Lisa Sandlin

Family Business

Kriminalroman

Aus dem amerikanischen Englisch
von Andrea Stumpf

Herausgegeben von
Thomas Wörtche

Suhrkamp

Family Business

1

Sobald die Polizei das Büro freigegeben hatte, beförderte Phelan das gelbe Absperrband in den Müll und beauftragte eine Reinigungsfirma damit, mit einem Dampfstrahler das Blut vom Holzboden zu entfernen und den Fleck abzuschleifen. Er zahlte sogar eine Wochenendzulage. Trotzdem roch es komisch – nach Bleiche und darunter ein Hauch von etwas nicht mehr Lebendigem. Er schob die Fenster hoch und die hereinwabernde Augusthitze Beaumonts gab der ächzenden Klimaanlage den Rest.

Das Radio kaperte seine Aufmerksamkeit: Der Senat hatte ausnahmsweise mal seine Arbeit getan und Kissinger und Nixon den Geldhahn für die Bombardierung Kambodschas zugedreht. Pfoten weg, Jungs. Die Nachrichten blendeten in Why can’t we be friends? von War über. War der DJ von KJET zynisch? Sentimental? Beides?

Phelan bückte sich in einer abgetragenen Jeans und Unterhemd zu dem Farbeimer und stemmte ihn mit einem Schraubenzieher auf. Unter dem Deckel strahlte ihm Apollo White entgegen. Er ließ etwas von dem warmen Weiß in die Farbwanne schwappen und tränkte die Lammfellrolle darin.

Nachdem er damit einmal über die schimmelgrüne Wand gerollt war, trat er einen Schritt zurück und riss die Augen auf. Wahnsinn, wie von Flutlicht bestrahlt.

Das Büro musste ja ziemlich schäbig gewirkt haben. Schmuddelig. Ob Miss Wade das bemerkt hatte? An ihm war es komplett vorbeigegangen. Die beiden Räume, die er für sein Detektivbüro angemietet hatte, waren ihm wie ein Palast vorgekommen.

Erneut tauchte er die Rolle in die Farbe und fuhr damit schwungvoll über die Wand. Schwer zu sagen, ob es gut war, ein bisschen grell vielleicht. Aber Hauptsache, das Büro sah irgendwie anders aus und nicht mehr wie der Ort, an dem Deeterman versucht hatte, sie umzubringen.

Das Telefon klingelte. Er wischte sich die rechte Hand mit einem Lumpen ab, schob die Abdeckplane von dem Metallschreibtisch – und, Scheiße, hinterließ einen Handabdruck auf dem schwarzen Hörer, als er abnahm.

»Phelan Investigations.«

»Spreche ich wohl mit Mr Phelan persönlich?«

Eine ältere tiefe Stimme, überaus höflich.

Höchstpersönlich, dachte Phelan und sagte: »Ja, Sir. Was kann ich für Sie tun?« Er sah auf die Wand hinter dem Schreibtisch, die die Farbe am dringendsten nötig hatte: Sie war mit rostroten Spritzern und Flecken übersät.

»Mein Name ist Xavier Bell. Ich glaube, ich habe mit Ihrer Sekretärin gesprochen, Miss Delpha Wade. Sie hat mir Ihre Honorarsätze genannt. Ich würde gerne nächsten Monat persönlich bei Ihnen vorbeikommen, und da dachte ich, ich melde mich jetzt schon einmal an.«

»Das ist angesichts unserer engen Termine eine gute Idee, Sir. Wann würde es Ihnen denn passen? Dann schau ich in unserem Kalender, ob wir was frei haben.« Genauer gesagt: Er würde einen Blick auf die gähnend leeren Seiten des Tischkalenders werfen.

»Vielleicht dürfte ich erst einmal kurz meinen Kalender konsultieren, Mr Phelan?«

»Klar.« Im Hintergrund war leises Murmeln zu hören, so als konsultierte Mr Bell keinen Kalender, sondern ein ganzes Gremium. Das war ihm recht, seinetwegen konnte sich der Mann mit der UN-Vollversammlung beratschlagen.

