Didier Eribon

Betrachtungen zur Schwulenfrage

Aus dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer

Suhrkamp

Für G. natürlich

»Es ist wahr, daß das gesellschaftliche Sein das ist, was gewesen ist, aber auch, daß das, was einmal gewesen ist, für immer nicht nur in die Geschichte, was sich von selbst versteht, sondern auch in das gesellschaftliche Sein, in die Dinge und auch die Körper eingeschrieben ist. So nimmt mit jedem Tag, den eine Macht andauert, der Anteil des Irreversiblen zu, mit dem diejenigen rechnen müssen, die sie umstürzen wollen.«

Pierre Bourdieu

Der Tote packt den Lebenden

Vorwort zur neuen Ausgabe (2012)

Es ist nicht leicht, einem neuen Leserkreis ein Buch vorzustellen, das bereits eine ziemlich lange »Karriere« hinter sich hat. Ich habe 1995 mit seiner Niederschrift begonnen; sie wurde 1999 abgeschlossen und veröffentlicht. Ich erinnere mich noch der Energie – besser gesagt: der Begeisterung –, die mich damals beseelte, als ich tagsüber las, nachts schrieb … Ich empfand mich zutiefst als Mitglied einer internationalen Bewegung zur Erneuerung des Denkens, einer Bewegung, die in politischen Strömungen wurzelte, die sich zum Ziel gesetzt hatten, Fragen aufzuwerfen – oder vielmehr: sie nochmals und in neuen Begriffen zu stellen –, die mit Gender und Sexualität zu tun haben, um gegen die Normen aufzubegehren, die in diesen Bereichen herrschen, und die Gewalt zu bekämpfen, die diese Normativität mit sich bringt.

Ich hoffe, dass die Leidenschaftlichkeit, ja Fieberhaftigkeit, von denen diese Seiten geprägt waren, inzwischen noch nicht ganz erloschen sind, und dass sie sich auch den Lesern von heute mitteilen, als wäre das Werk gerade erst erschienen. Abgesehen von einigen Streichungen und Zusätzen habe ich in dieser Neuausgabe im Übrigen nur überwiegend geringfügige – wenn auch recht zahlreiche – Änderungen vorgenommen, so sehr bin ich nach wie vor davon überzeugt, dass diese vor etwa fünfzehn Jahren entwickelten »Betrachtungen« in einem stark gewandelten Kontext ihre Relevanz und Triftigkeit im Wesentlichen bewahrt haben.

Wenn ich zusammenfassen sollte, worum es mir damals ging, könnte ich es so formulieren: In diesem ersten einer Reihe von Werken wollte ich versuchen, die Einwirkung sozialer Verdikte – wie sie durch die Normen, die im Gender- und Sexualitätsbereich gelten, von vornherein gefällt werden – auf die Konstitution der Existenzen und Subjektivitäten zu untersuchen und zu beschreiben, vermittels welcher Mechanismen diese Einwirkung sich vollzieht und wieweit dieses Räderwerk blockiert werden könnte. Deswegen schreibe ich dem Phänomen der Beleidigung, der beleidigenden Äußerung, und allgemeiner: der Logik stigmatisierender und herabsetzender Kategorisierungen, eine so große Bedeutung zu. Die Macht der Beleidigung rührt daher, dass sie von der gesamten Gesellschaftsordnung – hier: der gesamten Sexualordnung – gestützt wird und darauf abzielt, in einer hierarchisch aufgebauten Struktur Plätze anzuweisen, und das auch erwirkt. Daher der Gedanke, dass die Verhaltensweisen und Strömungen, die gegen die Macht der Norm anzugehen beabsichtigen, keinesfalls ohne Gegendiskurse und Gegenpraktiken auskommen, die sich niemals völlig außerhalb dessen situieren können, was sie bekämpfen und wogegen sie Widerstand zu leisten versuchen.

