Tim Flannery

mit Luigi Boitani

Europa

Die ersten 100 Millionen Jahre

Aus dem Englischen von Frank Lachmann

Insel Verlag

Für Colin Groves und Ken Aplin,
lebenslange Kollegen und Helden der Zoologie

Inhalt

Eine geologische Zeittafel

Einleitung

I
Der tropische Archipel. Von vor 100 Millionen bis vor 34 Millionen Jahren

Kapitel 1
Ziel: Europa

Kapitel 2
Haţegs erster Erforscher

Kapitel 3
Zwergenhafte, degenerierte Dinosaurier

Kapitel 4
Inseln an den Knotenpunkten der Welt

Kapitel 5
Ursprünge und Ureuropäer

Kapitel 6
Die Geburtshelferkröte

Kapitel 7
Die große Katastrophe

Kapitel 8
Eine postapokalyptische Welt

Kapitel 9
Neue Morgenröte, neue Invasionen

Kapitel 10
Messel – ein Fenster in die Vergangenheit

Kapitel 11
Das große europäische Korallenriff

Kapitel 12
Geschichten aus der Pariser Kanalisation

II
Ein Kontinent entsteht. Von vor 34 Millionen bis vor 2,6 Millionen Jahren

Kapitel 13
La Grande Coupure

Kapitel 14
Katzen, Vögel und Grottenolme

Kapitel 15
Das malerische Miozän

Kapitel 16
Ein miozänes Bestiarium

Kapitel 17
Europas exzeptionelle Affen

Kapitel 18
Die ersten aufrecht gehenden Affen

Eine Zusammenfassung der Evolution der Affen im Oligozän bis zum Miozän

Kapitel 19
Seen und Inseln

Kapitel 20
Die Messinische Salinitätskrise

Kapitel 21
Das Pliozän – die Zeit des Laokoons

III
Das Eiszeitalter. Von vor 2,6 Millionen bis vor 38 000 Jahren

Kapitel 22
Das Pleistozän – Tor zur modernen Welt

Kapitel 23
Hybride – Europa, die Mutter der métissage

Kapitel 24
Die Rückkehr der aufrecht gehenden Affen

Kapitel 25
Neandertaler

Kapitel 26
Bastarde

Kapitel 27
Die kulturelle Revolution

Kapitel 28
Von Gemeinschaften und Elefanten

Kapitel 29
Weitere gemäßigte Riesen

Kapitel 30
Eisbestien

Kapitel 31
Was die Alten malten

IV
Das Europa des Menschen. Von vor 38 000 Jahren bis in die Zukunft

Kapitel 32
Das Gleichgewicht kippt

Aussterbedaten der europäischen Megafauna

Kapitel 33
Die Domestizierer

Kapitel 34
Vom Pferd bis zum Scheitern der Römer

Kapitel 35
Die Inseln leeren

Kapitel 36
Die Ruhe und der Sturm

Kapitel 37
Überlebende

Kapitel 38
Europas globale Expansion

Menschliche Zu- und Abwanderung nach und aus Europa

Kapitel 39
Neue Europäer

Kapitel 40
Tiere des Imperiums

Kapitel 41
Europas Bewolfung

Kapitel 42
Europas stummer Frühling

Kapitel 43
Ein neues Zuhause

Kapitel 44
Die Riesen wiederbeleben

Envoi

Dank

Bildnachweise

Tafelteil

Register

Anmerkungen

Eine geologische Zeittafel

Zeitabschnitte

Wichtige Fossillagerstätten

Vor … Jahren

Kreide

Haţeg

66 Millionen

Paläozän

Hainin

56 Millionen

Eozän

Messel

Monte Bolca

34 Millionen

Oligozän

23 Millionen

Miozän

Fußspuren auf Kreta

Ungarische Eisenmine

5,3 Millionen

Pliozän

2,6 Millionen

Pleistozän

Dmanissi

11 764

Holozän

Einleitung

Naturgeschichten umfassen sowohl die natürlichen als auch die menschlichen Welten. Diese hier möchte drei große Fragen beantworten: Wie ist Europa entstanden? Wie wurde seine außergewöhnliche Geschichte erforscht? Und warum wurde Europa in der Welt so wichtig? Denjenigen, die wie ich nach Antworten suchen, kommt der Umstand zugute, dass Europa eine Unmenge von Knochen besitzt – Schicht um Schicht, begraben in Gestein und Sedimenten, die bis auf die Anfänge der Wirbeltiere zurückdatieren. Die Europäer haben zudem einen außerordentlich reichhaltigen Schatz an naturkundlichen Beobachtungen hervorgebracht, angefangen