Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

Text-Copyright © 2016 Roman Mysteries Ltd

Originaltitel: The Roman Quests – Escape from Rome

Die Originalausgabe ist 2016 im Verlag Hodder and Stoughton, Großbritannien, erschienen.

© 2019 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Caroline Lawrence

Cover: Maximilian Meinzold

Landkarte: Richard Russell Lawrence

Übersetzung: A. M. Grünewald

ISBN eBook 978-3-8458-3249-4

ISBN Printausgabe 978-3-8458-2780-3

www.arsedition.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Michael Binns, Steven Cockings

und Bronwen Riley mit Dank für ihren fachlichen Rat

Salve! (Hallo!)

Willkommen zum ersten Band von »Roman Quest«.

Diese Geschichte spielt im Römischen Reich während der letzten Jahre der Herrschaft von Kaiser Domitian, genauer gesagt im Jahr 94 nach Christus.

Manche Schauplätze dieser Geschichte kann man noch heute besuchen.

Im Wesentlichen sind das Rom, Ostia Antica, Londinium (London) und der römische Palast von Fishbourne in Südengland.

Wenn du mehr über die Zeit und die Orte erfahren willst, an denen das Buch spielt, schau dir die 239 Überschriften an.

Oder lies am Schluss dieses Buches nach, was uns die lateinischen Begriffe über die Welt von Juba und seinen Geschwistern verraten.

Vale! (Leb wohl!)

Caroline Lawrence

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

I

Kapitel eins

BIRRUS

Kapitel zwei

LUCERNA

Kapitel drei

AMPHORAE

Kapitel vier

AENEAS

Kapitel fünf

AQUAE DUCTUM

Kapitel sechs

CIRCUS MAXIMUS

Kapitel sieben

PORTA OSTIIENSIS

Kapitel acht

NEKROPOLIS

Kapitel neun

GEMMA

Kapitel zehn

DAEMON

Kapitel elf

PLAUSTRUM

Kapitel zwölf

COLUMBARIUM

Kapitel dreizehn

CINERARIA

Kapitel vierzehn

INSULA

Kapitel fünfzehn

CUPAE

II

Kapitel sechzehn

NAVIS

Kapitel siebzehn

BRASSICA

Kapitel achtzehn

VIRGA

Kapitel neunzehn

OCEANUS

Kapitel zwanzig

PANIS NAUTICUS

Kapitel einundzwanzig

MATELLA

Kapitel zweiundzwanzig

DUBRIS

Kapitel dreiundzwanzig

RUTUPIAE

Kapitel vierundzwanzig

LONDINIUM

Kapitel fünfundzwanzig

DOLIUM

Kapitel sechsundzwanzig

HOSPITIUM

Kapitel siebenundzwanzig

MILI TES

Kapitel achtundzwanzig

PATINA

Kapitel neunundzwanzig

PRAETORIUM

Kapitel dreißig

PRINCEPS

III

Kapitel einunddreißig

MUIO

Kapitel zweiunddreißig

MANSIO

Kapitel dreiunddreißig

STRIGILIS

Kapitel vierunddreißig

OLEUM

Kapitel fünfunddreißig

FAX

Kapitel sechsunddreißig

BACULUM

Kapitel siebenunddreißig

COHORS

Kapitel achtunddreißig

PARDALOCAMP

Kapitel neununddreißig

STATUA

Kapitel vierzig

TRICLINIUM

Kapitel einundvierzig

PROCURATOR

Kapitel zweiundvierzig

CATENAE

Kapitel dreiundvierzig

CLAVIS

Kapitel vierundvierzig

DAMA

Kapitel fünfundvierzig

HORREUM

Kapitel sechsundvierzig

TENEBR AE

Kapitel siebenundvierzig

PALUS

Kapitel achtundvierzig

CANIS

Kapitel neunundvierzig

GARUM

Kapitel fünfzig

CINGULUM

Kapitel einundfünfzig

MARGARITA

Kapitel zweiundfünfzig

CARRUCA

Kapitel dreiundfünfzig

PRODIGIUM

Kapitel vierundfünfzig

EXQUAESTORES

WAS DIE LATEINISCHEN KAPITELÜBERSCHRIFTEN BEDEUTEN

Die Autorin

Weitere Titel

Leseprobe zu "Die schwarzen Musketiere - Das Buch der Nacht"

I

Kapitel eins

BirruS

Die Soldaten des Kaisers kamen um Mitternacht.

Juba hörte, wie jemand an die Haustür hämmerte, irgendwo weit weg, während seine Mutter ihn wach rüttelte.

»Juba!«, rief sie. »Ihr müsst hier weg. Jetzt gleich!«

Im flackernden Schein der bronzenen Öllampe sah er, dass sie den Winterumhang seines Vaters trug, obwohl es eine warme Sommernacht war. Ihr dunkelblondes Haar – es hatte dieselbe Farbe wie der Umhang – fiel offen über ihre Schultern, und so sah sie viel jünger aus als dreiunddreißig. Sie zog Jubas Decke weg, half ihm dabei, sich aufzusetzen, und drückte ihm seine kleine Schwester Dora in die Arme.

Eingehüllt in die blaue Palla ihrer Mutter, schlief der Säugling tief und fest.

»Was ist denn los?«, fragte Juba gähnend.

Eilig band ihm seine Mutter seinen besten ledernen Reisegürtel um die Taille und kniete sich hin, um ihm in die Stiefel zu helfen.

»Warum ziehst du mir die Stiefel an?« Er schaute sich schlaftrunken um. »Wo ist denn Tutianus?«

»Die Sklaven sind nicht mehr da«, antwortete seine Mutter und erhob sich.

