Adam Brookes

Der chinesische Verräter

Thriller

Aus dem Englischen von Andreas Heckmann

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Möglich, dass die Existenz des geheimdienstlich-industriellen Komplexes wie die des militärisch-industriellen Komplexes zu einer ausgemachten Sache geworden ist, so etabliert und trotz aller Defizite so unerlässlich für die Sicherheit der Nation, dass sie nicht mehr rückgängig zu machen ist.

Patrick R. Keefe: »Privatized Spying: the Emerging Intelligence Industry«. In: The Oxford Handbook of National Security Intelligence, S. 307

Meinen Eltern Jill und Michael Brookes

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Der Kontakt

1

Provinz Qinghai, Westchina.
In jüngster Vergangenheit

01:37.

Gefangener 5995 war, wo er nicht sein durfte. Die Angst gerann ihm im Mund.

Jeden Moment.

Der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, Adrenalin ließ seinen Magen kribbeln.

Er stand im Dunkeln. Eine Bogenlampe hinter dem Barackenblock tauchte das Gefangenenlager in silbriges Licht und ließ den Klingendraht wie schillernde Spiralen vor dem Nachthimmel erscheinen.

Jeden Moment kann es so weit sein.

Er drückte den Bauch an die Mauer, die Ziegel kalt an den Händen. Und wünschte sich tiefer ins Dunkel, zwang sich zur Reglosigkeit. Atmete hastig. In der Nase kalte Wüstenluft, staubiger Kerosingeruch. Die Angst im Mund wie ranziger, schmieriger Brei.

Jeden Moment.

Und da war er, kam schwerfällig den staubigen Weg zwischen den Baracken entlang in seiner grauen, konturlosen Uniform und dem braunen, unter dem Gewicht des baumelnden Schlagstocks nach unten rutschenden Ledergürtel, mit weit zurückgeschobener Schirmmütze und zu Boden gerichtetem Blick, in der einen Hand ein Walkie-Talkie, in der anderen eine Zigarette. Die 01:30-Streife.

Aus dem Dunkel beobachtete Gefangener 5995, wie der Mann den Weg entlangschlurfte. Leizi nannten die Insassen die Begriffsstutzigen und korrupten Schwachköpfe, die die Gefängniswache bildeten. Leizi. Donner. Wegen ihrem Gepoltere, ihrem Gehuste und ihrer dauernden Rumbrüllerei. 5995 drückte sich tiefer ins Dunkel. Kaum streifte ihn der Zigarettenrauch, schon traf die Gier ihn wie ein Tritt an die Kehle.

Der Wächter hatte den Block fast erreicht, hinter dem sich Gefangener 5995 verbarg. 5995 hörte seine Stiefel über den staubigen Schotter scharren. Der Wächter sollte nun am Block entlanggehen und sich nach rechts wenden; sein Schatten sollte unter dem grimmig prüfenden Blick der Bogenlampe kleiner werden, das Knirschen seiner Schritte sollte sich entfernen. Der Wächter sollte in die leere Nacht verschwinden, damit der Gefangene seinen gefährlichen Weg unentdeckt fortsetzen konnte – wohin? In die Freiheit? Vor ein Erschießungskommando? Oder zu einer tödlichen Spritze mit einer Dosis Thiopental, um mit der Zeit zu gehen?

5995 wartete auf das Verklingen der Schritte.

Aber es war still. Der Wächter war stehen geblieben.

Das Walkie-Talkie krächzte, dann ein elektronisches Piep.

5995 hätte seinen beträchtlichen Bauch, die dicken Oberschenkel, den fleischigen Nacken, die borstigen Haare und die muskulösen Hände gern bis zur Unsichtbarkeit zusammengepresst. Der Schotter knirschte, als würde der Wächter sich langsam umdrehen oder sein Gewicht verlagern. Dann Rauschen und wieder Krächzen. Piep.

Stille.

5995 atmete ein klein wenig aus und wieder ein. Ruhig. Ruhig. Bleib ruhig.

Dann wieder langsame, knirschende Schritte. 5995 schloss die Augen und spürte den Schweiß auf der Kopfhaut prickeln. Die Schritte kamen näher.

Der Wächter entfernte sich nicht – entgegen monatelanger Gewohnheit und aller Erkenntnis zum Trotz, die ein erfahrener Arbeiter wie 5995 hatte gewinnen können. Der Wächter machte alle Einsichten zunichte und kam direkt auf ihn und seine unzulängliche Deckung zu. Dieser Hurensohn. Hatte 5995 beim Auskundschaften eine Überwachungskamera übersehen? Oder hatten die heimtückischen und hinterhältigen Kerle, mit denen er seit zwei Jahrzehnten in diesem Arbeitslager lebte, ihn denunziert?

Die Schritte kamen näher, Stiefel auf Beton, Schotter, Splitt.

Angst ließ seinen Atem stocken, zerspellte seine Gedanken. Er presste sich an die Wand und erdrückte das überwältigende Verlangen, zu flüchten, zu rennen, sich zu bewegen.

Der Wächter trat vom Weg und aus dem Licht, den Rücken 5995 zugewandt. Wo er stand, leuchtete es scharlachrot auf, dann Funkenflug.

Seine Zigarette.

Der Wächter schien nach etwas in seiner Kleidung zu tasten. Stille, dann ein nasses Zischen, ein Plätschern und der schwache Geruch nach Ammoniak und Alkohol.

Er pinkelt, dachte 5995. Er pinkelt an die Wand.

Es plätscherte nur noch sporadisch, hörte auf. Der Wächter schloss die Hose und hustete – ein entsetzliches Bellen in der Dunkelheit. 5995 stellte sich vor, in Ton gehüllt und für immer still und reglos zu sein, begraben wie ein Soldat der Terrakotta-Armee und unsichtbar seit der Zeit von Kaiser Qin Shihuangdi.