Diese Gegendiskurse und Gegenpraktiken entspringen niemals dem Nichts: Sie sind einer Geschichte, sind Büchern und Ideen, Lebensstilen und Existenzweisen, kurz: einer Kultur oder Gegenkultur, eingeschrieben. Daher beziehen sich die Minderheiten, die Dissidenten bei ihrem Versuch, die Gegenwart zu transformieren, die Zukunft ins Auge zu fassen, unweigerlich auf eine mehr oder weniger nahe Vergangenheit, die Modelle und Vorstellungen zur Verfügung stellt, Wörter und Affekte, und die der Fähigkeit zu handeln und dem Willen zur Autonomie Stützpunkte liefert, deren sie zu ihrer Entwicklung bedürfen. Man bekennt sich zu Vorgängern und lässt sich von ihrem Beispiel anleiten. Indem man sich auf diese Weise ermöglicht, seine persönliche Erfahrung in einen Rahmen zu stellen, der sie verständlich macht, indem man also seiner Existenz eine Bedeutung verleiht, die sich in dem verankert, was anderen zu schaffen gelang, bringt man es dazu, seine eigene Existenz zu konstruieren oder zumindest zusammenzubasteln, so gut es eben geht.

Ich weiß wohl, dass Joan Scott in einem berühmten Artikel eben diese »Evidenz der Erfahrung« in Frage gestellt hat, die sehr oft dazu führt, sich in diesem oder jenem Aspekt einer Vergangenheit wiederzuerkennen, deren kulturelle Gesamtkonfigurationen wir nicht kennen. Dieselben Worte, dieselben Gebärden, dieselben kennzeichnenden Merkmale können in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Bedeutungen annehmen und also nur verstanden werden, wenn man sie wieder in ihre historischen »Orte« einschreibt. »Es sind nicht die Individuen, die Erfahrungen haben, sondern Subjekte werden durch Erfahrungen konstituiert.«1

Ein »Subjekt« ist also immer durch die Gesellschaftsordnung produziert, die die Erfahrungen der Individuen in einem gegebenen Augenblick der Geschichte organisiert. Daher läuft die Versuchung, im Tun und Treiben der Vergangenheit sich selbst wiederzufinden, Gefahr, die Realität der komplexen Systeme auszublenden, die die Erfahrungen jener Epoche steuerten. Sie erwecken heute in uns ein Gefühl von Vertrautheit – dabei müssten wir doch allererst die sozialen, ideologischen, sexuellen Mechanismen auf den Prüfstand stellen, die ihnen ihre Bedeutung verliehen und die »Subjekte« produzierten, die sie ausagierten. Ein »Subjekt« wird stets produziert in »Unterordnung« unter eine Ordnung, unter Regeln, Normen, Gesetze … Das gilt für alle »Subjekte«. »Subjekt« sein und einem System von Zwängen unterliegen ist ein und dasselbe.2 Aber dies gilt noch mehr für »Subjekte«, denen in der Sozial- und Sexualordnung ein »untergeordneter« Platz zugewiesen ist, namentlich für Schwule und Lesben.3 Bei der Lektüre von Proust beispielsweise hätten wir uns zu fragen: Was lehrt uns diese Beschreibung der Homosexualität über die Gesellschaft jener Zeit, über die Art und Weise, in der die Kategorien »Gender« und »Sexualität« geformt wurden, über die Beziehungen zwischen Personen desselben Geschlechts, darüber, wie sie je nach sozialem Milieu wahrgenommen und erfahren wurden, usw.? Und was über die Verflechtung jedes dieser Aspekte mit umfassenderen Realitäten? Kurz, wir hätten uns die wesentliche Frage zu stellen: Wenn wir uns spontan mit diesen Kategorien identifizieren, ratifizieren wir dann nicht ihre »Evidenz«, fixieren und verdinglichen wir sie nicht, statt sie der Kritik zu unterziehen? Naturalisieren wir sie nicht, statt sie zu historisieren?

