Meghan Cox Gurdon

Die verzauberte Stunde

Warum Vorlesen glücklich macht

Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Sievers

Insel Verlag

Verwendete Literatur

Janet und Allan Ahlberg, Kuckuck!, Verse von Josef Guggenmos, Hamburg 1983.

Joan Aiken, Wölfe ums Schloss, deutsch von Ilse Lauterbach, München 2017.

Augustinus, Bekenntnisse, VI, 3, zitiert nach: Matthias Bickenbach, Von den Möglichkeiten einer ›inneren‹ Geschichte des Lesens, Tübingen 1999.

Bruno Bettelheim, Kinder brauchen Märchen, deutsch von Lieselotte Mickel und Brigitte Weitbrecht, München 1993.

Die Bibel, Lutherübersetzung, Stuttgart 2017.

Margaret Wise Brown, Gute Nacht, lieber Mond, deutsch von Patrick Süskind, Zürich 2016.

Jean de Brunhoff, Die Geschichte von Babar, dem kleinen Elefanten, deutsch von Carolin Wiedemeyer, Köln 2016.

Lewis Carroll, Alice im Wunderland, deutsch von Christian Enzensberger, Frankfurt a. M. 2016.

Lewis Carroll, Alice hinter den Spiegeln, deutsch von Christian Enzensberger, Frankfurt a. M. 2016.

Samuel Taylor Coleridge, »Kublai Khan«, zitiert nach www.sonett-archiv.com (ohne Übersetzernennung).

Roald Dahl, Boy, deutsch von Adam Quidam, Reinbek 2004.

Roald Dahl, James und der Riesenpfirsich, deutsch von Inge M. Artl, Reinbek 1987.

»Ann Droyd«, Stecker raus und aus die Maus, deutsch von Nadia Budde, München 2012.

Albert Einstein, Rede für Max Planck, zitiert nach: Alexander Moszkowski, Einstein – Einblicke in seine Gedankenwelt (1922) in Projekt Gutenberg.

Chen Guangcheng, Der barfüßige Anwalt, deutsch von Stephan Gebauer, Reinbek 2015.

Russell Hoban, Kleine Schwester für Fränzi, deutsch von Martin Beheim-Schwarzbach, Reinbek 1972.

Homer, Ilias, 6. Gesang, deutsch von Raoul Schrott, Frankfurt a. M. 2010.

Homer, Odyssee, in: Werke in zwei Bänden, Bd. 2, deutsch von Dietrich Ebener, Berlin und Weimar 1971.

Zora Neale Hurston, Ich mag mich, wenn ich lache, deutsch von Barbara Henninges, Zürich 2000.

Astrid Lindgren, Pippi Langstrumpf geht an Bord, deutsch von Cäcilie Heinig, Hamburg 2019.

Alberto Manguel, Eine Geschichte des Lesens, deutsch von Chris Hirte, Berlin 1998.

Adam Mansbach, Verdammte Scheiße, schlaf ein!, deutsch von Jo Lendle, Köln 2011.

John Stuart Mill, Über die Freiheit, deutsch von Else Wentscher, Leipzig und Weimar 1991.

A. A. Milne, Pu der Bär. Gesamtausgabe, deutsch von Harry Rowohlt, Hamburg 2009.

Vladimir Nabokov, Die Kunst des Lesens, deutsch von Karl A. Klewer, Frankfurt a. M. 2010.

Daniel Pennac, Wie ein Roman, deutsch von Uli Aumüller, Köln 1994.

Charles Perrault, Erzählungen meiner Mutter Gans, zitiert nach www.maerchenlexikon.de / texte / te333-002.htm (ohne Übersetzernennung).

Salman Rushdie, Harun und das Meer der Geschichten, deutsch von Gisela Stege, München 2014.

Antoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz, deutsch von Elena Fischer, zweisprachige eBook-Originalausgabe 2015.

Robert Louis Stevenson, Die Schatzinsel, neu übersetzt von Andreas Nohl, München 2015.

Bram Stoker, Dracula, neu übersetzt von Andreas Nohl, München 2014.

J. R. R. Tolkien, Der Herr der Ringe, deutsch von Margaret Carroux und E. M. von Freymann, Stuttgart 2014.

Laura Ingalls Wilder, Unsere kleine Farm. Laura und der lange Winter, deutsch von Emmy Gutschale, Berlin 2017.