»Nicht mehr da? Wo sind sie denn hin?«

»Fort. Und das musst du auch.« Sie drückte ihm etwas in die Hand. Zuerst hielt er es für eine Öllampe aus Ton, dann erst erkannte er, dass es sich um eine Ampulla handelte: ein Fläschchen mit Milch, um das Baby zu füttern. Es bestand aus schwarz lackiertem Ton und wurde von einer breit lächelnden Schauspielermaske geziert, die alles Böse abhalten sollte. Die Saugtülle und das untere Ende zum Einfüllen waren mit Bienenwachs versiegelt, aber die Milch konnte er trotzdem riechen. Das Fläschchen war voll und kam ihm ziemlich schwer vor.

Er starrte es ausdruckslos an. »Ich verstehe nicht. Warum gibst du mir Doras Fläschchen?«

»Weil ich nicht mit euch kommen kann.« Seine Mutter nahm die Ampulla und schob sie in den Kragen seiner Tunika, sodass sie an seinem Rücken herunterglitt und dort stecken blieb, wo der Gürtel seine Taille umschloss.

»Lass sie dort«, sagte sie. »Dein Körper wird sie warm halten.«

Dann nahm sie den hellbraunen Umhang von ihren Schultern und legte ihn ihrem Sohn um.

»Das ist der Birrus Britannicus deines Vaters. Er ist ein Vermögen wert. Er hat dir doch sein Geheimnis verraten, oder nicht?«

Juba nickte. Sein Vater hatte ihm erzählt, dass der Umhang aus einer Provinz namens Britannien stammte, die am Ende der Welt lag.

»Gut. Und weißt du auch noch, wer ihm den Umhang gegeben hat?«

Juba nickte. »Onkel Pantera. Er hat ihn aus Britannien mitgebracht.«

»Und genau dorthin müsst ihr jetzt gehen«, sagte sie.

Er spürte, dass ihre Finger zitterten, als sie den Umhang mit dem Buchsbaumklöppel an seinem Hals zuknöpfte. Ein weiteres Krachen ertönte von der Haustür, die zwei Innenhöfe von ihnen entfernt lag.

Er runzelte die Stirn. »Was meinst du damit? Wo müssen wir hin? Ich verstehe überhaupt nicht, was los ist.«

»Kaiser Domitian beschlagnahmt unser Haus und alles, was sich darin befindet. Dein Vater und ich werden hierbleiben und seine Männer lang genug ablenken, damit ihr fliehen könnt.«

»Fliehen?« Juba fragte sich, ob er nicht bloß in einem seltsamen Traum feststeckte.

Aber er begriff sofort, dass es nicht so war, als seine Mutter ihn an den Schultern packte und schüttelte. »Juba, hör mir zu! Jemand hat uns denunziert. Weißt du, was das bedeutet?«

Juba nickte. Serapion, sein Lehrer, hatte ihn in römischem Recht unterrichtet. »Es bedeutet, dass ein Informant – ein Delator – jemanden beschuldigt, Hochverrat am Kaiser begangen zu haben, und ihn vor Gericht stellen lässt. Wenn der Delator seinen Prozess gewinnt, beschlagnahmt er den Besitz des Verräters und teilt ihn sich mit dem Kaiser.«

Sie nickte. »Und der Delator gewinnt immer, weil der Kaiser so immer Gewinn macht. Jemand hat uns angezeigt, Juba. Dein Vater und ich bleiben hier zurück, um die kaiserlichen Soldaten abzulenken, damit du Fronto und deine Schwestern aus Rom herausbringen kannst – so weit fort wie möglich. Geht zu eurem Onkel Pantera nach Britannien. Er besitzt eine Villa am Meer in der Nähe der Stadt Londinium. Hier!« Sie griff sich in den Nacken und löste ihre Kette.

»Dein Minerva-Anhänger!« Er starrte das Schmuckstück an der goldenen Kette an. Es war aus vier verschiedenfarbigen Sardonyx-Schichten geformt und zeigte die Göttin im Profil. »Aber die ist ein Vermögen wert!«

»Nein, Juba. Sie ist vier Vermögen wert. Ein Vermögen für jeden von euch. Das Geld, das du bekommst, wenn du sie verkaufst, sollte für eure Überfahrt nach Britannien reichen, und es sollte auch noch genug übrig bleiben, damit ihr es bis zur Villa eures Onkels schafft.«

Sie ließ auch die Kette in seinen Kragen gleiten und unter seinem Umhang verschwinden. »Außerdem habe ich noch etwas Gold in den Beutel an deinem Gürtel gesteckt. Wenn ihr nach Ostia kommt, kaufst du davon ein Sklavenmädchen als Amme für das Baby.«

»Ein Sklavenmädchen?« Er starrte sie an.

»Ja! Das nimmst du mit auf das Schiff nach Britannien. Wenn du keine Amme findest, die ein Kind stillen kann, tut es auch eine Ziege. Und wenn das alles nicht genügt, hast du, was du brauchst. Hier.« Sie legte ihm die flache Hand auf die Brust. »Verstehst du?«

Er starrte auf seine Schwester hinab. Klein war sie, wirkte aber nicht zerbrechlich, und mit ihrer weichen braunen Haut und den seidigen schwarzen Locken sah sie wunderschön aus.

Ein splitterndes Krachen in der Ferne verriet Juba, dass die Vordertür endgültig nachgegeben hatte. Er hörte die Stimme seines Vaters, tief und wütend. Seine Mutter legte ihre kalten Hände auf seine Wangen und zog Jubas Kopf herum, sodass sie ihm direkt in die Augen schauen konnte. Er sah, dass sie mit den Tränen kämpfte.