Ließe sich aber bei der Untersuchung der Prozesse der Produktion von »Subjekten«, das heißt ihrer »Unterwerfung«, nicht doch von jenem Gefühl einer Evidenz ausgehen, das zu beweisen tendiert, dass die Systeme der Sexualordnung trotz all der über ein Jahrhundert hinweg eingetretenen historischen Transformationen eine gewisse Kontinuität bewahrt haben? In Die männliche Herrschaft stellt Pierre Bourdieu sich in Bezug auf Frauen die Frage: Wie kommt es, dass Herrschaftsstrukturen ganze Epochen fast unbeschädigt überdauerten trotz aller Veränderungen, die die Beziehungen zwischen den Geschlechtern umgewälzt haben?4 Lässt sich diese Frage nicht auch analog zur Homosexualität stellen? Gewiss, seit Prousts Zeiten hat sich die Situation beträchtlich geändert, sofern sich überhaupt für irgendeine Epoche von einer Situation im Singular sprechen lässt. In großartigen Arbeiten sind die unterschiedlichen Existenzweisen von »Homosexualität« zu diesem oder jenem Zeitpunkt des 19. und des 20. Jahrhunderts untersucht worden, und es wurde gezeigt, was jede von ihnen einzigartig, unvergleichlich macht. Aus all diesen Beiträgen zur Erkenntnis der Vergangenheit geht hervor, dass der Begriff »Homosexualität« jünger ist, als man glaubt, und dass er selbst für die jüngst vergangenen Perioden zu umfassend, zu massiv, zu normativ ist, als dass er den vielfältigen, heterogenen Erfahrungen gerecht werden könnte … Die Gestalten, die »Homosexualität« annimmt, sind den jeweiligen kulturellen Gegebenheiten stets spezifisch; die Identitäten sind pluralisch, instabil, lassen sich von einfachen, eindeutigen Definitionen nicht einfangen. All das ist unbestreitbar. Und es liegt mir selbstverständlich fern, den Wert und die Bedeutung dieser historischen, soziologischen oder theoretischen Forschungen in Abrede zu stellen. Nichtsdestotrotz: Diejenigen, die das eigene Geschlecht lieben oder allgemeiner: die den Gender- und Sexualitätsnormen zuwiderhandeln, unterliegen einer besonderen Form sozialer Gewalt, und die Wahrnehmungsschemata und mentalen Strukturen, die dieser sicherlich weitgehend auf die androzentrische Sicht der Welt zurückzuführenden Gewalt zugrunde liegen, sind jedenfalls in der westlichen Welt überall fast dieselben, und sie sind es seit zumindest anderthalb Jahrhunderten. Daher das Gefühl der Nähe, das Schwule bei der Lektüre von Werken überkommen mag, die Erfahrungen von Schwulen in einem anderen Land oder einer anderen Epoche rekonstruieren. Das wirft die Frage nach der Verstetigung dieser Gewalt, nach ihren Auswirkungen und natürlich auch nach den Widerstandsformen auf, die ihr unaufhörlich entgegenwirken. Die Geschichte der Herrschaft wie auch die ihrer Bekämpfung sind daher durch eine gewisse – und unvermeidliche – Kontinuität geprägt, sei sie auch nur subjektiv. Es geht darum zu begreifen, wie die der sozialen Welt und zugleich den Wahrnehmungsstrukturen der Welt – hier dem sexuellen Bereich – einbeschriebenen Machtstrukturen sich in historisch unterschiedlichen Situationen reproduzieren und perpetuieren und selbst die Transformationen überdauern, denen die Gesellschaften und die Lebensformen ausgesetzt waren.

