Annie Ernaux

Eine Frau

Aus dem Französischen von Sonja Finck

Suhrkamp

Wenn man sagt, daß der Widerspruch nicht denkbar sei, so ist er
vielmehr im Schmerz des Lebendigen sogar eine wirkliche Existenz.

Hegel

 

 

 

 

 

Meine Mutter ist gestorben, am Montag, den 7. April, im Altersheim des Krankenhauses von Pontoise, in dem ich sie vor zwei Jahren untergebracht habe. Der Pfleger sagte am Telefon: »Ihre Mutter ist heute Morgen nach dem Frühstück von uns gegangen.« Das war gegen zehn Uhr.

 

 

 

Zum ersten Mal war ihre Zimmertür geschlossen. Man hatte sie bereits gewaschen und ihr einen weißen Stoffstreifen um den Kopf gebunden, der unter dem Kinn entlangführte und die Haut um Mund und Augen zusammenschob. Sie war bis zu den Schultern mit einem Laken bedeckt, die Hände waren nicht zu sehen. Sie ähnelte einer kleinen Mumie. Das Bettgitter, das sie am Aufstehen hatte hindern sollen, war noch immer auf beiden Seiten hochgestellt. Ich wollte ihr das weiße Nachthemd mit der Spitzenbordüre anziehen, das sie vor langer Zeit für ihre Beerdigung gekauft hatte. Der Pfleger sagte mir, das übernehme eine Krankenschwester, sie werde ihr auch das Kruzifix aus der Nachttischschublade auf die Brust legen. Die beiden Nägel, mit denen die Kupferarme an dem Kreuz befestigt gewesen waren, fehlten. Der Pfleger war nicht sicher, ob er so kleine Nägel auftreiben konnte. Das war mir egal, ich wollte, dass sie ihr Kruzifix trotzdem bekam. Auf dem Rolltisch stand der Strauß Forsythien, den ich ihr am Vortag mitgebracht hatte. Der Pfleger riet mir, sofort in die Meldestelle des Krankenhauses zu gehen. In der Zwischenzeit werde man ein Inventar der persönlichen Gegenstände meiner Mutter erstellen. Sie besaß fast nichts mehr, ein Kostüm, ein Paar blaue Sommerschuhe, einen elektrischen Rasierer. Eine Frau begann zu schreien, dieselbe wie seit Monaten. Ich verstand nicht, dass sie noch lebte, während meine Mutter tot war.

In der Meldestelle fragte mich eine junge Frau, worum es gehe. »Meine Mutter ist heute Morgen gestorben.« – »Im Krankenhaus oder in der Langzeitpflege? Name?« Sie blickte auf ein Formular und lächelte kurz: sie wusste schon Bescheid. Sie holte die Akte meiner Mutter hervor und stellte mir ein paar weitere Fragen, zum Geburtsort, zur letzten Adresse vor der Aufnahme in die Langzeitpflege. Das alles stand schon in der Akte.

Im Zimmer meiner Mutter hatte man eine Plastiktüte mit ihren Sachen auf dem Nachttisch bereitgelegt. Der Pfleger reichte mir die Inventarliste zur Unterschrift. Ich wollte ihre Kleidung und die Gegenstände, die sie hier gehabt hatte, nicht mitnehmen, bis auf eine kleine Figur, die sie vor Jahren auf einer Wallfahrt mit meinem Vater nach Lisieux gekauft hatte, und den savoyischen Schornsteinfeger, ein Andenken aus Annecy. Weil ich da war, konnten sie meine Mutter sofort in die Leichenhalle des Krankenhauses bringen, ohne die vorgeschriebenen zwei Stunden verstreichen zu lassen, die Verstorbene sonst auf der Station bleiben müssen. Auf dem Weg nach draußen sah ich im verglasten Schwesternzimmer die alte Dame sitzen, die sich mit meiner Mutter das Zimmer teilte. Mit ihrer Handtasche auf dem Schoß ließ man sie warten, bis meine Mutter in die Leichenhalle überführt wurde.

 

Mein Exmann begleitete mich zum Bestattungsinstitut. Hinter dem Regal mit Kunstblumen standen Sessel und ein niedriger Tisch mit Zeitschriften darauf. Ein Mitarbeiter führte uns in ein Büro, fragte nach Todesdatum, Bestattungsort, mit Messe oder ohne. Das alles trug er in ein großes Formular ein und tippte zwischendurch auf einem Taschenrechner. Er brachte uns in ein fensterloses dunkles Zimmer, schaltete das Licht an. Ein Dutzend Särge lehnten hochkant an der Wand. Der Angestellte erklärte: »Alle Preise verstehen sich inklusive Mehrwertsteuer.« Drei Särge waren offen, damit man die Farbe des Polsters aussuchen konnte. Ich wählte Eiche, weil das ihr Lieblingsbaum gewesen war und sie bei jedem neuen Möbelstück gefragt hatte, ob es aus Eiche sei. Mein Exmann schlug altrosa für das Polster vor. Er war stolz, fast glücklich, weil ihm einfiel, dass sie oft Blusen in dieser Farbe getragen hatte. Ich stellte dem Mitarbeiter einen Scheck aus. Sie würden sich um alles kümmern, außer um die frischen Blumen. Ich war gegen Mittag wieder zu Hause und trank mit meinem Exmann Portwein. Ich bekam Kopf- und Magenschmerzen.

Gegen fünf Uhr rief ich im Krankenhaus an und fragte, ob es möglich wäre, mit meinen beiden Söhnen in die Leichenhalle zu kommen, um meine Mutter zu sehen. Die Sekretärin antwortete, es sei zu spät, die Leichenhalle war seit einer halben Stunde geschlossen. Ich fuhr allein mit dem Auto in das Neubauviertel in der Nähe des Krankenhauses, auf der Suche nach einem Blumenladen, der montags geöffnet hatte. Ich wollte weiße Lilien, aber die Floristin riet mir davon ab, die nehme man nur bei Kindern, allenfalls noch bei jungen Frauen.