»Juba. Dein Bruder ist älter als du, aber du weißt, er ist … anders. Du musst ein tapferer Anführer sein, genau wie dein Held Aeneas. Versprich mir, dass du alles tun wirst, was in deiner Macht steht. Rette die Kinder!«

Juba war übel. Aber er atmete tief ein und nickte. »Ich verspreche es.«

Er spürte das Gewicht seiner kleinen Schwester in den Armen.

Seine Mutter küsste ihn auf die Stirn. »Leb wohl, mein Sohn. Ich habe dich lieb.«

Dann schob sie ihn durch die mit einem Vorhang verhängte Tür hinaus in den Hof.

Kapitel zwei

LuceRna

Der vierzehnjährige Fronto träumte gerade vom Trojanischen Pferd, als er von seinem jüngeren Bruder Juba wach gerüttelt wurde.

»Fronto! Steh auf!«, rief Juba.

Fronto blinzelte. »Ist noch Nacht? Ich habe gerade von der Plünderung Trojas geträumt.«

»Wir müssen fort! Zieh dir deine beste Tunika und deinen Umhang an.«

Fronto schaute sich um. »Wo ist Jucundus?«

»Du musst dich ohne deinen Sklaven anziehen.«

Fronto verschränkte die Arme vor der Brust. Mitten in der Nacht aufzustehen, war schon schlimm genug. Aber sich ohne die Hilfe seines Sklaven ankleiden zu müssen, noch schlimmer.

»Das ist ein Spiel!«, sagte Juba. Er hielt ihre kleine Schwester im Arm. »Wir spielen Flucht aus Troja. Wir sind die Trojaner. Die Griechen haben ihr Versteck im hölzernen Pferd verlassen und jetzt sind sie hinter uns her.«

Fronto ließ sich das durch den Kopf gehen und nahm schließlich seine Arme herunter.

»Na schön«, sagte er. »Spiele mag ich.«

Er ging zu der Zedernholztruhe, die am Fußende des Bettes stand, öffnete sie und zog eine kirschrote Tunika hervor. »Ich trage die hier«, sagte er. »Das ist meine Glücks-Tunika.«

»Nimm auch deinen Glücks-Umhang mit. Und zieh deine Stiefel an, nicht die Sandalen.«

Fronto nahm seinen dunkelbraunen Umhang mit der Kapuze vom Haken an der Wand und angelte unter seinem Bett nach den Stiefeln.

»Warum trägst du Vaters Birrus Britannicus?«

»Weil er die Farbe von Löwenfell hat«, sagte Juba. »Weißt du noch? Aeneas trug ein Löwenfell, genau wie Herkules, als er seine Familie aus dem brennenden Troja rettete.«

»Natürlich weiß ich das«, sagte Fronto. Er schlüpfte in seinen rechten Stiefel, zog ihn hoch, hielt dann aber inne und schaute Juba an. »Heißt das, du darfst Aeneas sein – der Held?«

»Ja!«, zischte Juba. »Jetzt nimm den zweiten Stiefel!«

Aus einem anderen Teil des Hauses ertönte ein dumpfes Krachen, dann Geschrei.

»Was war das?«, fragte Fronto erschrocken.

»Pater und Mater spielen auch mit«, sagte Juba. »Sie tun so, als wären sie die Griechen, die aus dem Trojanischen Pferd hervorkommen.«

»Oh!«, sagte Fronto.

Juba drängte ihn zur Tür, die von seinem Zimmer in das ihrer Schwester führte.

Obwohl es bloß ein Spiel war, berührte Fronto den Türrahmen drei Mal, weil er abergläubisch war und das Glück bringen sollte: rechts, links, rechts.

Ihre Schwester Ursula war bereits wach und saß aufrecht im Bett. Von den vier Geschwistern hatte sie die dunkelste Haut, sodass Fronto zunächst nur ihre katzenartigen grünen Augen erkennen konnte, die im gelben Schein einer kleinen Öllampe funkelten.

»Ursula!«, flüsterte Juba. »Wir spielen Flucht aus Troja. Zieh dich an.«

»Aber es ist mitten in der Nacht.« Ursula drückte ihr Kuscheltier an sich, ein Hundewelpe aus mit Wolle ausgestopftem Kaninchenfell. »Und ich habe so seltsame Geräusche gehört.«

»Keine Sorge«, sagte Fronto. »Ist bloß ein Spiel.«

Juba nickte. »Wie damals, als Pater und Mater so getan haben, als würde das Haus brennen, um zu sehen, wie wir damit umgehen würden.«

Ursula musterte sie mit zusammengezogenen Augen und machte keinerlei Anstalten aufzustehen.

»Hör zu«, sagte Juba zu Ursula. »Pater hat versprochen, dass sie jedem von uns einen Hundewelpen schenken, wenn wir es bis zum Stadttor von Ostia schaffen, ohne dass uns jemand bemerkt.«

»Einen richtigen Hundewelpen?«, stieß Ursula staunend hervor. »Keinen aus Kaninchenfell wie Canicula?« Sie hielt ihr Kuscheltier hoch.

Juba nickte, und Fronto grinste, als ihre jüngere Schwester aus dem Bett sprang. Schon seit Jahren lag sie ihren Eltern in den Ohren, weil sie unbedingt einen Welpen haben wollte.

