine Fotografin Avery Tate vorstellen“, sagte Parker hinter ihm. „Avery, dies ist Chief Ranger Griffin McCray.“

Sie lächelte ihm zu und nickte. Griffin erwiderte die Geste.

„Und dies …“, Parker schlug Declan auf die Schulter, als er eintrat, „das ist Federal Agent Declan Grey.“

Avery blickte zwischen den beiden Männern hin und her und ihre Augen funkelten. „Der Griffin und der Declan?“

Declan lächelte. „Also plauderst du doch aus dem Nähkästchen?“

„Wie gesagt, nur die guten Geschichten“, grinste Parker.

Na super. Griffin seufzte. Er hatte keinerlei Verlangen, in Erinnerungen zu schwelgen.

„Und das hier“, fuhr Parker fort, „ist die renommierte Dr. Scott.“

Avery streckte die Hand aus. „Freut mich, Dr. Scott.“

„Ach, ich bin keine Freundin von Förmlichkeiten – ich heiße Finley.“

Avery nickte erfreut und auch die anderen beschlossen, sich nicht mehr mit förmlichen Anreden aufzuhalten.

„Und jetzt, wo wir als Team vollzählig sind, wie wäre es, wenn wir essen?“, schlug Griffin vor und hoffte, das Erzählen von Anekdoten dadurch auf ein Minimum zu beschränken.

Zwei braune Papiertüten standen auf dem Tisch. Er griff hinein und zog mehrere rot-weiße Behälter heraus.

„Griff, sprichst du ein Tischgebet?“, fragte Declan, nachdem alle ihre Teller gefüllt hatten.

„Okay.“ Griffin neigte den Kopf. „Danke, Vater, dass du uns alles gibst, was wir brauchen. Wir sind dankbar für dieses Essen und noch mehr dafür, dass du Finley und mich heute bewahrt hast. Danke dafür, dass wir nicht erschossen wurden. Amen.“

Alle Augen waren auf ihn gerichtet.

Declan zog die Augenbrauen hoch. „Willst du uns vielleicht was erzählen?“

 

* * *

 

Der Ranger war gut. Eindeutig besser, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Nur jemand mit ähnlichen Fähigkeiten hätte ihn entdecken können. Er verstaute die Dragunow in ihrem Kasten – gereinigt und bereit für die nächste Gelegenheit. Und die würde kommen. Aber zuerst war es an der Zeit herauszufinden, mit wem genau er es hier zu tun hatte.

 

Kapitel 12

 

„Glaubst du, er ist euch dorthin gefolgt?“, fragte Parker, während er sich noch etwas von dem Kung-Pao-Hühnchen nahm.

„Woher hätte er sonst wissen können, dass wir dort sein würden?“, fragte Finley und klemmte einige Lo-Mein-Nudeln zwischen ihre Essstäbchen. „Es sei denn, er war einer der Männer, mit denen wir gesprochen haben.“

„Ich bezweifle, dass es so einfach ist“, sagte Griffin, nachdem er sich eine gedünstete Teigtasche in den Mund geschoben hatte. Er hatte schon merkwürdigere Dinge erlebt, aber den Mörder bei der ersten Schießanlage zu finden, die sie besuchten, schien ihm viel zu einfach. Und er wurde das Gefühl nicht los, dass der Mann sie verfolgte, seit sie die Leiche gefunden hatten.

„Es gibt noch eine Möglichkeit“, überlegte Parker. „Jemand, mit dem ihr gesprochen habt, könnte dem Kerl gesagt haben, dass ihr herumschnüffelt und Fragen stellt.“

„Das würde dann bedeuten, dass einer der Männer, mit denen wir gesprochen haben, den Killer kennt“, schlussfolgerte Finley.

„Macht eine Liste mit allen Personen, die ihr befragt habt.“ Declan zog einen kleinen Block und einen Stift aus der Hemdtasche und warf sie Griffin zu.

„Von den meisten haben wir nur den Vornamen oder Spitznamen erfahren.“

„Das stimmt“, bestätigte Finley und wischte sich etwas Sojasoße von der Unterlippe.

Was für eine volle, weiche Lippe, die er so gerne … Griffin setzte sich ruckartig auf. Reiß dich zusammen. Sie hatten es hier mit einem Killer zu tun und er ließ sich von Finley ablenken. Er musste sich konzentrieren.

„Wir haben heute mit einem Gentleman namens Gator gesprochen“, sagte sie lächelnd.

Griffin lachte. „So wurde Gator wahrscheinlich noch nie bezeichnet.“

Finley grinste. „Bei mir war er ein Gentleman.“

Griffin schüttelte den Kopf. „Das waren sie alle. Ihr hättet sie sehen sollen. Ein paar echte Rabauken, ein ehemaliger Scharfschütze, sogar jemand, der früher bei einer Spezialeinheit der Navy war. Alle so höflich und zum Flirten aufgelegt, wie man es sich nur vorstellen kann.“

„Die haben nicht mit mir geflirtet.“ Sie zeigte mit den Stäbchen auf ihn. „Mit dir in der Nähe hatten sie viel zu viel Angst.“

Parker lachte. „Eifersüchtig, was, Griff?“

Er warf Parker einen warnenden Blick zu.