Er winkte die Männer herein, die eine neue gebrauchte Couch für das Sekretariat lieferten. Zwei dick gepolsterte Sessel, die sich zu einer kurzen Couch zusammenschieben ließen. Hübsches Aquamarinblau, wie das Meer, bevor das erste Schiff zu Wasser gelassen wurde. Er hatte sie billiger gekriegt. Ursprünglich war die Couch ein aus mehreren zusammengehörenden Stücken bestehendes »Modularmöbel« gewesen, wie es bei L&B Pre-Owned Furniture hieß, aber Lester, dem Möbelhändler, fehlte ein Endstück. Pech, wenn man seinen Ellbogen auf einer schönen bequemen Armlehne abstützen wollte.

Lester stand im Türrahmen und sah zu, wie zwei L&B-Arbeiter die alte karierte Couch packten und hochstemmten. Als sie sie an ihm vorbeitrugen, deutete er auf den Karostoff und hielt sich die Nase zu. Phelan legte die Hand über die Sprechmuschel und schnaubte verächtlich. Dann rollte Lester einen nur leicht abgewetzten Mandantenstuhl herein und stellte ihn neben die Polstersessel. Mit angehobenen Augenbrauen schob er den blutbefleckten Lederstuhl hinaus, den selbst Wasserstoffperoxid und Lederreiniger nicht hatten retten können. Noch einmal steckte er den Kopf durch die Tür und rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. Phelan spreizte die Finger: fünf, ungefähr um die Zeit würde er rüberkommen und bezahlen. Lester streckte den Daumen in die Höhe und polterte die Treppe hinunter.

Mr Bell hustete kurz Schleim ab. Er hatte sich für Freitag, den 7. September, um zehn Uhr morgens entschieden. Ob das passen würde?

»Ja«, sagte Phelan. »Sind Sie eigentlich der Gentleman, der nicht … gefunden werden will?« Miss Wade hatte ihm berichtet, dass jemand angerufen hatte, der unsichtbar bleiben wollte. Für jemanden.

»Ich will, dass Sie meinen Bruder suchen, Mr Phelan. Daher kann man wohl eher sagen, dass er derjenige ist … der nicht gefunden werden will.« Mit weiteren Einzelheiten wollte Mr Bell lieber warten, bis sie unter vier Augen miteinander sprechen konnten.

Okey-dokey. Der Termin war in dem Kästchen mit der 7 im September eingetragen. Phelan hängte ein, nahm die mit Apollo White getränkte Lammfellrolle und rollte damit über die Flecken und verspachtelten Stellen an der Wand. Seine Laune hellte sich zusehends auf.

Die Wand mit dem Fenster, das zum New Rosemont Hotel hinaussah, war fast fertig, er musste nur noch einmal über die Fensterlaibung rollen. Himmel, das Büro sah jetzt schon ganz anders aus.

Als Nächstes nahm er sich die Wand mit der Verbindungstür vor. Die ging schnell. Er stellte die Farbwanne hinter seinem Schreibtisch vor der Wand ab, die am dringendsten gestrichen werden musste – eine Explosion aus rotbraunen Flecken und Spritzern wie ein erstarrtes Feuerwerk –, dann hüpfte er schnell ein bisschen auf der Stelle und kreiste mit den Schultern, um sie zu lockern. Das Telefon klingelte.

Schon wieder? Das lief ja wie geschmiert. Triumphierend ballte er eine Faust, dann umfasste er den Hörer mit einem Lumpen und hob ab.

Sein Gesicht wurde hart. »Ja, ich bin Tom Phelan. Entschuldigung, aber wiederholen Sie das bitte – wer sind Sie? Okay, Doktor, verstanden. Wohin haben sie sie gebracht?«

Phelan drückte kurz auf die Gabel, dann drehte er die Wählscheibe mit rasendem Zeigefinger. »Es ist dringend!«, blaffte er die Empfangsdame am anderen Ende der Leitung an und erschreckt stellte sie ihn sofort durch. Sobald Miles Blankenship Esq., Rechtsanwalt, sich meldete, platzte Phelan mit seinem Anliegen heraus: Eine Freundin von ihm sei in Polizeigewahrsam und brauche dringend einen Rechtsbeistand, und außerdem dürfe sie keinesfalls einen Fuß in eine Zelle setzen.

