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Über das Buch

Jedes große Abenteuer braucht mutige Gefährten

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Ein Einsiedler, ein wandelnder Baum, ein Ritter mit verlorener Ehre und ein einsamer Junge. Ausgerechnet eine Muschel, aus der ein mysteriöser Hilferuf erklingt, führt diese ungewöhnliche Gruppe zusammen. Doch gemeinsam wagen sie sich auf die gefahrenvolle Reise. Aber wer ruft nur so verzweifelt nach Rettung?

Ein fantastischer Abenteuerschmöker mit gefährlichen Hindernissen, tapferen Helden und einer großen Aufgabe!

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Inhalt

FINSTERFORST

Ein merkwürdiges Ereignis

Noch ein merkwürdiges Ereignis

Der Ruf des Vogels

Winter, Herbst, Sommer, Frühling

Die Wurzel des Waldes

Salzfass

Waldwanzen und Teufelskumpane

Auf der Räuberfährte

Der Geist vom Finsterforst

Düstere Kunde

Tisal aus Barisia

BRIMM

Brimm

Am Einsampass

Eine feine Gesellschaft

Das Geheimnisvollste

Fragen kostet nichts

Ein waghalsiger Ritt

GLITZERSEE

Steinhafen

Zum fettigen Fisch

Auf der Suche nach der Nussschale

Ein Bauch voller Gold

Schüsse im Dunkeln

Unter Halunken

Sturmumtost

Wind und Wasser

BARISIA

Land in Sicht

Bei den Schattenklippen

Die letzte Ruhe

Barisia auf dem langen Hügel

Mirsu und die Geschichtenerzählerin

Eine Taube im Palast

Ein Berg Teppiche

Die Legende vom Gischtvogel

Die Gabe und der Plan

Die Muschel und der Prinz

Meister Pulverus

Lasst den Prinzen frei!

Schwarzmoor

Die Herausforderung

Morschs Moment

Der Ritter und der Schurke

Ein neuer Anfang

FINSTERFORST

Zu Hause

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Ein merkwürdiges Ereignis

Irgendwo zwischen hier und dort lag inmitten dicht bewaldeter Hügel ein kleines Tal, das von einem Bach geteilt wurde. Am Ufer des Baches führte ein Weg entlang, an dem sich genau in der Mitte des Tals ein kleines, karg eingerichtetes Haus in einen wilden Garten voller Apfelbäume, Rosenbüsche, Himbeersträucher und Lavendel duckte. Hier lebte Leopold Morsch. Sein Haus war das einzige weit und breit und der Weg, der an seinem Gartentor vorbeiführte, war alt und verwildert. Woher er kam? Wohin er führte? Morsch wusste es nicht mehr. Er hatte es längst vergessen. Wenn Morsch sich nicht gerade um seinen Garten oder die Bienenstöcke am Waldrand kümmerte, dann streifte er am liebsten durch sein Tal oder saß auf seiner Bank vor dem Haus, lauschte den Vögeln und sah den Mauerflechten beim Wachsen zu. Alles, was er brauchte, hatte er hier. Hier war sein Zuhause. Hier war er zufrieden. Und hier war es, wo alles begann.

Es war an einem sonnigen Herbsttag. Die Luft war warm und die Bienen summten. Morsch kniete am Fuß eines Apfelbaums, der nur wenige vertrocknete Früchte trug. Er drückte sein Ohr an den Stamm, hatte die Hände auf die Wurzeln gelegt und die Augen geschlossen. Er wagte kaum, zu atmen. So verharrte Morsch einen Moment. Dann öffnete er langsam die Augen, seufzte, stand auf und drehte sich zu Hainwart um: »Ich spüre nicht, was ihn plagt, und weiß nicht, wie ich ihm helfen kann. Vögel und Bienen zu verstehen ist einfach, aber dieser Baum ist mir ein Rätsel. Ich höre ihn nicht.«

Hainwart – ein wandelnder Baum, kleiner, knorriger und stämmiger als die verwurzelten Bäume – verzog sein Astlochgesicht zu einem Lächeln. Sein Laub fiel nicht und war nie grün. Das ganze Jahr war es rot-golden und schön wie der Herbst. Jetzt verschränkte er zwei kräftige Äste wie Arme vor seinem Stamm und entgegnete mit tiefem, ruhigem Knarzen: »Du hast auch für die Vögel und Bienen viele Jungblüten gebraucht, bis dir ihr lautes Zwitschern und Summen nicht mehr fremd war. Verwurzelte sind ruhiger, schwer zu hören. Versuch’s noch mal. Spüre die Wurzelkraft, die durch ihn strömt. Wie sie sanft die jungen Triebe treibt und wachsen lässt. Wenn du sie fühlst, weißt du, was er braucht.« Hainwart sprach immer etwas getragen. Das gab jedem seiner Worte eine besondere Bedeutung.

Morsch nickte. Gerade wollte er sich wieder dem Apfelbaum zuwenden, als eine aufkommende Brise die Blätter rascheln ließ und ihn ablenkte. Morsch spürte ein Kribbeln im Bauch. Unruhe ergriff ihn. Er ging zum Gartentor und blickte den Weg entlang, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. »Spürst du es auch?«

»Entwurzelte Unrast«, knarzte Hainwart langsam. »Wie wenn ein Trieb keine Erde findet, nicht wurzeln kann.«

Mit dem Wind zog ein Gefühl von Rastlosigkeit durch das kleine Tal. Und noch etwas brachte der Wind: einen fremden, süßlichen Geruch und Wolken. Schnell wurde es dunkler. Die Vögel flatterten auf, das Wasser des Baches kräuselte sich und die Bienen suchten Schutz zwischen den Blumen. Morsch atmete tief ein. Dann wandte er sich an Hainwart: »Seltsamer Geruch, findest du nicht?«

»Feucht und anders, nicht so herb wie die Erde, die die Wurzeln schmecken«, ächzte der wandelnde Baum.

Mit einem Mal ließ die Brise wieder nach. Die Sonne kehrte zurück, die Bienen summten weiter und der Bach floss ruhig dahin. Langsam verflog auch der süßliche Geruch. »Es zieht fort. Die Verwurzelten beruhigen sich«, knarzte Hainwart.

Morsch strich sich nachdenklich über den Bart und sah noch einmal den Weg auf und ab. Dann ging er zurück zu dem kranken Apfelbaum, legte sein Ohr an den Stamm, die Hände auf die Wurzeln und konzentrierte sich. Langsam wich das Gefühl der Unruhe und bald hatte Morsch die fremde Brise vergessen. Aber es sollte nicht lange dauern, bis sich ein weiteres merkwürdiges Ereignis in seinem Tal zutrug.