 

Die Beerdigung war am Mittwoch. Ich fuhr mit meinen Söhnen und meinem Exmann ins Krankenhaus. Die Leichenhalle war nicht ausgeschildert, wir verliefen uns auf dem Weg dorthin, ein einstöckiges Betongebäude ganz hinten auf dem Krankenhausgelände, am Rand der Felder. Ein Angestellter im weißen Kittel, der gerade telefonierte, bedeutete uns, im Flur zu warten. Wir saßen auf Stühlen entlang der Wand, gegenüber einer offen stehenden Toilettentür. Ich wollte meine Mutter noch einmal sehen und ihr ein paar blühende Quittenzweige, die ich in meiner Handtasche mitgebracht hatte, auf die Brust legen. Wir wussten nicht, ob wir sie ein letztes Mal zu sehen bekämen, bevor der Sarg geschlossen würde. Der Mitarbeiter, der uns auch schon im Bestattungsinstitut empfangen hatte, trat aus einem Nebenzimmer und bat uns höflich, ihm zu folgen. Meine Mutter lag im Sarg, den Kopf im Nacken, die Hände über dem Kruzifix gefaltet. Man hatte den Stoffstreifen um ihr Gesicht entfernt und ihr das Spitzennachthemd angezogen. Die Satindecke reichte ihr bis zur Brust. Wir befanden uns in einem großen leeren Saal mit Betonwänden. Ich weiß nicht, wo das spärliche Tageslicht herkam.

Der Mitarbeiter gab uns zu verstehen, dass der Besuch beendet war, und begleitete uns zurück auf den Flur. Ich hatte den Eindruck, als hätte er uns nur deshalb zu meiner Mutter gebracht, damit wir uns von der guten Arbeit seines Instituts überzeugen konnten. Wir fuhren durch das Neubauviertel zur Kirche, die neben dem Kulturzentrum erbaut worden war. Der Leichenwagen war noch nicht da, wir warteten vor der Kirche. An der Fassade des Supermarkts gegenüber stand in schwarzer Farbe geschrieben: »Das Geld, die Waren und der Staat sind die drei Säulen der Apartheid.« Ein Priester kam mit freundlichem Gesicht auf uns zu. Er fragte: »Es geht um Ihre Mutter?«, und dann meine Söhne, ob sie studierten, an welcher Universität.

Auf dem Zementboden vor dem Altar stand eine Art kleines Bett, verhangen mit rotem Samt. Später stellten die Männer vom Beerdigungsinstitut den Sarg meiner Mutter darauf. Der Priester schob eine Kassette mit Orgelmusik in das Abspielgerät. Wir waren allein in der Kirche, hier in der Stadt hatte niemand meine Mutter gekannt. Der Priester sprach vom »ewigen Leben«, von der »Auferstehung unserer Schwester« und sang ein paar Kirchenlieder. Ich wünschte mir, es möge immer so weitergehen, damit wir noch etwas für meine Mutter tun konnten, Gesten, Gesang. Die Orgelmusik setzte wieder ein, der Priester löschte die Kerzen zu beiden Seiten des Sargs.

Der Wagen des Bestattungsinstituts machte sich sofort auf den Weg nach Yvetot in der Normandie, wo meine Mutter neben meinem Vater begraben werden würde. Ich fuhr mit meinen Söhnen im eigenen Auto. Es regnete während der ganzen Fahrt, der Wind wehte heftig. Die Jungen fragten mich über die Messe aus, weil sie so was noch nie erlebt und nicht gewusst hatten, wie sie sich während der Zeremonie verhalten sollten.

 

In Yvetot hatte sich die Familie am Friedhofstor versammelt. Eine meiner Cousinen rief mir von Weitem etwas zu. »Was für ein Wetter, wie im November!«, um nicht schweigend zusehen zu müssen, wie wir auf sie zukamen. Wir gingen alle zusammen zum Grab meines Vaters. Es war geöffnet worden, die Erde daneben zu einem hellbraunen Hügel aufgeworfen. Der Sarg meiner Mutter wurde herbeigetragen. Nachdem er zwischen zwei Seilen über der Grube positioniert worden war, winkten die Träger mich näher, damit ich zusehen konnte, wie sie ihn in das ausgehobene Grab hinunterließen. Der Totengräber wartete ein paar Meter entfernt mit seiner Schaufel. In Gummistiefeln, mit Blaumann und Baskenmütze, die Gesichtsfarbe violett. Ich hatte das Bedürfnis, mit ihm zu reden und ihm hundert Francs zu geben, auch wenn er das Geld vermutlich vertrank. Das war nicht wichtig, im Gegenteil, er war der letzte Mensch, der sich um meine Mutter kümmern würde, indem er sie den ganzen Nachmittag mit Erde bedeckte. Da sollte er wenigstens Freude bei der Arbeit haben.

Die Familie wollte nicht, dass ich zurückfuhr, ohne etwas zu essen. Die Schwester meiner Mutter hatte zum Leichenschmaus in ein Restaurant geladen. Ich blieb, auch das schien mir etwas zu sein, was ich noch für sie tun konnte. Die Bedienung war langsam, wir redeten über die Arbeit, die Kinder, manchmal auch über meine Mutter. Man sagte mir, »wozu war das gut, dass sie jahrelang in diesem Zustand gelebt hat«. Für alle war es besser, dass sie tot war. Das ist ein Satz, eine Gewissheit, die ich nicht verstehe. Abends fuhr ich in meinen Pariser Vorort zurück. Jetzt war wirklich alles vorbei.