bei den Werken Herodots und Plinius’ bis hin zu denen der englischen Naturforscher Robert Plot und Gilbert White. Außerdem ist Europa derjenige Ort, an dem die Untersuchung der tiefen Vergangenheit begonnen hat. Die erste geologische Karte, die ersten paläobiologischen Studien und die ersten Dinosaurierrekonstruktionen wurden allesamt dort angefertigt. Und in den letzten Jahren hat eine von einflussreichen neuen DNA-Untersuchungen befeuerte Revolution der Forschung im Zusammenspiel mit erstaunlichen Entdeckungen in der Paläontologie eine grundlegende Neuinterpretation der Geschichte des Kontinents möglich gemacht.

Diese Geschichte beginnt vor ungefähr 100 Millionen Jahren, und zwar mit dem Augenblick der Zeugung Europas – also dann, als die ersten spezifisch europäischen Organismen entstanden sind. Die Erdkruste setzt sich aus tektonischen Platten zusammen, die sich unmerklich langsam über den Globus bewegen und auf denen die Kontinente aufsitzen. Die meisten Kontinente haben sich im Zuge des Zerfalls von Superkontinenten geformt. Europa aber fing als ein Archipel an, dessen Zeugung das geologische Zusammenwirken dreier kontinentaler »Eltern« umfasste – Asien, Nordamerika und Afrika. Diese machen zusammengenommen ungefähr zwei Drittel der Landfläche der Erde aus, und da Europa als eine Brücke zwischen diesen Landmassen fungierte, war es der wichtigste Ort des Austauschs in der Geschichte unseres Planeten.1

Europa ist ein Ort, an dem die Evolution schnell voranschreitet – ein Ort an der vordersten Front des globalen Wandels. Doch schon inmitten des tiefsten Dinosaurierzeitalters hatte es ein paar Besonderheiten, die die Evolution seiner Bewohner geprägt haben. Einige dieser Besonderheiten wirken bis heute fort. Tatsächlich resultieren sogar einige der aktuellen Dilemmata der Menschen in Europa aus diesen Eigentümlichkeiten.

Europa zu definieren ist ein heikles Unterfangen. Seine Vielfalt, seine Evolutionsgeschichte und seine sich wandelnden Grenzen machen es nahezu proteisch. Doch paradoxerweise ist es trotzdem immer sofort wiederzuerkennen, mit seinen ganz eigenen Kulturlandschaften, seinen ehemals riesigen Wäldern, den Mittelmeerküsten und dem Antlitz der Alpen – wir alle erkennen Europa, wenn wir es sehen. Und die Europäer selbst, mit ihren Schlössern, Städten und ihrer unverwechselbaren Musik, erkennt man ebenso schnell. Es ist zudem wichtig zu bedenken, dass die Europäer durch die antiken Welten Griechenlands und Roms miteinander vereint sind. Selbst diejenigen unter ihnen, deren Vorfahren nie Anteil an dieser klassischen Welt hatten, beanspruchen sie als die ihre und suchen in ihr nach Erkenntnis und Inspiration.

Was also ist Europa, und was bedeutet es, Europäer zu sein? Das Europa der Gegenwart ist kein Kontinent im eigentlichen geografischen Sinne.2 Vielmehr ist es ein Anhängsel – eine von Inseln umgebene Halbinsel, die vom westlichen Rand Eurasiens aus in den Atlantik ragt. In einer Naturgeschichte definiert man Europa am besten über die Geschichte seines Gesteins. Aus dieser Perspektive betrachtet, erstreckt es sich von Irland im Westen bis zum Kaukasus im Osten und von Spitzbergen im Norden bis Gibraltar und Syrien im Süden. Nach dieser Definition ist die Türkei ein Teil Europas, Israel aber nicht: Das Gestein der Türkei hat eine gemeinsame Geschichte mit dem Rest Europas, während das Israels seinen Ursprung in Afrika hat.