Noch ein merkwürdiges Ereignis

»Heda, Morsch!«

Morsch horchte auf. Das Knarren und Poltern eines sich nähernden Wagens begleitete den Ruf. Morsch legte die Holzscheite neben den Kamin und ging lächelnd durch die Tür nach draußen. Im goldenen Licht des kühlen Herbstnachmittags hielt vor seinem Gartentor ein kleines, von einem Esel gezogenes Fuhrwerk. Töpfe, Pfannen und allerlei anderer Kram schepperten und schaukelten an seinen Seiten langsam aus. Stoffbahnen, Kisten und Säcke drohten über die Ränder zu kippen, so vollgestopft war der Wagen. Auf dem Kutschbock saß ein wettergegerbter Kerl, der grüßend die Hand hob. »Na, mein Freund, hast du heißen Tee für einen alten Rumtreiber?«, hustete er und klopfte sich gegen die Brust, dass der Mantel nur so staubte.

»Willkommen, Landrich. Schön, dich zu sehen. Komm nur rein«, antwortete Morsch und sah zu, wie der Kutscher vom Wagen sprang, seinem Esel den Fuhrmannshut mit der breiten Krempe aufsetzte und das Langohr an den Gartenzaun band. Dann trat er durch das Gartentor, umarmte Morsch herzlich und ging in das Haus. Morsch wollte ihm folgen, als ihn ein Gurren zurückhielt. Auf dem Hausdach saß eine schwarze Taube. Freundlich nickte er ihr zu. »Na? Du bist aber nicht von hier. Hattest eine weite Reise und ruhst dich aus, was? Nur zu.« Die Taube beäugte Morsch. Dann flatterte sie auf, drehte eine Runde um das Haus und flog fort, Richtung Süden. Morsch blickte ihr nachdenklich hinterher. Nie zuvor hatte er eine schwarze Taube gesehen und ihr Gurren klang fremd.

»Morsch, alter Junge, wo bleibst du?«, riss ihn Landrich aus seinen Gedanken.

»Ich komme.«

Im Haus schürte Morsch den Ofen an und setzte Wasser auf. Bald war es angenehm warm in der Stube. Landrich hatte am Tisch Platz genommen und stopfte sich seine Pfeife. Morsch stellte zwei Becher aus gebranntem Ton vor seinen Gast.

»Wie geht es dir, alter Freund? Immer noch nicht einsam?«, begann Landrich, nachdem er einige kräftige Züge aus der Pfeife genommen hatte.

Morsch zuckte mit den Schultern. »Ich bin zufrieden. Das weißt du doch.«

»Na komm. Auch du musst mal was anderes sehen. Die Welt hat so viel zu bieten. Schau mich an. Ich erlebe fast täglich ein Abenteuer.«

Morsch schüttelte den Kopf. »Draußen? Was gibt es da schon?« Er goss den Tee auf.

»Was es da gibt?« Landrich blies einen Rauchring in die Luft. »Morsch, da draußen gibt es Berge, so hoch, dass sie die Wolken durchstoßen. Mit Blumen übersäte Ebenen, so weit, dass du in keiner Richtung einen Hügel siehst. Und es gibt das Meer, das in der Sonne glitzert wie tausend Diamanten. Kannst du dir das vorstellen? Ganz zu schweigen von den vielen Städten und Menschen mit ihren Geschichten und Geheimnissen. Reizt dich das nicht?«

Morsch brauchte seinen Freund gar nicht anzusehen. Er wusste, dass Landrich ihn herausfordernd anlächelte. »Ich habe hier genug zu tun und alles, was ich benötige«, entgegnete er ruhig und stellte den Kessel auf den Ofen zurück.

»Ich habe dir was mitgebracht«, wechselte Landrich das Thema. »Schau.«

Morsch setzte sich und beobachtete gespannt, wie der Händler ein Kästchen aus edlem Holz unter seinem Mantel hervorzog. Den Deckel zierte ein Wappen, das einen bekrönten Kranich auf zwei gewellten Linien zeigte.

»Die habe ich eingetauscht, tief im Wald, bei zwei Kerlen.« Landrich stellte das Kästchen auf den Tisch und strich nachdenklich mit dem Finger darüber. »Vermutlich Halunken. Sei’s drum«, murmelte er leise vor sich hin.

»Und das Wappen?«, fragte Morsch.

Landrich zuckte nur mit den Schultern. »Keine Ahnung.« Er öffnete das Kästchen, nahm behutsam einen in weiche Stoffe gewickelten Gegenstand heraus, legte ihn auf den Tisch und schob ihn zu Morsch. Was es wohl diesmal war? Die Dinge, die Landrich mitbrachte, waren immer besonders. Sorgsam wickelte Morsch das Bündel auf, bis eine silbrig-weiße Muschel zum Vorschein kam, gedreht wie ein Horn. Sie sah zerbrechlich aus und schillerte geheimnisvoll im Kerzenlicht, als er sie in die Höhe hielt.

Landrich zog an seiner Pfeife und lächelte: »Ich hatte so ein Gefühl, dass sie zu dir passt. Gefällt sie dir?«

»Natürlich. Sie ist wunderschön.« Morsch drehte die Muschel vorsichtig in den Händen. Glatt und weich fühlte sie sich an, mit feinen und gleichmäßigen Windungen.

»Halte sie ans Ohr«, sagte der Händler.

Morsch folgte dem Rat. Das Prasseln des Herdfeuers wurde dumpfer und leiser. Angenehme Stille umfing ihn und kurz darauf hörte er ein sanftes Rauschen. Ein Auf und Ab, wie tiefer Atem, ab und zu unterbrochen von einem Glucksen und Plätschern. Plötzlich spürte er eine warme Brise, und in der Ferne konnte Morsch den Schrei eines Vogels hören. Der Schrei klang nicht wie die Vögel aus Morschs Tal oder dem nahen Wald mit ihrem Zwitschern und Trällern. Er war fremd. Morsch war gebannt. Er konzentrierte sich. Ganz langsam wurde der Schrei lauter, als würde er näher kommen. Erstaunt setzte Morsch die Muschel ab.

»Faszinierend, nicht wahr?«, hörte er Landrich murmeln.

Morsch nickte und legte die Muschel vorsichtig auf den Tisch zurück. »Ein seltsamer Vogelschrei. Hast du so einen schon mal gehört?«

»Ein Vogelschrei? In der Muschel?« Landrich wirkte überrascht.

Morsch nickte. »Hast du ihn nicht gehört?«

Landrich schüttelte den Kopf und zog an seiner Pfeife. »Wellenrauschen, aber kein Vogelschrei«, sagte er und blies Tabakrauch in die Luft. »Behalte sie. Die gehört zu dir.«

Draußen war es Nacht geworden. Das Feuer war nur noch ein glühendes Nest und die beiden aßen und plauderten. Die Muschel lag die ganze Zeit in der Mitte des Tisches. Immer wieder blickte Morsch sie an und wunderte sich still, warum er den Vogelschrei hören konnte, Landrich aber nicht.