Der Wächter gähnte, kramte in seiner Tasche herum und zog ein Päckchen Zigaretten heraus. 5995 hörte das Zellophan knistern. Der Wächter schüttelte das Päckchen, hielt es gegen das Licht der Bogenlampe, zog mit Zeigefinger und Daumen eine krumme Zigarette heraus und schob sie sich zwischen die Lippen. Jetzt das Feuerzeug, sein kratziges Snick. 5995 blinzelte in die Flamme, sah den Wächter den Kopf in den Nacken legen, hörte ihn geräuschvoll einatmen. Der Wächter zerknüllte das leere Päckchen, wandte den Oberkörper um, hob den Arm und warf es in die Dunkelheit. Es traf 5995 am Kinn und ließ ihn reflexhaft zurückzucken, als wäre er geschlagen worden. Das Päckchen fiel zu Boden, der Wächter fuhr herum und spähte in die Finsternis. Er kann mich nicht sehen, dachte 5995. Er hat kein Nachtsichtgerät. Der Wächter neigte den Kopf zur Seite und spähte erneut. Es war nun ganz still.

Das Walkie-Talkie krächzte.

Der Wächter sah nach unten, drückte die Sprechtaste, führte das Gerät mit halbherziger Bewegung zum Mund, murmelte etwas hinein und ließ es los. Seufzend wandte er sich wieder ab, seine Schritte entfernten sich in die Nacht.

01:42. Achtzehn Minuten bis zur nächsten Streife.

Beweg dich.

Überraschend anmutig und lautlos für einen Mann seines Gewichts rannte Gefangener 5995 durch das schonungslos grelle Licht der Bogenlampe über den Weg zum fensterlosen Kesselhaus gegenüber. Die graue Tür, dachte er beim Rennen, darf nicht abgeschlossen sein, wenn ich leben soll. Er bremste ab und drückte die Klinke.

Die Tür öffnete sich. Sein Schwung trug ihn über die Schwelle, und er stand in dem zweistöckigen Gebäude. Es war schummrig und kalt, der Beton unter seinen Füßen war feucht, es roch nach Schwefel. Vorsichtig schloss er die Tür und gewöhnte schwer atmend seine Augen an die Dunkelheit.

Vor sich erkannte er einen Kohlenhaufen, dahinter eine Türöffnung, durch die das Zischen und Ticken des Kessels drang. Der Kesselraum war voller Rohre und nur von einer Glühlampe beleuchtet; am Boden Pfützen. Er blieb im Durchgang stehen und lauschte. Nichts. Geräuschlos passierte er den Kessel und schob einen blickdichten Plastikvorhang beiseite. Dahinter befand sich ein düsterer, schmutziger Gang. Und an dessen Ende eine Flügeltür.

Beweg dich.

Behutsam öffnete er die Flügeltür und spähte in ein nur umrisshaft sichtbares Büro mit sechs oder sieben Schreibtischen und düsteren Aktenschränken, das nach alter Pappe und Zigaretten roch. Er stand da und sammelte sich. Großer Gott, dachte er, das könnte klappen. Das könnte …

Eine Hand auf seiner Schulter.

Adrenalin durchzuckte seine Muskeln, Wut und Schreck flackerten in seinem Hirn, und 5995 fuhr herum, griff blind nach Kleidung, Fleisch, Haaren, warf sein Gewicht nach vorn und erstickte einen Schrei in der Kehle. Sein Gegenüber leistete keinen Widerstand, und 5995 stieß den Mann mit voller Wucht gegen die Wand. Der ächzte beim Aufprall und flüsterte bebend:

»Bisschen weniger Lärm, wenn ich du wäre.«

Die eine Hand am Hals des Mannes, die andere zum Zuschlagen erhoben, musterte 5995 die Kreatur, ihren flackernden Blick.

»Was, um Himmels willen, machst du hier?«, wisperte er.

»Ich hab alles getan, was du gesagt hast.«

»Fast hätte ich dich umgebracht.«

»Die Schlösser, alles. Und das Zeug liegt drüben auf dem Boden.«

»Himmel Herrgott.« 5995 ließ das zitternde Stück Mensch in Arbeitslagergrau und Baumwollschuhen los, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief durch.

»Alles da, kannst du prüfen«, sagte der Mann.

»Und ob.«

5995 drehte sich um. Zwischen den Tischen lag ein erbärmlicher Haufen Zeugs. Er kniete sich hin, wühlte sich durch und hakte ein Ding nach dem anderen ab. Zwei große Plastikbehälter mit Schraubverschlüssen, in denen wohl mal Speiseöl gewesen war, mit Wasser gefüllt und mit grüner Nylonschnur verbunden. Eine Tragetasche mit einer halbvollen Tüte Maisbrot und gebratenem Grüngemüse, dessen Fett das Papier lichtdurchlässig gemacht hatte. Zwei Riegel der scheußlichen Schokolade, die es beim Proviantmeister zu kaufen gab. Neun Päckchen Zigaretten. Ein Feuerzeug. Einige Yuan-Geldscheine, mit denen sich in der wirklichen Welt kaum mehr als eine Schüssel Nudeln kaufen ließ. Eine kleine, saubere Plastiktüte, darin etwas, das nach einem vergilbten Zeitungsausschnitt aussah. Und ein Stein. Das war’s. Seine Fluchtausrüstung. Sein Plan.

»Alles da, oder?«

5995 musterte ihn hart.

»Ja, alles da«, sagte er.

»Ja.«

»Und warum bist du hier?«, fragte 5995.

»Wir haben eine Abmachung, Peanut, oder?«

»Die haben wir.«

»Und du hältst dich dran?«, fragte der Mann.

