Nora Bossong

Schutzzone

Roman

Suhrkamp

Frieden

Genf. Februar 2017

Das Beau-Rivage hat 94 Zimmer und 15 Suiten. Durch die Fenster sieht man hinaus auf den Genfer See, in dem sich die große Welt spiegelt, die eben doch nur eine kleine Stadt am unteren Zipfel der Schweiz ist. Der Mittelpunkt Europas könnte in einer dieser Suiten liegen oder im Konferenzsaal, den sie an jenem Abend mit exotischen Blumen geschmückt hatten. Die Badewanne aus Zimmer 317, die nach Barschels Tod lange auf dem Speicher des Hauses gelagert hatte, war von einem Angestellten falsch beschriftet und versehentlich entsorgt worden, sonst geschahen in diesem Haus selten Missgeschicke, und als ich ein wenig zurückgewichen von den anderen meinen Blick durch den Raum schweifen ließ, die in sich gekrümmten roten Blütenblätter neben der Bühne betrachtete und die Gesichter der schwarzen Zedernholzdiener, die dekorativ in den Ecken platziert waren und hier den Kolonialismus noch einmal in einer verzückten Dekadenz zeigten, heiter, fast überlegen, wie Figuren eines Molièrestückes, die wissen, dass die Zusammenhänge und Liebschaften und Herkünfte doch alle anders sind, als uns die Herrschenden glauben machen wollen, da hätte ich ebenso gut den Mann übersehen können, zumindest versäumen, seinen Namen auf dem am Revers angehefteten Plastikschild zu lesen, der mir vertraut, fast intim vorkam und den ich dennoch für einen Moment nicht zuordnen konnte.

Man müsse, ja man dürfe nichts beschönigen, beschwor Monsieur le Commissaire und zählte die bescheidenen Teilerfolge im Südsudan auf, nippte an seinem Wasserglas, ich ließ meinen Blick wieder auf den Mann neben dem spitz aufragenden Blumenschmuck fallen, registrierte seine hohen Augenbrauen, den dunklen Ausdruck seines Gesichts, und da wusste ich, dass ich mit ihm, als er noch längere Haare und jungenhafte Gesichtszüge gehabt hatte, einige Zeit lang jeden Tag am Mittagstisch zusammengesessen hatte.

Man dürfe eben nicht vor dem zurückschrecken, was unmöglich erscheint, betonte Monsieur le Commissaire, während ich Milan noch immer anstarrte und er endlich meinen Blick erwiderte, erst verwundert, aber schneller mich wiedererkennend, als es mir gelungen war, und doch!, hörte ich auf der Bühne Monsieur le Commissaire sagen, Milan lächelte dezent, und doch hätten wir aneinander vorbei unbeschadet aus diesem Abend gehen können, ich hätte gegen elf Uhr ein wenig müde, ein wenig gleichgültig an meiner Haustür den Code eingegeben und kurz darauf, drei Etagen höher, die Pumps von den Füßen gestreift. Vielleicht wäre irgendein Kollege noch wach gewesen, vielleicht wäre er ans Telefon gegangen.

Wenn ich heute an den Abend zurückdenke, sehe ich die spitz zulaufenden Strelitzien überall um mich herum, ihren Kelch wie einen Vogelschnabel vorgereckt, die Blüten als exzentrischer Kopfschmuck spitz aufragend, überall im Raum stehen sie in meiner Erinnerung, viel mehr, als es tatsächlich gewesen sein können. Ihren Namen hatten sie einst zu Ehren der Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz erhalten, wie ich Monate später las, als Milan wieder aus meinem Leben verschwunden war und ich ihn als Phantom zurückzuholen versuchte, um alles besser zu begreifen, dabei hätte ich ihn lieber vertreiben sollen, denn Gespenstern sind wir unterlegen, sie setzen sich über unsere kleinkarierte Vernunft hinweg, und das Gespenst von Milan nahm herrisch in Beschlag, was noch da war von mir, als könne er nichts gehen lassen, auch das nicht, was ihn nicht mehr interessierte, was noch übrig war von meinem Feierabend in einer zu kleinen, zu teuren Wohnung und von meinem unscheinbaren Büroleben, unscheinbar trotz all der weltläufigen Namen in den Berichten, die ich an meinen Vorgesetzten weiterreichte.

Milan hatte nur noch wenige Monate in Genf, ehe er im Herbst nach Den Haag gehen würde, wie er mir nicht unhöflich, aber doch so zurückhaltend erzählte, als wolle er darauf beharren, dass ich zwar mit seiner Vergangenheit, nicht aber mit seiner Zukunft zu tun hatte. Die Speditionsfirma war bestellt, seine Wohnung einem Kollegen aus Serbien versprochen, und im Ariana-Park, dem hinter dem Palais des Nations gelegenen Garten, gab es dreizehn Pfauen, doch niemand hatte bisher sagen können, welcher von ihnen der bösen Fee entsprach, auch Milan nicht, obwohl er die Anekdoten über die Pfauen sammelte wie seine Kollegen Statistiken, und wenn er nicht an Sitzungen im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen teilnahm, spürte er diesen Vögeln nach, wie er mir erzählte, ihrem torkelnd stolzen Gang, beobachtete ihre starren Augen im glänzenden Gefieder.

