Specht, Heike Ihre Seite der Geschichte

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Für meine Mutter Für meine Mutter


© Piper Verlag GmbH, München 2019
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: Regina Schmeken / Süddeutsche Zeitung Photo

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Einleitung

Während man in Deutschland am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 2004 einmal wieder über »grüne Weihnachten« klagte, beobachteten die Menschen an den Küsten Süd- und Südostasiens an diesem Morgen ein merkwürdiges Phänomen. Schlagartig zog sich das Meer zurück. Einwohner und Touristen gleichermaßen rätselten an den märchenhaften weißen Sandstränden noch, was das zu bedeuten hatte, als sich weit draußen auf dem Ozean meterhohe Wellen aufbauten, die schon wenig später auf die Küsten zurasten und Tod und Zerstörung brachten. Ursache war ein verheerendes Beben im Indischen Ozean, das überall in der Gegend riesige Tsunamis auslöste. Menschen, Tiere, Häuser, Straßen und Brücken wurden erbarmungslos mitgerissen.

In Deutschland und ganz Europa war das Entsetzen über diese Naturkatastrophe von gigantischen Ausmaßen groß. Einige der vom Tsunami heimgesuchten Länder und Inseln – Thailand, Sri Lanka, die Malediven, die Seychellen, Réunion – waren beliebte Urlaubsziele, die viele selbst schon bereist hatten. In seiner Neujahrsansprache brachte ein sichtlich betroffener Bundeskanzler Gerhard Schröder seine Trauer zum Ausdruck und forderte die Bürgerinnen und Bürger zu Solidarität mit den betroffenen Regionen auf. Gleichzeitig machte er sich auf die Suche nach einer Person, die der Partnerschaftsinitiative Fluthilfe ein Gesicht geben und die nötige Durchschlagskraft verleihen würde. Schließlich griff er zum Hörer und rief Christina Rau an.

Es brauchte etwas Zeit, bis Schröder sie überreden konnte, denn die Familie Rau hatte gerade selbst eine schwere Zeit durchzustehen. Johannes Rau, erst im Juni aus dem Amt des Bundespräsidenten geschieden, war schwer krank. Schließlich aber sagte die ehemalige First Lady zu. Rasch entschied man sich, Doris Schröder-Köpfs Büro im Kanzleramt zum Krisenzentrum umzufunktionieren. Die Kanzlergattin packte ihre wichtigsten Unterlagen und machte Platz für die Frau, die während der letzten fünf Jahre quasi parallel mit ihr First Lady gewesen war. Christina Rau stürzte sich in die Arbeit und behielt doch, wie es ihre Art ist, einen kühlen Kopf. Qualität, so ihr Motto, müsse vor Schnelligkeit gehen. Bloß kein Aktionismus. Hunderte von Projekten wurden in den folgenden Monaten aufgegleist, Kommunen, Unternehmen, Schulen boten ihre Hilfe an. Der ehemaligen First Lady, die durch ihre vielen Staatsbesuche die besten Verbindungen zu Botschaften und Diplomaten hatte, gelang es, Spender und Projekte zusammenzubringen und sie auf solide Beine zu stellen. Das Unterfangen war politisch nicht wenig heikel, war es doch an der Schnittstelle zweier stets konkurrierender Ministerien angesiedelt. »Das größte Lob«, so Christina Rau heute, »als die Mission beendet war, lautete, dass es noch nie eine Zeit gegeben hat, in der das Außenministerium und das Entwicklungsministerium so gut zusammengearbeitet haben.«[1]

In dieser kurzen Episode kommen namentlich drei politische Akteure vor, die wichtige Aufgaben für das Land übernahmen, Verantwortung trugen, oft rund um die Uhr im Einsatz waren. Aber nur einer von ihnen – der Bundeskanzler nämlich – hatte ein offizielles Amt inne. Christina Rau und Doris Schröder-Köpf dagegen taten, was sie taten, weil sie mit einem führenden Politiker des Landes verheiratet waren. Und sie taten es unentgeltlich. First-Lady-Sein ist weder Job noch Amt, und doch erklärte sich Christina Rau im Januar 2005 spontan zur Koordination der Mammutaufgabe der Partnerschaftsinitiative bereit. Sie selbst war nicht gewählt worden, und doch hatte Doris Schröder-Köpf im Kanzleramt, dem Machtzentrum der Republik, ein eigenes Büro, in dem sie Korrespondenz erledigte, über Akten saß, Pressespiegel auswertete, Reden des Kanzlers durchging und Termine machte. Die Geschehnisse rund um die Organisation der Hilfe für die Tsunami-Opfer stoßen uns also mit der Nase auf das merkwürdige Konstrukt, das dieses Amt, das keines ist, darstellt. »Man kann als First Lady unendlich viel machen«, so Christina Rau, »man hat die ganze abgeleitete Autorität auf seiner Seite und kann eine breite Öffentlichkeit erreichen.«[2]

 

»Das Geheimnis, tausend Hände am Tag schütteln zu können«, so sagte einmal Eleanor Roosevelt, »besteht darin, selbst zu schütteln, nicht schütteln zu lassen.« Die Amerikanerin wusste, wovon sie sprach. Zwölf Jahre, davon vier lange Kriegsjahre, war sie an der Seite Franklin D. Roosevelts eine überaus beliebte, wirkmächtige und einflussreiche First Lady. Sie verpasste der Rolle einen gehörigen Modernisierungsschub, gab Interviews, setzte Themen, wurde selbst zur Handelnden. Der Journalist und Biograf zahlreicher amerikanischer Präsidenten, Jon Meacham, nannte Eleanor Roosevelt gar »das Gewissen des Weißen Hauses«.[3]

Viele Aufgaben, die First Ladies zu erfüllen haben, sind repräsentativ. Sie sollen gute Gastgeberinnen sein, würdige Vertreterinnen des Landes, man erwartet, dass sie sich benehmen können, dass sie eine gute Figur machen und sich nach Möglichkeit auch karitativ engagieren. Die Rolle der First Lady ist aber auch ein Drahtseilakt, denn Tradition und Protokoll verlangen ihren Tribut, die Öffentlichkeit beobachtet diese Frauen auf Schritt und Tritt, die Boulevardpresse ist allzeit bereit, jeden Fauxpas genüsslich auszuschlachten. Die Frau des Präsidenten und noch mehr die Frau des Kanzlers wurden nicht selten in der Geschichte der Bundesrepublik haftbar gemacht für die Politik ihrer Gatten. Rut Brandt, Hannelore Kohl oder Doris Schröder-Köpf konnten ein Lied davon singen. Manchmal nahm der politische Gegner sogar gezielt die Ehefrau ins Visier, um den Mann zu treffen. Nicht wenige der hier im Fokus stehenden Damen hatten zunächst mit ihrer Rolle zu kämpfen. Manche litten dauerhaft an diesem nicht selbst gewählten Dasein im Licht der Öffentlichkeit und den Zumutungen, die das Leben an der Seite eines Spitzenpolitikers mit sich bringt, wurden darüber sogar krank. Und alle zahlten einen Preis. Es ist nicht leicht, als First Lady »selber zu schütteln« – um Eleanor Roosevelts Worte zu bemühen. Und doch scheint genau darin der Schlüssel zu liegen.

