Titel

Merle Kröger

Die Experten

Thriller

Herausgegeben von Thomas Wörtche

Suhrkamp

Widmung

Für Ada, Mira, Tabea, Lee und Svenja

1

Grünes Fotoalbum

(Dezember 1961 bis Juli 1962)

Foto, schwarz-weiß:

Rita liest, auf dem Bauch liegend, ein Taschenbuch; wer genau hinsieht, kann den Titel erkennen: Zazie in der Metro.

Bildunterschrift: Das gefallene Mädchen, Dezember 1961

Die Komposition des Bildes im Sucher der Kamera lässt keinen Zweifel. Rita Hellberg imitiert unbewusst oder mit Absicht eine Pose aus dem Buch, das sie in der Hand hält. Die langen, dunklen Haare fallen ihr ins Gesicht, das Buch verdeckt die Augen. Sie trägt eine weiße Bluse mit hochgeschlagenem Kragen und eine gerade geschnittene, enge Hose, grau oder blau, jedenfalls dunkler. Ihre Füße sind nackt, die Zehen lackiert, vielleicht rot. Sie liegt auf dem Bauch, die Ellenbogen aufgestützt. Ihrem Bruder Kai, der in diesem Moment den Auslöser drückt, signalisiert sie mit ihrem geschlossenen Profil lässig, aber bestimmt:

Zutritt verboten.

Das Bett ist aus Holz, abgeschabt und verwohnt wie das, was man sonst noch von dem Zimmer erkennen kann. Rita scheint das nichts auszumachen. Sie wirkt entspannt, obwohl sie an dem Tag schon weiß, dass sie vom Internat fliegen wird.

Rita Hellberg provoziert ihre Umwelt, ohne es direkt zu beabsichtigen. Sie hat eine Art weltfremder Verträumtheit, als wäre sie von einer durchsichtigen, elastischen Hülle umgeben. Damit hat sie ihre Mutter zur Weißglut getrieben, bis der Vater sie zur Strafe oder zu ihrem Schutz, das weiß er vielleicht selber nicht, hierhergeschickt hat. Keinen Tag länger hätten die beiden unter einem Dach leben können. Rita hat das Urteil widerspruchslos angenommen, sie ist ein Mensch, der sich den Umständen anzupassen weiß.

Auf der Flucht geboren.

Sie rebelliert nicht, wenn es keinen Sinn hat zu rebellieren.

Sie schaut nach vorn und nicht zurück.

Sonst sähe sie noch das weiß gekalkte Haus in Stade, im September vor drei Jahren, es ist früher Morgen, frisch für die Jahreszeit. Ein kalter Wind zieht von der Nordsee über das Land. Ein paar im ersten Nachtfrost erstarrte Rosen hängen noch an den Stöcken. Friedrich Hellberg wuchtet das Gepäck seiner Tochter in den Kofferraum, er ist dreiundvierzig, wirkt erschöpft, das Herz macht ihm zu schaffen. Ingrid Hellberg sieht älter aus als ihr Mann, obwohl sie keine vierzig ist. Unzufriedenheit hat sich vorzeitig in ihre hängenden Mundwinkel gefräst, der Blick flackernd, immer auf der Jagd nach einer dunklen Ecke im Haus oder im Garten, die sie in Angriff nehmen kann und muss. Rita, damals dreizehn, ist schon halb die Stufen herunter, kommt nochmal zurück, ohne einen Blick an die Mutter zu verschwenden. Umarmt ihre sechsjährige Schwester Petra. Flüstert ihr etwas ins Ohr, die Kleine reibt sich die Augen und nickt. Für die Mutter reicht ein gerade angedeuteter Kuss auf die Wange. Rita steigt zum Vater ins Auto, ein letzter Blick zurück, ironisches Lächeln, ein Funken von Triumph im Blick.

Rita Hellberg ist ein Papakind, daran herrscht kein Zweifel. Als sie laufen kann, folgt sie Friedrich wie ein Hund. Als sie sprechen kann, redet sie vor allem mit ihm. Ihre Gespräche umgibt eine Aura des Geheimnisvollen, des Exklusiven, die alle anderen in die Außenwelt verweist.

Kai, nicht mal vier Jahre älter als Rita, ist dem Vater im Krieg abhandengekommen. Ein Junge, der sich lieber an die Frauen hält, die ihn beschützen: an Ingrid und ihre Mutter, später seine väterliche Großmutter in Ottensen. Da bleibt er auch, als die Familie nach Stade zieht, um näher an den Norddeutschen Flugzeugwerken zu sein. Friedrich lässt ihn nur ungern zurück. Aber noch einen Umzug, ein Jahr vor dem Abitur, hätte der Junge wohl kaum verkraftet.

Gebrüllt hat er schon mit drei, als Friedrich ihn ins Flugzeug gesetzt hat, und gebrüllt fortan, wenn sie nur in die Nähe des Segelflugplatzes kamen. Der wird kein Ingenieur, im Leben nicht. Sitzt lieber im Warmen, versteckt sich Nachmittage lang hinter der Orgel von Sankt Marien und klimpert Tonleitern.