Während sich Ursula anzog, fragte sie: »Kann ich Loquax mitnehmen? Wenn es ein echter Notfall wäre, würde ich ihn doch auch nicht hierlassen.«

»Na gut«, flüsterte Juba. »Aber lass ihn in seinem Käfig und sorge dafür, dass er still ist. Jetzt beeil dich!«

Rasch zog Ursula den Gürtel ihrer Tunika fest und trat auf einen elefantenförmigen Elfenbeinhocker, um den Vogelkäfig vom Haken zu nehmen. Der Käfig war mit einem dunkelblauen Leintuch bedeckt, damit der Vogel begriff, dass es Nacht war und er ruhig zu sein hatte.

Der Elefantenhocker begann zu wackeln und beinahe fiel Ursula herunter. Aber sie fand ihr Gleichgewicht wieder. Leichtfüßig und mit dem abgedeckten Käfig in der Hand hüpfte sie zu Boden.

Juba atmete tief ein. »Zieh dir bitte deinen Winterumhang an, Ursula«, sagte er. »Und deine Stiefel.«

Während seine Schwester in ihre Schuhe schlüpfte, trat Juba an die Tür, die nach draußen führte, zog den Vorhang einen Spaltbreit zur Seite und spähte hinaus.

»Mach die Lampe aus!«, zischte er Fronto zu.

Gehorsam pustete Fronto die vergoldete Bronzelampe auf Ursulas Beistelltisch aus.

Dunkelheit hüllte sie ein, aber als Juba den schweren Vorhang zurückzog, fiel Mondlicht in den Raum.

»Los!«, zischte er. »Den Säulengang entlang und in den Vorratsraum. So schnell ihr könnt!«

Fronto berührte schnell beide Seiten des Türrahmens – rechts, links, rechts – und huschte auf Zehenspitzen auf den Vorratsraum und die Sklavenunterkünfte zu.

Obwohl er wusste, dass es nur ein Spiel war, schlug ihm das Herz bis zum Hals.

Fronto grinste. Wie aufregend das war!

Kapitel drei

AmpHorae

Juba schloss die Tür der Vorratskammer und presste den Rücken dagegen. Sie war aus massivem Holz, aber sie ließ sich von innen nicht verriegeln. Er drückte seine kleine Schwester fester an sich und versuchte nachzudenken.

Obwohl es dunkel war, schloss er die Augen, weil es ihm so leichter fiel, sich zu konzentrieren.

Er wusste, dass Käselaibe und Kräuterbündel von der Decke hingen und eine ganze getrocknete Rinderflanke, mit der ein Kunde seines Vaters eine Perlenkette bezahlt hatte.

Zu seiner Rechten lehnten zwei Dutzend Amphoren an der Wand, gefüllt mit dem besten Wein und dem feinsten Olivenöl. In der äußersten Ecke standen alte Möbelstücke und Werkzeuge der Handwerker, die die Wand des Tricliniums, des Speisezimmers, bemalt und verziert hatten.

Links von ihm befand sich eine Holztür, die zu den Gemächern der Sklaven führte.

Und direkt vor ihm zeigte sich ihre einzige Chance zur Flucht: eine Tür, die auf eine schmale Gasse hinter dem Haus führte und von dort auf die Straßen Roms.

»Müssen wir wirklich das Baby mitnehmen?«, flüsterte Ursula.

Juba nickte und öffnete die Augen.

»Dann nehme ich lieber Maters Palla und binde sie mir um den Oberkörper. Ich weiß, wie man das macht.«

»Na gut, aber beeil dich«, zischte Juba.

Während Fronto seiner Schwester dabei half, sich das Baby umzubinden, schlich Juba auf Zehenspitzen vorwärts, um einen Blick in die Unterbringung der Sklaven zu werfen.

Im Schein der brennenden Fackel an der Wand sah er ein Dutzend leere Bettnischen in einem tunnelartigen Gewölbe. Das letzte Mal war er als Kleinkind hier gewesen, und es überraschte ihn, wie beengt hier alles war.

Er zog die Tür zu, damit seine Geschwister nicht mitbekamen, dass sich die Sklaven allesamt aus dem Staub gemacht hatten.

»Psst!«, zischte er ihnen zu. »Die Sklaven schlafen. Wir müssen so leise wie möglich sein.«

Mit zitternden Händen hob er den hölzernen Riegel an der Hintertür. Der Riegel würde zurück an Ort und Stelle fallen, sobald sie draußen waren.

Juba zuckte zusammen, als die eisernen Türangeln in ihren marmornen Fassungen quietschten.

Er zögerte. Er war nie zuvor ohne seine Eltern oder Leibwächter auf den Straßen Roms gewesen, schon gar nicht mitten in der Nacht. Er wusste, dass die Stadt gefährlich war, voller Bettler, Verbrecher, Krankheiten und Tod. Und bei sich hatte er einen abergläubischen Bruder, eine streitlustige Schwester und ein Baby, das jeden Augenblick anfangen konnte zu brüllen. Wie sollte er sie nur alle in Sicherheit bringen?

Dann hörte er einen unheilverheißenden Schlag auf der anderen Seite der Vorratskammertür und tiefe Männerstimmen. Es waren die Häscher des Kaisers.

»Na los!«, zischte er. »Kommt schon!«

Kapitel vier

AeneaS

Sie waren bereits zwei Straßen von ihrem Zuhause entfernt und eilten auf die dunklen Straßen des Palatin-Hügels zu, als Juba spürte, wie ihn jemand an seinem Umhang zog.

Er wirbelte herum, stellte aber fest, dass es bloß sein Bruder war.