Maryanne Wolf, Das lesende Gehirn: Wie der Mensch zum Lesen kam – und was es in unseren Köpfen bewirkt, deutsch von Martina Wiese, Wiesbaden 2010.

Virginia Woolf, Augenblicke des Daseins. Autobiografische Skizzen, Neuübersetzung von Brigitte Walitzek, Frankfurt a. M. 2012.

Für Hugo und den Chogen

Die Seele steckt in der menschlichen Stimme.

– Jorge Luis Borges

Die Liebe liegt nicht einfach herum wie ein Stein. Wir müssen sie herstellen wie Brot: wieder und wieder herstellen und erneuern.

– Ursula K. Le Guin

Anmerkung der Autorin

Die Idee zu diesem Buch entstand nach einem Artikel, den ich im Sommer 2015 im Wall Street Journal veröffentlicht habe: »The Great Gift of Reading Aloud«, »Das große Geschenk des Vorlesens«. Der Artikel wiederum war das Ergebnis aus zwanzig Jahren abendlichen Vorlesens für meine Kinder und zwölf Jahren Arbeit als Kinderbuchkritikerin für das Wall Street Journal. Einige Zeilen daraus sowie aus anderen Beiträgen für die Zeitung sind auch in dieses Buch eingeflossen, außerdem Auszüge aus humorigen Familiensketchen, die ich Anfang der Nullerjahre geschrieben habe.

Meine Quellen können Sie in den Anmerkungen am Ende des Buches nachlesen, und in der Danksagung nenne ich all die Menschen, die mir großzügigerweise ihre Zeit und ihr Fachwissen zur Verfügung gestellt haben. Etwaige Fehler oder Fehldeutungen habe ich verschuldet, nicht sie. Die Personen, von denen ich in diesem Buch erzähle, sind real, und ich habe so wortgetreu wie möglich aufgezeichnet, was sie zu mir gesagt haben (wobei ich um der Klarheit des Gedankens willen manchmal etwas ausgelassen oder umformuliert habe). Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich allerdings viele Namen geändert. Die Dialoge sind so genau wiedergegeben, wie es mir mein Gedächtnis, meine digitalen Aufnahmen und Notizen während der Gespräche erlauben. Der Einfachheit halber benutze ich das Wort Eltern für alle Erwachsenen, die einem Kind vorlesen, und vertraue darauf, dass alle Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, Brüder, Schwestern, Lehrer, Babysitter und freundlichen Nachbarn, die ebenfalls Kindern vorlesen, wissen, dass sie mitgemeint sind.

Wenn ein Buch eigene Erinnerungen und das persönliche Engagement mit Wissenschaft, Geschichte, Kunst und Literatur anreichert – wie in diesem Fall –, können natürlich nicht alle Ideen, Denker und Ereignisse zum Thema genannt und umjubelt werden. Möge mir der Leser diese Auslassungen verzeihen. Gleiches gilt für die Bücher, über die ich hier spreche, vor allem für die angehängte Liste mit Lektürevorschlägen [für die deutsche Ausgabe wurden die Vorschläge angepasst]. Dieses Buch ist kein distanzierter und unparteiischer, geschweige denn vollständiger Leitfaden für die »richtigen« Vorlesebücher, sondern nennt meine persönlichen Lieblingsbücher und die meiner Kinder. Anderen Familien gefallen andere Bücher. Warum auch nicht? Wir leben nicht auf Camazotz, dem dunklen Planeten aus Der Riss im Raum, auf dem alle immer dasselbe tun müssen. Wir können lesen, was uns reizt, und auslassen, was uns nicht interessiert. Genau so sollte es sein. Denn das Wichtigste ist, dass wir lesen – oder besser gesagt: vorlesen.

Einleitung

Die Zeit, die wir mit Vorlesen verbringen, ist eine ganz besondere Zeit. Es geht eine wundersame Alchemie vor sich, wenn ein Mensch einem anderen Menschen vorliest, sie verwandelt gewöhnliche Alltagsdinge – ein Buch, eine Stimme, ein Sofa, ein bisschen Zeit – in einen berückenden Treibstoff für Herz, Geist und Fantasie.