Ich habe eine doppelte Aufgabe in Angriff nehmen wollen. Zunächst einmal die, zu untersuchen, was es mit der »Unterwerfung« Schwuler heute auf sich hat und inwiefern diese Prozesse in vieler Hinsicht und trotz aller Entwicklungen nicht so verschieden sind von denen, die vor einem Jahrhundert im Schwange waren (was mich keineswegs dazu führt, eine essentialistische Konzeption von Identität restaurieren zu wollen, wie mir manchmal törichterweise vorgeworfen wurde, sondern dazu, die Sexualitätsfrage als Operator einer Analyse von Herrschaftsstrukturen einzusetzen, also als Verankerungspunkt einer allgemeinen Analyse des Funktionierens der Gesellschaftsordnung, wie es andere mit der Analyse des Bildungssystems taten). Ich habe daher sowohl auf sozialwissenschaftliche Untersuchungen zurückgegriffen (auf die neuesten, aber auch auf solche, die schon zehn oder zwanzig Jahre zurückliegen), aber auch auf die zeitgenössische und die klassische Literatur, namentlich auf Prousts Schriften. Ich habe mich übrigens entschieden, hauptsächlich auf sein Werk zurückzugreifen, zum einen, um eine Multiplizierung von Verweisen zu vermeiden und dem Leser den Zugang zu den Texten zu erleichtern, vor allem aber, weil es mir – anders als vielen anderen – in Bezug auf die Schwulenfrage als äußerst modern erscheint.

Ausgegangen bin ich von dem Problem der Beleidigung, das heute wie gestern im Leben der Schwulen eine derart große Rolle spielt. Ich habe versucht, die Art und Weise zu rekonstruieren, in der die Schwulen von der Sexualordnung »unterworfen« werden, und auch die Art und Weise, wie sie sich, zu jedem Zeitpunkt anders, der Herrschaft widersetzt haben, indem sie Lebensweisen, Spielräume, eine »Schwulenwelt« produziert haben. Ich interessierte mich daher für diese Prozesse der »Subjektivierung« oder »Resubjektivierung«, worunter ich die Möglichkeit verstehe, ausgehend von der zugewiesenen Identität seine persönliche Identität neu zu schaffen. Was folgerichtig heißt, dass der Akt, durch den man seine Identität neu erfindet, immer von der Identität abhängt, die von der Sexualordnung auferlegt worden ist. Nichts entsteht aus nichts, am wenigsten Subjektivitäten. Es handelt sich immer um eine Wiederaneignung oder, um Judith Butlers Bezeichnung zu verwenden, um eine »resignifizierende Praxis«.5 Aber diese »Resignifikation« ist der Akt der Freiheit schlechthin, und übrigens der einzig mögliche, denn er öffnet die Tore zu Unvorhergesehenem, zu Neuem.

Im zweiten, historisch orientierten Teil des Buchs, den ich »Oscar Wildes Gespenster« überschrieben habe, untersuche ich, wie im Verlauf des ausgedehnten Prozesses der Herausbildung eines literarischen und intellektuellen Diskurses, der dem Verbotenen Legitimität zu verschaffen sich bemühte, eine »Schwulensprache« erfunden wurde. Eine ganze Gruppe von Diskursen – angefangen beim »homosexuellen Code« in den um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Schriften der Oxforder Hellenisten über bestimmte Texte von Oscar Wilde bis hin zu Gides Corydon – versuchten, gleichgeschlechtliche Liebschaften öffentlich artikulierbar zu machen. Dieser Wille zu sprechen nahm immer die Form dessen an, was Foucault discours en retour nannte, »Gegendiskurs«: Er wurde stets in »strategischer« Reaktion auf Werte, Normen, Vorstellungen formuliert, die ihn natürlich von vornherein verurteilten, aber mehr noch von innen her formten. Die Repression der Homosexualität nährte historisch die Entschlossenheit, sie auszudrücken. Umgekehrt konnte sich dieser Ausdruck jedoch häufig den Denkweisen, die ihn beleidigten, nicht entziehen. Diese Überlagerung von Schwulensprache und homophobem Diskurs habe ich hier zu analysieren versucht (und wenn mein Buch sich hauptsächlich auf männliche »Homosexualität« bezieht, so selbstverständlich nicht, weil weibliche »Homosexualität« mich nicht interessierte – das Gegenteil ist der Fall –, sondern weil die Sozialisations- und Subjektivationsprozesse wie auch die kulturelle und subkulturelle Geschichte beider nicht genau analog verlaufen und die »Lesbenfrage« einen weiteren Band erforderte, der ebenso viele Forschungen benötigen würde wie der vorliegende).