Ich bin kein Europäer – jedenfalls nicht in einem politischen Sinne. Ich wurde in den Antipoden geboren, wie die Europäer Australien einmal genannt haben – in Europas Gegenüber. Physisch aber bin ich so europäisch wie die Queen (die übrigens in ethnischer Hinsicht deutsch ist). Als Kind wurde mir die Geschichte der Kriege und Monarchen Europas eingetrichtert, während ich über die Bäume und Landschaften Australiens so gut wie nichts erfahren habe. Vielleicht hat dieser Umstand meine Neugier geweckt. Meine Suche nach Europa war jedenfalls schon längst im Gange, ehe ich überhaupt jemals einen Fuß auf europäischen Boden gesetzt hatte.

Als ich 1983 als Student zum ersten Mal nach Europa reiste, war ich ganz aufregt und mir sicher, bald den Mittelpunkt der Welt zu betreten. Doch als wir im Anflug auf Heathrow waren, machte der Pilot unserer British-Airways-Maschine eine Durchsage, die ich nie vergessen werde: »Wir nähern uns jetzt einer ziemlich kleinen nebligen Insel in der Nordsee.« Nie zuvor in meinem Leben hatte ich mir Großbritannien auf diese Weise vorgestellt. Als wir gelandet waren, war ich erstaunt über die milde Luft. Selbst der Geruch des Windes schien beruhigend zu sein, da ihm jener bestimmte Hauch von Eukalyptus fehlte, der mir kaum jemals aufgefallen war, bis er eben nicht mehr da war. Und die Sonne. Wo war die Sonne? Was ihre Stärke und Strahlkraft anging, ähnelte sie eher einem australischen Mond als jenem großen Feuerball, der meine Heimat versengte.

Die Natur Europas konnte noch mit weiteren Überraschungen aufwarten. Ich war erstaunt über die gewaltige Größe seiner Ringeltauben und das Ausmaß des Wildbestands in den Randgebieten des städtischen Englands. Die Vegetation in dieser feuchten und milden Luft war so zart und grün, dass ihre brillante Färbung mir fast unwirklich erschien. Sie wies nur wenige Dornen oder harte Zweige auf – ganz anders als das staubige und kratzige Buschland zu Hause. Nachdem ich einige Tage in den nebligen Himmel geblickt und weich auslaufende Horizonte betrachtet hatte, fühlte ich mich wie in Watte gepackt.

Diesen ersten Besuch unternahm ich, um die Sammlungen des Naturhistorischen Museums in London zu studieren. Kurz darauf wurde ich Kurator für die Säugetierausstellung im Australischen Museum in Sydney, wo man von mir erwartete, dass ich umfassende Expertise in Mammalogie erwarb. Als mich dann Redmond O’Hanlon, der Redakteur für Naturgeschichte bei der Times Literary Supplement, darum bat, ein Buch über die Säugetiere Großbritanniens zu besprechen, willigte ich daher auch mit einigem Zögern ein, diese Herausforderung anzunehmen. Das Werk verwunderte mich, denn es vergaß, jene beiden Spezies – Kühe und Menschen – zu erwähnen, die über eine lange Tradition auf der Insel verfügten und die ich dort in Hülle und Fülle zu Gesicht bekommen hatte.

Nachdem er meine Rezension erhalten hatte, lud Redmond mich in sein Haus in Oxfordshire ein. Ich befürchtete, das sei seine Art, mir mitzuteilen, dass meine Arbeit nicht den Anforderungen entsprach; doch wurde ich im Gegenteil sehr herzlich empfangen, und wir redeten mit großer Begeisterung über Naturgeschichte. Am späten Abend, nach einem ausgiebigen Essen, zu dem es viele Gläser Bordeaux gab, lotste er mich auf konspirative Weise in den Garten, wo er auf einen Teich deutete. Während Redmond mir zur verstehen gab, dass ich mich ruhig verhalten sollte, schlichen wir uns an den Rand. Dort reichte er mir eine Fackel, und inmitten der Wasserpflanzen erspähte ich eine blasse Gestalt.