Rita hingegen ist aus anderem Holz geschnitzt. Die hat Friedrich in seine zwei Hände nehmen können wie einen Vogel, so winzig war sie. So hat er sie ins Kinderkrankenhaus getragen, nachdem sie im Mai 45 in Hamburg angekommen sind. Bleibt bei ihr, Tag und Nacht, seine Mutter hat zu tun mit dem Jungen und Ingrid, die den ersten Nervenzusammenbruch hat von vielen, die noch folgen werden. Rita lässt sich von ihm ins Flugzeug setzen, ganz ruhig, ohne einen Funken Angst. Die würde sofort mitfliegen, wenn Ingrid es zuließe.

Aber nein! Rita Hellberg schaut nicht zurück. Sie lebt mit jeder Faser des zu ihrem Unglück immer noch jungfräulichen Körpers im Augenblick und liest dieses Buch, von dem alle Welt redet. Wobei im Moment vor allem Kai redet, der gekommen ist, um sie dabei zu stören, auf Anordnung von oben.

»– nachdem die minderjährige Schülerin mehrfach zu spät nach Hause kam, mit Ausgangsverbot bis zu den Ferien belegt«, liest Kai von dem Brief ab, der vor vier Wochen im elterlichen Briefkasten steckte.

»Um acht!«, stöhnt Rita, »die sperren uns hier um acht Uhr ein, obwohl da draußen noch weniger los ist als in Stade.«

»– statt die Hausordnung zu befolgen, regelmäßig nach achtzehn Uhr Herrenbesuch auf dem Zimmer gehabt. Dies wurde durch Fräulein Doktor Meinert der Schulleitung gemeldet und führt zum Internats- und Schulverweis mit sofortiger Wirkung, der jedoch mit Rücksicht auf die Auslandstätigkeit des Vaters bis zum Ende des Halbjahres ausgesetzt wird.«

»Die Meinert ist eine stadtbekannte Denunziantin. Die ist eine ewig Braune, ich schwör’s dir!«

»Wie heißt denn der Glückliche?«, fragt Kai.

Foto:

fehlt, nachträglich entfernt

»Wer?« Rita klappt das Buch zu und sieht ihn mit gespieltem Erstaunen an. »Meinst du etwa jene unwichtige Randfigur, die in Unterhosen aus dem Fenster verschwunden ist, zurück in die Bedeutungslosigkeit, der sie einst entstiegen war?«

Kai, dem die Richtung des Gesprächs nicht gefällt, greift nach einer Postkarte, die auf dem Tisch liegt. Die Vorderseite zeigt eine schmale weibliche Bronzefigur, sitzend, mit einem Kind auf dem Schoß. Er dreht die Karte um und liest die säuberlich gemalte Kinderschrift.

Hallo, Rita! Das ist Isis, die Göttin mit den Hörnern und der Sonne auf dem Kopf. Sie sagen, du hast auch Hörner, die sollst du dir anstoßen oder abstoßen? Vati rauft sich die Haare aus, bis bald keine mehr da sind. Mutti ist schrecklich nervös. Der neue Diener ist wieder weggerannt. Komm schnell, bitte! Viele liebe Grüße, deine Schwester Petra. P.S. Bringst du mir die Hörner mit, wenn du sie nicht mehr brauchst?

Kai lacht. »Typisch Pünktchen!«

Rita hebt nicht einmal den Kopf. Sie ist wieder vollkommen absorbiert von ihrem Buch. Kai wirft ihr einen langen Blick zu und legt die Postkarte zurück auf den Tisch. Er beginnt auf und ab zu laufen, zum Fenster, dann wieder zur Tür, das Zimmer zu klein für seine langen Schritte. Ritas Mitbewohnerin ist zum Glück nicht da. Er läuft auf und ab und pfeift.

I’ve got a feeling I’m falling. Fats Waller.

Nicht, weil er Rita damit etwas sagen will. Die versteht von Musik so viel, wie NDR 2 den ganzen Tag rauf und runter dudelt. Mit einem leider schwindenden Teil seiner Gedanken ist Kai Hellberg noch am vorigen Abend beim Jazzworkshop in Hamburg, im Studio Zehn. Der andere Teil: Anruf aus Kairo, bitte rede mit deiner Schwester, schiebt sich davor.

»Kann ich mir vorstellen, dass Vati tobt. Wir sollen doch alle schön nach seiner Pfeife tanzen.« Er setzt noch einen drauf. »Der alte Tyrann.«

Endlich sieht Rita kurz auf. »Lass Vati in Ruhe. Der hat genug Kummer mit der Verrückten.«

»Im Moment machst du ihm Kummer.« Kai grinst. »Vatis Liebling. Rausgeworfen wegen Verstoßes gegen die guten Sitten.«

Er geht zum Fenster und sieht hinaus in die Novemberdämmerung, als säße da immer noch der namenlose Junge in Unterhosen und wartete zitternd darauf, endlich wieder hereingelassen zu werden.

»Hmmm«, brummt es hinter dem Buch.