»Herrgott, ja.« Tatsächlich ist es weniger eine Abmachung als vielmehr Erpressung, dachte Peanut flüchtig. Er hatte diese Kreatur – einen Häftling, der den Aufsehern Hilfsdienste leistete und in der Gefängnisverwaltung arbeitete – hinter den Vorratsbehältern der Küche entdeckt, die Augen schreckgeweitet, die Hose an den Fußknöcheln, das Glied zum Himmel weisend, während der Wächter vom Küchenbau mit weit aufgerissenem Mund auf den Knien gelegen hatte. Peanut hatte ihm einen gut durchdachten Deal angeboten: sein Schweigen im Gegenzug für Zugang zu den Büros und zur Laderampe.

»Du erzählst doch nichts, Peanut? Über mich, meine Verfehlungen. Wenn du … draußen bist.«

5995 verdrehte die Augen.

»Ich erzähle niemandem, dass du im Arbeitslager anderen für Geld sexuell zu Willen warst.«

»Das ist ziemlich brutal ausgedrückt, Peanut. Unfreundlich.«

»Scheiß auf unfreundlich. Jetzt schließ die Türen hinter dir ab und halt die Klappe.«

Der Mann seufzte.

Kopfschüttelnd schob 5995 die Vorräte in seine Taschen, hängte sich die Wasserflaschen über die Schulter und nahm den Ziegel. Der andere sah ihm kurz in die Augen und lächelte matt.

»Viel Glück, Peanut.«

»Scheiß auf Glück.«

Und Gefangener 5995 alias Peanut war verschwunden.

Die Laderampe lag zwischen gut zwei Meter hohen Mauern. Auf die Rampe folgten drei verschlossene Tore – und die Straße zum sechzig Kilometer entfernten Hauptlager.

Jenseits der Zwei-Meter-Mauern war nichts. Keine Zäune, keine bewachte Zone, kein Stacheldraht. Nur dreihundert Kilometer steinige Wüstenebene. Dem Arbeitslager zu entkommen, war nicht so schwer, aber der Wüste? Ihr entkam keiner. Versuchte es gar nicht erst.

Die Rampe lag im Dunkeln. Peanut horchte in die Nacht. Nichts.

Drei blaue Plastikkästen, früher vielleicht Bierkisten, standen bereit. Er setzte sie leise aufeinander, stieg hinauf und stützte die Ellbogen auf die Mauer, in deren Oberkante ein fürsorglicher Genosse spitze Glasscherben zementiert hatte. Peanut zog seine fleckige blaue Trainingsjacke aus, legte sie über die Kante, um die Scherben auf einer Breite von etwa einem halben Meter abzudecken, nahm den Ziegel, spürte das Gewicht und schlug vorsichtig auf das Glas ein, wobei die Jacke die Geräusche dämpfte. Binnen Minuten hatte er einen schmalen, gangbaren Weg geschaffen.

Er stemmte sich hoch, kniete auf der Mauer, schwankte kurz und presste Wasserflaschen und Tragetasche an sich. Dann sprang er.

Stillstand, das wusste er, war sein Feind.

Also rannte er.

Stundenlang floh er durch die Nacht. Überall in der Wüstenebene lag scharfkantiger Schiefer, der unter jedem Schritt klapperte und klirrte. Seine Baumwollschuhe waren zu dünn, das wogende Gestein zwang seine Gelenke zu seltsamen Verrenkungen, und bald waren die Füße ein einziger Schmerz. Die Plastikflaschen wurden immer schwerer, klatschten immer wieder an seinen Leib, ließen seine Bewegungen unbeholfen werden; die Nylonschnur, die sie verband, schnitt einen Striemen in seine Schulter. Liebend gern hätte er das Wasser zurückgelassen. Aber ohne Wasser würde er sterben. Schnell sterben. Kalte Luft strömte durch seine Kehle, er atmete stoßweise.

Vor ihm erhoben sich flache Hügel gegen den Nachthimmel.

Er hielt im Dunkeln an, hockte sich hin, versuchte, ruhiger zu atmen und das Gleichgewicht zu halten. Fahl leuchteten die Sterne, der Wind war schneidend. Ob er eine Zigarette riskieren konnte? Er legte die Hände schützend um die Flamme des Feuerzeugs. Der Tabak stank in der klaren Luft. Sie würden den Rauch noch in ein, zwei Kilometern Entfernung riechen.

Scheiß auf sie.

Eine mächtige, kalte Woge der Angst.

Du bist erschöpft, dachte er. Angst rührt aus Einsamkeit und Erschöpfung. Wo hatte er das gelesen?

Stillstand ist der Feind.

Beweg dich.

Weiter ging’s über den zerklüfteten Boden, mit wild baumelnden Wasserflaschen eilends den dunklen Hügeln entgegen. Dabei spukte ihm ein schönes, dummes Kindheitslied im Kopf herum.

Er yue li lai ya! Hao chun guan! Der Februar kommt! Ein schöner Frühling winkt! Die Familien arbeiten auf den Feldern! Wir liefern den Truppen Getreide!

Dieses idiotische Lied mochte er ungemein. Er hatte es an dem Tag gesungen, an dem er sein rotes Halstuch bekommen und auf Hochglanz poliert vor den Büros des Nachbarschaftskomitees paradiert hatte. Vater, damals schon steif und gebrochen, hatte ihn und seine Schwester Mei danach in den Park geführt. 1969 war das gewesen. Unter einer lichten Weide hatten sie auf einer Steinbank gesessen, Eis war vom Stiel getropft, die Zikaden hatten in der reglosen Gewitterluft gesungen.