»Wenn uns jemand, den wir lieben, etwas vorliest, dann legen wir unseren Schutzpanzer ab«, sagte die Autorin Kate DiCamillo einmal zu mir. »Wir schließen ein Bündnis in einer Höhle aus Wärme und Licht.«1

Da hat sie vollkommen recht. Neueste Erkenntnisse aus Gehirn- und Verhaltensforschung geben uns inzwischen auch erste Einblicke, warum das so ist. Dass diese Entdeckungen ans Licht kommen, während wir gerade einen Paradigmenwechsel in unserer allgemeinen Lebensweise erleben, ist dabei kein Zufall. Denn die Technologien, mit denen wir die Funktionsweise des menschlichen Gehirns untersuchen können, sind im selben Zuge entstanden wie die Technologien, die unser Hirn verblüffen, verwirren und offenbar sogar verformen. Während unsere Kultur gerade »die große Isolierung«2 vollzieht – wie der Titel eines Buchs von Catherine Steiner-Adair suggeriert –, ringen viele von uns mit dem Einfluss, den Bildschirme und Geräte auf unser Leben haben. Auf der einen Seite verbessern sie es, auf der anderen fällt es uns immer schwerer, uns zu konzentrieren, zu behalten, was wir gesehen und gelesen haben, und sind wir selbst dann, wenn wir mit unseren Liebsten zusammen sind, erschreckend häufig nur noch halb anwesend. In diesem Zeitalter der Zerstreuung müssen wir dringend überdenken, was das Vorlesen für uns sein und leisten kann. Denn es ist nicht einfach nur ein netter, nostalgischer Zeitvertreib, auf den wir ebenso gut verzichten könnten. Wir müssen es endlich als einen gestaltenden, ja als einen gegenkulturellen Akt begreifen.

Für Babys und Kleinkinder mit ihrem rasant wachsenden Gehirn gibt es schlicht und einfach nichts Besseres. Deshalb widme ich das Gros dieses Buches den jungen Menschen. Sie reagieren auf die direkteste Art und Weise, wenn jemand ihnen vorliest, und sind daher auch ein besonders beliebtes Forschungsobjekt. Wir werden sehen, dass die tiefen Hirnnetzwerke des Kindes stimuliert werden, wenn es Geschichten hört und dabei Bilder ansieht, wodurch eine optimale kognitive Entwicklung gefördert wird. Außerdem entwickelt das Kind bei diesem geselligen Erlebnis Empathie, wodurch wiederum sein Spracherwerb drastisch beschleunigt wird, sodass es bei der Einschulung einen Vorsprung vor seinen Mitschülern hat. Der Lohn des frühen Vorlesens ist erstaunlich vielfältig: Kleinkinder, denen viele Geschichten vorgelesen wurden, entwickeln später stärkere Bindungen, können sich besser konzentrieren, sind emotional belastbarer und können sich besser beherrschen. Das ist inzwischen wissenschaftlich so gut belegt, dass Sozialforscher das Vorlesen als einen der wichtigsten Faktoren für die Zukunftsperspektiven eines Kindes ansehen.

Es wäre jedoch falsch, das Vorlesen auf die Kindheit zu beschränken. Der zutiefst menschliche Austausch, der sich dabei vollzieht, ist menschlich im besten Sinne, das heißt das Vergnügen und die Wohltaten des Vorlesens stehen uns allen offen. Mögen auch Jugendliche und Erwachsene, denen vorgelesen wird – oder die selbst lesen –, für die Wissenschaft weniger interessant sein, steht indes nicht in Zweifel, dass sie geistig, emotional, literarisch und sogar spirituell davon profitieren. Für den ermatteten Menschen in mittleren Jahren, dessen Aufmerksamkeit in alle Richtungen gezerrt wird, ist das Vorlesen wie ein lindernder Balsam für die Seele. Für Ältere in späteren Lebensjahren hat es eine so tröstliche und belebende Wirkung, dass man es fast für ein Stärkungsmittel oder gar für Medizin halten könnte.

Es gibt viel zu tun, und wir haben keine Zeit zu verlieren. In unserem technischen Zeitalter können wir alle von den Vorzügen des Vorlesens profitieren – für unsere Kinder aber ist es von höchster Dringlichkeit. Viele junge Menschen verbringen bis zu neun Stunden am Tag vor einem Bildschirm. Sie sind umgeben von Technologien – die in ihr Leben eindringen, ihre Aufmerksamkeit an sich reißen, ihre Hände und Augen vereinnahmen –, und sie brauchen Erwachsene in ihrem Leben, die ihnen nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Vereinnahmung Bücher vorlesen.