Ein Molch! Und mein erster. Wie Redmond nämlich wusste, gab es in Australien keine geschwänzten Amphibien. Ich war ebenso von Ehrfurcht ergriffen wie P. G. Wodehouse’ wundervolle Schöpfung in den Jeeves-Romanen, nämlich der fischgesichtige Gussie Fink-Nottle, der »sich auf dem Land vergraben [hat], und seither beschäftigte er sich nur noch mit Molchen, die er in Glasbehältern züchtete und tagein, tagaus hingebungsvoll beobachtete«.3 Molche sind so dermaßen primitive Kreaturen, dass sie zu beobachten wie ein Blick in die Zeit selbst ist.

Von dem Augenblick, als ich meinen ersten Molch zu Gesicht bekam, bis zur Entdeckung der Ursprünge der Europäer selbst war meine 30 Jahre währende Forschungsreise in die europäische Naturgeschichte voller Erkenntnisse. Was mich als Bewohner der Heimat des Schnabeltiers vielleicht am meisten überrascht hat, war die Tatsache, dass es in Europa ebenso alte wie primitive Geschöpfe gibt, die trotz ihrer Vertrautheit unterschätzt werden. Eine weitere für mich erstaunliche Entdeckung war die Summe der global bedeutsamen Ökosysteme und Arten, die aus Europa hervorgegangen sind und sich aber längst von diesem Kontinent verabschiedet haben. Wer hätte gedacht, dass die urzeitlichen europäischen Meere eine wichtige Rolle in der Evolution der modernen Korallenriffe gespielt haben? Oder dass sich unsere ersten aufrecht gehenden Urahnen in Europa und nicht in Afrika entwickelt haben? Und wer würde vermuten, dass viel von der eiszeitlichen Megafauna Europas fortlebt, in abgelegenen, verwunschenen Wäldern und Ebenen, verborgen wie die Elfen und Feen aus der Volkssage, oder in Form von Genen, die auf ewig im Permafrost schlummern?

So vieles von dem, was unsere moderne Welt geprägt hat, hat seinen Anfang in Europa genommen: die Griechen und die Römer, die Aufklärung, die industrielle Revolution und die Imperien, die den Planeten im 19. Jahrhundert unter sich aufgeteilt haben. Und auch heute noch regiert Europa in so vielen Hinsichten die Welt, vom demografischen Übergang über die Erschaffung neuer Politikformen bis hin zur Wiederbelebung der Natur. Wer weiß denn schon, dass es in Europa mit seinen fast 750 Millionen Einwohnern mehr Wölfe gibt als in den USA, inklusive Alaska?

Am erstaunlichsten aber dürfte sein, dass einige der für den Kontinent typischsten Arten, darunter seine größten wilden Säugetiere, Hybride sind. Denjenigen, die in Begriffen von »Reinblütern« und »Mischlingen« zu denken gewohnt sind, erscheinen Hybride oft als Irrtümer der Natur – als Gefahr für die genetische Reinheit. Neue Studien haben allerdings gezeigt, dass Hybridisierung für den evolutionären Erfolg von essenzieller Bedeutung ist. Vom Elefanten bis zur Zwiebel hat Hybridisierung die Weitergabe günstiger Gene ermöglicht, die es Organismen erlauben, in neuen und schwierigen Umgebungen zu überleben.

Einige Hybride weisen eine Vitalität und Tüchtigkeit auf, die bei keinem ihrer Elternteile vorzufinden ist, und einige Bastardarten (wie Hybride manchmal genannt werden) haben noch lange über das Aussterben ihrer Elternspezies hinaus überdauert. Die Europäer selbst sind Hybride, entstanden vor ungefähr 38 000 Jahren, als dunkelhäutige Menschen aus Afrika sich mit den hellhäutigen und blauäugigen Neandertalern zu vermischen begannen. Praktisch genau in dem Moment, in dem diese ersten Hybriden auftauchen, entsteht eine dynamische Kultur in Europa, zu deren Errungenschaften die erste bildende Kunst, die ältesten Menschenfiguren, die ersten Musikinstrumente sowie die früheste Domestizierung von Haustieren gehören. Allem Anschein nach waren die ersten Europäer sehr spezielle Bastarde. Lange davor war der europäische Artenreichtum allerdings dreimal durch Himmelskörper und tektonische Kräfte vernichtet worden.