Etwa zwei Stunden blieben ihm bis zur Morgendämmerung, bis zu den Sirenen und Hunden.

Sein Fehlen war bereits aufgefallen. In der Baracke lag Gefangener 7775 – ein Betrüger und Vergewaltiger mit leichtem Schlaf – wach und betrachtete die leere Pritsche über ihm. Peanut stand oft nachts zum Pinkeln auf. Jahrelang hatten sie deswegen gezankt. Aber diesmal war er nicht zurückgekommen. Gut anderthalb Stunden war er nun weg, und wenn die Wächter früh am Morgen kamen und feststellten, dass Peanut verschwunden war, würde Gefangener 7775 dazu befragt werden, so wie alle anderen in Produktionstrupp 20. Mit Gewalt befragt werden.

Gefangener 7775 wälzte das Problem im Kopf. Er mochte seinen abwesenden Nachbarn, und das war ungewöhnlich, weil 7775 im Allgemeinen für Intelligenzler und Politische nichts übrighatte. Er traute ihnen nicht, denn all ihre kühnen Worte verflüchtigten sich im geduckten Arbeitslagerdasein beim ersten Anzeichen von Ärger.

Doch Peanut war anders. Er war findig. Während die meisten in Produktionstrupp 20 kaum mehr als Haut und Knochen waren und ihre straffen, drahtigen Muskeln an Schnüre denken ließen, war Peanut fleischig geblieben. Während 7775 Mühe hatte, Gegenstände anzuhäufen, die in der Ökonomie des Gefängnisses wertvoll waren – Zigaretten, Briefpapier, Antibiotika –, schien Peanut immer über einen Vorrat zu verfügen. Von dem er gelegentlich abgab.

Gefangener 7775 dachte über die Bekanntschaft mit seinem berechnenden Kameraden nach. Ihre gemeinsamen Jahre im Arbeitslager waren eintönig gewesen, von einigen merkwürdigen und einprägsamen Episoden abgesehen. 7775 ließ sie im Geiste Revue passieren.

Einmal, vor Jahren, war ein schmächtiger kleiner Politischer ins Lager gekommen, zitternd, weinerlich und hohläugig – ein Anwalt, der in seinem Beruf zu viel Ehrgeiz entwickelt hatte. Bei einem Arbeitseinsatz in den Hügeln wurde er herumgestoßen, weil er mit der Schaufel zu nichts nutze war, weil sein Oberlippenbart zu üppig spross und weil es regnete. Nichts Ernstes, aber zwei Wächter mischten mit ihren Schlagstöcken mit und schlugen ihm die Nase ein; das Blut lief ihm – mit Knorpelstücken – übers Kinn, und wieder plärrte er wie angestochen. Peanut hatte die Szene beobachtet, und als sie vorbei war, hatte er den kleinen Politischen auf die Beine gezogen, ihm zu den Baracken zurückgeholfen und ihn sauber gemacht.

Dann hatte Peanut dem kleinen Politischen aufgetragen, einen Brief zu schreiben und ihn an »ausländische Journalisten« zu adressieren. In Peking. Dort gebe es jede Menge davon, hatte er gesagt, und sie würden in einem großen Anwesen in der Nähe des Sonnenaltar-Parks wohnen. Also hatten die beiden Gefangenen einen Brief aufgesetzt, der kleine Politische hatte in krakeliger, tränenverschmierter Schrift von dem Terror und der Erniedrigung berichtet, die das Arbeitslager bedeuteten (wobei er nur wenig übertrieb), und Peanut hatte den Brief mit der Wäsche aus dem Lager schmuggeln und nach Peking schicken lassen. Und eine ausländische Tageszeitung hatte ihn gedruckt! Große Enthüllungsgeschichte! Die Schrecken von Chinas Gulag! Und bald darauf waren Inspektionsteams aufgetaucht. Die Gesichter der Wächter zu sehen, war eine Freude gewesen.

Wie Peanut betont hatte, kümmerten die Bedingungen in den Arbeitslagern die höheren Tiere nicht im Geringsten, auch die Prügel nicht oder ob der kleine Politische lebte oder starb. Doch es machte ihnen etwas aus, von Fremden gedemütigt worden zu sein. Und sie würden dafür sorgen, dass es auch allen in der für die Arbeitslager zuständigen Behörde etwas ausmachte. Der kleine Politische bekam eine angenehme Arbeit in der Küche, niemand sagte ein Wort, und Peanut sah die Wächter bloß mit wissender Miene an, einer Miene, die besagte: Wenn ich wollte, könnte ich euch fertigmachen.

Woher wusste Peanut überhaupt von ausländischen Journalisten?

7775 lag in der Stinkluft der Baracke; die Nacht lastete auf ihm, und er lauschte auf das leise Atmen der übrigen Gefangenen. Er schlang die Hände um seine Decke und dachte an das Zuhause, das er einst gehabt hatte, und an ein kleines Mädchen mit Zöpfen, das mit den Zähnen Sonnenblumenkerne knackte. Ihr Gesicht war inzwischen fast verschwunden. Er stieß die Verzweiflung wie mit Klauen von sich.

7775 würde Peanut nicht melden.

Noch nicht jedenfalls. Erst noch eine Stunde abwarten.

Jetzt hatte er den Anstieg zu den Hügeln erreicht; das Gelände war hier weniger steinig, etwas leichter begehbar. Noch immer war es dunkel und jetzt auch kälter, mit Schneeresten am Boden. Erschöpfung ließ seinen Geist ziellos abschweifen. Ob er eine Witterung hinterließ? Ob sie überhaupt Hunde hatten? Im Lager hatte er nie einen gesehen. Jeder Hund, den Produktionstrupp 20 sich hätte greifen können, wäre totgeschlagen und mit dem Kreuzkümmel gebraten worden, den die Mutter von 1414 geschickt hatte. 1414 – yao si yao si. Das war nicht seine Nummer, es reimte sich nur auf will sterben, will sterben, was er nachts immer schrie, und so war er zu seiner Nummer gekommen. Anfangs waren 1414 die Hände an die Taille gekettet, und ein sechzig Zentimeter langer Balken steckte zwischen seinen Fußgelenken, sodass er bei jedem Schritt einen Halbkreis machen musste. Damals hatten ein paar Christen ihn gefüttert und ihm den Hintern abgeputzt.