Aber auf welche Weise kann die First Lady überhaupt wirken? Welchen Einfluss hat sie? Die achtzehn Ehefrauen von Bundespräsidenten und Bundeskanzlern der letzten siebzig Jahre entfalteten ihre Macht auf ganz unterschiedliche Weise und in sehr verschiedener Intensität. Einige, wie Elly Heuss-Knapp oder Doris Schröder-Köpf, waren selbst ausgeprägt politische Köpfe, die eng mit ihren Ehemännern zusammenarbeiteten, die gemeinsam Ideen entwickelten, unverzichtbare Sparringspartner wurden. Andere wirkten eher atmosphärisch, bauten persönliche Kontakte zu ausländischen Regierungs- und Staatschefs sowie deren Partnerinnen und Partnern auf, ergänzten ihren Ehemann und glichen dessen persönliche Defizite aus. So war es für den zurückhaltend, ja zuweilen distanziert wirkenden Willy Brandt ein Segen, die charmante und unkomplizierte Rut an seiner Seite zu wissen, die so manche Schrulligkeit mit einem Lächeln auszubügeln verstand. Und wieder andere machten einfach ihr eigenes Ding. Mildred Scheel zum Beispiel musste man Eleanor Roosevelts Empfehlung nicht zweimal sagen. Sie war ohnehin keine, die sich schütteln ließ, vielmehr trat sie selbst in Aktion – und zwar im ganz großen Stil.

Es ist ein faszinierendes und zugleich kein leichtes Unterfangen, dem Phänomen der First Ladies und ihrem Beitrag zur Geschichte dieses Landes auf die Spur zu kommen. Angesprochen auf die Frage, welchen Einfluss sie hätten, welche Rolle sie spielten, wird stets größte Bescheidenheit an den Tag gelegt. Vielleicht gehen die Damen dabei nicht so weit wie einst Mamie Eisenhower: »Ike kümmert sich um das Land und ich mich um die Schweinekoteletts.« Aber zunächst ist man doch meist mit einer Aussage konfrontiert, die da lautet: »Nicht ich wurde gewählt, sondern mein Mann.«[4] Das ist vollkommen korrekt – aber eben doch nur die halbe Wahrheit. Keine dieser Frauen würde jemals öffentlich zugeben, dass sie ihren Mann in dieser oder jener wichtigen Frage beeinflusst, ihm zu dieser oder jener Taktik oder Entscheidung geraten hat. Das würde ihr den Vorwurf der Selbstüberschätzung einbringen und darüber hinaus ihren Mann dauerhaft beschädigen. Ziel dieses Buchs ist es also, hinter die Rhetorik zu schauen, zu fragen, auf welchen Kanälen und mit welchen Mitteln bewusst und vielleicht zuweilen auch unbewusst Gestaltungsmacht wahrgenommen wurde, inwiefern die First Ladies durch ihre Persönlichkeit, durch ihren Stil oder durch ganz gezielte Beiträge Einfluss nahmen.

Sowohl sie selbst als auch ihre Männer haben dabei stets instinktiv begriffen, dass es in der Macht der First Lady liegt, ihren Ehemann fassbarer zu machen. Die First Lady kann dem zuweilen abgehoben wirkenden Spitzenpolitiker ein menschliches Gesicht geben, sie kann unabhängiger von Parteipolitik agieren als ihr Gatte, kann ihren Mann in der Öffentlichkeit in Zusammenhang bringen mit alltäglichen Themen, an die die Menschen anknüpfen können. Gleichzeitig betrachten hohe Politiker ihre Ehepartner nicht selten als Standleitung zum Volk. Von ihren Partnern, die direkter mit den Sorgen der Bürger in Berührung kommen, erhalten diese Politiker einen verlässlichen Realitätscheck, der zuweilen heilsam sein kann.

Einen Realitätscheck bieten die First Ladies aber noch in einer weiteren Hinsicht. »Es gibt da oben immer die Gefahr, paranoid zu werden,«, sagte Michael Dobbs, ehemaliger Stabschef von Margaret Thatcher, einmal über das Amt der Premierministerin, »plötzlich überall Stimmen zu hören von irgendwelchen Einflüsterern, wie in einem byzantinischen Palast.« In diesem Stimmengewirr ist jene der eigenen Partnerin beziehungsweise des eigenen Partners eine der wenigen, die einem im besten Fall unverblümt und uneigennützig die Meinung sagt. Gemäß dem Spruch »Feind – Todfeind – Parteifreund« trauen viele Politiker ihren Kollegen nicht recht über den Weg, sie neigen dazu, Verschwörungen zu sehen. Gleichzeitig sind sie, je höher sie steigen, immer häufiger von Menschen umgeben, die sich erhoffen, in ihrem Windschatten selbst Karriere zu machen. Je länger ein Politiker im Amt ist, desto zentraler ist es, dass es daheim noch jemanden gibt, der ihn mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert. Es sei wirklich wichtig, so Doris Schröder-Köpf, »dass der engste Kern ganz offen, ganz klar, ganz ehrlich ist, denn es gibt ja dann so viel Lobhudelei. Das ist auch mal schön, aber das hilft nicht weiter. Weiter hilft nur Ehrlichkeit.«[5]

 

Doris Schröder-Köpf, Christina Rau und sämtliche First Ladies der Bundesrepublik sind »Angeheiratete der Politik«, wie Loki Schmidt das einmal nannte. Sie haben sich nie zur Wahl gestellt, laut Verfassung gibt es sie eigentlich gar nicht, und doch handelt es sich um Frauen auf einflussreichem Posten. Dabei sind die Rolle der Kanzlergattin und die der Frau des Bundespräsidenten durchaus verschieden. Von der Frau des Staatsoberhauptes wird erwartet, dass sie repräsentiert, dass sie ihren Mann auf Staatsbesuche begleitet und wiederum Gäste empfängt. Wie ihr Mann soll sie gewissermaßen über der Tagespolitik stehen und sich möglichst nicht politisch äußern. »Ich habe ja miterlebt«, so erklärte Richard von Weizsäcker 1994 bei der Einführung seines Nachfolgers Roman Herzog die schwierige Aufgabe der First Lady, »was es bedeutet, dass die Frau des Präsidenten von der Verfassung sozusagen gar nicht vorgesehen ist. Dass sie dennoch dieselbe innere Verpflichtung für das Amt empfindet und sie bereitwillig trägt. Weniger spektakulär, dafür aber zuweilen entsagungsreicher. Und ganz gewiss genauso verantwortungsvoll.«[6]

Die Aufgaben der Partnerin des Kanzlers sind viel weniger konkret als jene der Frau des Bundespräsidenten, und sie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder gewandelt – von einer Luise Erhard, die man öffentlich kaum zu Gesicht bekam, über eine Rut Brandt, die zur Stilikone wurde, eine Hannelore Kohl, die wohl oder übel eine versierte Wahlkämpferin wurde, bis zu einer überaus politisch denkenden und handelnden Doris Schröder-Köpf. Der Ehemann der ersten Kanzlerin in der Geschichte der Bundesrepublik schließlich, Joachim Sauer, hat sich von Anfang an erfolgreich geweigert, in die Rolle eines First Husband zu schlüpfen.