Wenn in der Schwulenkultur noch immer und in vieler Hinsicht die Phantome Wilde und Gide herumspuken, wenn ihre Erfindungen durch zahllose Fäden mit einer mehr oder weniger unterirdischen Geschichte verbunden sind, wenn Schwule immer noch deren Biographien verfassen, wobei sie, wie Neil Bartlett überzeugend nachgewiesen hat,6 jeweils die Biographien ihrer Vorgänger neu lesen, dann ist dieses Erbe gewiss kritisch unter die Lupe zu nehmen. Erben heißt wählen, sagt Jacques Derrida.7 Es muss unterschieden werden zwischen dem, was bewahrt werden kann, und dem, was mit Sicherheit zu verwerfen ist. So wichtig die Gestalt Wildes ist: Nichts ist doch letztlich abstoßender als seine elitäre Haltung, sein aristokratischer Ästhetizismus. Aber wie sollte man an seinem Lobpreis des self-fashioning nicht festhalten: an dem Gedanken, sich selbst zu erschaffen und aus seinem Leben ein Kunstwerk zu machen?

Bei diesem Thema drängt sich der Name Foucault unmittelbar auf. Eine ganze Reihe seiner Texte enthält zahlreiche Bemerkungen zur Schwulenfrage. Die Idee einer Produktion seiner selbst zum Beispiel greift er nachdrücklich auf; für ihn setzte sie die Erfindung neuer Beziehungsformen zwischen den Individuen und die Entwicklung dessen voraus, was er culture gay nennt. Allerdings habe ich den Eindruck, dass er die eben erwähnten Diskurse seiner Vorläufer, die unbedingt der Kritik zu unterziehen hat, wer sie sich aneignen will, oft nur in modernem Gewand reproduziert. Ich habe daher versucht, in die – nicht immer kohärente – Argumentation Foucaults einzudringen, ihre Versprechen und zugleich ihre Grenzen herauszuarbeiten.

Für den Bereich, der uns hier beschäftigt, wird der Name Foucaults inzwischen mit der radikalen Auflösung des Begriffs Homosexualität in Verbindung gebracht, die er in Der Wille zum Wissen unternahm, dem ersten Band seiner Geschichte der Sexualität.8 Er beschreibt hier die Erfindung der »homosexuellen Persönlichkeit« durch den psychiatrischen Diskurs gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Zuvor gab es ihm zufolge nur verwerfliche »Handlungen«; nun wurden denjenigen, die sie begingen, eine »Psychologie« angehängt, Gefühle, eine Kindheit … Foucault wurde damit zu einem wirksamen Gegenspieler John Boswells und seiner »essentialistischen« Konzeption der Homosexuellengeschichte. Seine Untersuchungen wurden zur Bibel »konstruktivistischer« Historiker; fast alles, was heute in den Vereinigten Staaten und mehr oder weniger in der ganzen Welt geschrieben wird, ist von ihm inspiriert. Die Vorstellung, dass es eine invariante Realität der Homosexualität nicht gibt und die griechische Liebe nicht das Vorspiel zur zeitgenössischen Homosexualität ist, hat sich weitgehend durchgesetzt. Das steht nicht mehr zur Debatte. Aber offenkundig haben die Oxforder Hellenisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts sich selbst als von anderen verschiedene »Personen« begriffen, und diesen Eindruck hatten sie seit ihrer Kindheit. Und sie beschrieben ihn, lange bevor der psychiatrische Diskurs sich der »sexuellen Inversion« bemächtigte und Handlungen zwischen Personen desselben Geschlechts in einen Krankheitskatalog von Perversionen und »Identitätsstörungen« einordnete.