Peanut blieb schwer atmend stehen und drehte sich um. Er hatte an Höhe gewonnen und sah die Lampen des Gefangenenlagers nur mehr schwach und silbrig über die nächtliche Ebene leuchten. Noch kein Geräusch, keinerlei Bewegung. Keine Lastwagen. Natürlich floh niemand. Wohin auch? Er blickte wieder aufwärts und atmete schwer. Der Hang würde steiler werden, das wusste er, und dann wäre er fast da. Beweg dich.

Wieder dachte 7775 über die leere Pritsche nach und setzte sich schließlich auf. Jetzt ist es Zeit, Peanut. Nichts für ungut, aber was muss, das muss. Im Dunkeln tastete er nach der grauen Jacke am Haken über ihm, die an den Schultern weiße Streifen hatte, trottete den Mittelgang der Baracke entlang, wartete auf den richtigen Augenblick; kalt war der Beton unter seinen nackten Füßen. Die nächsten Stunden würden heikel werden.

Er beugte sich über den vertrauten Umriss des Schlafenden. »Aufseher, wachen Sie auf! Gefangener Nummer 7775 möchte Meldung machen.«

Vom Aufseher kamen nur Schlafgeräusche. 7775 biss sich auf die Lippe und rüttelte ihn an der Schulter. »Gefangener Nummer 7775 möchte Meldung machen.«

Ein Auge öffnete sich finster, sah so tief in der Nacht ganz entrückt aus.

»Aufseher!« 7775 stand jetzt kerzengerade da. Besser offiziell auftreten, dachte er sich. »Gefangener Nummer 7775 möchte Meldung machen, dass Gefangener Nummer 5995 abwesend ist.«

»Wie spät ist es?«

»Fünf, Aufseher.«

Ein Gähnen und ein stickiger Geruch, der vom Bett aufstieg. »Was soll das heißen: abwesend?«

»Er ist nicht da, Aufseher.«

»Und wo ist er hin? Ist das nicht Peanut?«

»Gefangener Nummer 7775 weiß nicht, wohin Gefangener Nummer 5995 verschwunden ist, Aufseher.«

»Warum redest du so? Warst du ihn suchen?«

»Nein, Aufseher.«

Im schlaftrunkenen Gesicht des Aufsehers breitete sich ahnendes Begreifen aus. Dann blinzelte er und arbeitete sich aus dem Bett. Ihr umgänglicher Aufseher mit dem schütteren Haar – auch er ein Gefangener, angeblich ein Saboteur, doch keiner wusste, was er sabotiert hatte – war Unterdrücker und Freund zugleich. Jetzt zog er sich eine Weste an, stand schmerbäuchig im Dunkeln und rieb sich das Kinn.

»Und wo ist er hin?«

»Das weiß ich nicht, Aufseher.« Diese Antwort trug ihm einen prüfenden Blick ein.

Dann wandte der Aufseher sich ab, sah aus dem Fenster ins staubige Licht der Bogenlampen, spreizte die Finger hoffnungsvoll an der atembeschlagenen Scheibe.

»Was machen wir?«

7775 öffnete den Mund, schloss ihn wieder.

»Ja? Was?«

»7775 würde vorschlagen, dem wachhabenden Offizier Meldung zu machen, Aufseher.«

Der Aufseher starrte ihn an. »Aber er muss irgendwo sein.«

»Es ist schon … eine Weile her.«

Sofort flackerte Panik auf.

»Eine Weile?«

Der Aufseher rannte spreizfüßig zum Wachhaus, wo die Wächter vor einem Hongkong-Film dösten, in dem tapfere Mönche die Feinde Chinas niederhackten.

Gefangener 5995 hatte Schmerzen in der Brust. In der letzten halben Stunde war er oft stehen geblieben und hatte sich keuchend und mit zitternden Knien vorgebeugt. Doch nun sah er auf eine kleine geflutete Kiesgrube hinab, in deren schwarzem Wasser sich die Sterne spiegelten.

Man hätte die Grube hier nicht vermutet. Auf drei Seiten war sie von niedrigen, vielfach gezackten Felswänden umgeben, die Trasse war der einzige Weg rein oder raus. Vorsichtig stieg er zum Ufer hinunter. Im Osten begann es gerade zu dämmern.

Das Wasser war nicht bloß kalt, sondern unerträglich. Bis zur Taille stand er darin, die Kleidung als Bündel auf den Schultern, die Flaschen um den Hals. Kälte kroch ihm das Rückgrat hoch und ließ ihn würgen. Nun stand ihm das Wasser bis zur Brust. Die Felswände ringsum waren nicht mehr steil, sondern senkrecht – und dort klammerte sich ein Bäumchen ans Gestein. Genau dort. Er langte hoch und ertastete die Kante des Sprengtunnels, fünfundvierzig Zentimeter über seinem Kopf. Erst schob er die Kleidung hinein, dann die Wasserflaschen. Mit bloßen Füßen tastete er unter Wasser nach etwas zum Abstoßen, seine Fingerspitzen krallten nach Halt, die Schultern schrien vor Schmerz, mit einem Ellbogen konnte er sich aufstützen, dann ein verzweifeltes Krabbeln, und er war oben, tropfnass und zitternd.