Das vorliegende Buch widmet sich den Frauen der beiden Männer an der Spitze des Staates und erzählt dabei auch eine Geschichte der Bundesrepublik von ihrer Gründung bis heute. Hier wird also »ihre Seite der Geschichte« erzählt. Und das im doppelten Sinne. Mich interessiert, wie ein Leben in der Politik auch die First Ladies veränderte, wie sie damit umgingen, welthistorische Ereignisse hautnah zu erleben, vielleicht sogar mitzugestalten. Wie definierten sie ihre Aufgaben für sich ganz persönlich? Trugen sie die Agenda ihres Mannes mit? Hatten manche von ihnen ihre eigene? Und hätte ihr Mann es ohne sie überhaupt in die Topposition geschafft? Zum anderen sind die First Ladies immer auch ein Stück weit Spiegelbild der Gesellschaft und erlauben es so, die Geschichte dieses Landes von einem ungewohnten Blickwinkel aus zu betrachten. Das Buch ist keine Porträtsammlung, reiht nicht einfach die Biografien der First Ladies aneinander. Ich gehe zwar durchaus chronologisch vor, lenke aber über die Ehefrauen der Bundeskanzler und der Präsidenten einen besonderen Fokus auf zentrale Punkte, die in allgemeinen deutschen Nachkriegsgeschichten oft etwas stiefmütterlich – eigentlich sollte ich sagen stiefväterlich – behandelt werden. Denn die meist männlichen Historiker blenden Aspekte, die vor allem Frauen beziehungsweise Veränderungen im Geschlechterverhältnis betreffen, oftmals aus oder erwähnen sie nur am Rande. Am Beispiel der Ersten Damen im Staat aber wird greifbar, wie sich Rollenbilder gewandelt haben und welchen Weg die Frauen in diesem Land in den letzten siebzig Jahren zurückgelegt haben.

Das Hauptaugenmerk dieses Buchs wird auf den First Ladies der Bundesrepublik liegen, aber auch ein Blick hinter den Eisernen Vorhang darf nicht fehlen, denn im Ostteil des Landes gab es stets eine mächtige Frau an der Seite des Generalsekretärs des ZK der SED. An ihrem Beispiel lassen sich wie im Westen die Transformationen des Frauenbilds deutlich machen. Die Ulbrichts, beide überzeugte Kommunisten, mussten nach außen eine Bilderbuchfamilie abgeben. Lotte Ulbricht reiste mit ihrem Mann durch die damalige sozialistische Welt, besuchte Fabriken und Schulen und saß bei Großveranstaltungen in der ersten Reihe. Margot Honecker, eine Generation jünger als Lotte Ulbricht und deren Erzrivalin, mochte sich nicht mehr mit der Rolle der First Lady Ostberlins zufriedengeben und wurde selbst zur mächtigen Ministerin für Volksbildung.

 

Große Männer machen Geschichte, hieß es früher. Aber wie immer ist die Sache, wenn man genau hinschaut, komplizierter – und spannender. Ich will mit diesem Buch einen Blick hinter die Kulissen der Macht werfen. Dabei ist, wie gesagt, im Auge zu behalten, dass der Beitrag der First Ladies zum Teil übertüncht wird von der offiziellen Rhetorik ritueller Bescheidenheitsbeteuerungen. Nicht selten vernebeln aber auch Klischees die Sicht auf das Wirken der Ersten Damen. Aus zahlreichen Gesprächen mit First Ladies, ihren Nachfahren und Wegbegleitern, aber auch mit anderen aufmerksamen Zeitbeobachtern, aus mannigfachen Quellen, Erinnerungen und natürlich auch der Presseberichterstattung setzt sich ein Bild zusammen, das uns einen Eindruck gibt nicht nur vom Leben der First Ladies, sondern auch von ihrer Gestaltungsmacht und ihrem Wirken in diesem Land.

Eines schon mal vorweg: Mit den deutschen First Ladies ließ und lässt sich Staat machen. Christina Raus Einsatz für die Tsunami-Hilfe 2005 – und auch deshalb steht diese Episode zu Beginn des Buchs – macht auf einen Aspekt aufmerksam, der untrennbar mit dem Phänomen der First Lady verbunden ist: Diese Frauen fühlen sich dem Gemeinwohl verpflichtet, sie übernehmen – so altmodisch das klingt – qua Ehe eine Verantwortung, die auch mit dem Ende der Amtszeit des Partners nicht endet. Sie bringen sich ein, nehmen Anteil, beteiligen sich an der Diskussion um Themen, die das Land umtreiben. Diese Frauen teilen ein Verantwortungsgefühl für den Staat und seine Menschen, das über Parteigrenzen hinweggeht.

Und noch eine Bemerkung: Dieses Buch widmet sich den First Ladies, weil eben in den ersten Jahrzehnten dieser Republik Damen an der Seite von deutschen Kanzlern und Präsidenten standen. Seit 2005 hat das Land allerdings eine Regierungschefin. Inwiefern ein First Husband also die Rolle verändert, werden wir uns im letzten Kapitel genauer ansehen. Joachim Sauer interpretiert die Aufgabe auf seine ganz eigene Weise. Wer weiß, wie zukünftige Partner von deutschen Kanzlerinnen und Präsidentinnen das handhaben werden. Das ist dann vielleicht Thema für ein anderes Buch.

Nun aber »Ladies first«, oder besser noch »First Ladies first«. Tauchen wir ein in die wechselvolle Geschichte dieses Landes und seiner Ersten Damen. Widmen wir uns ihrer Seite der Geschichte.

1 Gründerinnenzeit

Ein verwitwetes Land

Seit dem frühen Morgen schon hatten sich graue Wolken zusammengezogen. Als in den Hausmeisterwohnungen zahlreicher öffentlicher Gebäude in Bonn an diesem Samstag mitten im Hochsommer 1952 das Telefon klingelte, begann es zu regnen. Unverzüglich, so lautete die Anweisung, seien die Fahnen auf halbmast zu setzen. Soeben habe man Nachricht vom Ableben Elly Heuss-Knapps erhalten. Deutschlands erste First Lady war in der Bonner Universitätsklinik ihrem schweren Herzleiden erlegen, und die so junge und empfindliche Bundesrepublik hatte eine ihrer wichtigsten Führungsfiguren verloren.