Der Ruf des Vogels

Der Morgen war grau und nebelig und atmete den nahen Winter, als Landrich den Esel anspannte, auf den Kutschbock stieg und Esel und Wagen sich schnaufend und klappernd in Bewegung setzten. Morsch sah ihnen lange nach. Dann schloss er das Gartentor und ging zu seinem Haus. Wieder saß die schwarze Taube auf dem Dach. Sie hatte ihr Federkleid aufgeplustert und schmiegte sich eng an den Kamin.

»Da bist du ja wieder. Wärm dich nur auf.«

Die Taube fixierte Morsch mit ihren schwarzen Augen.

»Warte, ich bringe dir etwas.« Im Haus füllte Morsch eine kleine Schale mit Körnern und Samen. Als er wieder hinausging, war die Taube nicht mehr da. Kopfschüttelnd stellte er die Schale auf das Mäuerchen und ging zurück ins Haus.

Auf dem Tisch stand das Kästchen und daneben lag die Muschel. Er hielt sie ans Ohr und lauschte: sanftes Rauschen, Glucksen und Plätschern. Wieder umfing ihn eine warme Brise, und dann – der Vogelschrei. Kein Zweifel: Es war der Schrei eines Vogels. Immer wieder war er zu hören, rhythmisch, als würde er ein langes klagendes Lied singen. Morsch schloss die Augen und hörte aufmerksam zu. Jetzt nahm er einen würzigen, süßlichen Duft wahr, ganz fein, nur wie ein Hauch. Er hielt inne. Diesen Duft, woher kannte er ihn? Morsch öffnete die Augen, roch an der Muschel, und tatsächlich: Der Duft ging von ihr aus. Erneut hielt er sie an sein Ohr. Das Lied war noch nicht verklungen. Morsch spürte ein Kribbeln im Bauch. Schnell legte er die Muschel auf den Tisch. »Wieso habe ich das Gefühl, dass du mir etwas sagen willst?«, flüsterte er.

Morsch ging zum Fenster. Golden begann die Sonne die Nebelschwaden zu zerreißen, als zwei Wanderer am Waldrand auftauchten und geradewegs auf Morschs Haus zuhielten. Morsch trat vom Fenster weg. Fremde Menschen in seinem Tal. Von der Welt da draußen kam selten Gutes. Und hatte nicht Landrich von zwei Halunken gesprochen, von denen er das Kästchen mit der Muschel bekommen hatte?

»Hallo!«, donnerte es von draußen. »Jemand zu Hause?«

Morsch spähte vorsichtig durchs Fenster. Vor seinem Gartentor standen zwei hochgewachsene Kerle mit sonnengebräunten Gesichtern, gehüllt in warme Mäntel. Sie hatten Rucksäcke geschultert, und ihre langen Wanderstäbe lehnten an Morschs Mäuerchen. Wie Halunken sahen sie nicht aus, eher wie Leute aus dem Süden. Morsch kratzte sich am Kopf. Vielleicht waren sie ja ganz höflich? Er musste einfach nur mit ihnen sprechen. Da war doch nichts dabei. Er ging zur Tür und öffnete sie.

»Habt Ihr Wasser? Wir möchten unsere Flaschen füllen«, sagte der eine. »Sind lang unterwegs.« Seine Stimme war hart und forsch.

Auch wenn die beiden sich anders kleideten, ihre stramme Haltung, ihr wacher Blick und der Klang der Stimme des einen verrieten Morsch, dass sie Soldaten waren. Vor langer Zeit, als er noch nicht in seinem Tal lebte, hatte er oft Soldaten gesehen. Hier, im Tal, waren bis jetzt nie welche gewesen. Was hatte das zu bedeuten? Er trat vor die Tür und zeigte auf den Bach.

»Hm«, brummte der andere. »Ist hier ein fliegender Händler durchgekommen? Mit Eselskarren?« Seine funkelnd schwarzen Augen musterten Morsch.

»Warum wollt Ihr das wissen?«, fragte Morsch.

»Wir suchen ihn«, sagte wieder der Erste und nickte seinem Gefährten zu. Der fuhr ruhig, fast beiläufig fort: »Er hat eine kleine Kiste mit einem Wappen darauf. Hat er sie Euch feilgeboten?«

Morsch wurde heiß und kalt. Er dachte an das Kästchen auf seinem Tisch. Was hatte es nur damit auf sich, dass zwei so weit gereiste Soldaten es suchten? Ein dumpfes Gefühl beschlich ihn, dass diese Kerle Muschel und Kästchen nicht in die Finger bekommen sollten. »Nein«, sagte er bestimmt. »Der Händler war nicht hier.«

Der zweite Wanderer blickte auf den Boden. »Hier sind doch Wagenspuren.«

»Vielleicht ist er vorbeigefahren.« Morsch hoffte fieberhaft, dass sie seine Lüge nicht durchschauen würden.

»Und das habt Ihr nicht bemerkt?«, fragte der Erste grimmig.

»Ich war wohl bei den Bienenstöcken am Waldrand. Da habe ich viel zu tun.«

»Wirklich?«, fragte der erste Wanderer und blickte Morsch einen Augenblick prüfend an. »Würden uns gerne aufwärmen. Dürfen wir reinkommen?«

Morsch schüttelte den Kopf. »Tut mir leid. Das … das geht nicht.«

»Warum?«, fragte der Zweite harsch und legte seine Hand an das Gartentor, aber sein Gefährte hielt ihn zurück.

»Ihr solltet gastfreundlicher sein«, sagte dieser und griff zu seinem Wanderstab. »So alleine und schutzlos hier draußen im Nichts. Da kann schnell mal was passieren.«

»Ich bin nicht allein«, antwortete Morsch. Und das war die Wahrheit. Er hatte schließlich Hainwart. Aber das würde er diesen Kerlen niemals sagen. Morsch richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Und nun, gute Reise!«

Die beiden sahen ihn noch einmal an, dann nickten sie einander zu und gingen den Weg weiter, immer den Wagenspuren nach. Morsch atmete schnell. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hielt sich einen Augenblick am Türrahmen fest, dann ging er ins Haus und verriegelte die Tür.