Der Tunnel war schmaler, als er ihn in Erinnerung hatte, aber tief. Jahre zuvor hatte er ihn bei einem Arbeitseinsatz bemerkt und sich die Einzelheiten eingeprägt, wie er es immer machte. Er trocknete sich kauernd mit seinem Hemd ab, zog die klammen Sachen wieder an, schloss den Reißverschluss seiner Trainingsjacke und zitterte noch ein bisschen. Wenn er sich im Krebsgang rückwärts bewegte, konnte er gut sechs Meter tief im Fels verschwinden.

Hier würde er sie aussitzen, die Sirenen und Hunde und was sonst noch, die Wächter, die wie Scheißhausfliegen herumschwirren würden und um ihre Prämien fürchteten. Bestimmt suchten sie schon nach ihm.

Himmel, war er hungrig. Die Papiertüte mit krümelndem Maisbrot und Grüngemüse sah winzig aus und kläglich. Was hatte er da eben gedacht? Spar dein Essen. Stattdessen eine Zigarette, dann Schlaf.

Oder vielleicht nicht. Vielleicht sollte er in Bewegung bleiben.

Sie werden suchen, dachte er, rubbelte sich gegen die Kälte und blies in die Hände.

Niemand entkam. Ausbrecher starben mit geschwollener Zunge in der Wüste, viele Kilometer entfernt von irgendwo, ihr Fleisch wie Kitt.

Allerdings gab es inzwischen eine Bahnstrecke.

Der Himmel wurde hell. Das Wasser hatte rote Streifen.

Wächter stolperten aus dem Wachhaus, legten ihre Gürtel an, entsicherten ihre Kalaschnikows und beschirmten die Augen gegen die kalte Morgensonne. Staub hing in der Luft. Ein Jeep jaulte durchs Vordertor nach draußen; der Fahrer gestikulierte, blieb stehen und fuhr wieder los, hinaus in die Ebene.

7775 und die anderen standen vor der Baracke in Reih und Glied, seit vierzig Minuten schon. Der Aufseher stand schwitzend und mit weit aufgerissenen Augen vor ihnen. Dreimal hatte 7775 die Geschichte nun schon erzählt, auf die sie sich geeinigt hatten.

»Ich bin aufgewacht, und er war weg«, sagte er immer wieder. »Es war fünf Uhr, und ich hab sofort Meldung gemacht.« Stoß es raus. Schau zerknirscht drein.

Der Kommandant sagte leise etwas in ein Handy und simulierte Ruhe. Die Wächter wirkten verwirrt und verärgert – eine gefährliche Kombination für Peanut, wenn sie ihn fanden. Und finden würden sie ihn, dessen war 7775 sich gewiss.

Die Sonne war aufgegangen.

Er hatte den Tunnelboden von Schiefer befreit und sich dabei die Finger aufgeschürft. Jetzt saß er auf einem nasskalten Fleck blankem Fels, seine erbärmlichen Habseligkeiten lagen neben ihm.

Denk dir die Höhle als Zelle, als Gelehrtenklause, als Schriftstelleratelier, sagte er sich, als Ort des Nachdenkens und der Wiederentdeckung intellektueller Vorhaben.

Im Gefangenenlager hießen Intelligenzler »Kotfresser«. Beide Begriffe – zhishifenzi/chishifenzi – klangen nahezu gleich, und so war die Verlockung, sie zu vertauschen, unwiderstehlich. Die Insassen hatten Peanut schon als Kotfresser ausgemacht, als er durchs Eingangstor gestolpert kam. Seine weichen Hände hatten ihn verraten.

Doch als die Gefangenen erfuhren, dass Peanut keine politische Straftat begangen hatte, sondern wegen versuchten Mordes einsaß, wichen sie ein wenig zurück. Wen Peanut hatte umbringen wollen und warum, beschäftigte sie. Mit der Zeit wurde bekannt, dass er seine Straftat in der heißen Nacht des 3. Juni 1989 begangen hatte, als in Peking geschossen wurde und die Fundamente des chinesischen Staats wankten. Peanut hatte, so erfuhren sie, in einem Moment von Zorn und Schrecken ein Stück Gehwegplatte auf das Gesicht eines kleinen Soldaten niedergehen lassen, der schreiend zu seinen Füßen lag. Der kleine Soldat hatte geblinzelt und sich gekrümmt, und Peanut hatte das Blut über den Asphalt spritzen sehen. Darüber hatten die Häftlinge gerätselt. Wie konnte ein Kotfresser, ein Professor sogar, so etwas tun?

So hatte Peanut das Leben eines Zwitters geführt: einerseits Krimineller von unergründlicher Gewalt, andererseits Kotfresser. Seinen Körperumfang und sein rachsüchtiges Temperament hatte er im Umgang mit den anderen Häftlingen zu seinem Vorteil eingesetzt. Und sobald er sich einen erträglichen Platz in der Lagerhierarchie verschafft hatte, lenkte er seine Aufmerksamkeit im Laufe der Jahre darauf, jene Identität zu stärken, die seine Eltern und Klassenkameraden ihm vermacht hatten: die eines Menschen, der geistig kreativ war und ein scharfsinniges moralisches Verständnis von Gerechtigkeit und Macht besaß; die Identität eines chinesischen Intellektuellen. Er war, so sagte er sich, weit mehr als ein Häftling; er war der exilierte Denker der Legende, der Unrecht erlitten hatte, ein moderner Qu Yuan, ein vom Staat verunglimpfter Agent der Wahrheit – Gehwegplatte hin oder her.

Er reckte den Hals und sah das Wasser der Kiesgrube schimmern.