Wir standen etwas abseits am hintersten Fenster des Saals vor einem der dicken, roten Samtvorhänge. Unsere Kollegen hatten sich auf die Jagd nach Lachsschnittchen und Couscousschälchen begeben, sie, die am Mittag, vielleicht sogar am späten Nachmittag erst in der Kantine des Palais des Nations ein Sandwich oder in einem der Genfer Restaurants ein Cordon bleu gegessen hatten, kämpften sich nun verbissen an die Nahrung heran, in einer obszönen Mimikry, als stünden sie vor einem Hilfskonvoi der UNO und die hochdekorierten Kellner gäben nicht Porzellanschälchen und Servietten aus, sondern jene in blauer Zeltplane verschnürten Nahrungsmittelpakete, die über Gebieten abgeworfen werden, in denen Hungerkatastrophen aktenkundig geworden sind.

Leicht vorgebeugt stand Milan neben mir, die Handteller zu einer Kuhle geformt, als hielte er unsichtbare Brotkrumen darin, mit denen er die Pfauen füttern würde, die auf den allein den UNO-Angestellten vorbehaltenen Parkwegen ihr mysteriöses Leben führten, dabei hatte der Vorbesitzer des Anwesens, ein gewisser Monsieur Gustave Revilliod de la Rive, vor über hundert Jahren testamentarisch verfügt, dass das Gelände frei zugänglich bleiben müsse, doch damals, als noch nicht einmal der Völkerbund gegründet und erst recht nicht gescheitert war, hatte noch niemand geahnt, dass die gebrandschatzten Städte des Deutsch-Französischen Krieges, der hier Französisch-Deutscher Krieg hieß, eine nur arglose Vorahnung davon gaben, was das zwanzigste Jahrhundert bereithalten würde.

Doch, doch, jeder der Pfauen habe einen eigenen Namen, erklärte Milan und trug sie mir so hochachtungsvoll vor, als flanierten dort im Garten die Könige, Kaiser und Diktatoren jener Länder, über die niemand je gesprochen hatte und die, stolz und unbeteiligt, ihre Schönheit spielen ließen, all jene übertrumpfend, die im Inneren des strahlenden, geraden Gebäudes verwaltet und vertreten wurden, und als Milan sich näher zu mir neigte, mein Handgelenk streifte, zuckte ich zurück, so unerwartet, ja unangenehm war mir diese beinah zärtliche Berührung.

Ob aus Müdigkeit oder doch aus lange zurückliegender Vertrautheit, lehnte er sich an die Säule neben mir, seine Arme vor der Brust verschränkt, es mag der exakte Winkel sein, der diese Geste souverän wirken lässt, eine überlegene Lässigkeit, wie ich sie von einigen Kollegen kannte und wie sie vielleicht auch die Kavaliere, die bei der Prinzessin von Mecklenburg-Strelitz vorsprachen, beherrscht haben, wenn sie nicht andere Arten der Machtdemonstration pflegten, Pantomimen, die noch besser zu den Blumen der Prinzessin passten und heute so unverständlich sind wie jede verfallene Mode.

Milan war lediglich acht Jahre älter als ich, keine halbe Generation, und doch war er längst in einem geordneten Leben angekommen, mit seinem Posten im Menschenrechtsrat nach all den Jahren, die er im Westjordanland und in Mosul verbracht hatte, in Büros, die Luftschutzbunkern glichen, geordnet jetzt mit seiner Ehe, seinem Kind, was ihn dazu bewogen hatte, die Krisengebiete gegen Genf einzutauschen, und nach Genf nun also die Niederlande, der Strafgerichtshof, seine Kündigung bei den Vereinten Nationen zum Ende des Sommers. Dabei habe er seine Sehnsucht nach Kriegen nie ganz aufgegeben, sagte Milan und fügte hinzu, ich würde wohl genug über seine Arbeit wissen, um es nicht falsch zu verstehen, er wünsche natürlich keine Kriege, nur wünsche er sich an die Orte, an denen diese Kriege ja dennoch stattfänden, er halte es einfach schwer aus, hier am Schreibtisch die Berichte und Zahlen zu lesen und doch kaum etwas anderes tun zu können, als sie abzunicken und weiterzureichen. Strategieentwicklung, sagte er, du weißt selbst, dass die Strategien schon vor Ort nicht funktionieren, wie sollen sie von hier aus greifen?

Mit einer eleganten Geste ließ der Kellner die Hotelservietten auf den Tresen flattern. Ein violetter Schriftzug Beau Rivage Genève 1865, darüber breitete eine kleine Taube auf einer Säule ihre Schwingen aus, auf die er uns Martinigläser stellte. Im Nachhinein scheint es oft nicht mehr erkennbar, welcher Schritt zu welchem geführt hat, welche Geste zwingend auf eine andere gefolgt ist, an welchem Punkt man nicht mehr umkehren konnte, sondern sich nur noch der zwangsläufigen Choreographie unterwerfen, aber ich bin mir heute sicher, dass es Milans Idee war, rüber an die Bar zu gehen, auch wenn ich es vorschlug, ein Getränk noch, oder musst du morgen früh raus?, fragte ich und setzte hinzu, wirst du zu Hause erwartet?, gleichgültig fast, mich interessierte seine Frau nicht, ich wollte lediglich nicht zu mir, wo ich zwischen den erdrückend weißen Wänden auf dem ebenso weißen Sofa sitzen und Zeitung lesen würde, bis ich müde genug wäre, um einzuschlafen, und auch wenn ich es vorschlug, hatte er uns doch dorthin gebracht, mir die Worte souffliert, indem er bemerkte, dass uns im Konferenzsaal niemand vermissen würde.

Zu viele Konflikte, zu viele Kosten, sagte Milan, die Leute wollen ihr Geld lieber für andere Dinge ausgeben, und wir sehen dabei zu, wie dieses schöne Projekt namens UNO zu Ende geht. Soll man noch Geduld haben oder sie verlieren?, fragte er und stieß sein Glas gegen meines.