Als Elly Heuss-Knapp drei Jahre zuvor im Alter von achtundsechzig Jahren zur Ersten Dame der gerade gegründeten Republik geworden war, hatte lediglich ihr angeschlagener Gesundheitszustand ihren Enthusiasmus für die neue Aufgabe bremsen können. Die herzkranke Elly empfing die Ehefrauen der Botschafter und andere Gäste, die ihr ihre Aufwartung machten, im Salon der Villa Hammerschmidt im Parterre, denn das Treppensteigen fiel ihr schwer. Sie verbrachte viele Stunden des Tages am Schreibtisch und widmete sich vor allem dem Thema, dem sie sich bereits als junges Mädchen verschrieben hatte: der Sozialpolitik. Hier, das hatte die erfahrene Politikerin im Jahr 1948, als man erstmals den Namen Heuss für das Amt des Bundespräsidenten ins Gespräch brachte, sofort gespürt, gab es etwas für sie zu tun. Auf diesem Posten würde sie mehr bewirken können als jemals zuvor, und sie würde diese Chance nutzen.

Zusammen mit ihrem Mann reiste sie in den folgenden drei Jahren, soweit es ihre Kräfte zuließen, durch das verwundete Land, besuchte zerbombte Städte, sprach mit von den Ereignissen der letzten Jahre erschütterten Menschen. Staatsbesuche standen nicht an – Elly Heuss-Knapp wären längere Reisen oder gar Langstreckenflüge ohnehin nicht zuzumuten gewesen –, denn die Bundesrepublik saß nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur und einem Krieg, der die Welt in Brand gesetzt und Millionen Tote gefordert hatte, am außenpolitischen Katzentisch. Glamouröse Empfänge mit feinem Porzellan und teuren Roben waren 1949 nicht angesagt. Es sollten noch einige Jahre vergehen, bis auch für deutsche Staatsoberhäupter und ihre Ehefrauen wieder die roten Teppiche ausgerollt wurden.

Die junge Republik und ihre Repräsentanten tasteten sich umsichtig voran, mussten das neue Gelände erst gebührend kennenlernen. Welches Erscheinungsbild sollte diese Bundesrepublik haben, wie wollte sie sich der Welt, aber auch ihren eigenen Bürgern präsentieren? Nur drei Jahre stand Elly Heuss-Knapp neben ihrem Mann an höchster Stelle des Staats, und doch prägte sie das »Amt« der First Lady auf einzigartige Weise. Das hängt auch damit zusammen, dass es ab 1949 mit Elly Heuss-Knapp erstmals seit vierundzwanzig Jahren wieder eine Frau an der Seite des deutschen Staatsoberhaupts gab. Als Reichspräsident Friedrich Ebert 1925 überraschend an einer Bauchfellentzündung starb, zog sich seine Witwe Louise, die erste und einzige First Lady der Weimarer Republik, ins Privatleben zurück. Paul von Hindenburg folgte Ebert im Amt, und der Ton im Reichspräsidentenpalais in der Berliner Wilhelmstraße wurde schneidiger, reaktionärer und maskuliner – nicht nur, weil Hindenburg ein ehemaliger Generalfeldmarschall war, sondern auch, weil er seit 1921 verwitwet war. Seit Mitte der Zwanzigerjahre war das »Amt« der First Lady also verwaist gewesen. Heuss-Knapp hatte freie Hand, dieser Position die Prägung zu geben, die ihr vorschwebte.

Für die junge Bundesrepublik war es ein großes Glück, dass sie mit Elly Heuss-Knapp eine kluge und erfahrene Politikerin als erste First Lady bekam. Und doch ahnte Heuss-Knapp, dass ihr nicht viel Zeit bleiben würde. Im Laufe des Frühjahrs 1952, als es mit der Bundesrepublik langsam, aber spürbar bergauf ging, verschlechterte sich ihr Gesundheitszustand zusehends, und Mitte Juli musste die Bevölkerung Abschied nehmen. Am 25. Juli 1952 fand in der Bonner Lutherkirche der Gottesdienst für Elly Heuss-Knapp statt, bevor ein Trauerzug ihren Sarg zum Hauptbahnhof geleitete. Ihre letzte Ruhestätte fand die allererste Erste Dame der Bundesrepublik auf dem Stuttgarter Waldfriedhof.

Elly hinterließ in Bonn gewissermaßen zwei Witwer. Ihren Ehemann Theodor und den bereits verwitweten Bundeskanzler Konrad Adenauer, mit dem sie eine echte Freundschaft verband. Der Verlust wog schwer. Elly und Theodor hatte nicht nur eine vierundfünfzig Jahre währende Ehe verbunden, sie waren intellektuelle Sparringspartner gewesen, sie hatten sich in all den Jahren gegenseitig gefördert, ergänzt, korrigiert. Dass 1949, als man in Bonn auf die Suche nach einem geeigneten Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten ging, nicht nur Theodor Heuss, sondern quasi das Doppelpack »Heuss-Knapp« überzeugte, steht wohl außer Frage. Ja, Elly war vielleicht sogar, zumindest in Adenauers Augen, das entscheidende Extrapfund auf der Waage gewesen.

In Trümmern

Die folgenden sieben Jahre hatte die Bundesrepublik keine First Lady. Zwei Witwer, die im vergangenen Jahrhundert geboren und ihre entscheidenden intellektuellen und politischen Prägungen im Kaiserreich und der Weimarer Republik erhalten hatten, standen an der Spitze des Staats. Diese beiden arrivierten und gesetzten älteren Herren sollten einem traumatisierten Volk den Weg in die Zukunft weisen – einem Volk, das gewissermaßen auch verwitwet war. Einmal im ganz praktischen Sinne des Wortes. 1946 lebten in Deutschland 1,2 Millionen sogenannte Kriegerwitwen, also Frauen, deren Männer gefallen waren. Auf hundert Männer kamen in Westdeutschland hundertsechsundzwanzig Frauen, in Berlin sogar hundertsechsundvierzig Frauen. Selbst vier Jahre später, als die meisten Männer aus der Gefangenschaft zurück waren, fand man in der Bundesrepublik auf hundert Männer im Alter zwischen fünfundzwanzig und vierzig noch hundertdreißig Frauen. Zwölf Prozent der Frauen waren verwitwet. Der »Frauenüberschuss« war nicht nur eine stete Erinnerung daran, dass der Krieg tiefe Wunden geschlagen hatte und Abertausende Männer ihr Leben gelassen hatten, er wurde zuweilen auch als Bedrohung wahrgenommen. Frauen im gebärfähigen Alter, die keinen Mann finden konnten, stellten, so nahmen es viele wahr, eine Gefahr dar für sogenannte intakte Familien.[1] Viele Kriegerwitwen mussten so neben dem Schmerz und der Trauer um den gefallenen Mann auch noch das Stigma der Ausgrenzung ertragen.