Schon früh während seiner Haft war er zu dem Schluss gekommen, dass Maßnahmen nötig waren, um sein Selbstbild als Intelligenzler/Kotfresser aufrechtzuerhalten. Ein Buch. Ein Bericht aus dem Gefängnis! Etwas Verzweifeltes und Niederschmetterndes, das es aus dem Lager zu schmuggeln und im Ausland zu publizieren galt und das verbotenerweise im Inland zirkulieren sollte. Etwas mit einem schicken, von Verzweiflung zeugenden Titel. Entbehrliches aus der Todeswüstenzelle vielleicht.

Jahrelang hatte Peanut seine Beobachtungen auf dünnes, holzhaltiges Karopapier notiert, wie Kinder es benutzen, um Schriftzeichen zu üben. Jeden Namen und jeden Ablauf; jede Fuhre welker Kohlköpfe, die auf der Laderampe landete; jede Tonne Kohle aus der kleinen, fast leergeschürften Mine; jeden Transport junger Wächter, die mit staubgrauen Haaren auf dem Lastwagen als Ablöse kamen; jeden Quadratmeter Wüste, der vom Fels befreit worden war; jedes Einsitzen in der xiaohao, der Strafzelle; jede Facette dieses vertrockneten Bienenstocks tief im wüstenhaften Qaidam-Becken: All das vermerkte Peanut und brachte es zu Papier. Er tat es am späten Abend in der Latrine und schuf einen umfangreichen, äußerst detaillierten Bericht über die Haftbedingungen im modernen China, der – davon war er überzeugt – das Gewissen der Welt aufrütteln und ihm einen Platz in der Geschichte sichern würde. Er verwahrte die Seiten in seinem Bettzeug, bis die Wachen sie fanden.

Der Gefängniskommandant war perplex, als er ein paar der fadenscheinigen Blätter in Händen hielt, während andere auf dem Boden der Baracke verstreut lagen. Gefangener 5995, eigentlich Li Huasheng mit Namen und bekannt als Peanut, stand da, von zwei Wächtern an den Armen festgehalten und den Kopf gewaltsam niedergedrückt, und kalkulierte.

»Gefangener 5995«, sagte der Kommandant. »Dir ist doch klar, dass es sich hier um Staatsgeheimnisse handelt?«

Gefangener 5995, bekannt als Peanut, starrte unverwandt zu Boden. Der Kommandant gab die Blätter einem leichenblassen Untergebenen und leckte sich die Lippen. Nachdenklich ging er zu dem Gefangenen, legte ihm einen Finger unters Kinn und zwang ihn, den Kopf zu heben.

»Warum sammelst du Staatsgeheimnisse?«

Peanut schwieg.

»Spionierst du uns aus?«

Peanut spürte die Welt unter sich wanken und konnte sich nur mühsam auf den Beinen halten.

»Bist du ein Spion?«

Nun, die Antwort darauf, Kommandant, ist strenggenommen kompliziert.

»Mir war nicht klar, dass es sich um Staatsgeheimnisse handelt, Kommandant.« Die Worte kamen zäh aus seinem ausgedörrten Mund. »Ich werde alle meine Fehler bekennen.«

Und das tat er.

Erst gegenüber einem stacheligen kleinen »Ermittler« aus der für Arbeitslager zuständigen Behörde, der Notizen machte. Sie saßen in einem hallenden »Ermittlungszimmer« aus Beton neben der Lagerverwaltung. Peanut redete, suchte nach einem Schlupfloch, redete weiter. Und wenn er aufhörte, stieß ihm der gelangweilte, übergewichtige Wächter hinter ihm einen Elektroschocker in den Nacken, um ihn wieder auf Trab zu bringen.

Dann die Fahrt zum Hauptgefängnis, sechzig Kilometer mit Fußfesseln in einem fensterlosen Transporter. Peanut kotzte auf seine Hose.

Danach ein Überraschungsbesuch bei seiner alten Freundin xiaohao, der Strafzelle. Diesmal war es ein schlichter Eisenkäfig in einer leeren Ziegelbaracke mit zerbrochenen Fenstern. Der Käfig war nicht groß genug, um aufrecht zu sitzen. Wie in den ersten Wochen seiner Haft staunte Peanut über seine Reaktion: diffuse Dankbarkeit dafür, wenigstens für ein paar Tage in Ruhe gelassen zu werden. Der Durst war sehr schlimm.

Weitere Geständnisse, nun in einem schicken Besprechungszimmer mit heller Holzvertäfelung und einem Fenster, durch das dürre Pappeln zu sehen waren.

»Ich mache gern Listen, führe Tagebuch, schreibe, Genosse.« An der Wand bemerkte er eine Kamera, eine Rotlichtperle.

»Wozu denn Listen?«, fragte ein höhergestellter Uniformträger barsch und mit gespielter Verärgerung.

Zieh Mauern hoch und verteidige sie, solange du kannst. Das hatten sie ihm einst geraten. War diese Strategie jetzt und hier anwendbar?

»Das ist bloß eine Art, sich zu beschäftigen, Genosse. Nur Listen, Notizen, Beobachtungen. Ich bekenne meine Fehler.«

»Du hast Staatsgeheimnisse gesammelt.«

Er blieb still.

»Wenn du gestehst, kannst du Milde erwarten. Wenn nicht, wirst du hart bestraft.«

Worte, die man in China seit Generationen kennt. Die an meinen Vater gerichtet waren. Und nun an mich gerichtet sind.

»Ja. Ich gestehe meine Fehler und Verbrechen«, wiederholte er.

Ein Nicken des Uniformträgers, und Peanut wurde zurück in die xiaohao gebracht, wo ein Teller Gemüsesuppe – noch warm – auf ihn wartete.