Machen wir uns also daran, diesen Ort zu entdecken, der die Welt so sehr geprägt hat. Dafür werden wir auf diverse europäische Neuerungen zurückgreifen müssen – auf James Huttons Entdeckung der geologischen Zeitskala, auf Charles Lyells Grundprinzipien der Geologie, auf Charles Darwins Erläuterung des Prozesses der Evolution und auf H. G. Wells’ großartige imaginäre Erfindung, die Zeitmaschine. Bereiten Sie sich darauf vor, zu jenem Zeitpunkt in der Vergangenheit zurückzukehren, an dem Europa seine ersten zaghaften Eigenheiten zu entwickeln begann.

I

Der tropische Archipel

Von vor 100 Millionen bis vor 34 Millionen Jahren

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Kapitel 1

Ziel: Europa

Wenn man eine Zeitmaschine steuert, muss man zwei Koordinaten festlegen: Zeit und Raum. Einige Teile Europas sind unvorstellbar alt, deshalb gibt es hier viele Möglichkeiten. Das Gestein des Baltischen Schildes ist über drei Milliarden Jahre alt und gehört damit zum ältesten der Welt. Das Leben bestand damals aus einfachen einzelligen Organismen, und in der Atmosphäre war noch kein freier Sauerstoff vorhanden. Zweieinhalb Milliarden Jahre später sind wir inmitten einer Welt mit komplexen Lebensformen, doch die Erdoberfläche liegt nach wie vor brach. Vor ungefähr 300 Millionen Jahren ist das Land dann zwar von Pflanzen und Tieren besiedelt, aber noch hat sich keiner der Kontinente aus der großen Landmasse namens Pangaea herausgelöst. Und auch noch nachdem Pangaea auseinandergebrochen war und fortan den südlichen Superkontinent Gondwana und sein nördliches Gegenstück Eurasien bildete, musste Europa erst noch zu einer selbständigen Entität werden. Tatsächlich entsteht eine zoogeografische Region Europa erst vor ungefähr 100 Millionen Jahren, in der letzten Phase des Zeitalters der Dinosaurier (der Kreidezeit).

Vor 100 Millionen Jahren war der Meeresspiegel viel höher als heute, und ein großer Ozean, bekannt als die Tethys (die entstand, als sich die Superkontinente Eurasien und Gondwana voneinander abspalteten), erstreckte sich von Europa bis nach Australien. Ein Seitenarm des Tethysmeers, die sogenannte Turgai-Straße, war eine wichtige zoogeografische Barriere, die Asien von Europa abschnitt. Der Atlantische Ozean war dort, wo es ihn überhaupt schon gab, nur sehr schmal. Im Norden wurde er von einer Landbrücke begrenzt, die Nordamerika und Grönland mit Europa verband. Diese Verbindung, die De-Geer-Landbrücke genannt wird, führte dicht am Nordpol vorbei, so dass die Kälte und die saisonale Dunkelheit die Anzahl der Arten begrenzte, die sie überqueren konnten. Im Süden war die Tethys von Afrika begrenzt, und ein Flachmeer bedeckte einen Großteil der heutigen Zentralsahara. Die geologischen Kräfte, die Arabien allmählich vom Ostrand Afrikas abspalten und den Großen Afrikanischen Grabenbruch hervorrufen sollten (wodurch sich der afrikanische Kontinent verbreitert hat), fingen gerade erst an, ihr Werk zu verrichten.