»Bei allen Göttern, Fronto!«, zischte er. »Lass das! Was willst du überhaupt?«

»Du musst mich huckepack tragen!«

»Ich muss was?«

»Du musst mich huckepack tragen!«, wiederholte Fronto. »Weißt du noch, wie Aeneas seinen Vater auf dem Rücken getragen hat, als sie aus dem brennenden Troja fliehen mussten?«

»Natürlich«, entgegnete Juba. »Wie die silberne Statue, die Pater früher in seinem Arbeitszimmer stehen hatte.«

»Ja! Wenn du der Held sein darfst, dann darf ich der Vater sein. Trag mich!«

Seine Stimme war laut. Zu laut.

Juba warf einen Blick auf die dunklen Straßen hinter ihnen: Die Soldaten des Kaisers konnten jeden Augenblick auftauchen. Spiel einfach mit, sagte er sich selbst.

»Na schön!«, murrte er. »Aber nur bis zum Fuß des Hügels.«

Er wandte Fronto den Rücken zu und beugte sich vor. »Bei Jupiter!«, keuchte er, als sein Bruder auf ihn kletterte. »Bist du schwer. Warte! Nicht so fest. Du erwürgst mich ja!«

Fronto lockerte seinen Griff. »Jetzt weißt du, wie sich Aeneas gefühlt hat!« Er lachte.

Juba begann, schwankend den Hügel hinabzulaufen. »Der arme Aeneas«, schnaufte er.

Bei jedem Schritt spürte er, wie sich ihm der Magen umdrehte. Er rannte davon wie ein Feigling.

Als sie einen menschenleeren Platz erreicht hatten, über den ein Aquädukt hinwegführte, wurde Juba sein Bruder endgültig zu schwer. Er ließ ihn herunter und schaute sich keuchend um. Häuser standen am und unter dem Aquädukt, und dort, wo die steinernen Bögen die Häusermauern berührten, warfen sie pechschwarze Schatten.

Juba führte sie an eine der dunkelsten Stellen.

»Was wollen wir denn hier?«, fragte Ursula.

»Mir ist gerade etwas Wichtiges eingefallen«, flüsterte Juba. »Wenn das ein richtiger Notfall wäre, müssten wir unsere Hausgötter zum Schutz mitnehmen. Ich gehe noch einmal zurück, um sie zu holen. Du wartest mit Fronto hier unter diesem Bogen. Mit euren dunklen Umhängen kann nicht einmal ich euch sehen. Wenn ihr euch nicht von der Stelle rührt und keinen Mucks von euch gebt, seid ihr hier sicher. Ach ja, und falls das Baby aufwacht, gebt ihm das hier.«

Er griff in seine Tunika, holte Doras Milchfläschchen hervor und reichte es Ursula.

Sie schaut es mit gerunzelter Stirn an. »Das ist ein dummes Spiel«, sagte sie. »Ich will nach Hause.«

»Ich dachte, du wolltest einen Welpen?«

Unverzüglich stellte sie den Vogelkäfig ab und nahm die Flasche.

»Wenn sie einen Welpen bekommt, kann ich dann ein Pferd haben?«, fragte Fronto.

»Ja«, sagte Juba. »Ich bin mir sicher, dass Pater und Mater dir ein Pferd schenken werden.«

Bevor sie noch weiter protestieren konnten, machte er sich rasch davon und hielt sich in den dunkelsten Schatten am Straßenrand.

Bitte hilf mir, tapfer zu sein, Vater Jupiter, betete er. Bitte hilf mir, tapfer zu sein.

Als er über die finsteren Straßen zurückeilte, versuchte er, seinen ganzen Mut zusammenzunehmen, indem er die Hand auf den Elfenbeingriff seines Dolches legte.

Er hatte nur zwei Soldaten gesehen, die das Haus durchsucht hatten. Vielleicht konnte er das Überraschungsmoment nutzen und so seinen Eltern helfen, aus dem Haus zu kommen.

Sein Vater war sehr reich, hatte genügend Gold und Juwelen, um Schiffe, Häuser und Sklaven zu kaufen. Wenn Juba seinen Eltern zur Flucht verhalf, konnten sie zu sechst überall hinsegeln, ins gesamte Reich. Nach Britannien. Oder nach Alexandria. Vielleicht sogar nach Asien, der Heimat von Aeneas.

Als er die Straße erreicht hatte, in der sie lebten, spähte er vorsichtig um eine Hausecke. Einen kurzen Moment lang glaubte er, alles sei in Ordnung. Die Doppeltüren standen weit offen, wie um die Kunden seines Vaters an einem dunklen Wintermorgen willkommen zu heißen. Er konnte die Umrisse ihrer beiden Türsklaven an beiden Seiten des Eingangs erkennen.

Dann schaute er noch einmal genauer hin. Die zwei Gestalten waren nicht ihre Türsklaven. Es waren Soldaten, die die Helme mit den weißen Wappen der Prätorianergarde trugen, der Leibwächter des Kaisers.

Und die Doppeltüren waren nicht geöffnet, sondern eingetreten worden.

Juba schrak zurück und verschwand wieder hinter der Ecke, während sein Herz wie wild hämmerte. Vorhin, bei seinem kurzen Blick durch Ursulas Tür, hatte er einen kleineren Soldaten mit platter Nase und einen größeren mit Hakennase gesehen. Die beiden am Eingang waren jünger und muskulöser. Das bedeutete, dass sie mindestens zu viert waren, es konnten allerdings auch sehr viel mehr sein.