»Rita!« Die Musik im Kopf ist weg. »Mutti ist nicht verrückt.« Es stört ihn. Dass sie immer dieses Wort benutzt. Es klingt gemein und krank.

»Ist sie wohl, und du weißt das.« Von hinter dem Buch. »Ist doch nicht normal. Putzen von morgens früh bis nachts. Was hat die mich rumgescheucht.«

»Sie hat es halt gern sauber. Für uns!«

»Für dich vielleicht! Ich wäre fast –«

»– gestorben«, beendet Kai ironisch Ritas Satz. »Du hattest eine Lungenentzündung und keine Schwindsucht. Eine Kur in Sankt Peter-Ording, und ab ins schöne Plön hier.« Er deutet in Richtung Fenster. »Vati regelt alles für seinen Liebling.«

Endlich legt sie das Buch zur Seite und sieht ihn interessiert an, als sei er ein Wesen von einem anderen Stern.

»Bist du eifersüchtig? Hast du mich deshalb im Stich gelassen, als wir nach Stade gezogen sind? Gemütlich bei Oma Hamburg gesessen, das große Musiktalent gegeben und dich bekochen lassen, das hast du!«

Kai beginnt wieder, auf und ab zu tigern.

Stand by me, singt Ben King in seinem Kopf.

»Ich dachte, du bist auf meiner Seite«, murmelt er.

»Lass das!« Sie fuchtelt mit dem Buch in seine Richtung. »Man kann es sich auch leicht machen. Ein, zwei Demonstrationen, ein paar Flugblätter im Haus, Vati dreht durch, und du kriegst, was du willst. Typisch Junge.«

»Was hat denn das damit zu tun?« Immer dreht sie es so, dass er schuld ist. »Eine Volksbefragung gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr zu fordern, ist doch kein Verbrechen. Er hat mich verweichlichter Bolschewik genannt! Nur weil wir uns nicht zu Handlangern eines Ermächtigungsgesetzes des Bundestages machen wollen, der neue Massenvernichtungsmittel –«

»Ach, hör auf zu dozieren. Du langweilst mich.« Sie hält wieder ihr Buch vor die Nase. »Hast du keine Freunde, oder warum vertrödelst du dein Wochenende hier?«

Kai packt wütend seine Kamera in die Tasche und greift nach der Jacke. »Bis in zwei Wochen dann.«

Wenn sie nicht seine Schwester wäre.

Rita Hellberg wirft der knallenden Tür ein nachsichtiges Lächeln zu. Warum regen sich eigentlich immer alle so auf?

Foto, schwarz-weiß:

Rita und Kai, beide in dicken Wintermänteln, stehen neben einem Opel Kapitän, im Hintergrund leuchtet schneehelles Alpenvorland.

Bildunterschrift: Unterwegs, Dezember 1961

Der Großvater gibt Rita ihre Kamera zurück und stellt sich zum Winken auf die Eingangsstufen des Pfarrhauses neben seine Frau. Die wischt sich mit der Ecke ihrer Schürze im Auge herum. »Die Kälte treibt mir die Tränen in die Augen.« Sie lächelt tapfer. »Auf geht’s, Kinder.«

Übernachtung auf der Fahrt von Hamburg nach Venedig bei den Großeltern in Bayern. Es gibt Bratäpfel aus dem Kachelofen im Wohnzimmer. Kai erinnert sich an den Duft noch von früher, Rita nicht. Sie schläft im Mädchenzimmer ihrer Mutter und wirft sich unruhig von einer Seite auf die andere.

Alpträume.

Ingrid Lindemann, Tochter des Kantors in der katholischen Pfarrgemeinde Landsberg, fünf Kinder, alle spielen ein Instrument. Landsberg inszeniert sich als Wallfahrtsort der Hitlerjugend. In Scharen pilgern sie zur Gefängniszelle, in der der Führer seine Festungshaft abgesessen hat.

Die Hitlerstube.

Im Juni 1940 landet hier Friedrich Hellberg in einer nagelneuen He 111 auf dem Flugplatz. Er hat sich verpflichtet, den Sommer über junge Segelflieger zu unterrichten. Der Ingenieur und Hobbyflieger verkörpert für die Jugendlichen das Idealbild des nationalsozialistischen Helden.

Ingrid Lindemann, nervös wie ein Rennpferd, doch für diesen einen Sommer außerordentlich schön, will ihn, bekommt ihn und bekehrt ihn zum katholischen Glauben. Friedrich ist es eins, er glaubt weniger an Gott als an den Führer und ein allumfassendes kosmisches System.

Hochzeit in Weiß, der Vater spielt die Orgel, die Mutter weint um ihre Tochter und weil alles so schnell gehen muss.

Im Herbst nimmt Friedrich seine Ehefrau mit nach Rostock. Dort lebt die junge Elite des Reiches im neu gebauten Stadtteil der Firma Heinkel. Es gibt ein Gesundheitshaus und Kneipp-Kuren für die Angestellten.

Hier wird Flugzeuggeschichte geschrieben.

