Szilárd Borbély

Berlin Hamlet

Gedichte

Aus dem Ungarischen und mit einem Nachwort von Heike Flemming

Suhrkamp Verlag

Inhalt

Berlin Hamlet

1. [ Allegorie I. ]

2. [ Brief I. ]

3. [ Epilog I. ]

4. [ Fragment I. ]

5. [ Krumme Lanke ]

6. [ Brief II. ]

7. [ Mühlendamm ]

8. [ Brief III. ]

9. [ Fragment II. ]

10. [ Allegorie II. ]

11. [ Schöneweide ]

12. [ Brief IV. ]

13. [ Naturhistorisches Museum ]

14. [ Fragment III. ]

15. [ Hermannstraße ]

16. [ Brief V. ]

17. [ Heidelberger Platz ]

18. [ Fragment IV. ]

19. [ Brief VI. ]

20. [ Allegorie III. ]

21. [ Kurfürstendamm ]

22. [ Fragment V. ]

23. [ Stephansdom ]

24. [ Brief VII. ]

25. [ Tiergarten I. ]

26. [ Fragment VI. ]

27. [ Brief VIII. ]

28. [ Invalidenstraße ]

29. [ Allegorie IV. ]

30. [ Brief IX. ]

31. [ Magdeburger Platz ]

32. [ Wannsee ]

33. [ Fragment VII. ]

34. [ Brief X. ]

35. [ Allegorie V. ]

36. [ Alexanderplatz ]

37. [ Allegorie VI. ]

38. [ Brief XI. ]

39. [ Fragment VIII. ]

40. [ Tiergarten II. ]

41. [ Fragment IX. ]

42. [ Brief XII. ]

43. [ Allegorie VII. ]

44. [ Flughafen Schönefeld ]

45. [ Allegorie VIII. ]

46. [ Fragment X. ]

47. [ Westend–Westkreuz ]

48. [ Brief XIII. ]

49. [ Epilog II. ]

Leichenprunk

Erstes Buch. Sequenzen zur Karwoche

I.

Letzte Dinge. Der Tod

IV.

Aeternitas. (1)

Letzte Dinge. Das Gericht

Rosarium. Für die Nymphen

Sequenz der Leere

Letzte Dinge. Die Hölle

Aeternitas. (2)

X.

Rosarium. Vom Letzten

XIII.

XIV.

Letzte Dinge. Die Ewigkeit

Zweites Buch. Sequenzen von Amor und Psyche

I. Psyche, kehrte sie zurück

II. Die immaterielle Leibesfrucht

V. Der Tod des Kaisers

VI. Im Körper leben

VIII. Augustaquarell

IX. Das unorganisierbare Leben

X. Der Virus Killer Amor

XIII. Das Rätsel des Todes

XXI. Das kalte Herz

XXV. Amor Christus

XXVI. Gegenlied der Idylle

XXXI. Auf den Flügeln der Freiheit

XXXII. Die Götter, die Götter

XXXIV. Die Grenzen der Bukolik. (2)

XXXV. Der Rechner am Abend

XXXIX. Nach dem Mord

Drittes Buch. Chassidische Sequenzen

Stern des Tränenmeers

II.

Sequenz des Messias

IV.

Die Heiligung des Namens

VI.

Sequenz der Geburt

IX.

Christologische Epistel. (I)

Christologische Epistel. (II)

XVII.

Sequenz der Entjudung

XVIII.

XIX.

XXI.

Epicedium

Anmerkungen des Autors

Berlin Hamlet

Leichenprunk

ANHANG

Nebenstränge eines Verbrechens

»Das eigene Ich in Klammern setzen …«

Zu den Gedichten Szilárd Borbélys Nachwort von Heike Flemming

Berlin Hamlet

Nichts kann

so unwiederbringlich

wie ein Morgen

dahin sein.

Ilona und Mihály ]

1. [ Allegorie I. ]

Das durchbohrte Herz, an das die Liebenden

glauben, gemahnt mich an meine

Aufgabe. Nach einem Führer sehnte ich mich

immer. Der Geist meines Vaters erzog mich

zur Grausamkeit. Was er im Leben versäumt,

wollte er im Tod nun nachholen. Meine

Erziehung fand ich nicht zufriedenstellend.

Der Geist unserer Zeit ist zu freizügig

mir. Meine Verachtung gilt den Schwachen.