Der europäische Archipel von vor 100 Millionen Jahren befand sich ungefähr dort, wo heute Europa ist – östlich von Grönland, westlich von Asien und im Zentrum einer Region zwischen dem 30. und dem 50. Breitengrad nördlich des Äquators. Der naheliegendste Zielort für unsere Zeitmaschine wäre die Insel Baltica (die heute Teil des Ostseeraums ist). Als bei Weitem größte und älteste Insel des europäischen Archipels muss Baltica die urzeitliche Fauna und Flora Europas entscheidend geprägt haben. Doch bedauerlicherweise ist in der ganzen Landmasse niemals auch nur ein einziges Fossil aus der späten Phase des Dinosaurierzeitalters gefunden worden, so dass alles, was wir über das Leben auf Baltica wissen, von ein paar wenigen Überresten von Pflanzen und Tieren herrührt, die ins Meer gespült und dort in jenem Meeressediment überdauert haben, das jetzt in Schweden und im südwestlichen Russland an die Oberfläche tritt. Es wäre sinnlos, unsere Zeitmaschine in diese gespenstische Leere zu lenken.1

Wichtig zu wissen ist allerdings, dass gähnende Leerstellen in der Paläontologie der Regelfall sind. Um deren fundamentalen Einfluss zu erläutern, muss ich Signor-Lipps vorstellen – wobei es sich nicht um einen redseligen Italiener, sondern um zwei fachkundige Professoren handelt. Die US-Amerikaner Philip Signor und Jere Lipps taten sich 1982 zusammen, um einen bedeutenden Grundsatz der Paläontologie zu formulieren: »Da der Fossilbericht niemals vollständig ist, wird weder der erste noch der letzte Organismus in einem gegebenen Taxon als Fossil verzeichnet.«2 So wie die Alten den Mantel des Anstands über den entscheidenden Moment in der Geschichte von Europa und dem Stier legten, so hat, wie uns Signor-Lipps mitteilen, auch die Geologie den Augenblick der zoogeografischen Empfängnis Europas verschleiert – was für uns bedeutet, dass wir die Wählscheibe unserer Zeitmaschine auf einen Zeitpunkt zwischen 86 und 65 Millionen Jahren in der Vergangenheit einstellen müssen, als eine ausgesprochen vielfältige Reihe von Fossillagerstätten die Belege für ein vor Kraft strotzendes frühes Europa in sich aufgenommen haben. Diese Lagerstätten bildeten sich auf der Inselkette Modac, die sich südlich von Baltica erstreckte. Modac war lange in eine Region eingebettet, die Teile von fast einem Dutzend osteuropäischer Länder umfasst – von Mazedonien im Westen bis zur Ukraine im Osten. Zu Zeiten des Römischen Reichs befand sich diese große Fläche Land in den beiden weitläufigen Provinzen Mösien (moesia) und Dakien (dacia), von denen sich ihr Name ableitet.

Zum Zeitpunkt unserer Ankunft werden große Teile Modacs gerade von den ersten Regungen jener tektonischen Kräfte, die später die europäischen Alpen formen sollten, über die Wellen des Ozeans geschoben, während andere unter das Meer rutschen. Inmitten dieses Mahlstroms tektonischer Aktivität liegt die Insel Haţeg, ein Ort umgeben von unterseeischen Vulkanen, die periodisch die Erdoberfläche durchstoßen und Asche über das Land speien. Zum Zeitpunkt unseres Besuchs hat diese Insel bereits Millionen Jahre überdauert, wodurch dort eine einzigartige Fauna und Flora entstanden ist. Haţeg mit seinen ungefähr 80 000 Quadratkilometern, was in etwa der Größe der Karibikinsel Hispaniola entspricht, ist isoliert, liegt 27 Breitengrade nördlich des Äquators und ist von seinem nächsten Nachbarn, Bomas (der Böhmischen Masse), durch ungefähr 200 bis 300 Kilometer Tiefsee getrennt. Heute ist Haţeg ein Teil des in Rumänien gelegenen Transsilvaniens, und die dortigen Fossilienfunde zählen europaweit zu den umfangreichsten und vielfältigsten aus der letzten Phase des Dinosaurierzeitalters.