Verwitwet war das Land aber auch im übertragenen Sinne. Es hatte weite Gebiete in Ostpreußen, Pommern, Nieder- und Oberschlesien verloren, seine Städte waren zerbombt, unzählige Menschen waren heimatlos, Kinder hatten ihre Eltern verloren, Eltern ihre Kinder. Und nicht zuletzt zeichnete sich schon kurz nach dem Krieg die Trennung ab, die das Land für die kommenden vierundvierzig Jahre prägen sollte. Ein Teil Deutschlands geriet in den sowjetischen Einflussbereich, der andere Teil sollte sich in den folgenden Jahrzehnten am Westen orientieren. Deutschland war ein geteiltes Land.

Die vergangenen Kriegsjahre hatten den Menschen nicht nur großes Leid gebracht, sie hatten auch die Geschlechterrollen gehörig ins Wanken gebracht. So martialisch und männlich das »Dritte Reich« auch aufgetreten war, sosehr man die »deutsche Frau« auf ihre Rolle als Gebärende beschränken wollte, der Krieg hatte neue Realitäten geschaffen – Mutterkreuz hin, Mutterkreuz her. Die Männer waren an der Front gewesen und Arbeitskräfte gebraucht worden. Entgegen der NS-Doktrin hatten die Frauen ranklotzen müssen. Sie hatten in Fabriken gearbeitet, in Büros und Kontoren gesessen, hinter Ladentheken gestanden. Aber auch zu Hause hatten sie das Sagen. Der Patriarch war im Feld, und irgendwie musste man die Familie zusammenhalten. Im Grunde hätte der Begriff der Patchworkfamilie schon damals erfunden werden müssen. Mutter, Vater, Kind wurde abgelöst durch Mutter, Großmutter, Nachbarin, Tante, Kinder. Diese weiblichen Notgemeinschaften erwiesen sich als ungeheuer strapazierfähig. In einer äußerst ungewissen Zeit, die vor allem von Mangel gekennzeichnet war, versuchten Frauen, den Alltag in Deutschland zu bestreiten. Neben Hunger und Krankheiten machte den Familien vor allem der fehlende Wohnraum das Leben schwer. In den zerstörten Städten erkannte man häufig kaum die eigene Straße wieder. War das eigene Heim stehen geblieben, musste man sich mit dem Gedanken anfreunden, einige neue Mitbewohner aufzunehmen, sei es aus der eigenen Familie oder zugewiesene Ausgebombte. Mütter gingen mit ihren Kindern auf Hamsterfahrten, brave Hausfrauen wurden zu gewieften Händlerinnen auf dem Schwarzmarkt. Die Not zwang die eine oder andere Frau in die Kriminalität oder zur Prostitution. Letztere blühte naturgemäß in einem Land voller Besatzungssoldaten, auch wenn diesen der Kontakt – nicht zuletzt der intime – zur einheimischen Bevölkerung streng untersagt war.

Nicht nur die Männer zahlten durch ihren Dienst an der Front und durch Gefangenschaft mit Versehrungen an Leib und Seele für diesen Krieg. Hundertausende Mädchen und Frauen wurden bei Kriegsende und in den Monaten danach von sowjetischen, französischen, amerikanischen und britischen Soldaten bedrängt und vergewaltigt. Wie unzählige Menschen im Osten des zerfallenden »Dritten Reichs« fürchteten auch die gerade zwölfjährige Hannelore Renner und ihre Mutter in Sachsen den Vormarsch der Roten Armee. Wegen der zunehmenden Luftangriffe waren die beiden bereits Monate zuvor aus ihrer Heimatstadt Leipzig ins kleinstädtische Döbeln gekommen. Zunächst sollte dieser Teil Sachsens nach Kriegsende von den Amerikanern kontrolliert werden, doch nun hatte man den Landstrich gegen einen Teil Berlins eingetauscht. In aller Eile beschlossen die Renners, dass man hier nicht mehr sicher sei. Hannelores Vater, Wilhelm Renner, der unter den Nationalsozialisten eine beachtliche Karriere als Direktor der HASAG-Werke, eines kriegswichtigen Rüstungsbetriebs, gemacht hatte, musste damit rechnen, von den Sowjets interniert zu werden. Der Vater schlug sich also zunächst von Leipzig aus alleine durch. Im nordsächsischen Taucha wollte man sich wieder treffen, um gemeinsam Richtung Westen aufzubrechen. Anfang Mai machten sich Irene und Hannelore Renner mit ein paar Habseligkeiten auf. Doch bereits beim Durchqueren des Flusses Mulde wurden sie von der Roten Armee beschossen, die Frauen standen Todesangst aus. Taucha war allerdings nur eine von vielen Etappen auf dem Weg nach Westen. Auf der Flucht wurde die junge Hannelore, wie so viele Kinder und Jugendliche, Zeugin brutaler Szenen. Sie sah Verwundete und Tote am Wegesrand. Die Bilder brannten sich dem Teenager ein. Möglicherweise wurde Hannelore selbst Opfer sexueller Gewalt durch Rotarmisten. Ihr Biograf Heribert Schwan schreibt, die bereits schwer kranke Hannelore Kohl habe ihm bei ihren gemeinsamen nächtlichen Spaziergängen über ein halbes Jahrhundert später davon berichtet. Sicher ist, dass Hannelore Kohl sich auf der Flucht eine schwere Wirbelsäulenverletzung und eine Absplitterung des Brustwirbels zugezogen hat, die sie ihr Leben lang beeinträchtigen sollten. Sie litt fortan unter schweren, chronischen Rückenschmerzen. Und sicher ist auch, dass Hannelore Kohl ihr Leben lang ein tiefes Misstrauen gegen die Rote Armee hegte.[2]