Morsch wollte Tee aufsetzen, aber seine Hände zitterten so stark, dass er kaum Wasser in den Kessel füllen konnte. Auf dem Tisch lagen das Kästchen und die Muschel. Er starrte sie an. »Was hat es nur mit euch auf sich? Warum suchen sie euch?« Sorgsam nahm er das Kästchen und betrachtete das Wappen. Ein bekrönter Kranich, der auf zwei Wellenlinien stand. War es falsch, das Kästchen samt Muschel nicht herausgegeben zu haben? Nein. Morsch war sich sicher. Diese Wanderer waren seltsam und unheimlich, und sein Bauchgefühl trog ihn nie. Er stellte das Kästchen ins Regal. Dann nahm er die Muschel, hielt sie ans Ohr und lauschte dem sanften Rauschen. Die warme Brise umfing ihn und er roch den würzig-süßen Duft, der der Muschel entströmte. Dann sang der Vogel, lang und klagend. Erst fern, dann immer näher. Morsch schloss die Augen. Komm mit mir heim. Er hielt den Atem an. Hatte er etwas vom Vogelruf verstanden? Morsch konzentrierte sich, aber die Worte kehrten nicht zurück. Er legte die Muschel wieder auf den Tisch. Lange saß er da und betrachtete sie. »Was ist das für ein Vogel, der da in dir singt?«, flüsterte er. »Und was singt er?« Aber die Muschel antwortete nicht. »Hainwart wird Rat wissen.« Behutsam wickelte er die Muschel in ihr Tuch und griff seine Weste.

Er spähte zur Tür hinaus. Von den Wanderern war nichts mehr zu sehen. »Gurr, gurr«, klang es vom Dach herab. Da war sie wieder, die schwarze Taube. Morsch lächelte ihr zu, dann machte er sich auf zu Hainwart.

Es war kühl. Die Luft roch frisch und das feuchte Gras glitzerte in der Herbstsonne. Morsch stapfte dem Waldrand entgegen. Schon bald entdeckte er Hainwart zwischen einigen Farnen. Er erzählte ihm von Landrich, den Wanderern, der Muschel, von dem fremdartigen Vogelgesang, und merkte erst da, dass der wandelnde Baum ihn kaum verstand. Wie sollte er auch wissen, was Muscheln sind? Also streckte er ihm die silbrig schimmernde Kostbarkeit entgegen: »Versuch’s mal.«

Hainwart nahm sie in seine Armäste und umschloss sie fest mit seinen feinen Zweigen. So verharrte er einen Augenblick und das rot-goldene Laub auf seiner Krone raschelte leicht. Dann gab er Morsch die Muschel zurück. »Ist nicht von hier. Fremde Salze. Ich spüre keinen Vogel, kein unruhiges Zwitschern.«

Morsch sah ihn überrascht an. Konnte wirklich nur er den Ruf des Vogels hören? »Der Schrei ist fremd und lang und klingt klagend, wie ein trauriges Lied«, sagte er.

Hainwart schüttelte seine Krone. »Vogelzwitschern ist unruhig und laut, leicht zu fühlen. Du spürst es in jedem Trieb.« Er sah Morsch einen Moment lang schweigend an, dann knarzte er: »Wenn nur du das Zwitschern fühlst, singt der Vogel für dich. Lerne, seinen Gesang richtig zu spüren.«

»Vielleicht hast du recht«, sagte Morsch nachdenklich.

»Lass die Triebe wachsen«, brummte Hainwart. »Und du wirst mehr spüren.«

Schnatternd zogen Wildgänse über den grauen Himmel Richtung Süden. Morsch sah ihnen nach. War er wirklich der Einzige, der den Vogel hören konnte? Und wenn ja, was wollte ihm der Ruf sagen? Er musste diesem Geheimnis auf den Grund gehen. Und er wusste, dazu brauchte er Zeit und Ruhe.

Der Tag war schon weit vorangeschritten und der Abend kündigte sich an. Morsch verabschiedete sich von seinem Freund und stapfte zurück zum Haus. Er fachte den Kamin an, setzte sich aufs Bett, wickelte die Muschel aus und drehte sie in seinen Händen. Morsch konzentrierte sich und hielt die Muschel an sein Ohr, aber sie verriet ihm nichts Neues. Enttäuscht legte er sie auf sein Bett.

Draußen war es bereits dunkel. Morschs Magen knurrte. Eine Suppe würde ihm guttun. Er setzte Wasser auf und schnitt Gemüse. Komm mit mir heim. Der Ruf des Vogels klang immer noch leise in ihm nach. Meinte er ihn? Ihn, Leopold Morsch? Landrich und Hainwart hatten den Ruf nicht gehört. Morsch legte das Messer beiseite und blickte zur Muschel.

Er nahm sie und wollte sie wieder an sein Ohr halten, als er durch das Fenster einen flackernden Lichtschein entdeckte. Morsch sah genauer hin. Es brannte. Am Waldrand!

Winter, Herbst, Sommer, Frühling

Morsch ließ vor Schreck die Muschel auf sein Bett fallen. Feuer am Waldrand, bei den Bienenstöcken! Er stürzte zur Tür, packte draußen zwei Holzeimer, riss das Gartentor auf und eilte den Bach entlang, immer auf das lodernde Feuer zu. Laub und Büsche standen in Flammen. Das Feuer drohte auf die Bienenstöcke und die umliegenden Bäume überzugreifen. Im rötlichen Schein sah Morsch, wie Hainwart seine Armäste in den Waldboden grub, um im nächsten Moment stöhnend Erde auf die Flammen zu werfen. Morsch füllte die Eimer am Bach, stürzte zum Feuer und leerte das Wasser über die brennenden Büsche. Es zischte und qualmte und schon rannte Morsch durch aufgebracht brummende Bienen zurück zum Bach. »Wasser an die Verwurzelten«, hörte er Hainwart ächzen, während er die nächste Ladung über die Büsche goss. Schweiß stand ihm auf der Stirn und der Rauch biss in seinen Augen. Wieder und wieder füllte er die Eimer und löschte, wo er konnte. Und dann, endlich, züngelten keine Flammen mehr. Keuchend ließ Morsch die Eimer fallen. Hainwart bedeckte die letzten Glutnester mit feuchter Erde. Beißender Rauch erfüllte die Nachtluft. Morsch hustete vor Anstrengung. »Wie kann der Wald im Herbst Feuer fangen?«

»Feuer frisst immer«, knarzte Hainwart dumpf und stützte sich gegen einen Baum.

»Nein, ich meine«, Morsch atmete tief durch. »Ich meine, das Laub und die Büsche sind feucht, gerade jetzt im Herbst. Wie kann …?« Er verstummte und blickte zu seinem Haus hinüber. »Die Wanderer.«

»Die Wanderer?«, stöhnte Hainwart.