Es gibt jedoch noch ein anderes Problem, das meines Wissens bisher niemand aufgeworfen hat: Fünfzehn Jahre vor Der Wille zum Wissen datierte Foucault in Histoire de la folie die Erfindung der »Figur« des »Homosexuellen« auf einen ganz anderen Zeitpunkt, nämlich auf das 17. Jahrhundert.9 In diesem Werk beschreibt er den Prozess der Erfindung der »Homosexualität« nahezu umgekehrt: Weil die Objekte, deren die Psychiatrie sich bemächtigt, der »Homosexuelle« ebenso wie der »Irre«, bereits konstituiert sind (namentlich aufgrund einer tiefen Transformation des »Empfindens«, deren sichtbarstes Symptom die Internierung von »Narren« und »Wüstlingen« darstellt), kann sie im 19. Jahrhundert in Erscheinung treten und sich fortentwickeln.

Bei der Gegenüberstellung dieser beiden Schriften Foucaults und ihrer widersprüchlichen Thematiken geht es mir nicht nur um einen exakten und präzisen Kommentar seines Werks und seiner Entwicklung. Denn politisch und kulturell steht dabei eine Menge auf dem Spiel. In Wahnsinn und Gesellschaft bot Foucault uns eine Analyse, die sich um Verbot und Repression dreht: Er setzte sich also zum Ziel, die Stimme derjenigen vernehmbar zu machen, die zum Schweigen verurteilt waren. In Der Wille zum Wissen beschreibt er die »Wortmeldung« als konstitutives Element eines Dispositivs der Macht, das die Individuen zum Sprechen auffordert. Es ließe sich vorstellen, dass sich aus diesen beiden Analysetypen weitgehend divergierende politische Perspektiven ergeben. Ich habe jedoch den Eindruck, dass Foucault sich in seinen Interviews aus den achtziger Jahren bemüht hat, beide Problemstellungen zusammenzuführen und durch die Idee einer »Ästhetik der Existenz«, die neue Subjektivitäten hervorbrächte, über sie hinauszugelangen.

Zwischen Foucault und Wilde ist somit eine erstaunliche Verwandtschaft in Bezug auf die Art und Weise festzustellen, in der sie sich bemühen, Widerstandsgesten zu erfinden, Abstand zu den instituierten Normen herzustellen. Foucault schreibt sich ein in die Geschichte der homosexuellen Wortmeldungen und in die Reihe der Autoren, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts versucht haben, Räume, literarische wie theoretische Praktiken zum Leben zu erwecken, die dem Widerstand gegen die Unterwerfung und der Neuformulierung seiner selbst dienen.

Infolgedessen geht es in den drei Teilen dieses Buchs um ein und dieselbe Idee: Ich habe versucht, in der gelebten Erfahrung, in der Geschichte der Literatur und des Denkens, im Leben und Werk Foucaults die Bewegung zu rekonstruieren, die von der Unterwerfung zur Neuerfindung seiner selbst führt. Das heißt von der durch die Gesellschaftsordnung produzierten Subjektivität zur »gewählten« Subjektivität. Gewählt, das heißt unablässig geformt durch kollektive Mobilisierung und politisches Handeln. Geformt ebenfalls durch die notwendig kritische Reflexion, die es ermöglicht, innerhalb dieser Bewegungen die Frage nach Formen von Herrschaft und Herabsetzung aufzuwerfen, die unberücksichtigt geblieben sind, die »abwesenden« Stimmen, die nicht vernommen und nicht angehört wurden … Denn die Arbeit an der Emanzipation kann nur als eine Aufgabe begriffen werden, die stets von neuem zu beginnen ist: eine im Grunde unendliche Aufgabe.

Erster Teil

Eine Welt voller Beleidigungen

»Sein Abenteuer ist, benannt worden zu sein.«

Jean-Paul Sartre Saint Genet, Komödiant und Märtyrer

1

Der Schock der Beleidigung

Am Anfang war die Beleidigung. Die, die jeder Schwule irgendwann zu hören bekommt und die Signum seiner psychischen und sozialen Verletzlichkeit ist. »Schwuchtel«, »Dreckslesbe« – das sind nicht bloß Wörter, die im Vorübergehen fallen. Es sind verbale Aggressionen, die sich ins Bewusstsein eingraben. Traumatisierungen, die momentan mehr oder weniger heftig empfunden werden, sich aber dem Gedächtnis und dem Körper einschreiben (denn Schüchternheit, Befangenheit, Furcht, Unsicherheit, Scham usw. sind körperliche Reaktionsweisen, die von der Feindlichkeit der Außenwelt produziert werden). Und eine der Konsequenzen der Beleidigung besteht darin, die Beziehung zu anderen und zur Welt zu formen. Und folglich die Persönlichkeit, die Subjektivität, das eigentliche Sein eines Individuums.

