Dirk Peitz

Fernblick

Wie wir uns die Zukunft erzählen

Suhrkamp

Vorwort

Die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Dieser Umstand ist womöglich das größte Problem der menschlichen Existenz (abgesehen von deren Endlichkeit). Er ist auch das größte Geschenk. Wir wissen nicht, was als Nächstes geschieht, als Übernächstes und so weiter. Wir wissen nicht einmal genau, was das eigentlich ist, Zukunft, wie sie Gestalt annimmt, welche Form sie haben wird. Wir glauben nur zu wissen, dass die Zukunft offen ist. Sie liegt vor uns. Hinter uns ist die Vergangenheit. Wir selbst stehen in der Gegenwart. Jedenfalls nehmen wir das an. Die Zeit als solche ist eine ziemlich komplizierte Sache.

Man kann aber sehr wohl in der Zukunft leben, geistig, und von ihr erzählen. Wie die Zukunft aussehen könnte, wohin sich die Dinge entwickeln könnten, sollten, müssten, auf keinen Fall dürften. Davon handelt dieses Buch: von Zukunftserzählungen, gegenwärtigen und manch vergangenen, die dennoch weiter einen Einfluss darauf haben, wie wir uns die Zukunft von heute aus betrachtet vorstellen. In den Erzählungen der Zukunft erkennen wir die Gegenwart wie in einem Brennglas. Wovor wir uns fürchten, worauf wir uns freuen, wonach wir uns sehnen: Das alles liegt in der Zukunft, von heute aus betrachtet. 

Die größten und wirkmächtigsten Zukunftserzählungen sind lange Zeit fast alle in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden, dem Land, das einst keine Vergangenheit zu kennen schien. Für unsere Gegenwart sind die Vorstellungen des Künftigen am bedeutendsten, die im kalifornischen Silicon Valley in den vergangenen Jahrzehnten zu Produkten gemacht wurden. Das Silicon Valley hat die Zukunft selbst zu seiner Geschäftsgrundlage gemacht.

Darum beginnt dieses Buch dort und spielt auch eine ganze Weile im Westen der USA. Dort war einst die Zukunft. Doch spätestens seit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 betrachten wir nicht nur die Zukunftserzählungen des Silicon Valley neu, negativ vor allem. Auch Amerikaner fragen sich längst, ob die Zukunft nicht woanders liegt. In China zuvorderst.

Um von den Zukunftserzählungen berichten zu können, die in den USA entstanden sind und nun entstehen, bin ich als Journalist in den vergangenen knapp vier Jahren dort immer wieder hingereist; zuletzt führte mich mein Weg auch nach China, wo die Zukunft nach der amerikanischen vermutet wird. Manchmal war ich auf eigene Faust unterwegs, manchmal im Auftrag meiner jeweiligen Arbeitgeber, zunächst der deutschen Ausgabe des amerikanischen Tech- und Zukunftsmagazins Wired, später von Zeit Online. Einige wenige Passagen in diesem Buch sind – in anderer Form – in diesen beiden Medien zuerst erschienen.

Dieses Buch ist deshalb auch ein Bericht von diesen Reisen in die Zukunftserzählungen – und von den Zukunftserzählern, die ich auf den Reisen getroffen habe. Es ist mein Blick in die Ferne.

Die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. Und manchmal, ganz selten, geschieht etwas, das den Fluss der Zeit zu unterbrechen scheint und die Vorstellung von Zukunft an sich infrage stellt. Genau das ist passiert, als ich das Manuskript dieses Buches eigentlich fertiggestellt glaubte, im Januar 2020. Ein Virus begann, die Welt zu befallen.

In den letzten Januar-Tagen beschäftigte ich mich zum ersten Mal mit dem neuen Coronavirus. Ich redigierte für Zeit Online den Bericht einer chinesischen Autorin, in dem diese die Auswirkungen der Ausbreitung des Virus in China beschrieb; in der Provinz Hubei waren im Dezember 2019 die ersten Fälle von Covid-19-Erkrankungen beobachtet worden. Nun hatten die Tage des chinesischen Neujahrsfestes begonnen, doch die Menschen dort konnten nicht wie gewohnt zu ihren Familien zurückkehren, es gab erste Reisebeschränkungen in dem Land. Weil ich mir unsicher war, wie man das, was wir mittlerweile routiniert »Infektionsgeschehen« nennen, zum damaligen Zeitpunkt bezeichnen sollte in dem Text, den ich auch sprachlich zu bearbeiten hatte, fragte ich einen Kollegen aus dem Wissensressort danach. Der Kollege, ein Mediziner, riet mir, das Wort »Seuche« zu benutzen. Von »Epidemie« oder gar »Pandemie« sprach er noch nicht.

Knapp sechs Wochen später, Mitte März, wurde die gesamte Redaktion von Zeit Online wie so viele andere Belegschaften in Deutschland ins Homeoffice geschickt. Das Coronavirus hatte uns erreicht, bald begann auch hier der sogenannte Lockdown. Wie er verlaufen würde, wann er beendet würde, war damals noch völlig ungewiss. Und völlig ungewiss war auch, wie diese nun Pandemie genannte Seuche sich auf die Welt und den Fortlauf der Zeit auswirken würde. Und auf das Leben jedes Einzelnen.

Für dieses Buch, das wurde mit jedem Tag im Frühjahr 2020 klarer, bedeutete die Pandemie, dass es nicht in seiner geplanten Form erscheinen konnte. Wer von der Zukunft und ihren Erzählungen berichten möchte, kann unmöglich ignorieren, wenn die bloße Idee der Zukunft mit einem Mal ausgesetzt scheint und der Lauf der Dinge überall auf der Welt eine ungeahnte Wendung nimmt.

Aber in welche Richtung sich die Zeit bewegt (so die Zeit denn überhaupt eine Richtung hat, doch dazu später), ist in dem Augenblick, da ich diese Zeilen Ende April 2020 schreibe, noch völlig unklar.

Das Manuskript dieses Buches, das Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nun also in Händen halten, habe ich im Laufe der ersten Lockdown-Wochen im Frühjahr 2020 überarbeitet. In einer Zeit also, da die Ungewissheit über das, was kommen möge, in den darauffolgenden Wochen, Monaten, Jahren groß war wie seit langem nicht mehr. Statt der Zukunft weiter entgegenreisen zu können, sitze ich in einer Wohnung in Berlin fest. Und der Blick reicht gerade nicht weiter, als man durch ein Fenster schauen kann.

Womöglich ist in diesem Moment, da Sie diese Zeilen lesen, die Welt schon wieder zu ihrer alten Ordnung zurückgekehrt. Vielleicht ist alles oder zumindest vieles aber auch anders als früher, vor Corona. Ich weiß es nicht.

Die Zukunft lässt sich nicht vorhersagen. In diesen Tagen noch weniger als sonst.