Morsch rannte, so schnell er konnte, zu seinem Haus zurück. Die Tür stand weit offen. Der Tisch war umgestoßen, seine Kiste geöffnet und die Kleider herausgezerrt worden. Teller, Tassen, alles lag auf dem Boden. Nichts stand mehr im Regal. Selbst seine Matratze hatten sie aus dem Bett geworfen. Die Muschel! Morsch suchte den Boden ab. Er schob die Matratze beiseite und fand darunter seine Decke. Er schlug sie auf und da lag die Muschel, unversehrt. Und das Kästchen? Das war weg. Morsch eilte nach draußen und spähte in die Dunkelheit. Der wolkenverhangene Nachthimmel war aufgerissen und der bleiche Mond schien auf zwei dunkle Gestalten, die im Wald verschwanden.

Hainwart war ihm nachgestapft. »Warum rast du wie ein Sturm?«

»Die Wanderer, Hainwart. Sie haben das Feuer gelegt, um mich aus dem Haus zu locken. Sie waren hier und haben alles durchsucht. Das Kästchen haben sie gefunden, aber nicht die Muschel. Was ist, wenn sie merken, dass sie nicht mehr im Kästchen ist?« Morsch setzte sich auf seine Bank und starrte auf den Boden. »Am liebsten würde ich sie einfach in den Bach schmeißen, damit sie fortgespült wird.«

»Aber das kannst du nicht«, knarzte Hainwart langsam.

»Nein, das kann ich nicht«, flüsterte Morsch. »Diese Muschel birgt ein Geheimnis. Warum sollten die Wanderer sonst so weit reisen? Nur um nach einem hölzernen Kästchen zu suchen?« Er schüttelte den Kopf. »Sie ist zu mir gekommen, Hainwart, um mir etwas zu sagen. Sie möchte, dass ich ihr in ihr Zuhause folge. Aber warum? Und wo soll dieses Zuhause sein?« Er sah seinen Freund ernst an. »Ich muss wissen, was sie mir mitteilen will. Und jetzt habe ich keine Zeit und auch keine Ruhe mehr, um den Vogelgesang zu verstehen. Die Wanderer kommen sicher zurück, sobald sie das Kästchen öffnen und die Muschel nicht vorfinden.«

Der wandelnde Baum schloss die Astlochaugen. »Ich kann dir nicht helfen, das Fremde richtig zu spüren. Mit hundertelf Ringen unter der Borke bin ich kaum mehr als ein Jungtrieb und kenne nur diesen Wald.« Er öffnete seine Augen und blickte zurück zum Waldrand, dorthin, wo es gebrannt hatte. Nach einer Weile wandte er sich knarzend wieder Morsch zu und stöhnte zögerlich: »Es gibt eine Erde, reich an Triebkraft. Da kannst du alles spüren.«

»Kann sie mir sagen, was die Muschel singt?«, fragte Morsch hoffnungsvoll.

Hainwart schüttelte seine Laubkrone. »Nein. Aber sie gibt dir Kraft zu spüren. Richtig zu spüren.«

»Was ist das für ein Ort?«

»Die Wurzel des Waldes. Aber Zweibeiner sind dort nicht willkommen.«

Morsch seufzte und blickte wieder zu Boden. »Dann bleibt mir nur, mich zu verstecken«, sagte er niedergeschlagen. »Vor den beiden kann ich mich vielleicht eine Weile verbergen. Aber was ist, wenn sie mit Verstärkung zurückkommen?«

»Mehr Zweibeiner?«, ächzte Hainwart langsam. »Mehr Feuer?«

Morsch rieb sich erschöpft über die Stirn. Sehr lange hatte er niemanden außer Landrich gesehen, aber er kannte die Menschen. Wenn sie etwas wollten, dann nahmen sie es sich, ohne Rücksicht. Einige Atemzüge lang war kein Laut zu hören außer dem Rauschen des kleinen Baches. Als Morsch gerade zu einer Antwort ansetzen wollte, knarzte Hainwart: »Gut. Komm, aber es ist weit von hier.«

Morsch blickte Hainwart einen Moment ungläubig an, dann sprang er auf. »Warte, ich packe schnell ein paar Sachen.« Er eilte ins Haus, räumte notdürftig auf, wickelte die Muschel ein, steckte sie in eine Ledertasche und legte hastig frische Unterwäsche, seine Brille, ein kleines Buch mit leeren Seiten, ein paar Bleistifte, eine kleine Klinge zum Anspitzen und zwei Kerzen dazu. Dann schmierte er sich Butterbrote und füllte Wasser in eine Flasche. Zu guter Letzt löschte er das Feuer im Kamin, nahm seine Weste, hängte sich die Tasche um, trat hinaus und verschloss die Haustür. Den Schlüssel schob er in seine linke Hosentasche. »Bereit.«

Hainwart nickte und stapfte los.

Morsch schloss das Gartentor, sah noch einmal zu der Stelle, wo die Wanderer verschwunden waren, und folgte dem wandelnden Baum querfeldein in den Wald.

Der Wald war alt. Er roch nach feuchter Erde und Moosen. Stämmige Birken, Buchen und Eichen standen eng beieinander und das Blätterdach war so dicht, dass schon bei Tag die Sonne nur selten ihren Weg zum kühlen Waldboden fand. Jetzt, bei Nacht, machte der Wald seinem Namen alle Ehre: Finsterforst.

Morsch konnte kaum die Hand vor Augen sehen. Dumpf knackten die Äste unter seinen Schritten. Er stolperte über Wurzeln und versuchte, mit Hainwart Schritt zu halten. »Warte doch«, raunte er. »Ich sehe nicht, wo ich hingehe. Lass mich eine Kerze anzünden.«

»Kein Feuer«, stöhnte Hainwart. »Ich trage dich.« Er packte Morsch und hob ihn in seine Laubkrone.

Immer tiefer und tiefer drangen die beiden in den Wald vor. Morsch hielt sich in Hainwarts schwankenden Ästen fest. Zwischen den Bäumen hallte das Trommeln eines Spechtes wider. Morsch lauschte. Aber er hatte jegliches Gefühl für die Richtung verloren. Und im Dunkel des nächtlichen Waldes war nichts zu erkennen, egal wie sehr er seine Augen zusammenkniff. Wo Hainwart ihn wohl hinbrachte? »Was ist die Wurzel des Waldes

»Sie ist der Trieb, aus dem alles treibt«, knarzte Hainwart. »Mit ihr ist alles verbunden, Baum, Pilz und Strauch. Die Erde dort gibt Kraft, mehr als sonst. Ohne die Wurzel wäre alles welk, trocken, tot. Aus ihr wuchs ich, und sie war schon immer da.«

»Der Ursprung des Waldes«, staunte Morsch. »Du hast mir noch nie davon erzählt.«

»Zweibeiner gehören nicht dorthin«, ächzte Hainwart. »Zweibeiner zerstören.«

»Und trotzdem hilfst du mir?«

»Du bist anders, Morsch. Du zerstörst nicht. Der Wald erlaubt dir einen Besuch, aber jetzt will er, dass du ruhst.«

Morsch wollte noch mehr fragen, aber er schwieg. In den moosig erdigen Waldgeruch mischte sich etwas harzig Herbes, wie Tannenzapfen oder frische Rinde. Morsch sog die Luft ein und musste gähnen. Ihn fröstelte. »Jetzt nicht müde werden«, murmelte er und ließ seinen Kopf auf Hainwarts weiches Laub sinken. Das Dunkel wurde tiefschwarz und Hainwarts Rascheln immer leiser und ferner.