Wir haben durch die kulturelle Nutzung des Internets einiges gewonnen und einiges verloren. Das Vorlesen kann uns zurückgeben, was uns die Technik genommen hat. Wo Bildschirme Familien auseinanderbringen, da jeder in seinem eigenen virtuellen Raum sitzt, kann das gemeinsame Lesen einander wieder näherbringen. Wenn wir mit einem Buch und einem oder zwei Gefährten auf dem Sofa sitzen, gelangen wir in das Reich der Fantasie und genießen die Wärme der körperlichen Nähe. Kinder, die mit Ruhe und Muße die Illustrationen in einem Bilderbuch betrachten, lernen die Grammatik der bildenden Kunst auf eine Weise, wie sie mit bewegten, springenden Bildern gar nicht möglich ist. Wo die unendlichen Möglichkeiten des Touchscreens Zerfahrenheit in uns auslösen, fesselt eine vorgelesene Geschichte unseren Geist auf eine tiefe, nachhaltige Weise. Mithilfe der Sprache, die Babys in den Geschichten hören, können sie das sprachliche Gerüst bauen, das sie beim Sprechen ihrer ersten Wörter benötigen, und Kleinkinder das flüssigere Sprechen üben. Wenn sie älter werden, bringen ihnen vorgelesene Romane komplexere Sätze und Erzählungen nahe, die ihnen ansonsten vorenthalten blieben. Beim Vorlesen baden Kinder jeden Alters in einem Fluss aus Worten, Bildern und Satzrhythmen, den sie nirgendwo sonst finden würden. All das führt bei Kindern und Jugendlichen wie auch bei Erwachsenen zu Freude, Teilhabe und einer tiefen emotionalen Bindung. Das Vorlesen ist die vielleicht günstigste und effektivste Methode, um unserer Familie und unserer Kultur als Ganzes etwas Gutes zu tun.

Die verzauberte Stunde ist ein Buch für alle, die Bücher, Geschichten, Kunst und Sprache mögen. Für alle, die Babys und Kleinkindern den bestmöglichen Start ins Leben bieten möchten, die sich um den zarten Erstklässler ebenso wie um den empfindsamen, wissbegierigen Jugendlichen sorgen und sich nach einer Begegnung mit Literatur sehnen, die die »Watte des täglichen Lebens«3 durchbricht, wie Virginia Woolf es einmal formuliert hat. Es ist für alle, die das Vorlesen noch nie ausprobiert haben, und für alle, die es seit Jahren praktizieren. Aber zuallererst ist es vielleicht für jene, die beklagen, dass in einer Welt der lärmenden Nichtigkeiten, der Fesseln der Technik und der Dauerbeschallung mit den neusten Nachrichten die emotionalen Beziehungen abstumpfen und jede Gedankenklarheit verloren geht.

Auf diesen Seiten geht es um ein Gefesseltsein ganz anderer Art, durch eine höchst bescheidene Tätigkeit: Ein Mensch liest einem anderen etwas vor – ob nun ein Lehrer seiner Klasse, eine Mutter ihren Kindern, ein Mann seiner Frau oder ein Ehrenamtlicher dem Rettungshund. Der Vorgang ist denkbar simpel, seine Auswirkungen dagegen vielfältig und wundervoll. Sie werde ich Ihnen in den folgenden Kapiteln darlegen. Zusammen können wir uns ansehen, was Bücher für die Entwicklung eines Kindes bedeuten und warum Bilderbücher für die optimale Entfaltung eines Kleinkinds besser sind als jede Technologie und jedes Spielzeug. Wir reisen zurück in eine Epoche, in der Lesen gleichbedeutend war mit lautem Vorlesen, um einen Eindruck davon zu bekommen, wie Stimme und Schrift historisch zusammenhängen. Auch um Hörbücher und Podcasts wird es in diesem Buch gehen. Anschließend erkunden wir die ungeheure Wirkmacht des gesprochenen Wortes bei der Vermittlung von Sprache, Grammatik und Syntax und wie es den Zuhörer von den Beschränkungen durch Raum und Zeit befreit. Die vorlesende Stimme ist an Tausenden knisternden Kaminfeuern eine stille Quelle der Unterhaltung gewesen, und sie ist eine Brücke zwischen den Generationen. Das Vorlesen diente – und dient – auf sehr handfeste Weise als Fluchthelfer aus Unwissenheit, Leid und Sklaverei. Es hilft dem Zuhörer herauszufinden, was ihn bewegt, es weckt sein Bewusstsein für Schönheit und Kunst und gibt jungen Menschen das Rüstzeug an die Hand, um ihr Potential als offenherzige, neugierige, kultivierte Erwachsene auszuschöpfen.