Parker verstand den Wink, wie es schien. Grinsend lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und legte die Stiefel auf den freien Stuhl ihm gegenüber.

„Ich wollte damit nur sagen, dass die Männer deine Anwesenheit respektiert haben“, sagte Finley, während sie mit den Stäbchen in ihrem Pappbehälter fischte. Sie blickte auf und ihr mitfühlender Blick begegnete seinem. „Und das habe ich auch.“

Er schluckte, als Wärme sich in ihm ausbreitete. Wie machte sie das nur – einfach mit einem Lächeln? Dieses Lächeln war alles andere als gewöhnlich.

Parker und Declan wechselten fragende Blicke, waren aber so schlau, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Die Zeit für alberne Sticheleien war längst vorbei. Jetzt waren sie erwachsene Männer. Obwohl er bezweifelte, dass es so einfach sein würde. Seine Freunde würden wieder dumme Sprüche reißen. Aber wenigstens waren sie so rücksichtsvoll zu warten, bis Finley nicht mehr dabei war. Außerdem konnte sowieso nichts daraus werden, so gut es sich auch anfühlte, mit Finley zusammen zu sein, und sosehr ihm die Vorstellung, mehr Zeit mit ihr zu verbringen, auch gefiel. Auf seine Instinkte zu hören war gefährlich, und, was noch wichtiger war: Er hatte im Moment nicht die geistlichen Voraussetzungen, um eine Beziehung zu führen.

Gott trug Ehemännern auf, ihre Frauen so zu lieben wie die Gemeinde – diese Voraussetzung glaubte Griffin erfüllen zu können –, aber er konnte keine Verantwortung für seine Frau übernehmen, während er mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hatte. Bis er die besiegt hatte, konnte er keine neue Beziehung anfangen. Und ganz sicher lag ihm nichts an flüchtigen Abenteuern, schon gar nicht mit einer so umwerfenden Frau wie Finley Scott. Wenn er um sie warb, würde er es mit Leidenschaft und Zielstrebigkeit tun.

„Was ist mit deinem Freund Gunny?“, fragte Declan.

„Er hat sich alle Mühe gegeben, charmant zu Finley zu sein, jedenfalls bis wir anfingen, unbequeme Fragen zu stellen.“ Griffin hatte nur Dragunow sagen müssen und die Haltung des Mannes hatte sich auf der Stelle gewandelt. Wusste Gunny mehr, als er sagte?

„Er kennt wahrscheinlich die richtigen Namen, die Nachnamen der Männer, mit denen ihr gesprochen habt.“

„Vielleicht, aber sicher ist das nicht. Ihr würdet staunen, wie anonym die meisten dieser Typen bleiben – Barzahlung, nur Gespräche über allgemeine Themen wie Waffen, Munition, Politik. Aber ich werde Gunny morgen fragen.“

„Morgen?“ Avery rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn. „Ihr wollt noch mal da hin?“

„Wir müssen mit Vern Michaels reden“, sagte Finley.

Parker setzte sich ebenfalls auf. „Du gehst wieder mit?“

Finley nickte.

Er deutete mit dem Kinn in Griffins Richtung. „Hältst du das für klug?“

Griffin wollte gerade antworten, aber Finley kam ihm zuvor. „Ich gehe mit.“

Er seufzte. So ungern er sie aus den Augen ließ, war sie im Labor möglicherweise doch besser aufgehoben. „Vielleicht ist es sicherer …“

„Spar dir den Rest. Ich gehe. Entweder mit dir oder ohne dich.“

Parkers Lippen zuckten, als er vergeblich versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. „Sieht aus, als würde sie dir keine Wahl lassen.“

Griffin schüttelte den Kopf. „Sieht so aus.“ Und es wunderte ihn nicht im Geringsten. Die Frau war die Entschlossenheit in Person. Sein Blick wanderte zu Declan. „Irgendwas über die Identität unserer Leiche herausgefunden?“

und

Parker nickte. „Das sagen die Beweise.“

Griffin atmete hörbar aus.

„Was ist?“

„Unser Killer ist ein fantastischer Schütze. Fünfzehnhundert Meter sind schon außergewöhnlich, das können vielleicht hundert Leute auf der ganzen Welt, aber durch zwei Barrieren hindurch …“ Er schüttelte den Kopf und stieß einen leisen Pfiff aus. „Wir haben es hier mit einem extrem guten Scharfschützen zu tun.“

Was die Tatsache, dass der Mann Finley und ihn im Visier gehabt hatte, doppelt so tödlich machte. Er blickte auf, als Finley den Raum betrat, und schluckte. Sich wie eine Klette an sie zu heften, war bei Weitem nicht genug. Wenn sie heute Abend nicht das Opfer identifizieren konnten, sollte sie sich besser darauf gefasst machen, dass er auf ihrem Sofa übernachtete. Okay, das war vielleicht zu viel des Guten, aber er war lieber übervorsichtig, als zu riskieren, dass ihr irgendetwas zustieß.