2. [ Brief I. ]

Endlich habe ich Dein Bild so wie ich Dich

gesehen habe. Nicht so freilich, wie ich Dich zuerst

gesehen habe, ohne Jacke, mit freiem durch

keinen Hut eingegrenztem Kopf. Sondern so,

wie ich Dich im Tor des Hotels verloren habe,

so wie ich neben Dir gieng, keine Beziehung

zu Dir fühlte. Und nichts anderes als

die stärkste Beziehung verlangte. Jagen Dich

die Verwandten nicht zu sehr herum? Du hättest

ja gar keine Zeit für mich gehabt, wenn ich nach

Berlin gekommen wäre. Aber was sage ich? Damit will ich

den Selbstvorwürfen ein Ende machen? Und hatte ich schließlich

nicht doch Recht, nicht nach Berlin gefahren zu sein? Aber wann

werde ich Dich endlich einmal sehn? Im Sommer? Aber warum

gerade im Sommer, wenn ich Dich Weihnachten nicht gesehn habe?

3. [ Epilog I. ]

[ i. ]

Ich merze die Vergleiche aus, bevor ich

dran bin. Die Fallen der Rede wie

Schlingen in der Zugrichtung des Wildes,

die zum Wasserloch führt. Manchmal

zappelt es tagelang darin, und sein Wimmern

wird brüchig wie Weihnachtsbaumschmuck

zwischen Baumwolle in der naphthalinmuffigen

Speisekammer, durchzogen

von Rissen. Eine einzige Berührung lässt ihn

zerfallen. Anderswo die Wildbirne

im Laub, die Hagebutte, die Heidelbeere

und die seltene Kornelkirsche.

[ ii. ]

Den langgezogenen Schrei

zu erzählen erfordert Entsagung.

Was eigentlich bringt die Zusammen-

hänge durcheinander? fragst du.

Der Schrei, der den Wald durchrollt,

ist, wenn er das Tal erreicht, schon

dumpfes Rauschen. Die Nachricht

von weit her wird zum Echo ihrer eigenen

sich verzögernden Ankunft. Ein Prolog,

dem Leiden folgt.

[ iii. ]

Im frischen Eichenunterholz hier und da

Rehpilze. Nimmst du sie dennoch

mit nach Hause, werden sie, vergessen auf dem Küchentisch,

in der Stille des Nachmittags von Würmern befallen. Und

mancherorts zeigen sich auch die Rehe selbst. Vom anderen Ufer

schauen sie aufmerksam, hinter den Hügeln hervor. Im Geweih,

das sie bald abwerfen, balancieren sie

jetzt noch goldene Äpfel. Manchmal

ein Geräusch, und mit gespannten Nüstern,

unruhig äugen sie zum Garten

der Hesperiden.

[ iv. ]

Durchs Dickicht peitschend jagt

ein Wesen, halb Mensch, halb Ziege

oder Pferd. Zu hören ist nur sein Gebrüll.

Blut tropft ins Laub.

Kirschrot, ziegelfarben, purpurn

wie die Farbe der Minerale

auf leichtem Aquarellpapier. Viel

Luft zwischen den getrockneten

Rändern der Farbflecken.

[ v. ]

Wie ein Vergleich, so eine Form

ist der Krug unter dem Vitrinenglas. Delphine

schwimmen im runden Blau,

während der Mund des Mannes

am Mastbaum und sein verkrampfter

Oberkörper andeuten, dass er aus vollem

Halse brüllt. Doch sein Schrei

ist irreführend und Quell der Lüge,

wie ein angehaltener Atem

hat er auch seither nicht

das Ohr erreicht, für das

er bestimmt war. Denn er sagt,

möge nicht ein einziger Ton sein

in diesem Vergleich. Wie das reine

Nichtsein, von dem ich nicht wissen kann.

4. [ Fragment I. ]

Ja, so könnte ich es ausdrücken,

unser Gespräch hinterließ eine

unausfüllbare Leere. Seitdem

birgt jeder Tag auch diese Leere.

Den Zwang auszudrücken,

was das ist, das mich seitdem

jeden Tag begleitet. Seitdem wir

uns nicht treffen, ersetzt

meine Erinnerung unser Gespräch.

Seitdem gibt es keinen Tag,

der nicht etwas enthielte,

und umgekehrt. Neuerdings

deute ich sogar mein Schweigen.