Der Düsenjäger He 178 wird gerade im Auftrag einiger Raketentechniker weiterentwickelt, die in Peenemünde, das ist ein offenes Geheimnis, an der Zukunft basteln. Das Heer der Zwangsarbeiter, die in den Heinkel-Werken in Oranienburg schuften, sieht Friedrich Hellberg nur im Vorbeilaufen, konturlos, verschwimmend mit dem Hintergrund einer neuen, rasanten Zeit.

Wir fliegen Überschall.

Im Sommer 1941 wird sein Sohn Kai geboren.

Ein Jahr später liegt der Rostocker Traum vom schönen Leben in Trümmern. Friedrich schickt Frau und Kind zurück nach Bayern.

Friedrich baut Flugzeuge.

Zwangsarbeiter bauen Flugzeuge.

Überschall.

Überall.

In Peenemünde erschafft Wernher von Braun mit seiner Gruppe, abgeschirmt von den Kriegswirren, in fiebriger Eile neue Raketen.

V2, 3, 4.

In Landsberg baut Willy Messerschmitt den zweistrahligen Düsenstrahljäger ME 262.

In Oranienburg konstruiert eine Gruppe von Ingenieuren, zu denen auch Friedrich Hellberg gehört, für Heinkel die einstrahlige He 162, die sie den Volksjäger nennen. Das Flugzeug, in dem Hitler die deutsche Jugend verschwenderisch in den Tod schicken wird.

Können Maschinen den Untergang abwenden, den der Mensch nicht mehr aufhalten kann?

Die Häftlinge in den Konzentrationslagern gehen vor Erschöpfung, Kälte und Hunger für diese Maschinen in den Tod. Nach dem Krieg wird in Landsberg ein zentrales Lager für die heimatlosen Überlebenden eingerichtet. In ihren Augen flackert noch der Widerschein der Hölle.

Der kleine Kai Hellberg soll lieber drinnen spielen.

Sein Vater hat deutlich komfortabler überlebt. Er hat zwischen all dem Flugzeugbauen sogar noch Zeit gefunden, seine Frau zu schwängern.

Geschlechtsverkehr gegen die Niederlage.

Im Januar 1945 wird Rita geboren. Friedrich zieht es fort aus Landsberg. Er fühlt sich beobachtet, bedroht, verfolgt von den umherstreifenden KZ-lern, wie er sie nennt. Sie wollen ihm das Wenige nehmen, das ihm geblieben ist. Heim will er, nach Hamburg zu Muttern, der Vater ist im Krieg gefallen.

Auch wir haben gelitten.

Wieder sitzen Nationalsozialisten in der Festung Landsberg ein, diesmal als Gefangene der Siegermächte. Sechs Jahre nach Kriegsende protestiert hier jeder dritte Einwohner gegen die Vollstreckung von Todesurteilen gegen NS-Verbrecher.

»Juden raus!«, brüllt der Mob einer kleinen Gruppe von Holocaust-Überlebenden entgegen.

An diesem Morgen kurz vor Weihnachten 1961, als Kai Hellberg den Wagen anlässt, herrscht in Landsberg endlich wieder Normalität. Die alte Festung ist jetzt eine Justizvollzugsanstalt des Freistaates Bayern.

Die Großeltern stehen winkend vor dem Haus. Sie verstehen nicht, warum dieser unterkühlte nordische Mann ihre Tochter und die Enkelkinder in die ferne Wüste verschleppt. Gibt es hier in Deutschland nicht genügend Möglichkeiten, sich ein gutes Leben aufzubauen? Man hat es doch weiß Gott wieder zu etwas gebracht seit dem Krieg.

Rita winkt und zündet sich eine an, sobald die beiden außer Sicht sind. Im Radio läuft der Messias von Händel, passend zur Jahreszeit und zum Abzweiger nach Oberammergau, an dem sie kurz danach vorbeirauschen.

In den Alpen müssen sie den meerblauen Opel Kapitän der Familie Hellberg, von allen Hans Albers genannt, durch einen Schneesturm bugsieren. Kai versucht fluchend, den Wagen in der Spur zu halten. Rita raucht Zigaretten und lässt ihre Seele in die verschneiten Bergmassive vagabundieren. Kai sucht auf Mittelwelle nach BFBS, dem britischen Militärsender, um sie wieder einzufangen.

Ain’t she sweet, singen die Beatles.

Rita summt mit.

Kai ist das Stück zu seicht. Für ihn ist Musik mehr als Unterhaltung. Er ist jetzt Student der Musikwissenschaften an der Universität Hamburg im ersten Semester. Kai Hellberg, und er ist nicht der Einzige, spielt mit dem Gedanken, dass Musik der Ausdruck eines neuen Zeitalters werden könnte.

Der Beat hat die Stadt erobert.

Letzte Woche ist er nach der Uni hin. Mit ein paar anderen in die Palette, ABC-Straße, gleich hinterm Gänsemarkt.

Einer im Anzug deklamiert Howl von Allen Ginsburg.

Keiner hört zu.

Der Gestank. Einmalig.

Bier und Zigaretten.