In Nikosia liegen die Sandsäcke seit vierzig Jahren, sagte ich. Aber sie schießen nicht mehr so oft, das ist doch was. Die Soldaten stehen nur da, schlecht gelaunt, trotzdem lassen sie dich durch. Es ist, als spielten alle nur Krieg, man vergisst leicht, dass es wirklich eine Front ist, mitten auf Zypern.

Dass ich allein in einem für zwei Jahre angemieteten Apartment über einem indischen Supermarkt wohnte, erwähnte ich nicht, in Servette, drei Stationen hinter dem Bahnhof, wo auch Menschen lebten, die nicht als Juristen oder Diplomaten bei der WTO oder der UNO arbeiteten, ich erwähnte es nicht, weil es mir, wie schon in unserer Kindheit, vor Milan peinlich war, dieses unvollständige Leben zuzugeben, das besser einzurichten mir nicht geglückt war und das nicht einmal die Schönheit von traurigem Minimalismus trug wie die Wohnung von jemandem, der keinen Sinn für Einrichtung hat, aber wenigstens versteht, das Provisorische von Kartons und Kisten und einer Matratze ohne Lattenrost zu behalten, anstatt es mit unpassenden Möbeln zu kaschieren, und ich fragte mich, ob es tatsächlich nur Selbstlosigkeit war, die ihn nach Mosul, dann ins Westjordanland gebracht hatte, und während ich mich das fragte und mich fragte, warum wir beide hier gelandet waren, im Beau-Rivage, überhaupt in Genf, in Büros, die nur durch wenige Abteilungen und ein paar bürokratische Begriffe, durch acht Jahre und Milans Ehrgeiz oder vielmehr Ruhelosigkeit voneinander getrennt waren, wusste ich natürlich, dass es nicht bloß das war, weder Zufall noch Selbstlosigkeit, das ist es bei keinem von uns, wenn ich Milan auch zu wenig kannte, um sagen zu können, was ihn tatsächlich antrieb.

Vor den falschen Augen auf dem Pfauenrad, sagte Milan, als er mich durch das hallenartige Marmorfoyer zum Ausgang begleitete, müsste uns grausen, wie das sonst der Fall ist, wenn etwas Unbelebtes lebendig wirkt. Aber die Harmonie, das strahlende Königsblau verwirrt uns eher. Diese Tiere haben viel besser als wir verstanden, dass wir durch Schönheit nur einschüchtern oder langweilen. Geltung erreichen wir durch Widerspruch. Nicht durch Dissens, sondern im Paradox, sagte er zum Abschied, küsste mich flüchtig auf die Wange, drei Mal, wie es in der Schweiz üblich ist. Die vom Regen nasse Straße glänzte im Scheinwerferlicht des Taxis auf, und dann stand ich allein, blickte an der Fassade hinauf, an den Balkonen hingen Blumenkästen, Narzissen und Hyazinthen, und um die Stadt zog sich das Juragebirge.

Bei Bonn. Januar 1994

In meiner Kindheit hing über meinem Bett ein Bild, das einen in seinen weiten, mit gelben und blauen Rauten bedruckten Pumpkleidern verloren wirkenden Harlekin zeigte, der einen dunklen Hut auf dem Kopf trug, darunter rotes Haar. Im Haus von Milans Eltern hing über meinem Bett kein Bild, sondern ein Fenster, es war in die Dachschräge eingelassen und zeigte in den Himmel, am unteren Rand wuchsen Baumspitzen in die Aussicht.

Während der Trennung meiner Eltern war ich für einige Monate zu einer Freundin meines Vaters geschickt worden, auf dieses Grundstück abseits der Stadt, abseits von allem. Es würde mir guttun, meinte er oder wollte es zumindest meinen, wenn ich in einem Haus mit anderen Kindern wohnte, obwohl Milan der einzige Sohn war und im Übrigen nicht mehr Kind, doch meine Eltern waren so sehr mit dem Streit um Habseligkeiten beschäftigt, die ihnen während der Ehe nicht das Geringste bedeutet hatten, dass keinem von beiden auffiel, dass ein Jugendlicher weniger als jeder andere etwas mit einer Drittklässlerin anfangen kann und acht Jahre für ein Kind ein ganzes Leben sind. Sie wollten mich von den Streitigkeiten fernhalten, als hätte ich sie nicht seit Jahren zwischen ihnen erlebt und die bedrückende Stille, wenn jeder seiner Wege ging. Sogar ich als Kind spürte, dass diese Wege nur gewählt wurden, um dem anderen möglichst weit zu entkommen, und als es gar nicht mehr auszuhalten war zwischen ihnen, setzte mein Vater mich ins Auto. Ich roch sein Aftershave, als er sich in den Fond des Toyota beugte, den Sicherheitsgurt für mich schloss, was er nicht mehr getan hatte, seit ich in die Schule ging.

Wir fuhren an den grauen Nachkriegsbauten der Vororte vorbei, ich sah den Umschlagbahnhof Eifeltor vor dem Fenster, die grau gestrichenen Kranbrücken, an denen die Haken still in der Dämmerung hingen, kein Zug fuhr ein, nur die Geisterstadt aus gestapelten Containern ragte neben der Autobahn auf, und wenig später bezog ich ein größeres Zimmer, eine größere Welt, als ich sie kannte, und wenn sie auch am Rand einer Kleinstadt lag, schüchterte sie mich ein wie ein Dialekt, den ich nicht verstand, obwohl er doch eigentlich meine Muttersprache sein oder zumindest mit ihr zu tun haben sollte.