Öffnen wir nun die Tür unserer Zeitmaschine und betreten wir Haţeg, das Land der Drachen. Wir sind dort am Ende eines goldenen Herbstes angekommen. Die Sonne scheint zwar kräftig, steht in diesen Breiten allerdings ziemlich tief. Die Luft ist tropisch warm, und der feine weiße Sand eines hellen Strandes knirscht unter unseren Füßen. Die Vegetation in unserer Nähe ist eine Mischung aus niedrigen blühenden Sträuchern, während anderenorts Palmen- und Farnhaine von Ginkgo-Bäumen überragt werden, deren üppiges goldenes Laub bereits so reif ist, dass es von den ersten Windböen des nahenden milden Winters fortgeweht werden wird.3 Die großen, ausgewaschenen Flusstäler, die ihren Ursprung in den sich in der Ferne auftürmenden Gebirgen haben, weisen uns zudem darauf hin, dass es hier zumeist nur in bestimmten Jahreszeiten regnet.

Von einem trockenen Gebirgskamm aus erspähen wir Urwaldriesen, die den Zedern im Libanon ähneln. Diese Bäume aus der mittlerweile ausgestorbenen Gattung Cunninghamites sind tatsächlich Vertreter einer schon längst verschwundenen Zypressenart. In größerer Nähe zu uns liegt ein von Farnen umsäumtes Wasserloch, das mit Wasserlilien prangt und von Bäumen umgeben ist, die der bekannten Ahornblättrigen Platane (aus der Gattung Platanus) auffallend ähnlich sehen. Wasserlilien und Platanen sind Überlebende aus der Urzeit, und in Europa hat sich eine erstaunliche Anzahl solcher »pflanzlichen Dinosaurier« erhalten.4

Unser Blick wird nun vom Land auf das azurne Meer gelenkt, wo der Strand bedeckt ist mit etwas, was zunächst wie schillernde Lkw-Reifen aussieht, komplett mit Wellenprofil. Mit einer eigenartigen Schönheit erstrahlen sie in der tropischen Sonne. Irgendwo weit draußen auf dem Meer hat ein Sturm einen Schwarm Ammoniten getötet – meeresschneckenartige Geschöpfe aus der Teilgruppe der Kopffüßer, deren Gehäuse bis zu einem Meter Durchmesser aufweisen können –, und Wellen, Wind und Strömung haben ihre Schalen an Haţegs Küste getrieben.

Während wir über den glitzernden Sand wandern, bemerken wir einen Gestank. Vor uns liegt ein großer, mit Muscheln überzogener Klumpen, den die ablaufende Flut an Land gespült hat. Es ist ein Ungeheuer, ganz anders als alles, was heute lebt – ein Plesiosaurier. Die vier Flossen, die es einst kraftvoll fortbewegt haben, liegen jetzt flach und bewegungslos auf dem Sand. Aus dem fassartigen Körper ragt ein übermäßig langer Hals heraus, an dessen Ende sich ein winziger Kopf befindet, der immer noch in den Wellen baumelt.

Drei gigantische, vampirartige Gestalten mit ledriger Außenhaut, jede so groß wie eine Giraffe, watscheln aus dem Wald heraus. Das Trio, bösartig anmutend und enorm muskulös, umringt den Kadaver, den der größte der drei mit seinem drei Meter langen Schnabel mühelos enthauptet. Die Aasfresser umkreisen den toten Körper und verspeisen ihn mit wilden Hieben. Ernüchtert von diesem Schauspiel kehren wir in das sichere Innere unserer Zeitmaschine zurück.

Was wir gesehen haben, lässt uns erahnen, was für ein seltsamer Ort Haţeg ist. Die vampirartigen Ungetüme sind eine Art Flugsaurier, die unter der Bezeichnung Hatzegopteryx bekannt ist. Diese – und nicht irgendein mit vielen scharfen Zähnen bewaffneter Dinosaurier – waren die mächtigsten Raubtiere auf der Insel. Wären wir weiter ins Inland vorgedrungen, hätten wir möglicherweise ihre übliche Beute angetroffen – eine Reihe von Zwergsauriern. Haţeg war in doppelter Hinsicht ein seltsamer Ort: Seltsam für uns, weil er einer Zeit angehört, in der die Dinosaurier die Erde beherrschten, seltsam aber auch für das Dinosaurierzeitalter selbst, denn die Insel ist – wie der Rest des europäischen Archipels auch – eine isolierte Landfläche mit einer höchst ungewöhnlichen Ökologie und Fauna.