Kurz umriss er die Situation: Hatte Miles die Schlagzeilen im Enterprise über die ermordeten Kinder gelesen? Der Mann, der sie ermordet hatte, war in der Orleans Street umgebracht worden – hatte Miles davon gehört? Okay. Das Ganze war in Phelans Büro passiert, und getan hatte es Phelans Sekretärin. Reine Notwehr. Der Mann hatte sie mit einem Messer angegriffen und schwer verletzt. Da war noch was, das Miles unbedingt wissen musste. Sie war nach vierzehn Jahren in Gatesville auf Bewährung draußen. Die Anklage hatte damals auf Totschlag gelautet: Sie hatte einen Mann getötet, der sie vergewaltigt hatte.

»Dann ist das also der zweite –«

»Sie ist erst seit fünf Monaten draußen. Ich will nicht, dass sie wieder eingebuchtet wird.«

»Das hab ich schon verstanden, Tom. Sag mal, war sie bewaffnet bei der Sache in deinem Büro?«

»Nein. Sie war nicht bewaffnet. Sie hat eine Whiskyflasche zerschlagen und ihn mit dem Flaschenhals erwischt.«

Phelan wischte alle Einwände beiseite. Es war ihm schnurzpiepegal, dass Miles Blankenship auf Scheidungen spezialisiert war. Miles hatte eine Zulassung und er war der einzige Anwalt, den Phelan kannte. Miles sollte, bitte, jetzt sofort auf das Polizeirevier kommen – nicht gleich, nicht nachher, sondern jetzt sofort. Phelan würde ihn dort treffen.

Unten auf der Straße schloss er den Kofferraum auf, in dem er seine Privatdetektivausrüstung lagerte, schnappte sich das Ersatzhemd und die Hose und zog sich mitten auf der Orleans Street um. Sollten die beiden Typen in dem Chevy C-10 doch zu ihm rüberpfeifen.

Er rannte die Betonstufen hinauf.

Sein Plan: An dem Resopaltresen und dem ehrenwerten Sergeant Fontenot mit den Drahtbürstenbrauen vorbei, der wahrscheinlich dahinter wachte. Nach links in den Dienstraum schwenken, vorbei am Schwarzen Brett mit den hektographierten Bekanntmachungen, den Cops, die an ihren Schultischen saßen, quatschten und auf Schreibmaschinen herumhackten, vor sich ein, zwei Diebe auf Klappstühlen. Die Arrestzelle rechts liegen lassen und direkt in E. E.s Büro, wo er seinen Onkel, den Polizeichef, überzeugen würde, Delpha Wades Aussage aufzunehmen, ohne sie erst zu verhaften, ihr die Fingerabdrücke abzunehmen und sie in eine Zelle zu sperren.

Nur stand diesem Plan die Etikette auf Polizeirevieren entgegen. Und auch die Benimmfibel für Neffen von Polizeichefs. Für das, was Phelan vorhatte, galt das Handbuch für Arschkriecher. Trotzdem ging er nach einem knappen Nicken zum diensthabenden Officer einfach weiter.

»He! Wer hat Ihnen gesagt, dass Sie hier einfach reinspazieren dürfen, Tom Phelan?«

Zwei Uniformierte lachten keckernd. Phelan brachte sie mit einem Blick zum Schweigen, dann beugte er sich über die zerkratzte Resopalplatte. Statt dem Sergeant zu sagen, dass er hier war, weil er der Erste am Tatort – immerhin sein Büro – gewesen war oder weil Delpha Wade seine Angestellte war, was hier ja wohl jeder wusste, zischte er: »Sie haben gesagt, dass es keine Anklage geben würde.«

Zwei widerspenstige graue Bürsten senkten sich über Sergeant Fontenots kleine, sorgenvolle blaue Augen. Genau das hatte er gesagt, und jetzt, offenbar selbst überrascht von dem Wirbel, gab er den Ahnungslosen. »Um wen geht’s denn?«

Phelan verzog den Mund. »Delpha Wade. Der Doktor hat mich gerade angerufen und gesagt, dass die Polizei im Krankenhaus war und sie hierher schleift.«

»Von Herschleifen kann ja wohl kaum die Rede sein! Abels und Tucker haben ihre Samthandschuhe angezogen, als sie los sind. Wir wollen ihr nur ein paar Fragen stellen.«

»Darf ich Ihnen erst mal eine Frage stellen, Sergeant Fontenot? Wie viele kleine Jungen habt ihr bei Deetermans Haus ausgebuddelt? Wie ist der aktuelle Stand?«

Jetzt drehten sich die Uniformierten zu Phelan.