Das Haus war auch kein Haus, sondern eine Villa, blass und erhaben, ein Gebäude wie aus einem Märchen, eher aus Tausendundeiner Nacht als aus den Schauergeschichten der Grimms, und Lucia, die Freundin meines Vaters, war eine aus einem Fünfziger-Jahre-Werbeprospekt entflohene strenge Schönheit, deren dunkles aufgestecktes Haar ich mir offen nicht einmal vorzustellen wagte. Überhaupt stammte vieles hier aus einer anderen Zeit, der Wald, in dem drei Ziegen und ein Reh wohnten, die strengen Tischmanieren, die Lucia und Milan mit geradem Rücken vorführten, das Mobiliar, cremeweiß das meiste, die kräftigen, geschwollenen Hände von Milans Großvater auf einem der Fotos an der Wand, auf das ich immer wieder sehen musste und mir vorstellte, dass er einmal, ehe er in dieses Haus gezogen war, handwerklich, vielleicht sogar bäurisch gearbeitet haben musste, was, wie ich ein Vierteljahrhundert später von Milan erfahren würde, nicht stimmte, dass vielmehr sein Großvater sich umso mehr nach Tätigkeiten wie dem Zersägen von Holz und dem Ausbessern des Schuppens gesehnt habe, je weiter seine Verpflichtungen als einer der obersten Beamten der Republik ihn davon entfernten, und wann immer es ihm die unumstößlich getakteten Tagesabläufe erlaubten, tat er es auch, aber es war nicht oft, und seine Hände waren wohl klobig von Geburt an und nicht geschwollen, weil er sich jemals verausgabt hätte, zumindest nicht körperlich.

Wir saßen an dem großen nussbraunen Esstisch, an dem ich unter keinen Umständen spielen durfte, wie mich die Haushälterin bereits ermahnt hatte, eine kleine, pummelige Person, die liebevoll wirkte und im nächsten Moment so frostig blicken konnte, dass ich erschrak, das Holz sei zu kostbar, hatte sie mir erklärt, ich fand es einfach nur unausstehlich dunkel.

Darius saß mir gegenüber und knabberte Gurkenscheiben, was mich mehr als alles andere verwirrte, bei uns zu Hause gab es zum Kuchen keine Gurken und keinen zu weichen weißen Toast auf einer Tablettpyramide. Mein Vater nippte zurückhaltend an seinem Kaffee, blickte wie ein Schuljunge zu Darius, der von seinen Reisen erzählte, die ihn in die Schweiz, nach New York und bis in Länder brachten, deren Namen ich noch nie gehört hatte, es schien, als wäre Darius allein in den letzten Wochen häufiger verreist als meine Eltern während meines ganzen Lebens und viel weiter, als ich es bisher von irgendjemandem gehört hatte, und während ich Darius' leicht stockender Erzählung folgte, die er mit ausholenden Gesten untermalte, mit denen er sich doch nur weitere Gurkenscheiben vom Tablett pickte, sah mein Vater schweigend auf seine Fingernägel, und ich verstand wohl damals schon, dass er bereits gegangen war, er war gegangen, ohne mich mitzunehmen.

Weißt du, wenn man einmal dabei ist, kommt man nicht mehr so leicht raus, sagte Darius, und ich habe schon dem Kaiser gedient, wenn du so willst.

Lucia lachte und sah ihn kurz darauf entgeistert an, als fiele ihr erst jetzt auf, dass er tatsächlich besser in eine vergangene Monarchie passte als in die Bundesrepublik der achtziger Jahre, in der es verknotete Telefonschnüre, Legosteine und Toyota Corolla gab, all diese profanen Dinge, nach denen niemand gefragt hatte, am wenigsten Darius.

Du weißt, dass Deutschland einmal einen Kaiser gehabt hat?, flüsterte Milan mir zu.

Und seine Frau Sissi ist in Genf ermordet worden, am Quai, rief ich.

Dass sie sich so für Todesfälle interessiert, bemerkte Lucia.

Andere interessieren sich in ihrem Alter für Dinosaurier, entgegnete Milan, das hat ja auch mit dem Tod zu tun.

Warum will sich die Kleine nur schon wieder Österreich einverleiben, sagte Darius.

Mir war beklommen, als ich seinen Blick auf mir spürte, und ich weigerte mich trotz mehrmaliger Ermahnung, meinen wattigen Toast aufzuessen. Durchs Wohnzimmerfenster sah ich wenig später die Scheinwerfer des Toyota aufleuchten, ich stand auf Zehenspitzen, stützte mich mit den Händen auf der zu hohen Fensterbank ab, und kurz darauf waren die Lichter hinter der Biegung der langen Ausfahrt verschwunden.

Am Abend fuhren andere Wagen vor, sie parkten nebeneinander auf dem Platz unter dem Wohnzimmerfenster, und Darius nahm Milan und mich mit hinaus, obwohl Milan sich sträubte, er habe keine Lust mehr auf solche Veranstaltungen, aber er wurde von Darius mit einem kräftigen Schulterklopfen nach vorne gedrängt. Wir gingen am Waldrand entlang und betraten den Stall, in dem das Reh kauerte, das Darius wo auch immer mit gebrochenem Bein aufgetrieben, zu sich genommen und aufgezogen hatte, wie er den wartenden Herren von der Presse erzählte. Eine einzige Frau war dabei, die an den Schulterpolstern ihres Blousons zupfte und skeptisch das Tier betrachtete. Darius trat an das Gatter, eine Säuglingsflasche in der Hand, hielt den Nuckel dem Kitz entgegen, und nach einiger Scheu schnappte es danach und sog Milch. Fotos wurden geschossen. Milan stieß Luft aus. Dann winkte Darius mich zu sich, ich solle das Reh streicheln. Zögernd streckte ich meine Hand aus, hörte die Blitzlichter hinter mir zischen, die mein erstes und einziges Erscheinen in der Regionalpresse ankündigten.