Auch für Margot Feist, gerade achtzehn geworden in den letzten Kriegstagen, sollte der Krieg das prägende Ereignis ihres Lebens werden. Und auch sie erlebte in diesen Tagen im April und Mai 1945 Dinge, die geeignet waren, Ursache für lebenslange Albträume zu werden. Im Gegensatz zu Hannelore Renner, die die ersten Jahre ihrer Kindheit wohlbehütet in relativem Wohlstand verlebt hat, verlor Margot früh ihre Mutter und musste zusehen, wie ihr kommunistischer Vater von den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager verschleppt wurde. Später, als jeder Mann gebraucht wurde, schickte man ihn an die Westfront. Das Mädchen war nun für den jüngeren Bruder verantwortlich und verließ mit ihm die Heimatstadt Halle. Im schlesischen Hirschberg fanden sie Unterschlupf bei der Großmutter. Hier erlebte Margot die Befreiung durch die Rote Armee – so zumindest wollte die junge Kommunistin, die wenige Jahre später die dritte Ehefrau Erich Honeckers werden sollte, die Ereignisse des Frühjahrs 1945 wahrnehmen. Jahrelang war sie zwar formell Mitglied im BDM gewesen, hatte aber im Untergrund auf ein Ende des NS-Regimes hingearbeitet und auf Hilfe aus dem Osten gehofft. Nun war der Tag gekommen. Die Ernüchterung muss schockierend gewesen sein. Die Rotarmisten dürften sich in den ersten chaotischen Tagen nach dem Einmarsch wenig darum gekümmert haben, welcher politischen Ausrichtung die Töchter und Ehefrauen ihrer Feinde anhingen. Viele Jahre später sollte Margot Honecker zu Protokoll geben, die Russen hätten »etwas Unruhe in die Stadt gebracht«. Nach dem Fall der Mauer wurde sie erneut zu den Geschehnissen in jenen Tagen befragt. Sonst überaus selbstbewusst und auskunftsfreudig, antwortete Margot Honecker nun ausweichend: »Für mich waren das eben, trotz allem, was es eben in den Kriegswirren und danach gab – aber das hat meinen Glauben ja nicht an die – naja, Gott, man hat’s gehört und man hat’s also erlebt, aber ich hab das als – na, wie soll ich mal sagen, das hat mich doch nicht – ich hab gesagt, es war Krieg, es waren Kriegswirren und was soll sein.«[3] Für die junge Margot müssen die Ereignisse, derer sie Zeugin wurde, ob am eigenen Leib oder am Schicksal anderer Frauen, von den psychologischen Folgen mal abgesehen, auch eine gewisse weltanschauliche Herausforderung dargestellt haben. Wie waren diese Grausamkeiten mit dem imaginierten Bild vom glorreichen sozialistischen Rotarmisten übereinzubringen? Es bleibt ihr Geheimnis, wie sie sich die Exzesse, die Plünderungen und die sexuelle Gewalt, die sie erlebte, erklärte, welche Rechtfertigungen sie dafür fand. Tatsache bleibt, dass sie – zumindest mittel- und langfristig – Margots Glauben an den Kommunismus und an die unverbrüchliche Freundschaft und Solidarität zwischen Genossen keinen Abbruch taten.

Hannelore und Margot machten als junge Mädchen Gewalterfahrungen, die sie ihr Leben lang nicht mehr loslassen sollten und die – wie man an der Sprachlosigkeit selbst der längst erwachsenen und redegewaltigen Politikerin Margot Honecker viele Jahre später sehen kann – stets schambehaftet blieben. Wie so viele Mädchen und Frauen während der letzten Kriegsmonate und der unmittelbaren Nachkriegszeit bekamen sie zu spüren, was es hieß, schutzlos zu sein. Vor allem für Frauen auf der Flucht waren diese Monate gekennzeichnet von größter Unsicherheit und Angst – um die Zukunft der Familie, das Schicksal des Mannes, den eigenen Körper. Dies trifft übrigens, wie neuere Untersuchungen belegen konnten, nicht nur für jene Frauen zu, die das Kriegsende im Osten erlebten, sondern für ganz Deutschland. Nicht nur Rotarmisten, sondern Soldaten aller Besatzungsarmeen vergingen sich an den Ehefrauen, Töchtern und Müttern der Besiegten.[4]

Margot floh wenig später mit ihrem Bruder aus dem schlesischen Hirschberg, das fortan zu Polen gehören sollte. Zu Fuß machten sie sich auf ins dreihundert Kilometer entfernte Halle. Die Großmutter wollte ihre Heimat nicht verlassen und blieb zurück. Unterwegs machten die Geschwister halt in Dresden und waren erschüttert vom Ausmaß der Zerstörung. Margot brach in Tränen aus angesichts des Elends. In Halle angekommen, mussten Bruder und Schwester feststellen, dass ihre Wohnung beschlagnahmt und mit Flüchtlingen belegt war. Und doch startete Margot ihr Leben nach dem Krieg in bekannter Umgebung, war eingebunden in ein vertrautes Umfeld von Familie, Freunden und Genossen. Auch gaben ihr, davon können wir wohl ausgehen, ihre politischen Überzeugungen einen gewissen Halt. Ihre und ihres Vaters Weltanschauung hatte über den Nationalsozialismus triumphiert.

Hannelore dagegen musste in Ludwigshafen noch mal ganz neu beginnen. Hierhin, in die Heimat der väterlichen Familie, die nun in der französischen Besatzungszone lag, waren die Renners geflüchtet. Einmal quer durch das zerstörte Land. Nicht nur hatten die Renners fast sämtliche Habseligkeiten verloren und waren auf die Gnade der hiesigen Verwandtschaft angewiesen, Hannelore fühlte sich als Fremde, litt unter dem Stigma, ein Flüchtlingsmädchen zu sein, von jedermann erkennbar an ihrem ausgeprägten sächsischen Akzent.[5] Hannelores Sohn Walter berichtet davon, dass der Zweite Weltkrieg für seine Mutter ihr Leben lang die prägende Erfahrung blieb, an der alles andere gemessen wurde. Kamen die Söhne mit Kummer und Ängsten zu ihr, so wurde ihr Leid stets mit dem ultimativen Grauen des Kriegs verglichen, neben dem alles andere verblassen musste. Alles, so Hannelores Diktum, was nicht so schlimm war wie der Krieg, war zu bewältigen.[6] Im Gegensatz zur jungen Margot Feist, die sich, obwohl als Deutsche eigentlich auf der Seite der Verlierer stehend, zu den Siegern zählte, hatten die Renners alles verloren. Die Niederlage beraubte sie nicht nur ihrer Heimat und ihres Hab und Guts, vermutlich brachte er sie auch in ein weltanschauliches Dilemma. Die Eltern waren NSDAP-Mitglieder gewesen, Mutter Irene hatte sich darüber hinaus in der NS-Frauenschaft engagiert, Vater Wilhelm war Blockleiter z. b. V. und Sturmführer im NS-Kraftfahrkorps gewesen. Jahrelang hatte er an der Seite des glühenden Nationalsozialisten und Obersturmbannführer Paul Budin die HASAG-Werke geleitet, was entweder für eine bemerkenswerte Anpassungsfähigkeit spricht oder, und das ist dem Historiker Hans-Peter Schwarz zufolge wohl wahrscheinlicher, den Verdacht nahelegt, dass es sich bei Wilhelm Renner um einen Überzeugungstäter handelte. »Viel spricht dafür«, so Schwarz, »daß die Eltern von Hannelore Kohl bis zum bitteren Ende überzeugte Nationalsozialisten waren.«[7] Man kann wohl davon ausgehen, dass mit Hitlers Selbstmord und der totalen Kapitulation des deutschen Reichs die Welt von Irene und Wilhelm Renner und damit auch die ihrer Tochter gehörig ins Wanken geriet.