Der Text, den Sara Miles für Bob Ostertags Komposition All the Rage schrieb, beschreibt sehr gut, was ein Schwuler empfinden kann, wenn er beleidigt wird:

Das erste Mal, als jemand queer sagte und ich begriff, daß ich gemeint war […], brach die Welt auseinander, das einfache Wort explodierte aus dem Satz, irgendwas hatte ich falsch gemacht, irgendwie war ich falsch, queer.1

Das Schimpfwort macht mir bewusst, dass ich nicht bin wie die anderen, nicht in der Norm. Jemand, der queer ist: merkwürdig, seltsam, krank … Unnormal.

Wie es in Jean Genets Gedicht heißt: »[…] ein schwindelerregendes Wort, dem Grund der Welt entstiegen, zerstört die schöne Ordnung.«2

Die Beleidigung ist ein Urteil. Sie ist ein nahezu definitiver Urteilsspruch, eine Verurteilung auf Lebenszeit, mit der man zu leben hat. Gebrandmarkt von der Beleidigung und ihren Auswirkungen, deren wichtigste sicherlich in der Bewusstwerdung jener grundsätzlichen Asymmetrie besteht, die dieser Sprechakt auslöst, erfährt ein Schwuler seine Differenz: Ich entdecke, dass ich jemand bin, zu dem man dies und jenes sagen kann, jemand, der Objekt von Blicken, Diskursen ist und der von diesen Blicken und diesen Diskursen stigmatisiert wird. Die »Benennung« produziert eine Bewusstwerdung seiner selbst als eines »Anderen«, den andere zum »Objekt« machen. Sartre bringt es in Bezug auf Genet, den der Blick des Anderen als »Dieb« ertappt und etikettiert, auf eine schöne Formel: »Alles geschieht so, als wenn plötzlich eine Buchseite bewußt würde und sich mit lauter Stimme gelesen fühlte, ohne sich lesen zu können.«3 Die Beleidigung ist daher Aneignung und Enteignung zugleich. Mein Bewusstsein wird von einem Anderen in Besitz genommen,4 ich bin machtlos gegenüber dieser Aggression. Sartre, abermals über Genet: »[E]in blendender Scheinwerfer durchbohrte ihn mit seinen Strahlen […].« Allein und machtlos, konnte er sich »in dieser Lichtsäule«, die der Blick des anderen und seine Macht zu benennen darstellt, nur winden.5

Die Beleidigung ist nicht nur eine deskriptive Bezeichnung. Sie begnügt sich nicht damit, mir zu verkünden, was ich bin. Wer mich als »dreckige Schwuchtel« (oder »dreckiger Neger« oder »dreckiger Jude«) traktiert, oder auch einfach nur als »Schwuchtel« (oder »Neger« oder »Jude«), versucht nicht, mir eine Information über mich mitzuteilen. Wer mir das Schimpfwort an den Kopf wirft, gibt mir zu verstehen, dass er mich in der Hand hat, dass ich in seiner Gewalt bin. Und diese Gewalt ist zunächst einmal die, zu verletzen. Mein ganzes Wesen durch diese Verwundung zu brandmarken, indem er meinem Geist und Körper tiefste Scham und Angst einschreibt.