Ich hätte damals nicht sagen können, was ich von Darius hielt, aber es beeindruckte mich, dass sich so viele Menschen für ihn interessierten, dass er in Zeitungen vorkam, was für mich so unvorstellbar war, wie in einem Roman aufzutauchen, und als wir beim Abendessen zusammensaßen, konnte ich nicht davon ablassen, ihn zu beobachten, als könne mir seine Art, sich das Brot mit Butter zu bestreichen, verraten, wie er von diesem Tisch hinüber in den General-Anzeiger kam, der auf dem fünften Stuhl lag, auf dem vor ein paar Stunden noch mein Vater gesessen und zurückhaltend seinen Kaffee getrunken hatte.

Darius' Augen waren wässrig, die Haut unter den Augen grau, dabei wirkte er nicht wirklich erschöpft, seine Geschäftigkeit hatte lediglich etwas Starres. Seine Hände hingegen tänzelten über alles hinweg, Tischplatten, Glasränder, Buchrücken, und wann immer ich in den kommenden Monaten an Darius' Arbeitszimmer vorbeischlich, meinte ich, das Tapsen seiner Finger zu hören hinter der dunklen glänzenden Holztür, die so viele Länder und Städte zu verbergen schien, und wie gern hätte ich mehr gewusst über die Reisen, zu denen er um vier Uhr morgens das Haus verließ. Ich wollte hören, wie sein Leben dort aussah und wie die Menschen, ob es Wolkenkratzer gab und ob die Autos schneller fuhren als hier oder langsamer, aber Darius war mehr noch als andere Erwachsene jemand, den man als Kind nicht einfach ansprechen mochte.

Am Sonntag fuhr Milan mit seinem Hockeyteam zu einem Trainingsspiel in der Nähe von Aachen, und wir saßen nachmittags zu dritt vor der Tablettpyramide mit Kuchen und Toast, Darius' wirr gemusterte Krawatte verursachte mir Schwindel, vielleicht musste ich gerade deshalb immer wieder hinsehen, ich bröselte mit meinem Stück Sandkuchen, bis Lucia meine Hand niederdrückte und mich ermahnte, nicht mit dem Essen zu spielen.

Als das Telefon klingelte und sie hinausging, saß ich allein mit ihm. Noch immer sah ich auf seine Krawatte, auf der türkise Wirbel durcheinandertanzten, und hörte das Knacken der Gurkenschale, wenn er in eine weitere Scheibe biss.

Und wie kommst du in Geometrie voran?, fragte er mich schließlich, dabei war ich gerade mal bei den vier Grundrechenarten angelangt. Um meine Ahnungslosigkeit nicht zugeben zu müssen, fragte ich, ob es überall Mathematik gäbe, auch an den entferntesten Orten, an denen er bisher gewesen war, schließlich hatten sie dort auch eine andere Schrift, so viel wusste ich von den bedruckten Süßigkeitenboxen, die eingestaubt und ausgeblichen in der Küche standen.

Darius lachte, was ich zum ersten Mal von ihm hörte.

Nicht unsere, es ist doch eher ihre Mathematik, wir haben sie adoptiert, erklärte er, und kurz hoffte ich, jetzt wäre der Moment, da er mir von den Städten erzählen würde, aus denen er jedes Mal, wie um seine Reise zu beglaubigen, Postkarten schickte und neben den Süßigkeiten kitschige Souvenirs mitbrachte, die niemandem im Haus gefielen, winzige Teppiche oder folkloristisch bemalte Aschenbecher, Federn, Brieföffner, all diese Dinge, auf die ich noch stoßen würde, wann immer ich eine Schublade öffnete.

Und von wem?, fragte ich.

Er betrachtete mich eine Weile und wollte zum Reden ansetzen, da kam Lucia ins Esszimmer zurück, und das Schwebende der Situation löste sich auf.

Einmal, verriet mir die Haushälterin kurz vor dem Abendessen, als sie mich vom nussbraunen Tisch verscheuchte, einmal sei es mit Darius ja beinahe zu Ende gewesen, da unten. Aber was rede ich, murmelte sie und legte sich, scheinbar verschreckt, die Hand vor den Mund, eine theatralische Geste, die ich ihr schon mit neun Jahren nicht abnahm, doch das Wort unten bekam einen tiefen, morastigen Klang, während ich mir ausmalte, wie Darius, dessen Bewegungen ein wenig unbeholfen waren, von einer verschleppten Eleganz, auf eine Bergspalte zustolperte, zu Darius passte für mich keine andere Gefahr, nichts Schnelles, Modernes, höchstens noch ein Unwetter oder ein herabfallender Ast, und wie gern hätte ich gewusst, was geschehen war, als beinah etwas geschehen war, aber die Haushälterin wollte nichts mehr davon hören, gab vor, etwas sehr dringend erledigen zu müssen, einen Braten aus dem Ofen holen, der noch gar nicht im Ofen war, und mit Lucia reden, die gerade eine Bekannte in der Stadt besuchte.