Auch die Kölner Arzttochter Mildred Wirtz kam durch den Krieg mit unfassbaren Tragödien in Berührung, die sich dem Kind unauslöschlich einbrannten. Einmal begleitete Mildred ihren Vater, als dieser zu einer Unglücksstelle gerufen wurde. Im Nachbarhaus hatte eine Luftmine eingeschlagen. Die ganze Familie – Vater, Mutter und drei Kinder – lagen leblos in der Ruine. Dr. Wirtz wollte seine Tochter vor dem Anblick schützen, wollte sie wegziehen, Mildred aber verharrte stundenlang bei den Toten. Das Bild des kleinen getöteten Mädchens, das noch jünger war als sie selbst, verfolgte Mildred Wirtz, die später Mildred Scheel heißen sollte, ein Leben lang.[8]

Der Krieg hob auch die bürgerlich aufgeräumte Existenz Marie-Luise Kiesingers aus den Angeln. Die Familie überstand die ersten Kriegsjahre relativ behaglich und ungestört, denn Marie-Luises Mann, Kurt Georg, seit 1933 Parteimitglied, war für das Reichsaußenministerium tätig und musste nicht an die Front. Als Berlin aber immer häufiger Ziel der alliierten Bombenangriffe wurde, verließ Marie-Luise mit den kleinen Kindern Viola und Peter die Hauptstadt und suchte Zuflucht bei ihren Eltern in Ebingen auf der Schwäbischen Alb. Als selbst das kleinstädtische Ebingen ins Visier der Bomber geriet, zog man erneut um, nach Treuchtlingen. Die vermeintlich heile Familienwelt zerbrach endgültig, als Kurt Georg Kiesinger bei Kriegsende aufgrund seiner Tätigkeit für Joachim von Ribbentrop, Reichsminister des Auswärtigen, von den Alliierten interniert wurde. Achtzehn Monate verbrachte er in verschiedenen Lagern, unter anderem in einem der größten Internierungslager der Amerikaner, im Lager 74 in Ludwigsburg. Das erste Mal in ihrem Leben musste die Notarstochter aus Berlin, die sich von ihrem damaligen Verlobten dazu überreden hatte lassen, das Medizinstudium an den Nagel zu hängen und sich der Philosophie und der Literaturwissenschaft zu widmen, nun Geld verdienen. Dabei kam Marie-Luise zugute, dass ihr Vater, anfangs keineswegs angetan von seinem künftigen Schwiegersohn, sie Anfang der Dreißigerjahre für einige Monate zum Englischlernen nach Dublin geschickt hatte. Die ehemalige höhere Tochter musste sich in den chaotischen Monaten nach der Kapitulation eine Anstellung suchen und wurde fündig: als Sekretärin und Dolmetscherin bei der amerikanischen Militärregierung im fränkischen Scheinfeld. Ihr hervorragendes Englisch half ihr auch, als sie einen Brief an den Kommandanten des Lagers 74 verfasste, in dem sie um die Entlassung ihres Mannes, des Gefangenen Nr. 4146, bat: »We need him so urgently after having lost our home and for building up a new existence.«[9]

Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass nach den einschneidenden Ereignissen der vorangegangenen Monate und Jahre, die Männer und Frauen oft getrennt voneinander und ganz unterschiedlich erlebt hatten, in den Ehen und Familien die vertrauten Geschlechterhierarchien ziemlich durcheinandergerieten. Ein Wilhelm Renner – im »Dritten Reich« mächtiger Fabrikdirektor, gefürchtet von den Untergegebenen, unter ihnen zahllose Zwangsarbeiter, hofiert von seinen Parteigenossen – musste sich unmittelbar nach dem Krieg als Hilfsarbeiter verdingen. Ein Kurt Georg Kiesinger – während des Kriegs geschätzter Mitarbeiter im Reichsaußenministerium mit großbürgerlichem Lebensstil – wog, als er 1946 aus der Haft entlassen wurde, bei einem Meter neunzig Körpergröße nur noch fünfundsechzig Kilo. Erst Ende der Vierzigerjahre durfte er wieder als Rechtsanwalt arbeiten.[10]

Gerade Männer, die während des Nationalsozialismus ihre Karrieren hatten vorantreiben können, erlebten das Kriegsende als gesellschaftlichen Absturz. Plötzlich war man angewiesen auf die Arbeitskraft der Ehefrau oder musste bei den alten Eltern oder anderen Verwandten unterschlüpfen. Eingefleischte Patriarchen, die gewohnt waren, den Ton anzugeben, zogen sich nun in sich zurück, verstummten. Oder sie wurden noch lauter, wüteten, ließen den Frust über den verlorenen Krieg an ihren Frauen und Kindern aus. Zwischen vielen Männern und Frauen, traumatisiert von dem, was sie im Krieg gesehen und vielleicht auch getan hatten, herrschte Sprachlosigkeit. Man konnte, man wollte das Unsagbare nicht aussprechen. Viele kurz vor oder während des Kriegs geborene Kinder erkannten den Mann, der nun plötzlich bei der Mutter im Ehebett lag, nicht, fragten, wann der Fremde wieder gehe. Zahllose Männer wurden nicht damit fertig, als Verlierer heimzukehren, nicht imstande gewesen zu sein, die Familie zu beschützen. Nicht wenige kamen versehrt zurück, hatten einen Arm verloren oder ein Bein. Wie aber sollte man die Familie als »Kriegskrüppel« durchbringen? Ehefrauen, Mütter, Töchter wiederum wollten sich nicht damit abfinden, die mühsam und schmerzhaft errungene Autonomie wieder aufzugeben. Einige mögen auch die Achtung verloren haben vor diesen Männern, die geschlagen aus dem Feld oder der Kriegsgefangenschaft zurückkamen. Die Scheidungsraten stiegen, waren bald doppelt so hoch wie vor dem Krieg.[11]