»Sechs. Bislang. Sie suchen jetzt auch an anderen Stellen.«

»Meinen Sie dann nicht auch, dass sie der Öffentlichkeit einen Dienst erwiesen hat, als sie den Kerl aus dem Weg geräumt hat, der das mit den Kindern angestellt hat?«

»Logo!«, rief einer der Uniformierten, ein weißer Jüngling mit wirren Haaren, der mit großen roten Ohren ihrem Gespräch lauschte.

»Klappe, Wilson«, sagte Fontenot müde und senkte das Kinn. Dann sah er Phelan an. »Ist nicht so, dass wir das nicht wüssten.«

»Warum bringen Sie sie dann überhaupt hierher?«

»Weil’s Ihr Onkel angeordnet hat. Er ist der Chief hier, falls Sie’s vergessen haben sollten. Von Ihnen lässt er sich jedenfalls nichts sagen. Nehmen Sie’s mir nicht krumm, mon cher, aber Sie sind Privatschnüffler und noch nicht mal sechs Monate im Geschäft.«

»Stimmt, Sergeant. Aber … vielleicht darf ich Sie an das erinnern, was Sie zu mir gesagt haben, als meine Sekretärin um ihr Leben kämpfte. Sie haben gesagt, dass niemand die Frau anfasst.«

»Das mein ich immer noch so. Aber das ändert nichts dran, dass wir ’ne ganze Menge Papierkram erledigen müssen, wenn jemand jemanden umbringt. Also pflanzen Sie Ihren Hintern auf den Stuhl da.«

Fontenot wartete, bis Phelan sich gesetzt hatte, dann grummelte er etwas in die Sprechanlage. Er sprach mit E. E., wie Phelan wusste, weil er auf Französisch grummelte.

Edouard Etienne Guidry, geboren in New Orleans, Louisiana. Äußere Merkmale: klein, dunkelhaarig, gutaussehend, auffallend gekleidet. Verheiratet mit Phelans Tante Maryann, der jüngeren Schwester seiner Mutter. Phelan hielt große Stücke auf ihn, und von solchen Männern gab es nicht viele.

Chief Guidry bog um die Ecke, ging an den Schreibtischen vorbei und fuhr sich mit seinen kräftigen Fingern durch die silbergrauen Haare. Der Knoten seiner Op-art-Krawatte baumelte über seiner breiten Brust. Als Phelan aufstehen wollte, verdrehte er die Augen und drohte ihm mit dem Finger. Rasch setzte Phelan sich wieder.

E. E. stand in Hemdsärmeln da, die Hände in die Hüften gestemmt, zwei Glitzersteine am kleinen Finger, daneben ein breiter Ehering. »Tete dure. Wer hat dich davor gewarnt, eine Knastschwester einzustellen?«

Phelan senkte seinen Dickkopf. »Sie hat’s abgesessen. Das weißt du genau – 59 ist sie in den Bau gewandert und im Jahr unseres Herrn 1973 rausgekommen. Sie hat noch mal neu angefangen. Das Schlimmste, was ihr passieren kann, ist, wieder in den Knast zu kommen.«

E. E. starrte ihn wortlos an.

»Ja, gut, okay, ich bin ein Arschloch und misch mich in eure Arbeit ein. Tut mir leid. Aber ich muss einfach hier sein.«

»Da haben wir’s. Es geht um dich.«

»Zum Teil, ja. Sie hat nur im Büro gesessen und Briefe in Umschläge gesteckt. Dabei hätte ich dort sitzen sollen und mir hätte man das Messer reinrammen sollen. Aber vor allem geht’s um sie und darum, was dort passiert ist. Es war reine Selbstverteidigung und sonst nichts.«

»Das Mädchen hat schon länger mit der Polizei zu tun, als du weißt, wie man Taschenbillard spielt. Sie weiß, wie’s läuft.«

»Das heißt aber nicht, dass sie nicht jemanden an ihrer Seite brauchen kann.«

Die Augen seines Onkels wurden schmal. »Ist das da dieser Jemand?«

Phelan drehte sich um und erblickte Miles Blankenship, der gerade durch die Doppeltür trat und seine Pilotensonnenbrille abnahm. Ein neutraler Gesichtsausdruck kam zum Vorschein. Wenigstens war Phelan ziemlich sicher, dass es Miles Blankenship war. Er hatte am Telefon mit ihm gesprochen, ihn aber seit zehn Jahren nicht mehr gesehen, und beim letzten Mal hatte er eine lange schwarze Robe und einen Doktorhut getragen. Der elegante Mann, der durch die Tür kam, trug einen eng geschnittenen Nadelstreifenanzug mit breitem Revers und moderater Schlaghose mit Bügelfalte. Sein schwarzer Kalbslederaktenkoffer musste mit Zwanzigern poliert worden sein, um diesen sanften Schimmer zu bekommen.