Alle reden durcheinander.

Paris. Getrampt. Sartre. Howl.

Hast du was? Ich hab’ nix.

Kai ist erschrocken über diese Welt da unten im Keller. Aber da ist was, das ist anders. Und es gefällt ihm.

Wir sind die anderen.

Der Schnee geht in Regen über. Sie sind über den Pass.

Auf der anderen Seite.

Foto, schwarz-weiß:

Blick von oben auf ein Hafenbecken mit gestreiften Pfählen, einige Gondeln sind daran festgemacht; Kai lehnt an einer Laterne und liest eine Zeitschrift.

Bildunterschrift: Der Student von Venedig, Dezember 1961

Rita Hellberg geht an Deck.

Sie schaut auf die Stadt.

Venedig hat sie sich anders vorgestellt, in bunten Farben, nicht so schwarz-weiß-grau. Selbst die rotweißen Pfosten der Gondeln wirken fahl.

Und Kai, ganz blass und dünn da unten, mit seinem schwarzen Mantel, sieht aus wie eine dieser düsteren Maskenfiguren zum Karneval. Endlich guckt er hoch von seiner Zeitung und grinst. Rita drückt die magische Taste ihrer neuen Agfa, dafür hat Oma Hamburg tief in die Tasche gegriffen. Jetzt den Auslöser betätigen.

Aber er hat den Kopf schon wieder unten.

»Was liest du denn da Spannendes?«, schreit Rita.

Im selben Moment tutet das Schiff. Möwen fliegen kreischend auf.

Es geht los.

Kai ruft etwas zu ihr herauf. Rita versteht ihn nicht, schüttelt den Kopf. Sie winkt ihm zu. Er formt die Hände zum Trichter. Als wäre es unendlich wichtig, was er ihr sagen muss.

Das Schiff tutet.

»Was sagst du?«, schreit Rita.

Er wedelt mit der Zeitung. »Hitler in euch! Ich schicke euch den. Soll er lesen! Sag ihm das!«

Rita überlegt. Entscheidet, dass es nichts zu sagen gibt. Kai wird den Artikel ausschneiden und per Luftpost nach Kairo schicken. Ihr Vater wird den Umschlag mit seinem Brieföffner aus Messing auftrennen, zu den Papieren auf dem Schreibtisch legen und niemals lesen. Er wird vergilben, verstauben, ein zweckloses Unterfangen, diese hoffnungslose Liebe zwischen Vater und Sohn, ein stummer, verbissener Kampf darum, Recht zu haben.

Es beginnt im März 1958. Friedrich und Ingrid Hellberg haben ein Haus in Stade gekauft. Friedrich hat nach vielen Jahren endlich wieder eine feste Stelle. Das Verbot der Alliierten für die deutsche Luftfahrtindustrie ist aufgehoben. Man tüftelt an Flugzeugen für die Reisebranche.

Aber Friedrich Hellberg, auch wenn er es nicht laut sagt, jedenfalls nicht vor den falschen Leuten, hofft auf andere Projekte. Die deutsche Luftwaffe ist doch schon zwei Jahre alt. Er will endlich wieder richtige Flugzeuge bauen!

Überschall.

Ist das magische Wort.

Während sein Vater vom Durchbrechen der Schallmauer träumt und seine Mutter sich dem bevorstehenden Umzug durch eine kurze, aber heftige Nervenkrise entzieht, schließt sich Kai Hellberg mit siebzehn Jahren der Bewegung Kampf dem Atomtod an. An einem Donnerstag im April geht er morgens aus dem Haus, und statt zur Schule auf den Rathausmarkt. Dort formiert sich, nach und nach, die größte Protestversammlung der Nachkriegsgeschichte gegen die militärische Nutzung der Atomenergie.

Der Umzug nach Stade wird verschoben. Die Kinder sollen das Schuljahr noch zu Ende machen. Ingrid fährt zur Kur. Kai verrammelt seine Zimmertür, sitzt auf dem Bett und liest:

Ägypten und Syrien schließen sich zur Vereinigten Arabischen Republik zusammen.

Die Länder des Warschauer Paktes schlagen den NATO-Staaten den Abschluss eines Nichtangriffspaktes mit einer Laufzeit von fünfundzwanzig Jahren vor.

Der erste Negerschüler in Little Rock, USA, kann sein Diplom für die Absolvierung der Mittelschule nur unter massivem Polizeischutz entgegennehmen.

In Flörsheim kommt es zu einem antisemitischen Exzess, der in den Medien als kleine Kristallnacht tituliert wird.

Der ehemalige KZ-Arzt Hans Eisele hat sich einem Haftbefehl der bundesdeutschen Justiz entzogen und ist unter falschem Namen nach Ägypten geflohen.

Im Zuge des allgemeinen Kistenpackens findet Friedrich Hellberg unter dem Bett seines Sohnes ein zusammengeschnürtes Bündel der Wochenzeitung Die Tat und Flugblätter des Hamburger Anti-Atom-Ausschusses.