Am Montag brachte Milan mich zur Schule, sein Gymnasium lag ein wenig weiter stadteinwärts als der graue Neubau, in dem die Grundschule untergebracht war, wir waren spät dran, und seine linke Schuhspitze klopfte unruhig gegen die rechte, als wir an der Ampel warteten, es wurde nicht grün, es wurde nicht grün, da griff ich nach seiner Hand.

Hast du nie Angst, wenn Darius wegfährt?, fragte ich.

Darius?, fragte Milan. Das Ampellicht sprang um, und er zog mich auf die Straße. Jemandem wie Darius passiert nichts.

Wie er das sagte und meine Hand dabei hielt, nicht zu fest, aber doch fest genug, um mich nicht zu verlieren, dachte ich, ja, jemandem wie Darius kann nichts passieren, vielleicht kann uns allen nichts passieren, wenn Milan auf uns aufpasst.

Erst später, als ich wieder in der Normalität von Köln lebte, in der vertrauten kleinen Sphäre, die sich doch verändert hatte, einen Geruch verloren, die Hälfte der Möbel, erzählte mein Vater mir, dass nach mir andere Kinder in Milans Nachbarzimmer eingezogen waren, ein stetiger Reigen ungewollter Geschwister, um die zu kümmern sich Milan nie geweigert hatte, wenn er es auch mit dezentem Desinteresse tat. Er war nicht verbindlich, aber er besaß eine Höflichkeit, die man leicht damit verwechseln konnte. Sehr viel mehr wusste ich nicht von ihm, nachdem ich das cremefarbene Zimmer wieder geräumt hatte. Ich schickte ihm keine Briefe und bekam auch keine von ihm, da es überhaupt keine Wörter gab, die wir hätten austauschen können. Ich wurde zehn, was interessierte mich ein Junge aus der Oberstufe?

Genf. April 2017

Nach unserem Treffen im Beau-Rivage hörte ich nichts mehr von Milan. In Genf eilte man von einem wichtigen zu einem noch wichtigeren Treffen, dazwischen saß man die mit Papierkram eingedeckten Stunden ab. In diesen Tagen wusste ich weniger denn je, was ich in dieser Stadt sollte. Wenn ich nach neunzehn Uhr das Büro verließ, waren die Geschäfte bereits geschlossen, nur der Migros am Bahnhof war noch geöffnet, der einzige Flecken Metropole, den es hier gab.

Mein Wohnblock trug die Eleganz einer sozialistischen Trabantenstadt, und ich versuchte, nicht vor der Dämmerung dort einzutreffen, spazierte durch die Altstadt, manchmal auch am Seeufer entlang, obwohl ich weder Kälte noch Nässe leiden kann. In den Straßen fühlte ich mich von Durchreisenden umgeben, so stark war das Gefühl bisweilen, als wären nicht nur die Menschen, sondern die Stadt selbst sich fremd. Wir alle wohnten hier nur, keiner von uns war tatsächlich zu Hause, für die paar Jahre lohnte es nicht, anzukommen, lohnten sich in Genf weniger als in den Missionen, in denen wir in unserer Notgemeinschaft zusammenhalten mussten, was eine Art des Ankommens war. In einem schmalen Ladengeschäft am Boulevard Georges-Favon drehten Modelleisenbahnen ihre Runden und ließen die Passanten allein mit der Frage, wer in Genf so viele Modelleisenbahnen, Miniaturkühe und winzige Berglandschaften kaufte, dass sich die Miete in dieser von luxuriösen Wohnungen bestellten Gegend rentierte. Am Quai fotografierten Touristen die Fontäne unter grauem Himmel, den See, der sich in die Mitte der Stadt drängte, er hätte schön sein können, doch auf mich wirkte alles wie angeschimmelt. Zu lange im Wasser gelegen.

Nur wenn ich früh am Morgen mit der Tram zur Arbeit fuhr, am Bahnhof vorbei, konnte ich zwischen zwei Haltestellen den Charme der morbiden, von welken Karyatiden überladenen Häuser und der stockfleckigen Funktionsbauten wieder verstehen und auch den Reiz des Elitären, der hinter den Fenstern der Grandhotels an der Seepromenade zu ahnen war, wo man sich Staatschefs dabei denken mochte, wie sie mit Weltkugeln Billard spielten.

Manche meiner Kollegen redeten gern davon, die Vereinten Nationen seien eine große Familie, aber wenn sie das sein sollten und die eleganten, kalten Gänge des Palais des Nations unser Zuhause, dann war es eine jener Familien, in denen zwar weder Streit noch Rachegelüste herrschten, aber doch eine großzügige Gleichgültigkeit, was in gewisser Weise schlimmer war, denn nichts deutete noch darauf hin, dass der eine den anderen einmal geliebt hätte. Wer bei den Vereinten Nationen arbeitete, durfte sich nicht in falsche Abhängigkeiten begeben, nicht von einem Kollegen, der am anderen Ende der Welt im Einsatz war oder einen solchen vorbereitete, erwarten, dass er an einen dachte, und war Milan nicht überhaupt erst an der Bar vertraulich geworden, wie man es eben wird mit etwas Alkohol, nichts deutete an, dass aus unserem Wiedersehen etwas folgen würde, und trotzdem wartete ich auf eine Nachricht von ihm, eine kurze Betreffzeile, die persönlicher klänge als meine gewöhnliche Korrespondenz, aber unter meinen Mails fand sich keine, die an einen Abend im Beau-Rivage erinnerte, und am Telefon hörte ich nur Monsieur Boucherons nasale Anweisungen.