»Weißt du, Tom«, E. E. funkelte Miles an, »du hast dich schon wie der letzte Idiot aufgeführt und bist ein echter Schafskopf und ich weiß, dass du Mumm in den Knochen hast. Aber dass in dir auch ein Judas Iskariot steckt, merk ich zum ersten Mal.«

»Hör mal, E. E., das ist ein Freund von mir aus der Highschool. Er ist mir eingefallen, als ich überlegt habe, wer Delpha helfen könnte.«

»Kommst du für sein Honorar auf?«

Phelan nickte.

»Weil du ja in Kohle schwimmst. Privatdetektive haben’s ja dicke. Bist ein richtiger Dukatenscheißer.«

Er ließ E. E.s Worte wie Squashbälle an sich abprallen und verkniff sich eine Erwiderung. Sein alter Freund stellte sich zu ihnen.

»Chief, mein Name ist Miles Blankenship. Von der Kanzlei Griffin und Kretchmer. Freut mich, Sie kennenzulernen. Ich vertrete –«

»Weiß schon.« E. E. schüttelte Miles’ Hand und ließ sie sinken, als sich die Tür erneut öffnete.

Detective Fred Abels, Koteletten, Schnauzer und Hahnentritt-Jackett, führte sie am Ellbogen herein. Detective Tucker bildete die Nachhut, ein stämmiger Mann mit eingedrückter Nase in parkbankgrünem Freizeitanzug mit modisch breitem Kragen. Kurz stieg Dankbarkeit in Phelan auf, dass E. E. ihr keine Handschellen hatte anlegen lassen, dann Mitgefühl, als er die blasse Delpha Wade zwischen den beiden Detectives musterte. Alle sahen sie an, wie Phelan mit einem Blick in die Runde – bestehend aus E. E., Fontenot, Miles – feststellte.

Bluse wie vom Schlachthof.

Phelan wurde heiß im Nacken.

Er wusste, was in seinem Büro passiert war, weil er gleich danach dort eingetroffen war. Die Cops würden sie fragen, wer den Kampf angefangen hatte, der Mann, der ins Büro gekommen war, oder Delpha. Offenbar wollte sie der Polizei einen Eindruck von dem Geschehen verschaffen, sonst hätte sie was Sauberes angezogen, denn das bekam man – ja, tatsächlich – im Krankenhaus.

Der blutumrandete Riss in der zerknitterten weißen Bluse und der breite rostrote Streifen, der von dort nach unten führte, zog die Blicke auf sich. Die braunen Flecken und Blutspritzer am Kragen stammten wahrscheinlich nicht von ihr, dachte Phelan, aber sie verstärkten den grausigen Effekt. Der marineblaue Rock war an der Taille schwarz. Ein leichter Geruch nach Eisen und nach etwas Verdorbenem umgab sie. Nur unter Mühe schien sie gehen zu können.

Delphas Blick wanderte über die Umstehenden, blieb bei Phelan stehen. Ihre hellbraunen, nicht ganz schulterlangen Haare waren zerzaust, und sie hatte sie nicht zurechtfrisiert. Auf den hohen Wangenknochen waren weder Puder noch Rouge. Der Mund war blassrosa geschminkt. Sie sah ihn eine halbe Ewigkeit an, bevor sie den Blick wieder abwandte.

E. E. stellte sich Delpha vor und erklärte, er würde ihr gerne ein paar Fragen stellen, um die Lücken zu füllen, reine Routine. Dann kam Miles. Er sagte, er sei da, um ihr Rechtsbeistand zu leisten, wenn sie einverstanden sei. Delpha nickte knapp und machte dabei einen kleinen Schritt zur Seite, fast als würde sie zusammensinken, und der Anwalt hielt sie am Ellbogen fest. Fragte, ob die Detectives sie über ihre Rechte aufgeklärt hätten.