Ich habe das Gefühl, es gibt Tage,

die sich weiten. Wachsende

Tiefe jeder Augenblick, der

sie in sich bewahrt. Alles

nimmt in etwas anderem Platz,

das jenes dann besitzt. Das eine Wort

das andere. Und ein Begriff

das Wort. Was ich Leere nannte,

ist auch Teil von etwas. Vielleicht

von unserem Gespräch, das seitdem

irgendwie weitergeht. Glaube ich.

5. [ Krumme Lanke ]

In den letzten Tagen des Reiches war es, irgendwann im Herbst.

Die Blätter fielen und die Luft kratzte an der Windschutz-

scheibe. Nur das kleine Ausstellfenster der Fahrertür

hatten wir geöffnet, da wir beide rauchten. Wir trugen dicke,

lange Mäntel, Hosen und ausgetretene Schuhe mit dünnen Gummi-

sohlen wie vorgeschrieben. Fasten musste man nicht,

nur wegen der Blockade gab es kaum noch was zu essen. Jeder wartete,

auf jemanden oder etwas. Die Angst wurde langsam stärker,

auch der Überlebensinstinkt. Mit unserem Treffen gingen

wir grundlos ein Risiko ein. Unsere Vorgesetzten hätten

die Idee sicher zurückgewiesen. Doch es hatte keinen Sinn

mehr, Befehlen zu gehorchen. Freiheit konnte von nun an

nur noch heißen, der Tradition zu folgen. Wir sprachen darüber

nicht, aber vielleicht trafen wir uns deshalb jetzt hier, unter Berlin,

wo zwei Spaziergänger nicht auffielen, junge Männer,

die sich unterhalten. Mit hochgeschlagenem Kragen, in die Augen

gezogenem Hut, geschützt gegen die Windstöße, die immer wieder

vom See her kamen. Zwischen den zusammengepressten Lippen

halb gerauchte Zigaretten. Kamen doch am Wochenende regelmäßig

Fremde her zum Rudern, Segeln, Spazierengehen um den See. Im Süden,

unter Berlin lag dieser Ort, Wünsdorf oder Teupitz.

Ich erinnere mich nicht mehr genau. Jahre zuvor, es war vor

Pessach, gingen wir, während wir an die Zukunft dachten, an der

Krummen Lanke im Westen von Berlin spazieren. Unser

Gespräch jetzt mehr eine Erinnerung, die alles rückgängig machte,

was geschehen war. Als würde ein Film rückwärts abgespult.

Wir betrachteten die Enten, sie waren stumm. Die Schwäne bedrohlich

wie der Tod. Ein einziges Boot auf dem See, auch das

reglos. Dunst schlug bei jedem Wort aus unseren Mündern.

Zeichnete für Augenblicke kleine, launische Gebilde,

dann zerstob er. Aus diesen Zeichen hätten wir vielleicht lesen

können, wenn wir sie gekannt hätten. Sie waren schwerelos wie die Schuld.

6. [ Brief II. ]

Sehr geehrtes Fräulein, für den leicht möglichen Fall,

daß Sie sich meiner auch im geringsten nicht mehr

erinnern könnten, stelle ich mich noch einmal vor:

Ich heiße hebräisch Amschel. Ich bin der Mensch,

der Sie zum erstenmal am Abend in Prag

begrüßte. Und in dieser Hand, mit der er jetzt

die Tasten schlägt, hielt er über den Tisch hin

Ihre Hand, mit der Sie das Versprechen bekräftigten,

im nächsten Jahr eine Palästinareise mit ihm machen zu wollen.

Eines muß ich nur eingestehen: Ich bin ein unpünktlicher

Briefschreiber. Ja es wäre noch ärger, als es ist, wenn ich

nicht die Schreibmaschine hätte; denn wenn auch einmal

meine Launen nicht hinreichen sollten, so sind schließlich

die Fingerspitzen zum Schreiben immer noch da. Und ich bin

niemals enttäuscht, wenn ein Brief nicht kommt. Mit Erschrecken

merke ich beim neuen Einlegen des Papiers, daß ich mich vielleicht

viel schwieriger gemacht habe, als ich bin. Es würde mir

ganz recht geschehn, wenn ich diesen Fehler gemacht haben

sollte, denn warum schreibe ich auch auf einer Schreibmaschine,

an die ich nicht sehr gewöhnt bin. Aber wenn es auch dagegen

Bedenken geben sollte, mich als Reisebegleiter mitzunehmen,

gegen mich als Korrespondenten – und darauf käme es ja

vorläufig nur an – dürfte nichts Entscheidendes von vornherein

einzuwenden sein. Sie könnten es wohl mit mir versuchen.