Je nun, Sie machen das schon, Mira, zwei Staaten, eine Insel, die Lage ist günstig, man hat ja schon Karten ausgetauscht, wir müssen sie nur noch ein wenig anpassen. Ich solle die Bedenken ausräumen, die Zweifel, Zurückhaltung, die Landstriche, die falsch markiert, die Kommata, die zu viel gesetzt waren, es stehe günstig, wiederholte er, dabei wussten wir beide, dass der Präsident der Republik Zypern an seiner Macht hing wie andere Menschen an ihren Liebsten und dass es für ihn nicht genug zu gewinnen gab bei einer Einigung, ich hatte die Berichte des Generalsekretärs, die Resolutionen, Dossiers und Zeitungskolumnen gelesen, wieder und wieder, als wollte ich sie auswendig lernen, dabei würde es an meinen Verhandlungen kaum etwas ändern. Ich lockte lieber mit abwartender Stille, und schon zogen meine Gesprächspartner ihren König vor auf ein Feld jenseits des Spielplans.

Nach Genf kamen die Politiker und Generäle erst, wenn sie sich auf keinen anderen Platz der Welt mehr einigen konnten, weil der eine Ort zu sehr der einen, der andere Ort der anderen Partei zuspielte, Genf war die Tabula rasa, der neutrale Boden, und falls alles glücklich verlief – es stand gut, wie Boucheron sagte, historisch gut –, falls ich meinen Auftrag zufriedenstellend erledigte, würden wir im Juli Vertreter aus Nordzypern und der Republik Zypern begrüßen, die nach Jahrzehnten bereit wären, einen Konflikt beizulegen, den wir längst zu den unumstößlichen Gegebenheiten zählten, so wie die Gletscherschmelze und die Rocky Mountains, ein paar Dutzend Menschen, die sich beschuldigt, belogen und beschossen hatten oder es andere an ihrer Stelle hatten tun lassen, da sah ich am linken Rand meines Fensters blaue Federn vor grünem Grund aufschimmern.

Ich ließ die Unterlagen sinken, einen Stapel Statistiken zum Blauhelmeinsatz, 887 Soldaten (84 weiblich), 67 Polizeibeamte (19 weiblich), lehnte meine Stirn gegen die Scheibe. Die Federn schillerten in der nebligen Helligkeit, die seit Tagen über Genf hing. Sein Kopf ruckte vor und zurück, als der Pfau über den Kiesweg schritt, fast schien mir, er würde zittern. Er zog seine Schleppe wie ein schönes, aber zu schweres Gepäck hinter sich her, nur ein Spaziergänger müsste ihm in den Weg treten, damit er sein Rad aufschlüge, ich warf die Akten auf den Schreibtisch und verließ das Büro.

Am Cirque stieß ich die Glastür des Café Remor auf. Die Luft hier war stets ein wenig überheizt, roch nicht nach großer Welt wie die klimatisierten Räume der Vereinten Nationen, sondern nach Kaffee und feuchten Mänteln, und wenn die Tür hinter mir zufiel, verlor sich die Hektik wie der Lärm einer entfernten Baustelle.

Ich nahm mir eine Tageszeitung aus den Fächern, setzte mich zwischen die Menschen, die alle wirkten, als trügen sie noch gewohnheitsmäßig Hüte, sobald sie auf die Straße traten, und kurz dachte ich, ich könnte einfach verschwinden in einer Zeit, die nicht zu mir gehörte, eine unbemannte chinesische Raumfähre war an das Weltraumlabor Himmelspalast angedockt, las ich, später sollte dort einmal Reis angebaut werden, der Kellner stellte mit ausgesucht höflicher Miene den Kaffee vor mir ab, vor dem Fenster gingen zwei in sich versunkene Herren vorbei, und es war, als zöge eine calvinistische Strenge dicht an mich heran, dieser Aberglauben, der die Zukunft eher als Ertragen denn als Hoffen empfinden ließ und jeder Form von Schönheit grundsätzlich misstraute. Calvin selbst lag ein paar Gehminuten von hier entfernt auf dem Cimetière des Rois; ein kleines, von einem Gusseisenzaun umschlossenes Grabfeld, auf dem Buchsbaum wuchs. Der Friedhof war einst für all die Pesttoten des Hôpital des Pestiférés angelegt worden, in einer Zeit, als man auch hier noch massenhaft starb und nicht nur die Herren, sehr selten auch Damen willkommen hieß, die auf ihren Thronen und Logen über ihre zerstörten Ländereien verhandelten. Ich wusste nicht, wo genau sich das Jenseits befand, hoffte nur, es möge nicht in den Köpfen der Calvinisten liegen.

Ich wollte gerade aufstehen, die Zeitung zurücklegen, wieder zu den Vereinten Nationen hinauffahren, da betrat eine schlaksige Frau das Café. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen und erwiderte meine Verwirrung mit einem Nicken, schüttelte die Nässe von ihrem Mantelkragen und bahnte sich ihren Weg zu meinem Tisch.

Ich hatte Sarah nicht mehr gesehen, seit ich aus Burundi abgereist war. Ihr Gesicht wirkte fahl, als hätte sich ihr Teint der dauernden Bewölkung angepasst, aber etwas war schillernder an ihr, als ich es in Erinnerung hatte, und wir umarmten uns flüchtig, wohl beide unsicher, wie nah wir uns damals eigentlich gewesen waren.

Und, wie ist es?, fragte ich.

Na ja, wie soll es sein. In der Welt verloren gegangen, sagte sie.

Du auch?

Wir alle.

Wir lachten, ich griff nach ihrer Hand, sie sah mich verwundert an. Schön, dich zu sehen, sagte ich entschuldigend.