Wer hätte treffender als Marcel Jouhandeau den Schock wiedergeben können, den die Beleidigung auslöst, das Drama, das sie darstellt und dem Beleidigten zufügt? Der Insult ist »unaufhörlich«, schreibt er 1939 in seiner außerordentlichen Abhandlung Von der Verworfenheit: Er ist »auf unserer Schulter zu lesen, mit glühendem Eisen neben unserem Namen uns eingebrannt«:

Dem geht ein Licht auf, der sich öffentlich beleidigt, verachtet sieht. Er macht mit gewissen Worten Bekanntschaft, die ihm bisher nur in Verbindung mit tragischen Gestalten geläufig waren und mit denen er sich nun plötzlich behängt, überhäuft sieht. Man ist vielleicht nicht mehr der, der man zu sein glaubte. Man ist nicht mehr der, den man kannte, sondern der, den die Anderen zu kennen, als den oder jenen anzuerkennen glauben. Wenn jemand dies von mir denken konnte, so muß etwas Wahres daran sein. Anfangs versuchst du, dich dessen zu erwehren: es sei nicht wahr, sei nur eine Maske, ein Theaterkostüm, das man dir zum Spott übergeworfen habe, und du willst sie herabreißen, aber nein: sie haften so zäh, daß sie schon dein Gesicht und dein Fleisch geworden sind, und du verletzt dich selbst, wenn du dich ihrer zu entledigen suchst.6

Die Beleidigung ließe sich daher als eine »performative Aussage« analysieren, wie J. L. Austin sie definiert hat. In einem berühmten Werk unterscheidet der englische Philosoph konstative und performative Äußerungen.7 Die ersteren beschreiben eine Situation und können wahr oder falsch sein. Die zweiten schaffen eine Handlung und sind daher weder wahr noch falsch. Ein Beispiel: »Ich erkläre die Sitzung als eröffnet.« Tatsächlich unterscheidet Austin zwei Typen »performativer« Äußerungen.8 Beim ersten Typus stellt der Satz selbst die Handlung dar, die er benennt. Zu sagen: »Ich taufe dieses Schiff auf den Namen Queen Elizabeth«, oder bei der Heiratszeremonie zu antworten: »Ja« (für: »Ja, ich will die Ehe mit dieser Frau eingehen« oder: »Ich will die Ehe mit diesem Mann eingehen«), sind Äußerungen dieser Art.9 Beim zweiten Typus produziert nicht die Aussage als solche die performative Handlung. Sie wird vielmehr von den direkten oder indirekten Folgen hervorgerufen, die die Tatsache, etwas zu sagen, nach sich zieht (Furcht, Gefühle, Gedanken, die ein Satz wie »ich warne dich« auslöst). Man könnte die Beschimpfung zunächst einmal dieser zweiten Rubrik zuordnen. Die Beschimpfung ist ein Sprechakt (oder eine Reihe von Sprechakten), durch den demjenigen, dem sie zugedacht ist, ein bestimmter Platz in der Welt zugewiesen wird. Diese Zuweisung determiniert eine Weltsicht, eine besondere Wahrnehmung. Die Beschimpfung brandmarkt das Bewusstsein eines Individuums tief und dauerhaft, weil sie ihm sagt: »Du wirst gleichgesetzt mit diesem«, »du wirst reduziert auf jenes«. Also werde ich mehr oder weniger »dieses« oder »jenes«. Und zwar umso mehr, als die Beleidigung überall in der Sprache zu Hause ist. Die Linguisten haben es uns gezeigt, indem sie den Begriff »performativ« erweiterten und Anspielungen, Unterstellungen, Ironie, Metaphern usw. mit einbezogen. Und da Austin selbst gegen Ende seines Buchs den Unterschied zwischen konstativen und performativen Aussagen nahezu aufhob, lässt sich die Möglichkeit, dass alltägliche Bemerkungen beleidigenden Sprechhandlungen gleichkommen, tendenziell gar nicht einschränken.

Jedenfalls wirkt die Beschimpfung als performative Aussage: Ihre Funktion besteht darin, den Einschnitt zwischen den »Normalen« und denen, die Goffman »Stigmatisierte« nennt,10 zu verewigen und diesen Einschnitt in den Köpfen der Individuen zu verankern. Die Beleidigung sagt mir, was ich bin, in dem Maße, wie sie mich zu dem macht, was ich bin.