7. [ Mühlendamm ]

Der Nachmittag kam ins Haus. Ein Lichtstreif fiel aufs Porzellan.

Und im Radio rezitierte ein Schauspieler gereimte Gedichte. –

Der Herbst ist wie alles andere in der Landschaft. Straßen,

ein Flussufer, Münzfernsprecher. Nicht zu sagen,

warum das so ist. Sich an die Beschreibung machen,

was wir erhofften, früher noch, beginnt sich zu wiederholen.

Während ich die Verschiebungen beobachte, halte ich erst einmal

die Beschreibung fest. Von links ein Spielplatz, dann kommt

eine Bierfabrik. Du wirst es schon von weitem merken. Durch

die Grippe und das dann übliche Schweben des Bewusstseins

erklärt sich die Verspätung. Von den Zweigen hängen

wie ein Schleier Wind und Dämmerung. Gerade als ich mich daran-

machte, dies zu beschreiben, las ich unter der Brücke eine Tafel. Hier

waren die Mühlen, hierher kamen die Fuhrleute. Die Müller lebten

hier, als die Stadt noch durch die Ufer der Wasserläufe vereint war.

Damals verkehrte man auf den Dämmen, die die Mühlen

miteinander verbanden. Wenn du kommst, frag nicht Fremde.

Auf den Straßen seitdem Wind. Die Dämmerung ein Schleier, gewoben in die Allee.

8. [ Brief III. ]

Als ich sie am 13. August zum erstenmal sah, saß sie

bei Tische und kam mir doch wie ein Dienstmädchen vor.

Ich war nicht neugierig auf sie. Ich setzte mich hin und

fand mich sofort mit ihr ab. Knochiges leeres Gesicht, das seine

Leere offen trug. Freier Hals. Überworfene

Bluse. Sah ganz häuslich angezogen aus,

trotzdem sie es, wie sich später zeigte, gar nicht war.

Ich entfremdete ihr ein wenig dadurch, daß ich ihr

so nahe an den Leib ging. Fast zerbrochene Nase.

Blondes, etwas steifes, reizloses Haar,

starkes Kinn. Während ich mich setzte, sah ich sie

zum erstenmal genauer an. Als ich saß, hatte ich schon

ein unerschütterliches Urteil. Wie ich ihr ins Gesicht schaute,

sah ich mein Urteil, verhüllt von einem stummen Lächeln.

9. [ Fragment II. ]

Auf der Bühne der Rede mimen

wir alle wie schlechte Schauspieler

wider Willen die alten Helden.

Aus Büchern wird uns vorgelesen,

was wir sagen müssen

beim Auftritt. Wenn uns nichts anderes

einfällt, als das Kostüm anzuziehen,

von wem auch immer. Ziellos

jedes Wort, das den Faden nicht

abschneidet. Den, den die Parzen

spinnen, die schweigsamen Hebammen

des Gedankens. Denn unerschöpflich ist

die Überlegung, während sie Worte

wägt statt Taten und

Absichten. Ich sage, die all-

wissenden Parzen spinnen meine Rede,

auf deren Bühne wir uns treffen, solange

ich repetiere. Ich bin ein Herrscher

in Verkleidung, der für die Künste schwärmt,

die großen Taten. Die radikale Schönheit.

Dem der Mord die wahre Kunst ist.

10. [ Allegorie II. ]

[ i. ]

Du kennst im Park ein paar Verstecke,

wo nach kalter Nacht der Morgennebel

Spinnennetze webt. Er zeichnet die dünnen

Fäden nach. Reiht Perlen auf und

verknüpft sie. So füllt sich der Park

mit Licht, in Tropfen sammelt sich

der Nebel an den Blattspitzen, von den Kuppen

der Zweige blicken Augen dich an.

[ ii. ]

Der Wind treibt den Nebel auf die Holzbrücke,

geschwungen überm Kanal. Zwischen den gestutzten

Hecken schlagen die Amseln ihr Geleit. Wohin du

auch gehst, du findest Schnittblumen auf dem Tisch

zu jeder Jahreszeit. Und wir sehen

einander an im überheizten Zimmer.