Als Morsch erwachte, war die Luft trocken und klar. Er blinzelte und öffnete die Augen. Noch immer saß er in Hainwarts Krone, aber es war taghell. Sein Atem formte kleine Wölkchen vor seinem Gesicht, und er fror. Hainwart stieg einen Hügel hinauf. Morsch blickte durch die rot-goldenen Blätter. Wo war er? Die Pflanzen und Bäume trugen keine Blätter. Sie waren kahl. Eisiger Reif überzog sie. Rundherum war alles still.

»Lieber Hainwart. Lass mich herunter. Jetzt sehe ich ja, wohin ich laufe. Dann falle ich dir nicht zur Last.«

Der wandelnde Baum setzte Morsch ab. Der Boden fühlte sich hart an, als wäre er gefroren. Morsch trat fest auf, dann bückte er sich und klopfte gegen die Erde. »Was ist hier los?« Es begann zu schneien. Morsch knöpfte seine Weste zu. »Wie lange sind wir gelaufen? Es kann doch nicht plötzlich Winter sein.«

»Die Sonne ist nur zweimal aufgegangen in deinem Tal.«

»Zwei Tage sind wir unterwegs? Warum habe ich so lange geschlafen?« Morschs Magen knurrte. Er holte ein Butterbrot aus seiner Tasche.

»Damit du nicht siehst, wohin wir wandeln«, knarzte Hainwart. »Die Wurzel des Waldes ist ein Geheimnis und so soll es bleiben.«

»Warum ist es hier so k-k-kalt?« Morschs Zähne klapperten.

»Das ist das Ende. Wir müssen zum Beginn, zur Wurzel, den Hügel hinauf«, knarzte Hainwart. »Komm, bald wird es wärmer.« Er stapfte weiter.

Hainwart hatte recht. Es dauerte nicht lange, dann schmolz der Schnee. Kristallklar tropfte er von den Ästen der Bäume, die mit jedem Schritt immer mehr rote, braune und gelbe Blätter trugen. An den Stämmen wuchsen Moose und aus dem Boden sprossen Pilze. Bald musste Morsch aufpassen, nicht die großen Pilzteppiche zu zertreten. »Wirklich seltsam. Jetzt wird es wieder Herbst. Winter, Herbst, als würde die Zeit rückwärtslaufen«, murmelte er. Überall lagen Kastanien und Nüsse, und in den Bäumen sprangen Eichhörnchen, die Morsch für einen Augenblick musterten.

Immer weiter stiegen die beiden bergauf. Morsch war froh, dass die winterliche Kälte angenehmeren Temperaturen gewichen war. Er knöpfte seine Weste auf und bald wurde es so warm, dass er sich den Schweiß von der Stirn wischen musste. Morsch krempelte seine Ärmel hoch. Es roch nach würzigem Harz, nach Sommerwald. Grillen zirpten, dicke Falter und Bienen brummten durch die Luft. Die Blätter der Bäume wurden jetzt immer grüner, und an den Ästen hingen Kirschen, Äpfel und Birnen. »Das ist ja wie ein schöner Sommertag in meinem Garten«, rief Morsch. »Wenn mich nicht alles täuscht, dürfte es bald Frühling werden?«

»Anfang aller Triebe, der Beginn«, knarzte Hainwart und stapfte immer weiter den Hügel hinauf.

Mit der Zeit wurde es wieder kühler. Die Früchte wichen bunten Blüten, die ihren frischen Duft verströmten und allmählich zu Knospen wurden. Die Vögel zwitscherten, als würden sie das neue Jahr begrüßen, und überall hingen Nester in den Bäumen. Am Boden blühten Buschwindröschen, Waldveilchen und Lerchensporn. Morsch krempelte seine Ärmel wieder herunter und versuchte Hainwart zu folgen. Aber das Unterholz wurde mit jedem Schritt dichter und dichter. Hainwart schritt mühelos hindurch, aber vor Morsch verschloss es sich sofort und zerrte an seiner Kleidung und Tasche, als wolle es ihn zurückhalten. Morsch hob schützend seine Arme vors Gesicht und schob sich mit ganzer Kraft voran. »Hainwart, warte! Ich …« Plötzlich ließ das Unterholz von Morsch ab und er fiel nach vorne in weiches blühendes Moos. Aber im nächsten Moment riss Hainwart ihn wieder hoch. »Schau, Morsch, die Wurzel des Waldes

Die Wurzel des Waldes

Auf der Hügelkuppe stand ein Baum mit einer mächtigen Krone, die in allen Farben blühte und viele verschiedene Nüsse und Früchte trug. Vögel nisteten in ihr. Käfer, Bienen und Schmetterlinge schwirrten zu den Blüten und von dort in alle Richtungen des umliegenden Waldes. Die Luft war erfüllt von Zwitschern, Trällern, Brummen und Summen. Moose und Pilze kletterten den Stamm hinauf, der breiter war als Morschs Haus und Garten. Sein Fuß bestand aus dickem Wurzelwerk, das sich hier hoch auftürmte und dort einfach in sich verflochten übereinanderlag. Dazwischen versteckten sich Ameisen, Schnecken und Würmer. Manche Wurzeln waren dicker als Morsch und sogar dicker als Hainwart. Der Baum bekrönte die gesamte Hügelkuppe. Es wirkte, als würden der Hügel und alles rundherum aus seinen Wurzeln wachsen. Morsch hielt sich an Hainwarts Armast fest. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

Hainwart stapfte möglichst nah an den Baum heran. Dann blieb er stehen, blickte Morsch an und knarzte: »Such dir einen Platz zum Wurzeln und nimm die Muschel fest in deine Äste.« Seine Astlochaugen schlossen sich und er erstarrte. Wie aus dem Nichts wuchsen ihm Knospen auf seiner Laubkrone, die im nächsten Moment zu leuchtend roten und goldgelben Blättern wurden.