Meine stille Hoffnung ist, dass Sie die Argumente, Anekdoten und Forschungsergebnisse in diesem Buch so überzeugend finden werden, dass Sie am liebsten gleich losrennen und Ihren Liebsten vorlesen möchten. Sollte mir das gelingen, habe ich meinen Teil zu dem großen kulturellen Staffellauf beigetragen, der für mich wie für viele andere begann, als ich noch zu klein war, um zu begreifen, was mit mir geschah.

Wie alt mag ich gewesen sein? Drei? Vier? Im hintersten Winkel meiner Erinnerung sehe ich meine Mutter vor mir, wie sie mir The Big Honey Hunt von Stan und Jan Berenstain und Grünes Ei mit Speck von Dr. Seuss vorlas. Und auch meine Großmutter sitzt dort, sie las The Story About Ping von Marjorie Flack. Als ich selbst lesen konnte, haben die Erwachsenen in meinem Leben aufgehört, mir Bücher vorzulesen, was häufig passiert – und, wie wir noch sehen werden, bedauerlich ist. Dann wurde ich erwachsen und das Thema verschwand aus meinem Leben.

Viele Jahre oder gar Jahrzehnte machte ich mir keine Gedanken mehr über das Vorlesen, obwohl es sich, weil es so schön und wichtig ist, tief in meinem Bewusstsein eingenistet hatte. Eines Abends aber kam der in mir schlummernde Gedanke wieder hoch, als ich mit meinem Mann bei unseren Freunden Lisa und Kirk zu einem Abendessen in größerer Runde eingeladen war. Die beiden hatten mehrere Jungs. Während alle beim Cocktail plauderten, entschuldigte sich Lisa und verschwand nach oben. Sie war so lange weg, dass irgendwann jemand Kirk fragte, ob etwas nicht stimme. »Oh, nein, nein«, erwiderte er. »Sie liest nur den Jungs etwas vor.«

Sie liest nur den Jungs etwas vor. Aller Missmut, den wir unserer Gastgeberin gegenüber vielleicht verspürt hatten, war sogleich verflogen und an seine Stelle rückten atemlose Bewunderung und der Schwur, dasselbe zu tun, sollte ich jemals Kinder haben. Ihnen vorzulesen würde bei mir immer an erster Stelle stehen.

Und so durchschoss mich, als ich vor vierundzwanzig Jahren mit meinem Mann und unserem ersten Kind aus dem Krankenhaus kam, ein Gedanke, der in meinem konfusen Nachgeburtsgeist wie ein Neonschild im Nebel hervorstach. Ich muss meinem Baby etwas vorlesen. Die Wohnungstür war kaum ins Schloss gefallen, da saß ich mit dem Kind schon im Schaukelstuhl und griff nach einem Märchenbuch. Alles war so neu, so fremd und verwirrend. Ich schlug das Buch auf und begann zu lesen.

»›Es war einmal ein Witwer‹«, erzählte ich Molly, meinem Baby, »›der hatte eine Tochter. Als er wieder heiratete, nahm er sich eine Witwe mit zwei Töchtern. Sie alle waren eifersüchtiger Natur, was für die Tochter des Mannes beklagenswert war, da sie sie zwangen, daheim zu bleiben und die harte Arbeit ganz allein zu verrichten, während sie selbst ihre schönsten Kleider anzogen und zu den Gartenfesten gingen …‹«

Die heiße Sommersonne drang durch das Fenster. In meinen Ohren klang meine Stimme falsch und aufgesetzt. Und das Baby schien gar nicht mitzubekommen, was gerade geschah.

»›Der Prinz tanzte mit der älteren Stieftochter ein Menuett, als plötzlich die Musik abbrach und …‹«

Hörte sie mir überhaupt zu?

Sollte ich ihr die Bilder zeigen?

Hey, sie war doch wohl jetzt nicht gerade eingeschlafen?

Mit dem plötzlichen Gefühl des Versagens, noch gesteigert durch die Erschöpfung und die Erkenntnis, wie absurd das ganze Unterfangen war – welche Wahnsinnige liest ihrem neugeborenen Baby Aschenputtel vor? –, schnürte sich mir der Hals zu und ich brach in Tränen aus.