Es kommt zu der bekannten Auseinandersetzung. Seither finden die beiden keine Worte mehr. Das Schweigen ist eingekehrt, die einmal gesagten Worte in Stein gemeißelt.

Bolschewik!

Kriegstreiber!

Geh doch in die Ostzone!

Die Mauer, die seit einigen Monaten beide Teile Deutschlands trennt, wird erst drei Jahre nach dem privaten Mauerbau in der Familie Hellberg errichtet.

»Tschüs, Kai!« Er sieht verloren aus, da unten am Hafen. »Bis in drei Wochen!«

In dem Moment bricht die Sonne durch die Wolken. Die Fassaden von Venedig leuchten auf wie eine Theaterkulisse, die langsam an Rita vorüberzieht. Ein eigenartiges Gefühl überkommt sie, dass zum ersten Mal nicht die Welt es ist, die sich bewegt, sondern sie selbst.

Foto, schwarz-weiß:

Blick von unten auf ein großes weißes Schiff, an der Reling steht Rita; hinter ihr sind Rettungsboote und ein Schornstein zu erkennen.

Bildunterschrift: Reisende soll man nicht aufhalten, Dezember 1961

Ein letztes Aufblitzen von Kais Fotolinse im Sonnenlicht, dann ist er hinter der glitzernden Helle des Wassers verschwunden. Rita sucht in ihrer Handtasche nach der Sonnenbrille und geht nach hinten zum Heck. Europa gibt eine rauschende Abschiedsvorstellung.

Als wolle es sie festhalten.

Vergeblich!

Rita Hellberg ist entschlossen, diese Reise zu genießen. Ihre eigene Kabine mit Blick auf das Meer. Die Experten und ihre Familien, hat Friedrich ihr geschrieben, reisen selbstverständlich erster Klasse.

Erst mal auspacken und die Sachen verstauen. Dann zum Five o’clock in den Speisesaal. Liegestühle stehen überall an Deck, darauf Wolldecken, in die man sich einkuscheln und Bücher lesen kann.

Rita Hellbergs Bücherliste für die Überfahrt:

1) Nabokov, Lolita (nur in der Kabine)

2) Cendrars, Wind der Welt

3) Willke, Lisabella (Weihnachtsgeschenk für Pünktchen)

4) Brecht, Flüchtlingsgespräche (Abschiedsgeschenk von Kai)

Sie wird Brindisi und Piräus anlaufen und den Kanal von Korinth durchfahren. Sie wird im Hafen von Alexandria an Land gehen. Und sie wird Kairo sehen.

Rita Hellberg interessiert sich nicht übermäßig für Modezeitschriften, sie ist, könnte man sagen, orientiert. Kairo wird in einer Reihe mit Paris und London genannt. Hamburg ist dagegen tiefe Provinz.

Sie will ausgiebig mit Pünktchen bummeln gehen und ihr bei der Gelegenheit auf den Zahn fühlen. Die Kleine ist so damit beschäftigt, es allen recht zu machen, dass sie darüber ihr eigenes Glück vergisst. Pünktchen hat was von einer Samariterin, dafür hat sie sich, frei nach Erich Kästner, ihren Spitznamen gefangen.

Vielleicht sind alle anderen in der Familie so mit sich selbst beschäftigt, dass für Pünktchen einfach kein Platz mehr bleibt. Vati mit seinen Flugzeugen, Mutti mit ihrem Putzfimmel, Kai mit seiner Musik und Rita –

Ja, womit ist eigentlich Rita beschäftigt?

Rita baut an ihrer Welt. Sie liest ein Buch, fügt hier ein Stück hinzu, nimmt dort etwas weg. Sie hört einen Song, und plötzlich muss ein neuer Anstrich her, eine neue Farbe hier, ein noch nie gesehenes Muster dort. Sie verarbeitet Gespräche, Gefühle und Erlebnisse in ihrer Welt, sie nehmen Form und Gestalt an, erschaffen Räume, in denen sie lebt und atmet. Ihr fehlt jegliche Intention, diese Welt zugänglich zu machen oder mit missionarischem Eifer die armen Ungläubigen von draußen hereinzulocken.

Sie ist sich selbst genug.

Zutritt verboten.

Sie will mit ihrem Vater die Pyramiden besuchen. Sie werden in die Grabkammern hinabsteigen. Sie werden Hieroglyphen entziffern, das Wissen der alten Ägypter bestaunen und schaudernd hoffen, dass der Fluch der Pharaonen über sie hinwegzieht und andere trifft.

Rita Hellberg dreht sich um und nimmt die Sonnenbrille ab. Für einen Moment war da das Gefühl, jemand beobachte sie. Doch außer ihr ist niemand mehr an Deck.

So ein Unsinn.

Foto, schwarz-weiß:

Der Vollmond steht über einem klaren Sternenhimmel, leicht verwischt durch die Langzeitbelichtung.

Bildunterschrift: Sternbilder über der MS Ausonia, Dezember 1961

Rita drückt den Auslöser und hält die Luft an. Wer die Sterne beobachtet, muss stillhalten können. Doch die Ausonia schlingert. Sie fragt sich, ob auf dem Foto etwas zu erkennen sein wird.

Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt die geprägte Form.

Sie lächelt. Ist noch da, ihr erster Goethe. Auswendig gelernt, im Gehen, geschrieben an die Decke des Planetariums vor dem Sternensaal.

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen/

die Sonne stand zum Gruße der Planeten.

Ingrid Hellberg will nichts davon wissen, dass Friedrich Horoskope für ihre Kinder verfasst. Für sie ist es Teufelswerk, so sehr er sie davon zu überzeugen versucht, dass es sich bei der Astrologie um eine reine Wissenschaft handelt wie die Physik oder Biologie.

Er tut es dennoch, sturer Hamburger, brütet tagelang über den Sternenkonstellationen der Geburtsstunde und heftet die Horoskope dann in seinem Ordner für wichtige Dokumente ab. Dort liegen sie bereit für den Tag, an dem die Kinder lesen wollen, was die Sterne zur Stunde ihrer Geburt für sie bereithielten.

Friedrich Hellbergs Tätigkeit als Flugzeugkonstrukteur legt nahe, das hat Ingrid damals falsch eingeschätzt, er sei ein Mann des Verstandes. Doch die Luftfahrt in ihren Pionierzeiten zieht Romantiker an.

Als Kind verbringt er mit seinen Eltern zwei Wochen im Berggasthof auf der Wasserkuppe. Jeden Morgen klettert er über die Felsen bis ganz nach oben. Der gewaltige Adler thront auf einem von Menschen errichteten Steinhaufen. Dort wartet der Junge geduldig, bis die ersten Flugzeuge aufsteigen und eine Ehrenrunde um das Denkmal der Flieger drehen.

Danach zieht es ihn zur Segelflugschule hinunter, wo er sich im Casino herumdrückt und die Piloten belauscht. Er hört von den Rhön-Indianern, die hier fern der Zivilisation gehaust und Flugzeuge gebaut haben. Er sieht geheimnisvolle Männer, Angehörige der Reichswehr, die ihren Segelflugschein machen, um das Flugverbot von Versailles zu umgehen. Er beobachtet die Konstrukteure der Weltensegler GmbH bei der Arbeit, die jedes Jahr neue Modelle auf den wachsenden Markt bringen. Friedrich kennt alle Namen ihrer hölzernen Vögel, die den Himmel seiner Kindheit bevölkern.

Schwärmer. Krähe. Elster. Deutscher Aar.

Niemand weiß, wie er seine Eltern dazu gebracht hat, drei Jahre später nochmal Urlaub in der Rhön zu machen. Jedenfalls steht er schon wieder da unten, jetzt dreizehn, als der erste bemannte Raketenflug der Welt startet. Er dauert genau achtzig Sekunden lang. Friedrich Hellberg starrt mit offenem Mund in den blauen Sommerhimmel.

Im September wird er Mitglied der Jungfliegergruppe des Altonaer Vereins für Luftfahrt.

Flugzeuge bei Tag.

Sterne bei Nacht.

Friedrich starrt in den Himmel.

Seine Gedanken fliegen hoch, höher, durchstoßen die Atmosphäre, verlieren sich im All. Kehren zurück mit der drängenden Frage, was das alles mit uns zu tun hat.

Bald wird der Lehrling bei den wöchentlichen Zusammenkünften der Hamburger Astrologen in der Kantine des Schauspielhauses gesichtet. Er hört zu, er liest, er berechnet. Es ist eine mathematische Astrologie, die hier gelehrt wird. Das liegt dem späteren Ingenieur, weit entfernt vom billigen Hokuspokus der Jahrmärkte. Er lernt, Horoskope anhand der gerade erst entwickelten Kreisgrafik zu erstellen.

Friedrich Hellberg baut Flugzeuge.

Friedrich Hellberg deutet die Sterne.

Friedrich Hellberg tritt in die NSDAP ein.

Astrologen schreiben günstige Prognosen für Hitlerdeutschland. Die Kunst der Sterndeutung kommt groß in Mode. Friedrich Hellberg schreibt Horoskope für seinen Sohn Kai und für die Führungsriege der prosperierenden Heinkel-Werke. Sein guter Ruf spricht sich herum.

Ein Sachbearbeiter für Kulturfragen schreibt in Pullach bei München, wo die nationalsozialistische Elite eine Modellsiedlung mit Gärten für den biodynamischen Gemüseanbau bewohnt, ein Horoskop für Rudolf Heß. Der Stellvertreter Adolf Hitlers, in Alexandria geboren, wird wegen seines Hangs zum Okkulten auch der ägyptische Yogi genannt. Der zehnte Mai 1941 sei ein erfolgversprechender Tag für eine Reise im Interesse des Friedens, heißt es in dem Horoskop. Heß setzt sich in eine Messerschmitt Bf 110 und fliegt nach Schottland, um mit den Engländern über ein Ende des Krieges zu verhandeln. Er wird sofort nach der Landung gefangengenommen.