Wirkte zuletzt nicht so, bemerkte sie. UNHCR?

Ich schüttelte den Kopf. Ich bin hier nur … Vermutlich eh bald wieder weg. Nairobi oder warum nicht Teheran.

Glückwunsch, die sind ja auf unseren Verein gut zu sprechen. Aber wer ist das schon, sagte Sarah und winkte dem Kellner, bei dem sie einen frischgepressten Orangensaft bestellte, wie in Bujumbura, wo wir uns fast ausschließlich von Säften ernährt hatten, gepresst aus allen möglichen Früchten, in Jennys Café, der hippen, von Journalisten und Expats bevölkerten Enklave.

Aber diese Jungs, sagte ich, die du unterrichtet hast, du hast mir von ihnen erzählt, weißt du noch?

Natürlich, sagte Sarah. Vormittags haben wir ihre Gewehre eingesammelt, und nachmittags saßen sie vor uns in der Schulbank, damit sie irgendwas anderes als Söldner werden können.

Die mochten dich schon.

Ja, klar. So sehr, dass sie nachts gleich das Lager aufgebrochen und die Waffen wieder mitgenommen haben. Die mochten vor allem meine Naivität.

Der Kellner stellte das Saftglas vor Sarah auf den Tisch. Ich betrachtete ihre Finger, die das Glas umspielten, noch dünner als in Bujumbura waren sie geworden, zerbrechlich, ohne anmutig zu sein, und niemandem wäre eingefallen, sie beschützen zu wollen. Sie wirkten wie alles an Sarah, ihre strohigen Haare, ihre ausgebeulte Handtasche, ihre verwaschene Jacke, wie etwas, das man vergessen hat, obwohl man es immer bei sich trägt.

Manchmal kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, dass ich mal mit wirklichen Menschen gearbeitet habe und nicht bloß mit Statistiken, sagte sie und zeigte zum Fenster. Unwirkliche Stadt da draußen. Ist doch zynisch, entschuldige. Zuerst Afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme, weil sich einfach niemand die Hände an dem Kontinent schmutzig machen wollte. Weil es nicht rentabel war, dort die eigenen Soldaten erschießen zu lassen. Und nach Ruanda war doch niemand geläutert, man kam nur mit neuen Schlagwörtern: Perspektiven, Zukunft. Wie aus einer Werbeanzeige für eine bessere Welt. Hat ja wunderbar geklappt. Jetzt brennen in Bujumbura wieder die Straßen. Der Präsident bricht die Verfassung, um an der Macht zu bleiben, und wer sich ihm widersetzt, verschwindet oder schafft es mit etwas Glück noch ins Exil. Schön, das bisschen Unterricht hat auch nichts dran geändert. Wann bist du gegangen?

Ein paar Wochen vor dem Putschversuch.

Ich bin bis zum Schluss geblieben, bis sie uns rausgeworfen haben. Nein, verzeih: die Gespräche mit uns eingestellt, so nennen sie es. Und jetzt ist alles so, als wären wir nie da gewesen. Oder sogar schlimmer. Aber was haben wir erwartet? Dass wir mal eben aus der Schweiz anrücken, ein bisschen Stacheldraht um ein Gelände spannen und darin den Entwicklungserfolg eines Landes beschließen, für das sich niemand interessiert außerhalb der Mission?

Wir haben immerhin was versucht. Es ist schiefgegangen, ja, aber wir haben's versucht.

Du warst nicht bis zum Putsch da, sagte Sarah. Es ist, als würdest du ein Kind aufziehen, und dann siehst du, wie es in den Fluss fällt und einfach untergeht.

Es ist nicht dein Kind, es war nur eine Mission.

Du hast es ja nicht mehr mitbekommen am Ende. Wie alles wieder zusammengebrochen ist. Es war so sinnlos, die ganzen Jahre waren so sinnlos, sagte sie. Natürlich, du kannst behaupten, es gab die Chance, dass es klappt. Dass es vorangeht. Die Zivilgesellschaft, die war ja da. Die Mittelklasse hatte wieder ein bisschen Geld. Die Straßen waren morgens verstopft, weil sich mehr Leute einen Kleinwagen leisten konnten, als es in dieser Stadt jemals vorgesehen war. Die Kleinwagen, sagte sie und wischte mit dem Finger über ihr Handy, die waren immerhin noch für die Flucht gut.

Du hast mal ziemlich anders geredet.

Hab mich wohl vergiftet, sagte sie und blickte angespannt auf das Display. An einer Überdosis Idealismus. Und mein Chef hat auch wieder einen Tobsuchtsanfall. Entschuldige, ich muss los. Kollateralschäden vermeiden. Wir sehen uns.

Als Sarah aufstand, beugte sie sich zu mir, unbeholfen und doch geschickt, als wolle sie mich küssen, schlang sich den Schal um den Hals und wandte sich ab.

Sie stand schon an der Tür, da drehte sie sich noch einmal zu mir um, zögerte und kam dann durch den Gastraum zurück an meinen Tisch.

Habe ich gerade zu viel geredet?, fragte sie.

Wir haben uns lange nicht gesehen.

Sie sah mich einen Moment lang prüfend an, fuhr sich dann betont hastig durch ihre Haare. Ist es das, wovon sie reden?

Wer redet wovon?

Dass du Leute zum Sprechen bringst.

Ich lachte. Nein, bitte, was? Wer sagt das?

Einige. Mehrere. War das in Burundi auch schon so? Ist mir das einfach nicht aufgefallen?

Ich habe keine Ahnung, was du meinst.