Ein unschöner und wenig verheißungsvoller Anfang für unser sehr bald liebstes Familienritual. Die verzauberte Stunde ist aus der Erfahrung dieser ersten ängstlichen Tage und der nächsten Jahre entstanden, als Molly noch einen Bruder bekam, Paris, und drei Schwestern, Violet, Phoebe und Flora. Ihnen allen habe ich jeden Abend eine Stunde lang vorgelesen – und tue es auch noch heute. In der ersten wilden Zeit, als sie noch ganz klein waren, kam uns der stille Rückzug mit ein paar Büchern nach einem turbulenten Tag wie eine Rettungsinsel vor. Ich war dankbar und erleichtert. Wir hatten den Tag geschafft! Jetzt durften wir uns entspannen. Jetzt begann die schönste Stunde.

War es immer zauberhaft? Sicher nicht. Das Vorlesen ist oft ein Opfer, manchmal eine Plage. Selbst der größte Eiferer findet bisweilen dafür nicht die Zeit und Muße. Es gab Abende, an denen ich fast daran verzweifelte, alle zur Ruhe zu bringen, und Abende, an denen uns kein Buch so richtig gefiel. Manchmal blinzelte ich aus schweren Augen auf die Seiten. Ich las mit Erkältung und mit heiserer Stimme und einmal törichterweise direkt nach einer Kiefer-OP (und zog mir mitten in »Wie das Nashorn seine Haut kriegte« einen Faden). Manchmal konnte ich all die blumigen Beschreibungen nicht mehr ertragen und strich nach Gutdünken ganze Passagen (Brian Jacques möge mir verzeihen). Manche Bücher wiederum rührten mich so sehr, dass ich weinen musste, und mithin auch meine Zuhörer, weil ihre Mutter weinte.

Kurz bevor im Herbst 2005 Flora auf die Welt kam, wurde ich beim Wall Street Journal Kinderbuchkritikerin. Über Nacht überschwemmten frische Kinderbücher unser Haus. Neue Titel gelangten neben den Klassikern und den alten Lieblingsbüchern in unser Standardrepertoire. Jahrelang stand ich knietief in Kinderbüchern, hüfttief in Kinderdingen und bis zum Hals in meiner Elternwelt.

Dann kam der erste bittersüße Abschied. Als Molly in die Pubertät kam, verließ sie unseren zauberhaften Lesekreis. Ein paar Jahre später folgte Paris. Als Dritte Phoebe. Nachdem sich vor ein paar Jahren dann auch Violet verabschiedet hatte, mit fünfzehn, beschloss ich, dieses Buch zu schreiben. Ich hatte es fast fertig, da zeigten sich auch bei Flora die ersten zarten Anzeichen, dass sie flügge würde. Zwar stehe ich immer noch knietief in Kinderbüchern, aber das Vorlesen wird bald vorbei sein. Doch was Sie unterdessen hören, ist kein unterdrücktes Schluchzen aus Kummer oder Wehmut. Es ist der Aufprall des Staffelstabs in Ihrer Hand.

Das Familienleben kann eine hektische Angelegenheit sein, bei der die Fetzen fliegen. Manchmal ist es ein rechter Kampf, alle Mann an Bord zu halten, und fast unmöglich, sie zur Zubettgehzeit auf die Vorleseinsel zu hieven. Aber es lohnt die Mühe, gerade jetzt, da wir alle auf unseren ziemlich einsamen Inseln im weiten Pixelmeer hocken. Jung und Alt brauchen das, was uns das Vorlesen zu bieten hat. Wäre ich Glinda4, die Gute Hexe aus dem Zauberer von Oz, dann würde ich jetzt meinen Zauberstab schwingen und allen Familien auf der Welt dieses Geschenk machen. Doch da ich nur eine bescheidene Autorin bin und keinen Zauberstab besitze, hoffe ich, dass dieses Buch die Zauberformel sein möge, die uns alle von den Wohltaten des Vorlesens überzeugen wird.

1. Kapitel

Was beim Vorlesen im Gehirn des Kindes geschieht

In dem großen grünen Zimmer

war ein schwarzes Telefon

und ein roter Luftballon

und an der Wand ein Bild von der –

Spring-über-den-Mond-Kuh

Und an der andern Wand drei kleine Bären auf Stühlen

Und ein Bär sah der Kuh zu

 Margaret Wise Brown, Gute Nacht, lieber Mond