Es war so still, dass Juba seinen eigenen Herzschlag hören konnte. In den angrenzenden Häusern rührte sich nichts. Kein Fensterladen wurde quietschend aufgestoßen. Kein Wachhund bellte. Nur die Zikaden zirpten schwach. Das Gebrüll und das Hämmern an der Tür musste die Nachbarn geweckt haben, aber vermutlich kauerten sie sich in ihren Häusern zusammen, aus Angst, ihnen könnte dasselbe Schicksal blühen wie seiner Familie.

Juba spürte, wie sich ihm der Magen noch mehr zusammenzog und ihm ganz übel wurde. Er wusste genau: Riefe er um Hilfe, würde niemand kommen. Er war auf sich allein gestellt.

Durch den Eingang konnte er bis zu ihrem Atrium schauen. Es war von Fackeln so hell erleuchtet, dass er sogar den Götterschrein auf dem Schrank in der äußersten Ecke erkannte. Der Schrein war aus Holz und stellte einen kleinen Tempel dar. Er enthielt Silberbesteck und andere Schätze, außerdem ein Geheimfach, in dem Vater seine kostbarsten Juwelen aufbewahrte. Im Inneren des Schreins befanden sich Opfergaben: Obst, kleine Kuchen und angebrannte Tannenzapfen. Die Rückseite war mit zwei Glücksschlangen und zwei Kindern mit flatternden Tuniken bemalt. Am wichtigsten aber waren die drei kleinen Statuen, die Jupiter, Merkur und Venus darstellten. Es waren die Hausgötter der Familie. Vater betete jeden Morgen zu ihnen, und an besonderen Tagen verbrannte er für sie Weihrauch. Auch wenn sie nach Neapel reisten, nahm Mutter die Statuen stets mit.

Sie standen alle drei noch immer im Schrein, und das bedeutete, dass seine Eltern das Haus nicht verlassen hatten. Sie brauchten also seine Hilfe.

Juba nahm all seinen Mut zusammen, als aus den Tiefen des Hauses plötzlich ein Krachen ertönte, gefolgt von lautem Rufen.

Die beiden Wachen schauten einander an, dann drehten sie sich um und eilten hinein.

Juba sah zu, wie sie durch das Atrium marschierten, am Götterschrein vorbei und den Korridor entlang, in Richtung des Innenhofs mit dem Brunnen.

Ihm kam ein Gedanke: Wenn die Edelsteine im Schrein nicht mehr da waren, bedeutete das, dass seine Eltern in Sicherheit waren.

Wenn nicht, würden sie sie später brauchen, wenn sie sich irgendwann in Britannien wiedertrafen.

Bevor ihn sein Mut verlassen konnte, stürmte Juba voran, sodass sein sandfarbener Umhang hinter ihm herflatterte. Er verbarg sich hinter einer Säule unter dem Vordach. Ihr Putz fühlte sich an seinen schweißnassen Handflächen kreidig an. Als er nichts hörte, trat er über die Türschwelle in das helle Atrium und kauerte sich vor den Schrein.

So rasch und leise wie möglich öffnete er die Schranktüren. Fünf lebensgroße Gesichter aus Wachs schwangen an Nägeln hin und her, zwei links und drei rechts. Die Totenmasken seiner Vorfahren schienen den Kopf zu schütteln, als wären sie nicht einverstanden mit dem, was er hier tat. Ihre leeren Augenhöhlen sahen im Schein der Fackeln unheimlich aus.

»Tut mir leid«, flüsterte er und schlug das Zeichen gegen alles Böse.

Er steckte die Finger tief in den Schrank hinein, bis er schließlich das Geheimfach ertastet hatte und spürte, wie es sich öffnete.

Sein Vater bewahrte die kostbarsten Schmucksteine in einer flachen Ebenholzkiste auf: dunkelgrüne Smaragde, hellgrüne Jaspis, violette Amethyste, aprikosenfarbene Sardonyxe und eine hellrosa Perle, die so groß war wie eine Kichererbse. Diese Perle war sein kostbarster Schatz.

»Nach euch Kindern und eurer Mutter«, hatte er einmal zu ihnen gesagt, »ist die Perle der Iris mein wertvollster Besitz. Zu Zeiten von Julius Caesar wurde sie für zehn Millionen Sesterzen verkauft. Sie ist mehr wert als unsere beiden Häuser und alles, was darin ist.«

Die Kiste war noch da, aber sie war leer.

Juba spürte eine gewaltige Welle der Erleichterung.

Gut, sagte er sich selbst. Pater und Mater haben die Edelsteine bei sich.

Er sammelte gerade die drei Hausgötter ein, als Männerstimmen und das Stampfen von Stiefeln ihn zusammenzucken ließen. Der Schreck durchfuhr seinen gesamten Körper.

Es war dumm gewesen, noch einmal zurückzukehren. Wenn ihn die Gefolgsmänner des Kaisers fingen, würden Fronto und seine Schwestern vollkommen hilflos sein. Sie glaubten ja, das alles wäre bloß ein Spiel. Dass ihr Leben tatsächlich in Gefahr war, wussten sie nicht. Sie hatten keine Ahnung, wer hinter ihnen her war oder wo sie hinsollten.

Panisch sah Juba sich nach einem Versteck um. Vor dem Alkoven ihres Türsklaven stand ein bemalter Wandschirm.

Juba rannte darauf zu.

Aber als er hinter den Wandschirm schlüpfte, erblickte er etwas, das so entsetzlich war, dass er es sein ganzes Leben nicht vergessen würde.

Kapitel fünf

Aquae Ductum

Ursula wusste, dass sie schon immer mutiger gewesen war als ihre Brüder.