Besonders gefährdet waren Ehen, die erst während des Kriegs geschlossen worden waren. Das gemeinsame Leben hatte immer nur in einer Ausnahmesituation stattgefunden und konnte vielfach im tristen Alltag der Nachkriegszeit nicht bestehen. Dass aber auch Ehen, die in jenen Jahren eingegangen worden waren, sich als ausgesprochen haltbar erweisen konnten, beweisen Loki und Helmut Schmidt. Wobei man natürlich in Betracht ziehen muss, dass die beiden sich aus der Schule kannten, ihre Beziehung also ein stabiles Fundament aus Vorkriegszeiten hatte. Als Loki und Helmut sich im Juni 1942 das Jawort gaben, verbanden sich zwei junge Menschen, die sich gut kannten und die, wie Loki viele Jahre später erzählen sollte, ein Zuhause brauchten. Beiden war damals schon klar gewesen, dass der Krieg verloren war – Helmut war gerade aus Russland zurückgekehrt.[12] Für das, was nach dem Krieg kommen sollte, wollten sie sich zusammentun. Loki zog zu ihrem Mann, der in Bernau bei Berlin stationiert war, und im Juni 1944 brachte sie einen Sohn zur Welt. Sie war allein mit dem Kind – Helmut war in den ersten Januartagen 1945 an die Westfront abkommandiert worden –, als der Kleine im schweren letzten Kriegswinter an einer Gehirnhautentzündung erkrankte. Auch der eilig herbeigerufene Arzt und Freund, Dr. Arnold, konnte nicht viel tun, verschrieb Sulfonamide, Antibiotika gab es noch nicht. Diese drei Tage, in denen Loki zusehen musste, wie ihr Kind sich in Krämpfen wand, wie es immer apathischer wurde, haben sich ihr eingebrannt. Auch als das Kind starb, war die junge Frau allein. Die Arnolds halfen ihr, einen kleinen Sarg für das Kind zu finden und es zu begraben. Als man auch in Bernau jeden Tag mehr den Einmarsch der Russen fürchtete, packte Loki ihr Bündel. Der völlig überfüllte Flüchtlingszug brauchte drei Tage nach Hamburg. In einem Interview viele Jahrzehnte später antwortete Loki Schmidt auf die Frage, ob sie sich in dem Zug, umgeben von flüchtenden Familien, leer und einsam gefühlt habe: »Da fühlte ich mich nicht einsam, denn ich hatte ein fremdes Kind auf dem Schoß. Man war ja eine zusammengewürfelte Gesellschaft, aber alle hatten den Wunsch, irgendwie zu überleben. Da fühlt man sich nicht einsam, man ist Teil dieser Masse.«[13] Wie so viele andere Frauen in diesen Tagen hatte Loki kaum Zeit, sich ihrer Trauer zu widmen, sie musste einfach weiterleben, weitermachen, bis dieser schreckliche Krieg vorbei war. In Hamburg angekommen, machte sich die junge Frau auf den Weg zu ihren Eltern, die in einer Gartenlaube in Neugraben Unterschlupf gefunden hatten. Den Tag der Kapitulation, einen warmen Frühlingstag in der Hansestadt, erlebte Loki als ungeheure Befreiung. Bald sollte sie auch die erlösende Nachricht erhalten, dass ihr Mann am Leben war. Helmut befand sich in britischer Kriegsgefangenschaft. Im Sommer 1945 kam er frei, und das Paar war wieder vereint.

Loki und Helmut hatten überlebt, aber der Krieg hatte ihnen wertvolle Lebensjahre geraubt. Lebensjahre, die man in Friedenszeiten dem Studium, der Karriere, dem Reisen gewidmet hätte. Helmut, inzwischen Ende zwanzig, musste sich über seine Zukunft und die seiner Familie Gedanken machen. Sein Traum war es, Architektur zu studieren, er schrieb sich aus pragmatischen Gründen dann aber doch für Volkswirtschaft und Staatswissenschaft ein. Die Entscheidung für das Studium bedeutete für das junge Paar auch, dass Loki erst einmal als Hauptverdienerin für die Familie zuständig sein würde. Sie hatte ihr Studium bereits 1940 abgeschlossen und konnte auch nach dem Krieg wieder als Lehrerin arbeiten, allerdings erst nach einer kurzen Suspendierung, die ihr der Posten als Kameradschaftsführerin beim BDM eingebracht hatte. Während dieser Zeit hielt sie sich und Helmut mit Putzjobs und Näharbeiten über Wasser.[14] Solcherlei Arrangements waren damals keineswegs ungewöhnlich, hatten die jungen Männer doch vielfach durch den Krieg ihre Ausbildungen unterbrechen oder gar nicht erst beginnen können. So sprangen Freundinnen und Ehefrauen ein, ermöglichten ihren Partnern nun, einen Beruf zu erlernen oder ein Studium abzuschließen.

Die Kleinfamilie, wie man sie von vor 1939 kannte, geriet also in den letzten Kriegsjahren und der unmittelbaren Nachkriegszeit in die Krise. Und doch waren familiäre Verbindungen in Zeiten, in denen die staatliche Ordnung zusammenbrach, wichtiger denn je. Die beiden Kirchen als Institutionen, die die NS-Zeit zwar nicht gänzlich unbeschadet überstanden hatten, aber dennoch nach 1945 noch über ein gewisses Maß an moralischer Autorität verfügten, beschworen die Familie als Hort des Zusammenhalts und der christlichen Werte. Auch konservative Politiker, die in den Monaten nach der Kapitulation zunächst auf kommunaler und regionaler Ebene aktiv wurden, appellierten an die Institutionen der Familie und der Ehe. Eine Stimme, die jetzt immer deutlicher zu vernehmen war, war jene von Konrad Adenauer.

Der Patriarch

Der erste Kanzler der Bundesrepublik ging als alleinstehend in die bundesrepublikanische Geschichte ein, dabei waren zwei Frauen maßgeblich beteiligt an seinem Aufstieg: Emma Weyer, seine erste Frau, und seine zweite Frau Auguste Zinsser, die 1948 starb. Adenauer war zweifellos zeit seines Lebens ein Verfechter eines eher konservativen Familienbilds. Er war der strenge Patriarch. Und doch kann man wohl davon ausgehen, dass er seinen beiden Ehefrauen auf Augenhöhe begegnet ist. Er hatte in ihnen Partnerinnen gesucht, die ihm gewachsen waren. Und jede auf ihre Weise war ein Pfund gewesen, mit dem er wuchern konnte. Beide, Emma und Gussie, starben, bevor er Kanzler wurde, dennoch sei an dieser Stelle ein kurzer Seitenblick auf diese Frauen erlaubt.

Mit Emma Weyer heiratete Adenauer 1904 in eine der angesehensten Kölner Familien ein. Ja, man kann wohl behaupten, dass diese Ehe dem ambitionierten Konrad erst den Zugang zur High Society Kölns ermöglicht hat. Seine politische Karriere in der Stadt begann im Grunde mit seiner Verbindung zu Emma Weyer. Nicht nur taten sich dem jungen Juristen durch seine Angetraute einige wichtige, bis dahin verschlossene Türen auf, es begann auch ein reger intellektueller Austausch. Emma hatte sechs Semester Sprachenstudium hinter sich und die Lehrerlaubnis für Englisch und Französisch an mittleren und höheren Mädchenschulen in der Tasche. Außerdem hegte sie literarische Ambitionen und eine Leidenschaft für die darstellende Kunst.[15]

Als Emma 1916 mit nur sechsunddreißig Jahren starb, ließ sie ihren Mann mit drei kleinen Kindern – Konrad, Max und Ria – zurück. Ein Jahr später wurde Adenauer Oberbürgermeister seiner Heimatstadt. Im Dezember 1917 schrieb er in sein Tagebuch: »Das Jahr 1917 war für mich schwer, sehr schwer, voll körperlicher und geistiger Qual und Elend. Das ganze Jahr ist erfüllt von Schmerz und Leid und Sehnsucht nach meiner teuren Frau. Sehr schwer lastet auch auf mir die Sorge um die Erziehung meiner geliebten Kinder, der ich mich kaum widmen kann; mutterlose Kinder – das ist etwas unendlich Trauriges. Ein Übermaß von Arbeit brachten mir die ersten Monate des Jahres; die Arbeit war für mich ein Narkotikum für mein Leid. In jungen Jahren zu einer großen Stellung berufen, bin ich ein vielbeneideter Mann, und dabei arm, bitterarm!«[16]

NS[17]