Der letzte Akt kam eine Woche später. Gefesselt wurde er über einen Hof geführt. Eine alte, verwitterte Frau in blauem Kittel spritzte Wasser auf den Zementboden, um den Staub zu binden. Es war ein Morgen im Spätsommer. Trotz der Hitze lag bereits eine Ahnung der kommenden Kälte in der Luft.

Ein voreingenommener Richter mit schütterem Haar stellte oberflächliche Fragen in ein Mikrofon, das auf einem grün bezogenen Tisch stand. Ein Staatsanwalt nuschelte.

Er stand hinter der Anklagebank. Die Frau links von ihm mit grauem, zum Dutt gebundenem Haar hatte er nie gesehen; sie blickte auf ihre Notizen und sagte nichts. Seine Verteidigerin, wie er begriff. Er beugte sich zu ihr, um mit ihr zu sprechen, aber sie schürzte die Lippen und schüttelte fest und entschieden den Kopf. Bleib mir vom Hals. Es ging um § 32 des Gesetzes zum Schutz von Staatsgeheimnissen und um § 111 des Strafgesetzbuchs. Sie verlängerten seine Haft um fünf Jahre.

Nach der Rückkehr in seine Baracke war ihm fast so etwas wie Sympathie entgegengeschlagen. 7775 hatte ihn auf eine Zigarette mit nach draußen genommen und ihm die Hand auf die Schulter gelegt. Peanut hatte sich beherrschen müssen, um nicht loszulachen.

Und dann war er ganz allein in der Abenddämmerung an der Mauer entlanggegangen. Eine geheimnisumwitterte Berühmtheit würde er also nicht werden. Er sah zu, wie eine Fledermaus über den Himmel flatterte und hin und wieder abwärts stieß.

Scheiß drauf. Einmal Spion, immer Spion.

Zweiter Tag und Panik. Ausgedörrt war er in der Morgendämmerung erwacht, als sich Motoren die Trasse hoch zur Kiesgrube quälten. Bäuchlings hatte er sich vorgeschoben und aus dem Tunnel gespäht. Zwei Jeeps, aus denen sechs Wächter mit umgehängten Kalaschnikows sprangen. Sie verteilten sich im Gelände. Einer ging ans Ufer, kniete sich hin, musterte den Boden und schaute übers Wasser. Ein Zweiter gesellte sich zu ihm und schien zu fragen, was er denke, denn der erste Wächter wies übers Wasser und dann auf den Grund. Peanut drückte sich an den felsigen Tunnelboden. Der zweite Wächter schien nachzudenken, ging zum Jeep zurück und winkte die anderen in die Fahrzeuge. Motoren sprangen an, Gänge wurden eingelegt, und die Jeeps kehrten um. Die Art ihres Abzugs ließ ahnen, dass sie hier noch nicht fertig waren.

Später rückten sie wieder an, mit einem Hund, der von der Ladefläche des Jeeps sprang, einem großen, schwarzbraunen Tier mit spitzen Ohren. Der Hundeführer trug Militäruniform, was Peanut gar nicht schmeckte, weil diese Uniformen Kompetenz bedeuteten. Der Mann rannte mit dem Hund wie spielerisch am Ufer entlang, das Tier sprang in die Luft und schlug mit den Pfoten nach ihm. Dann aber drückte der Soldat dem Hund die Nase an den Boden, und das Tier begann zu wittern, lief dahin und dorthin, jaulte aufgeregt und blickte sich zu seinem Herrn um. Langsam schob Peanut sich zurück, so weit es nur ging. Er hörte das Jaulen des Hundes, hörte einige ferne Rufe – Befehle? –, danach eine Zeit lang nichts. Und dann Fahrzeuge, die auf der Trasse zurückfuhren.

Am Tunneleingang wurde es dunkel. Immer wieder wechselte Peanut auf dem klammen Boden die Pobacke. Er war sehr hungrig. Sein Wasser war zur Hälfte verbraucht, die Kiesgrube mit Leber-Egeln verseucht, ihre Flüssigkeit untrinkbar. Er setzte sich auf, beugte sich vor und versuchte, die Zehen zu berühren. Sehr bald würde er sich einen Riegel von der furchtbaren Schokolade gönnen. Seit sechs Stunden war es nun rund um die Kiesgrube ruhig.

Vorsichtig hatte er begonnen, sich Gedanken über das Erreichen der Eisenbahnstrecke zu machen. Weitere vierundzwanzig Stunden, und er würde langsam schwach werden; also musste er es diese Nacht schaffen. Zwanzig Kilometer über harten Boden und keine Garantien, nur die Güterwagen, die von Tibet hinunter nach Xining rumpelten.

Wer würde er sein, falls er es in die Stadt schaffte – und von dort aus weiter?

Im Laufe der Jahre hatten Chinas Bürokraten Peanut viele Identitäten auferlegt. Um sie beim Namen zu nennen: Student, Klassenverräter, Intelligenzler, Dissident, Verbrecher, Gefangener. Sie alle hatten ihre Zeit gehabt, und die war mal beglückend, mal entsetzlich gewesen.

Doch noch eine Identität lebte in ihm, gepflanzt und genährt von einer anderen Bürokratie. Ihre Zeit war kurz und verschwiegen gewesen und lag weit zurück. Ihren Namen hatte er nie ausgesprochen, auch in den dunkelsten Stunden in der xiaohao nicht oder trotz Einsatz des Elektroschockers. Aber der Name war geblieben und wurde, wie er wusste, in einer Akte verwahrt, in einem Land, das er nie betreten hatte.

Nachtreiher.

Mühsam entkleidete er sich in der Enge, bündelte seine Sachen, nahm Papiertüte und Flaschen und schob sich zum nächtlichen Tunneleingang vor. Das Wasser winkte.

Beweg dich.