Schon mit sechs Jahren war sie heimlich aus dem Haus auf die Straße geschlichen, um den halbnackten Jungen in Ziegenfellen auf ihrem Weg zum Lupercalienfest zuzusehen.

Mit sieben hatte sie die Herausforderung eines Sklavenjungen angenommen, an dem neuen Weinspalier aufs Dach ihres Stadthauses hochzuklettern. Und dann, letztes Jahr, mit acht, war sie als Einzige mutig genug gewesen, den merkwürdigen schwarzen Vogel mit dem gelben Schnabel und dem gebrochenen Flügel vom Boden aufzuheben. Das arme Geschöpf war gegen eine Marmorscheibe geflogen, die zwischen den Säulen ihres Rosengartens im Innenhof hing. Sie hatte sich von seinem ängstlichen Picken und Flügelschlagen nicht einschüchtern lassen und ihn wieder gesund gepflegt. Nicht einmal als der Vogel zum ersten Mal mit einer merkwürdig menschlich klingenden Stimme »Ave, Domitian!« gekrächzt hatte, war sie ängstlich geworden. Sie hatte den Vogel Loquax getauft, und seitdem war er ihr engster Vertrauter.

Auch jetzt, da sie sich zusammen mit ihrem älteren Bruder und ihrer kleinen Schwester unter dem großen Bogen des Aquädukts versteckte, war es keine Angst, die Ursula verspürte. Sie war wütend.

Sie wusste genau, dass Juba nur so tat, als würden sie ein Spiel spielen. Dabei sollte er ihr doch nun wirklich so weit vertrauen, um ihr die Wahrheit zu sagen, statt sie mit einem leeren Versprechen auf einen Welpen zu bestechen.

Und jetzt war er auch noch ohne eine glaubwürdige Erklärung in die Nacht verschwunden. Was, wenn er nie zurückkehrte? Sie wusste ja noch nicht einmal, wovor sie überhaupt davonliefen. Oder wo sie eigentlich hinwollten. Außerdem hatte er die kleine Dora bei ihr gelassen.

Ursula hasste das Gefühl, etwas nicht unter Kontrolle zu haben. Es machte sie wütend und sie fühlte sich wie ein wildes Tier in einem Käfig. Am liebsten hätte sie laut geschrien. Oder um sich geschlagen. Unfähig, still zu sitzen, drückte sie Loquax’ Käfig in die Arme des überraschten Fronto und begann, vor dem steinernen Bogen auf und ab zu tigern, während sie den Rücken ihrer kleinen Schwester streichelte.

»Ursula!«, zischte Fronto. »Juba hat uns doch gesagt, dass wir hier im Dunkeln auf ihn warten sollen.«

Das nahende Geräusch von rennenden Füßen auf dem steinernen Boden ließ sie erstarren.

Kam Juba schon zurück?

Ja!

Sie erkannte ihn an seinem sandfarbenen Umhang, als er um eine Ecke gewetzt kam.

»Lauft!«, keuchte er. »Sie sind hinter mir her!«

Fronto lachte und stürmte, ohne den Vogelkäfig loszulassen, hinter seinem Bruder her.

Ursula aber hatte im Mondlicht kurz den Blick auf Jubas Gesicht erhascht.

Jetzt wusste sie ganz sicher, dass es kein Spiel war.

Sie presste die kleine Dora enger an sich und begann ebenfalls zu rennen.

Und zum ersten Mal in dieser Nacht war sie nicht mehr wütend. Jetzt hatte sie Angst.

Kapitel sechs

CiRcuS Maximus

Als Juba an der südlichen Biegung des Circus Maximus vorbeigestürmt war, wurden die Straßen zusehends heller und belebter. Er roch die Gewürze der großen Lagerhäuser am Fluss, hörte Peitschen und Wagenräder. Sie näherten sich dem Tor von Ostia, wo es stets geschäftig zuging.

Wagen und Kutschen waren tagsüber in Rom nicht zugelassen, daher mussten alle Lieferungen bei Nacht ausgefahren werden.

Juba verlangsamte seine Schritte und huschte geschickt zwischen den hektischen Männern und den sich träge bewegenden Tieren hin und her.

Aber seine Brust hob und senkte sich noch immer schwer, und ihm rann der Schweiß über den Körper, als er endlich in einem dunklen Hauseingang in der Nähe einiger Ställe haltmachte. Fronto kam kurz darauf ebenfalls angerannt, immer noch mit dem abgedeckten Vogelkäfig im Arm. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß im Fackelschein, schließlich trug er, genau wie Juba, seinen Winterumhang.

»Bei den Göttern«, keuchte Fronto und berührte drei Mal den Türrahmen: rechts, links, rechts. »Ich glaube … ich bin noch nie in meinem Leben … so schnell … gerannt. Das war gut.«

»Komm da weg!« Juba zog seinen Bruder in die Dunkelheit des Hauseingangs und schaute über Frontos Schulter in die Menschenmenge, die sich auf den Gehsteigen tummelte.

»Wo ist Ursula?«, fragte er. »War sie nicht bei dir?«

»Sie wird gleich … hier sein«, keuchte Fronto. »Eigentlich rennt sie doch … schneller … als wir beide!«

»Aber sie hatte Dora im Arm!«, rief Juba. »Und sie ist erst neun. Sie wird sich in der Menge verirren!«

»Sie kommt schon klar!«, widersprach Fronto. Wieder und wieder berührte er abergläubisch den Türrahmen.

Aber als Jubas Herzschlag sich beruhigt hatte, fehlte von Ursula noch immer jede Spur und das nächtliche Gedränge auf der Straße war noch unübersichtlicher geworden.

»Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«, fragte Juba.

»Bin mir nicht sicher«, erwiderte sein älterer Bruder. »Beim Circus Maximus, glaube ich.«

»Jupiter, schütze sie vor den Soldaten des Kaisers«, betete Juba. Dann wandte er sich Fronto zu. »Warte da drüben im Stall.«

»Darf ich mir da mein Pferd aussuchen?«

»Ja, genau!«, log Juba. »Aber wir sind noch nicht am Tor. Wenn du also irgendwelche Soldaten siehst, versteck dich!«

»Haben Mater und Pater Schauspieler engagiert?«, fragte Fronto. »Wie damals bei ihrem Fest?«

»Ja!« Wieder log Juba. »Und wenn die uns finden, haben wir das Spiel verloren. Also, rein da mit dir!«

Er sah zu, wie sein Bruder ein paar Schritte machte, einen Bogen um einen dampfenden Haufen Pferdemist schlug und dann im großen, offenen Stalleingang verschwand.

Dann machte er – diesmal ohne zu beten – kehrt.

Er schaute in dunkle Gassen hinein und hinter plätschernde Brunnen. Ihm war schwindlig und übel. Seine Schwestern waren beide verschwunden!

Seine Mutter hatte ihn um eines gebeten: die Kinder zu retten. Und er hatte versagt.

Fronto hatte Ursula zum letzten Mal vor Roms großer Wagenrennbahn gesehen, dem Circus Maximus, also sah sich Juba besonders aufmerksam in dessen dunklen Bogengängen um. Dort stieß er auf mehrere Gestalten: Bettler schliefen hier und ein Pärchen küsste sich. Aber Ursula war nicht zu finden.

Gerade wollte er sich sein Versagen eingestehen, als er das schwache Maunzen eines Kätzchens hörte. Er fand seine Schwester nur einen Steinwurf von der Rennbahn entfernt, wo sie im Schatten einer Schirmkiefer auf dem Boden kniete.

»Ursula!«, rief er, und er spürte, wie ihn die Erleichterung durchströmte. »Was zum Hades treibst du hier?«

»Ich habe ein Katzenjunges gefunden. Seine Mutter ist nicht mehr da und alle seine Geschwister sind tot. Aber schau! Das Kätzchen hier lebt noch!«

»Miaaa!«, maunzte das winzige Geschöpf in Ursulas Armen. »Miaaa!«

Dann verstummte das Kätzchen.

»Na endlich!«, rief Ursula. »Es trinkt!«

Entsetzt sah Juba, dass sie Doras Flasche benutzte, um dem Kätzchen Milch zu geben.

»Was machst du denn!«, fuhr er sie an. »Die Milch ist doch für Dora, nicht für irgendein streunendes Kätzchen.«

»Es ist noch so winzig«, sagte Ursula. »Es trinkt ja nicht viel. Und Dora schläft meistens die ganze Nacht durch. Die Milch ist doch nur dafür da, um sie zu beruhigen, falls sie wach wird.«

Juba kniete sich neben sie. »Ursula«, sagte er. »Du bist sehr mutig, deshalb kann ich es dir sagen. Das hier ist kein Spiel. Wir laufen wirklich um unser Leben.«

Sie schaute zu ihm auf. »Das weiß ich«, sagte sie. »Aber wie sollte ich an einem armen verwaisten Kätzchen vorbeigehen? Und schau! Es ist schon satt!«

Ursula steckte die Wachspfropfen wieder auf die beiden Öffnungen des Keramikfläschchens und ließ es in die Vorderseite ihrer Tunika gleiten. Dann streckte sie einen Arm aus.

»Hilf mir«, sagte sie. »Mia, Dora und ich sind jetzt bereit.«

»Mia?«, fragte Juba. »Wer ist Mia?«

»Mein Kätzchen. Es hat mir seinen Namen selbst gesagt.«

Juba musste schlucken. Der Mut und das Mitgefühl seiner Schwester beschämten ihn.

Er gab ihr seine Hand. »Na gut, dann komm jetzt«, sagte er und zog sie auf die Füße. »Mit Mia, dem Kätzchen, an unserer Seite kann ja nichts mehr schiefgehen.«

Kapitel sieben

PoRta Ostiiensis

Fronto mochte die Ställe. Es war dort still und dunkel und es roch süß nach Heu und Pferden. Viele Dinge jagten ihm Angst ein, aber Pferde gaben ihm ein merkwürdiges Gefühl der Ruhe.

Er hatte sich einen feinen, rotbraunen Hengst mit glänzenden schwarzen Augen und schwarzer Mähne ausgesucht. Er würde ihn Ammon nennen, nach seinem eigenen Hausgott, Jupiter Ammon.

Inzwischen hatte er sämtliche Stalltüren berührt – rechts, links, rechts –, damit Ursula auf keinen Fall etwas passierte. Gerade war er bei der letzten angekommen, als Juba mit ihren Schwestern auftauchte.

»Hab Dank, Jupiter Ammon!«, flüsterte Fronto und huschte ihnen entgegen. »Ich habe mir schon mein Pferd ausgesucht«, verkündete er aufgeregt.

In der Stille des schummrigen Raumes sagte Juba: »Pater hat mir gesagt, dass du dir dein Pferd erst aussuchen darfst, wenn wir in Ostia angekommen sind.«

»Du meinst Ostia, den Seehafen?« Fronto runzelte die Stirn.

»Ja.«

»Aber Ostia ist doch fünfzehn Meilen weit weg.«

»Das gehört mit zur Aufgabe«, entgegnete Juba.