»Hainwart! Sind wir hier sicher? Was ist, wenn uns die Wanderer gefolgt sind?«, rief Morsch, aber sein Freund regte sich nicht mehr. Morsch blickte sich um. »Die werden schon nicht hierher finden«, murmelte er. »Das ist ein geheimer Ort. Dann suche ich mir mal ein passendes Plätzchen.«

Die moosbedeckten Wurzeln waren angenehm warm. An einer Stelle bildeten sie eine einladend weiche Senke. Hier stellte Morsch seine Tasche ab, holte die Muschel heraus und machte es sich in einer Wurzelbeuge gemütlich. Bald kribbelte es an seinen Beinen. Ameisen, Tausendfüßler und Asseln krabbelten auf ihm herum, aber das störte ihn nicht. Er fühlte sich geborgen, wie in einem warmen Bett. Alle Sorgen waren wie fortgeblasen. Er schloss die Augen und hielt die Muschel ans Ohr. Da war es wieder, das sanfte Rauschen, Glucksen, das Plätschern, dann die warme Brise, der würzigsüßliche Duft und dann der Vogelgesang, Komm mit mir heim, lang gezogen und klagend. Morschs Atem wurde ganz ruhig. Schwer sank er in das weiche Moos und lauschte dem Gesang:

Nun ersticke ich am Gift,

das langsam in die Ader dringt,

und alles Leben niederringt …

Damit die Ader weiterfließt,

damit das Leben wieder sprießt …

Ich bitte dich, komm mit mir heim.

Ich kann es nicht, so ganz allein …

Morsch öffnete die Augen. Über ihm surrten und brummten die Insekten in der Krone des mächtigen Baumes. Er setzte sich auf, streifte vorsichtig die krabbelnden Tiere von sich und betrachtete die Muschel. Sie hatte ihm weitere Teile des Gesangs offenbart. »Aber wie kann man eine Muschel vergiften?«, dachte er. Oder ist es der Vogel, der am Gift erstickt? Die Muschel rief ihn. So viel war sicher. Er, Leopold Morsch, sollte sie nach Hause begleiten, um den Tod aufzuhalten. »Wie viel Zeit bleibt uns?«, murmelte er und hielt die Muschel wieder an sein Ohr. Aber mehr als die Worte, die er verstanden hatte, offenbarte die Muschel nicht. »Also gut, wenn du mich rufst, will ich dir helfen, versprochen«, sagte Morsch. »Du bist nicht allein. Nur, wohin soll ich mit dir kommen? Wo ist dein Heim?«

»Du konntest die Muschel also spüren?«, knarzte Hainwart.

Morsch sah auf. »Nicht alles«, sagte er nachdenklich. »Aber die Muschel oder der Vogel, der in ihr singt, sind in Gefahr, und wenn niemand etwas unternimmt, sind sie dem Tod geweiht.« Er atmete tief ein und fuhr dann fort: »Ich bin derjenige, der etwas unternehmen muss, Hainwart. Sie rufen mich. Ich muss sie nach Hause begleiten. Ich weiß nur nicht, in welche Richtung wir aufbrechen sollen?«

Knarrend stapfte Hainwart auf Morsch zu. »Ich habe die Pilze, Vögel und Schmetterlinge gefragt. Sie wissen nicht, was eine Muschel ist. Sie kann also nicht hier gewachsen sein. Ihre Heimat kennen nicht einmal die Vögel.«

»So etwas habe ich mir schon gedacht«, nickte Morsch. »Aber wer könnte etwas über Muscheln wissen?«

»Die Vögel zwitschern, dass dort, wo die Sonne am höchsten steht, hohe Steine liegen.« Hainwart streckte seinen Armast Richtung Süden. »In diesen Steinen leben Zweibeiner, die alles sammeln und ansehen. Vielleicht kennen die deine Muschel.«

»Hohe Steine?« Morsch stand auf und verpackte die Muschel sicher in seiner Tasche.

Hainwart nickte. »Komm mit, ich zeige es dir«, ächzte er und stieg über die Wurzeln um den Baum herum zur anderen Seite der Hügelkuppe. Zum Dank für ihre Hilfe verneigte sich Morsch tief vor der Wurzel des Waldes, hängte sich seine Tasche um und kletterte ihm nach.

Sie blickten über die Wipfel des weiten Laubmeeres hinweg. In der Ferne schimmerte vage ein blauer Gebirgszug. »Berge«, murmelte Morsch. »Du sprichst von Bergen?«

Hainwart brummte zustimmend.

»Dann lass uns aufbrechen. Wir haben noch Zeit, bis es dunkel wird. Auf zum Waldrand!«

»Da, wo fremde Erde liegt und keine Verwurzelten mehr stehen?« Der wandelnde Baum klang besorgt.

Morsch nickte. »Wenn wir zu den Bergen wollen, müssen wir den Wald verlassen.«

»Aber ich nicht«, knarzte Hainwart und schüttelte seine Krone. »Zum Waldrand, aber nicht weiter.«

»Zum Waldrand«, lächelte Morsch. »Dann sehen wir weiter.«

Salzfass

Diesmal durchschritten Morsch und Hainwart die Jahreszeiten in der richtigen Reihenfolge, erreichten den südlichen Fuß des Hügels und tauchten wieder in das düstere Zwielicht des Finsterforstes. Und diesmal schlief Morsch nicht ein. Hainwart versicherte ihm, dass der Wald Morsch traue.

Umgestürzte Bäume, riesige Farne und dichtes Unterholz zwangen Morsch zu klettern, zu kriechen und sich vorwärtszuschieben, so gut es ging. Nach einer Weile wurde es endlich leichter. Morsch klopfte sich die Äste und Blätter aus der Kleidung, zog einige Dornen aus ihr heraus und spazierte neben Hainwart her. Seit sie wieder tief in den Finsterforst eingedrungen waren, hatte Morsch kein Gefühl mehr für die Richtung. »Ist es noch weit bis zum Waldrand?«

»Ja«, brummte Hainwart.

Morsch wusste nicht, wie spät es war, aber sie mussten schon einige Zeit unterwegs sein, als sie plötzlich auf einen Weg stießen. Er hielt inne. »Wo führt der hin?«

»Zum Rand, wo die Sonne wächst«, knarzte Hainwart. »Wir müssen ihm ein Stück folgen. Da lang.«

Plötzlich vernahm Morsch Stimmen. »Hörst du das auch?«

Hainwart nickte. »Zweibeiner.«

»Wer mag das wohl sein?«, flüsterte Morsch.

»Die mit dem Feuer?«, ächzte der wandelnde Baum.

»Du meinst …« Morsch wurde blass. »Die Wanderer? Schnell, versteck dich!« Er sah sich um.

»Gut«, brummte Hainwart, machte einen Schritt an den Wegesrand, schloss die Astlochaugen und erstarrte augenblicklich.

Morsch wollte es ihm am liebsten gleichtun. Er spähte ins Dunkel des Waldes. Noch war niemand zu sehen. Was, wenn es die Wanderer waren? Konnte das sein? Sie waren doch lange vor ihm in den Wald und in eine ganz andere Richtung gegangen. Und wenn sie umgekehrt waren, wie er befürchtet hatte?