»Wir haben sie nicht verhaftet«, sagte E. E. »Wir wollen nur ihre Aussage aufnehmen. Dazu, was passiert ist.« Er nickte Abels zu. »Bringt sie in mein Büro.«

Miles, ehemaliger Tambourmajor, Abschiedsredner an der Highschool und Scheidungsanwalt der Luxusklasse, bewegte sich zwar auf unbekanntem Terrain, strahlte aber gelassene Kompetenz und maßgeschneidertes Selbstbewusstsein aus, so als sei er jeden Dollar wert, den man ihm zahlte. Phelan wusste, wie man seine Muskeln spielen ließ, aber so geschickt war er dabei nicht.

Delpha sah wieder zu Phelan. »Haben Sie ihn meinetwegen kommen lassen?«, sagte sie leise, damit nur er sie hören konnte, und das matte Blaugrau ihrer Augen leuchtete auf.

Phelan reckte das Kinn.

Die Detectives schoben sie an ihm vorbei. Miles warf Phelan einen Blick zu und ging ihnen hinterher. Das Treiben im Dienstraum, das Gequassel, Schreibmaschinengeklapper, Aktenordnen, Telefonieren, Chipstütenknistern und Zigarettenrauchen – all das würde schlagartig aufhören, dachte Phelan, wenn sie die Frau mit der Blutbadbluse an ihnen vorbeigehen sahen.

E. E. tätschelte Phelans Brust. »Wir brauchen dich nicht, Tommy. Deine Aussage wurde ja schon am Tatort aufgenommen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und folgte den anderen.

Phelan ging in den Waschraum und schrubbte seine mit Farbe bekleckerten Fingerknöchel und Nägel, den Stumpf des linken Mittelfingers, die Handgelenke. Kam zurück und setzte sich auf einen der Stühle, die unter dem langen Fenster standen. Trotz Jalousien und Klimaanlage war es brütend heiß. Die Zeiger der Wanduhr rückten ein Stück vor, dann blieben sie kurz stehen, sprangen zurück, holten ein paar vergessene Minuten nach und schleppten sich wieder weiter. Er saß da, rauchte und schwitzte vor sich hin.

Von Zeit zu Zeit verließ Fontenot seinen Tresen, kehrte zurück, hob das klingelnde Telefon ab und machte sich auf einem Klemmbrett Notizen. Beantwortete gewissenhaft die Fragen von Besuchern und achtete peinlich darauf, dass seine Augen nicht in Phelans Blickfeld gerieten.

2

Die frisch genähte, tiefe Wunde fühlte sich an, als würde vom Nabel bis zum Rückgrat ein Haken in ihr stecken. Ihr Bauch war verkrampft und brannte.

Aber als Miles Blankenship in seinem schicken Anzug kam, wurde Delpha Wade fiebrig leicht und sie bekam weiche Knie. Ein Anwalt wie aus dem Bilderbuch. Er ging, als würde die Straße sich eigens für ihn ausrollen. In einem Anzug, der aussah, als wäre er eigens für ihn genäht worden. Der gelassene, selbstverständliche Ton, in dem er mit dem Chief sprach, klang, als würde er sich nicht ein einziges Mal fragen, ob und wie ihm geantwortet würde. Miles Blankenship könnte mit jeder Antwort umgehen, er gehörte hierher, in dieses Revier, gehörte hinter den schweren Kanzleischreibtisch, den er sicher besaß, in ein Restaurant mit Samtvorhängen, an einen der vorderen Tische. Und ein solcher Anwalt war gekommen, um ihr zur Seite zu stehen. Sprach für sie, Himmelherrgott, umgab sie mit dem Schutz des Gesetzes, als wäre es ein warmer Mantel, nicht ein löchriges Netz. So ein Anwalt bedeutete den Unterschied zwischen vierzehn Jahren und einem Leben in Freiheit. Sie wappnete sich schon mal für den Fall, dass es auf einmal Sterntaler regnete.

Abels und Tucker steuerten die Stühle auf der anderen Seite des Tischs an, vor dem sie und ihr Anwalt standen. An der Wand rechts von ihr lehnte Joe Ford, Delphas Bewährungshelfer, über eins neunzig und chronisch schlecht gelaunt. Eine der vielen Anweisungen von Joe Ford bei ihrem ersten Treffen hatte gelautet: Der auf Bewährung Entlassene darf kein Messer mit einer mehr als fünf Zentimeter langen Klinge besitzen, außer einem Küchenmesser und nur, wenn der Bewährungshelfer es gestattet.