11. [ Schöneweide ]

[ i. ]

Ich weiß, das ist am schwersten. Dass es so endet,

als wäre nichts geschehen. Dass sich auf einmal

die Dinge verändern: Türen, bis dahin verschlossen,

sich öffnen. Ich wollte nicht darüber reden,

mit niemandem. Ich ging ohne Abschied,

ohne viele Worte. Besuchte nur ein paar

Bekannte wie sonst auch. Ging vorbei zum Reden,

auf ein Bier, saß und hörte zu. Erwähnte manchmal

dies oder das. Ich nahm keine Anrufe mehr an.

Bezahlte die Rechnungen, mehrere Monate zurück.

Unerwartete Ausgaben. Ich zahlte aufs Konto ein, damit

Geld drauf war. Wer weiß, was geschieht. Für alle Fälle.

[ ii. ]

Ein letztes Mal ging ich die Straßen entlang

wie seit anderthalb Jahren, seit ich hierher ins Wohngebiet

gezogen war. Zwischen die schmutzigen Betontürme, wo

ich mich seitdem immerzu schlecht gefühlt hatte.

Schaute ich zum Fenster hinaus, sah ich die Wand des Hauses

gegenüber, grauschwarz gestreift von Regen und Schmutz.

In den Küchen beobachtete ich Menschen beim Abwasch,

Reden, Rauchen oder Essen. Und sie

mich, der sie im Auge behielt. Manchmal stritten sie sich.

Durchs geschlossene Fenster drang das Geschrei. Dann

fühlte ich mich schlecht. Ich beobachtete ihre Morgen:

wie sie aufstanden, sich anzogen, für den Tag

fertig machten. Abends erhellte das bläuliche Strahlen der Fernseher

die Zimmer. Lange stand ich im Licht, das allmählich erlosch.

[ iii. ]

So sah ich eines Abends aus der S-Bahn

die erleuchteten Fenster der schäbigen Gebäude

von Schöneweide. Und manchmal stieg ich erst am Flughafen

aus. Betrachtete die Lichter am schmutzfarbenen Himmel.

Die landenden und startenden Maschinen. In der Gegend

um die Haltestellen fragten die Teenager am Abend gewöhnlich

nach Zigaretten. Eine Packung war schnell leer. Damals

rauchte ich viel. Ich kaufte bei den Vietnamesen oder

Chinesen eine Stange Magnum. Ich hatte immer Angst,

aber nie so sehr, dass ich den Preis nicht runterhandelte.

Ich war Ausländer, und von den Jugendlichen wurde man

als Fremder schief angesehen. Einer der Jungen, er musste

dort wohnen, wo auch ich wohnte, fragte jedes

Mal, wir begegneten uns häufig am Abend. Dann

sagte er nur noch: Feuer? Er fragte nicht, es war quasi

ein Befehl. Ich gab ihm bereitwillig Feuer. Er sah

unordentlich aus, verloren. Er tat mir leid. Ich dachte

an die Verwandten, denen ich nie begegnet war. Die eine

Weile über dem deutsch-polnischen Tiefland geschwebt waren

als Rauch und Asche. Vielleicht wollte ich deshalb sehen,

monatelang nur verfolgen, wie er ist, der Himmel über Berlin.

12. [ Brief IV. ]

Entschuldigen Sie, daß ich nicht auf der Schreibmaschine schreibe, aber

mir scheint dieser Brief so dringend, die Schreibmaschine schreibt mir

nicht genug schnell. Schönes Wetter ist, warm, das Fenster

ist offen. Übrigens ist es immer offen, aber das gehört nicht

zu meiner Entschuldigung. Und heute kam ich nur

ins Büro, um Ihnen zu schreiben. Und nachdem

ich Ihre Adresse bekommen hatte, war ich mir unsicher, ob sie richtig wäre.

Denn nichts ist trauriger, als einen Brief an eine unsichere

Adresse zu schicken. Das ist ja dann kein Brief,

das ist mehr ein Seufzer. Nur hätte ich gern noch die Bezeichnung

der Himmelsrichtung geklärt, weil das doch bei Berliner Adressen immer

so ist. Ich für meinen Teil hätte Sie gern in den Norden verlegt, trotzdem

das eine arme Gegend ist. Mein Gedächtnis ist ja schlecht, und

was ich mir ausdenke, vergesse ich sofort. Ein Brief

macht Mühe. Schreiben Sie mir doch ein kleines

Tagebuch, das ist weniger verlangt und mehr gegeben.