Die Stimmen kamen näher und konnten jeden Augenblick hier sein. Morsch musste sich verstecken. Schnell kroch er neben Hainwart zwischen einige hohe Farne. Dort kauerte er und versuchte, so leise wie möglich zu atmen.

Jetzt waren die Stimmen in unmittelbarer Nähe – eine tiefe, ruhige und eine höhere, etwas aufgebrachte, die gerade fragte: »Wo zum wild gewordenen Waldfrosch sollen …?«

»Laubfrosch«, unterbrach die ruhige Stimme. »Es gibt keinen Waldfrosch.«

»Was?«, entgegnete wieder die aufgebrachte, höhere Stimme. »Was soll der Unfug? Wald-, Wiesen- oder Wasauchimmerfrosch! Frösche sind mir doch egal. Ich frage mich nur, wo zum –«

»Aber dann sag doch nicht Waldfrosch, wenn es keinen gibt und dir Frösche sowieso egal sind. Sag doch Kuckuck.«

Zwischen den Bäumen tauchten zwei Kerle auf. Der eine, etwa so groß wie Morsch, trug eine zerschlissene Hose mit Hemd und Weste. Seinen dicken Bauch umspannte ein breiter roter Ledergürtel mit einer großen, silbernen Schnalle und einem langen Messer darin. Die Füße steckten bis über die Knie in schwarzen Stulpenstiefeln, und auf dem Kopf thronte ein Dreispitz mit einer Fasanenfeder. Er war verärgert und sein großer Schnurrbart hüpfte auf und ab, als er seinem Gefährten antwortete: »Du machst mich wahnsinnig mit deinen Ideen. Aber bitte, dann eben, wo zum Kuck…«

»Zum wild gewordenen«, unterbrach ihn der andere. Er war groß und hager, trug eine kurze, blau-weiß gestreifte Hose, Sandalen und einen schweren Mantel. Seine schartige Axt hatte er wie ein Holzfäller über die Schultern gelegt. Morsch fiel ein Stein vom Herzen. Es waren nicht die Wanderer.

»Bitte schön, der Herr!«, entgegnete der Kleinere. »Wo zum wild gewordenen Kuckuck sollen wir hier in diesem Wald einen freundlichen Wandersmann treffen, der mehr an seinem Leben als an seiner Börse hängt, ohne wieder Tag um Tag an der Kreuzung warten zu müssen?«

Morsch stockte der Atem: Räuber! Er musste tiefer ins Unterholz. Sie durften ihn auf keinen Fall entdecken. Ganz vorsichtig schob er sich rückwärts, weg von ihnen.

Der Größere strich sich seine langen blonden Haare aus der Stirn. Mit müdem Blick sah er seinen Gefährten an.

»Dachte ich’s mir doch«, fuhr der Kleinere fort und blickte in den Wald hinein, »dass du dazu keinen blassen Schimmer …

Aber hallo, wer kriecht denn dort durchs Dickicht? Kommt nur hervor, werter Freund! Selten trifft man in diesen Gefilden auf jemanden, der im Farn wandelt. Warum macht Ihr das?«

Morschs Herz schlug ihm bis zum Hals. Sie hatten ihn entdeckt! Am liebsten wäre er aufgesprungen und weggelaufen, aber die Räuber waren zu zweit und kannten sich hier bestimmt gut aus. Langsam stand er auf und trat aus dem Farn. »Ich bin Leopold Morsch und auf dem Weg zum Südrand des Waldes und weiter zum Gebirge. Vielleicht wissen die Herren zufällig, wie weit es noch ist, und wären so freundlich, mir dies kundzutun?«

»Kundzutun?«, fragte der Kleinere.

Morsch nickte.

»Ihr wollt also zum Waldrand und weiter zu den Blaubergen? Das trifft sich ja hervorragend, denn …« Der Kleinere machte eine kurze Pause, und sah seinen Gefährten an. Der Hagere nickte, und der Kleinere fuhr fort: »… denn ich bin Willem Mortensen Salzfass, reisender Händler zwischen Süd und Nord, Ost und West. Und das ist mein Hofverwalter Hauke.« Er machte eine Verbeugung. »Wie es sich trifft, kommen wir eben vom Rand des Finsterforstes, und wie mir just einfällt, müssten wir noch einmal umdrehen, da ich meine Tabakdose dort in einem … ähm … einem Gasthaus liegen gelassen habe. Ihr könntet uns also begleiten, wenn Ihr wollt, werter Herr Morsch. Oder darf ich Leopold sagen?« Er legte Morsch den Arm um die Schulter. »Nennt mich doch in aller Freundschaft Herr Salzfass.«

Morsch war angespannt. Er beobachtete jeden Schritt der beiden. Eine schöne Lügengeschichte, die sie ihm da aufschwatzen wollten. Höflich löste er sich aus der Umarmung und sagte: »So viel Glück zu haben, hatte ich gar nicht zu hoffen gewagt. Ihr seid also Händler? Nur, wo sind eure Waren?«

»Verkauft«, sagte Salzfass schnell. »Komm, Hauke, nimm dem guten Leopold die Tasche ab, damit er nicht zu schwer tragen muss!«

Morsch trat einen Schritt zurück und schüttelte den Kopf: »Nein, nein, habt Dank.« Er sah sich nach Hainwart um, der nach wie vor am Wegesrand wurzelte. Es schien, dass die beiden Kerle ihn überhaupt nicht sahen. »Die Tasche ist nicht schwer«, fuhr er fort. »Ohne euch beleidigen zu wollen, aber ich reise gerne allein. Sagt mir doch einfach, wie weit es noch ist.« Er lächelte, so gut er konnte, und machte einen weiteren Schritt rückwärts, näher zu Hainwart.

Hauke stutzte und wirkte unentschlossen. Salzfass kniff die Augen zusammen und sah Morsch prüfend an: »Nun, wenn Ihr meint. Wenn Ihr es vorzieht, alleine zu reisen, dann immer in diese Richtung.« Er zeigte den Weg entlang. »So zwei Tage, schätze ich.«

»Vielen Dank«, sagte Morsch.

»Gute Reise, Herr Morsch«, entgegnete Salzfass. Seine Stimme klang kalt und sein Blick war düster. »Komm, Hauke, lass uns weiterziehen.« Er tippte sich an seinen Dreispitz. Dann setzten die beiden ihren Weg fort und verschwanden zwischen den Bäumen.

Morsch war froh, dieses Treffen so glimpflich überstanden zu haben. Er klopfte gegen Hainwarts Stamm. »Sie sind weg. Lass uns weitergehen.«