Die Liebe der nationalsozialistischen Führung zur Astrologie findet ein jähes Ende. Wer Horoskope verfasst, wird verhaftet und verschwindet in den Konzentrationslagern Sachsenhausen, Dachau oder Buchenwald. Friedrich fürchtet wochenlang die Denunziation durch einen seiner Kollegen.

Doch nichts geschieht.

Friedrich Hellberg baut Flugzeuge. Im letzten Kriegsjahr wird er als Techniker und Fluglehrer für den Jagdverband 44, genannt die Experten, angeheuert. Die Experten unterstehen dem direkten Befehl Hermann Görings und sollen mit der Messerschmitt Me 262 die Kriegswende herbeiführen. Am Rande einer Einsatzbesprechung bittet Hermann Göring Friedrich Hellberg um ein persönliches Horoskop.

Ein Dilemma!

Die Nerven liegen blank in diesen Tagen.

Weigert er sich, wird er erschossen. Schreibt er das Horoskop, womöglich auch.

Friedrich Hellberg deutet die Sterne.

Das Horoskop gilt als verschollen.

Das nächste Mal nimmt er den Stift zur Hand, als nebenan, im Schlafzimmer der Schwiegereltern, seine Tochter Rita ihren ersten Schrei ausstößt.

Der Krieg ist vorüber.

Rita hat das Fotografieren aufgegeben und starrt in den nächtlichen Himmel. Sie spürt kaum Wind, und doch liegt das Schiff immer noch unruhig im Meer. Nervös ist dieses Wasser zwischen Süditalien und Griechenland. Das Deck ist leer, die meisten Passagiere haben sich bereits vor dem Dinner oder kurz danach in die Kabinen verzogen. Rita, von Seekrankheit verschont, ist mit ihrer Zukunft beschäftigt.

Die, die man selbst in der Hand hat.

Sie wird ihrem Vater einen Vorschlag machen müssen.

Was soll nur aus dir werden, Kind?

Was wird aus mir?

Ein Sonntag im Februar. Die siebenjährige Rita sieht Friedrich dabei zu, wie er mit dem Zirkel einen Kreis zieht. Dann die geraden Linien mit dem Lineal. Sie hört zu, wie er vor sich hinmurmelt. Ein Horoskop für Petra, die kleine Schwester, die gerade zur Welt kommt.

Kind der Hoffnung und des Aufschwungs.

Rita macht ein ernstes Gesicht, nimmt ihre Wachskreiden und malt einen Kreis.

»Und jetzt, Vati?«

»Willst du das wirklich wissen?«, fragt ihr Vater erstaunt.

Rita nickt. Sie klettert auf seinen Schoß.

»Weißt du, was ein Computer ist?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Stell dir eine riesige Rechenmaschine vor, die aus Sonne, Mond, Merkur, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus und –«

»Pluto?«

Der Vater nimmt sie oft mit ins Planetarium im Stadtpark.

In den Sternensaal.

Rita Hellberg sitzt ganz still auf dem harten Stuhl, die Füße reichen noch nicht bis auf den Boden. Den Kopf so weit es geht nach hinten in den Nacken gelegt, schaut sie nach oben in den künstlichen Nachthimmel. Wenn ihr langweilig ist, geht sie nach draußen und spielt mit dem Deckengemälde in der Eingangshalle.

Das Spiel geht so: Augen zu und drehen, dann Augen auf, stehen bleiben und nach oben gucken.

Schwan.

Pegasus.

Bis ihr schwindelig wird.

»Richtig, Pluto. Jetzt stell dir vor, dass dieser Computer für jeden Menschen eine Lochkarte ausspuckt, nämlich sein Geburtshoroskop.«

»Was ist eine Lochkarte?«

»Eine Karte, die deinen ganz persönlichen Code enthält. Eine Geheimsprache.«

Rita nickt, damit er weiterspricht.

»Hast du dir schon einmal gewünscht, deiner besten Freundin ins Herz schauen zu können?«

Ja, das hat sie. Lotte von nebenan.

»Jedem Menschen, der geboren wird, wird sein eigenes Bild des Sternenhimmels mitgegeben. Die Gestirne verlaufen nicht in gleichmäßigen Bahnen, sondern sie bilden immer neue, unendlich viele Stellungen zueinander. Wenn wir dieses Lebensprogramm zu lesen verstehen, verstehen wir das Wesen des Kindes, seinen Charakter, seine Begabungen, seine Stärken und seine Schwächen.«

»Du kannst das alles für das Baby ausrechnen?«

Friedrich lacht. »Und weißt du, was das Größte ist, Rita?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Im Gegensatz zu den Tieren haben wir Menschen die Möglichkeit, diesem blinden Schicksal zu entkommen und damit zur wahren Freiheit zu gelangen!«

Seine Stimme zittert, er ist ergriffen von dem, was er gerade seiner Tochter erklärt. Vielleicht auch von Rührung über das neuerliche Wunder der Geburt, das in dieser Minute im Krankenhaus Altona vonstattengeht.

»Möchtest du lernen, diesen Computer zu bedienen, Rita?«

Und ob sie das will.

Lotte wird sich noch wundern.