Joe sah ihr in die Augen, sein Blick flackerte. Wahrscheinlich passte es ihm nicht, wegen eines seiner Schützlinge hierherzitiert worden zu sein und sich mit dem Polizeichef, einem Anwalt und bestimmt gleich auch noch dem Staatsanwalt herumschlagen zu müssen, die alle weit über seiner Gehaltsklasse lagen. Mr Ford, ich hatte kein Messer mit einer fünf Zentimeter langen Klinge. Auch keins mit einer zwanzig Zentimeter langen Klinge. Nur eine Whiskeyflasche in der untersten Schublade. Aber das ist egal, scheißegal, weil letztlich hieß es er oder ich.

Tucker mit der eingedrückten Nase setzte sich auf den ersten Stuhl, legte den Kopf in den Nacken und nieste laut. Er klopfte seine Taschen nach einem Taschentuch ab, fischte es heraus. Mr Blankenship zog für Delpha den Stuhl gegenüber von Tucker zurück, deutete mit einem Nicken darauf. Sie setzte sich. Unvermittelt schob er den Stuhl zum Tisch, und sie musste sich kurz festhalten, um nicht runterzufallen. Dann nahm er neben ihr Platz. Abels, der Detective mit Schnauzer und Koteletten, schlüpfte aus dem Hahnentritt-Jackett und hängte es über seine Lehne. Er warf einen weißen Notizblock auf den Tisch und ließ sich auf den Stuhl plumpsen. Schrappte mit den Stuhlbeinen über den Boden, nahm die Kappe von seinem Stift.

»Okay, Delpha. Wo waren Sie am Nachmittag des 15. August 1973?« Von seinem Unterarm blickte finster eine Bulldogge mit Polizeimütze.

»Im Büro von Phelan Investigations in der Orleans Street in Downtown.«

»War jemand bei Ihnen?«

»Nein.«

»Wo war Ihr Chef?«

»Unterwegs bei Ermittlungen.«

»Als der … Verstorbene an der Tür auftauchte, haben Sie ihn da hereingebeten?«

»Er kam einfach rein.«

»Die Tür war nicht verschlossen?«

»Nein.«

»Was haben Sie zu ihm gesagt?«

»Ich hab ihn gefragt, ob ich ihm helfen kann.«

»Okay. Was hat er gesagt?«

»Dass ein Mädchen ein Buch für ihn vor die Tür gelegt hat und dass es nicht da ist.«

Abels wartete, dass sie fortfuhr, und als sie es nicht tat, fragte er: »Was haben Sie erwidert?«

»Ich hab ihm gesagt, dass ich es mit reingenommen hätte und dass ich es holen würde und er wieder gehen könnte.«

»Hatten Sie es eilig, ihn loszuwerden?«

»Ja, Sir.«

»Warum?«

»Er wollte wissen, ob mein Boss unterwegs ist, und hat sich umgesehen, um sicherzugehen, dass ich wirklich allein bin.«

»Vielleicht hat er sich nur das Büro ansehen wollen«, sagte Abels nüchtern, ganz Cop.

Delphas Augen huschten zu Tucker, dann kehrten sie zu Abels zurück. Sie antwortete nicht.

»Dachten Sie, dass er Ihnen etwas antun will?«

»Ja, Sir.«

»Ohne dass er Sie in irgendeiner Weise bedroht hat?«

Sie nickte.

»Wie sind Sie darauf gekommen?«

»Seine Hose war vorne ausgebeult.«

Und so ging es weiter, langsam, methodisch, bis zu dem Moment, als ihr Angreifer ein Messer gezogen hatte. Daran schloss eine detaillierte Rekapitulation der folgenden Ereignisse an. Es dauerte neunundachtzig Minuten, bis Abels eine andere Gangart einlegte. Der Anwalt neben ihr beugte sich gespannt vor.

»Okay, Delpha. Im April dieses Jahres wurden Sie aus dem Frauengefängnis Gatesville entlassen, stimmt das?«

»Das ist richtig.«

»Weswegen saßen Sie ein?«

»Totschlag.«

»Das Opfer war –«

Miles Blankenship beendete den Satz für ihn. »Ein Vergewaltiger, Detective. Es reicht jetzt. Diese Fragen haben mit der vorliegenden Sache nichts zu tun. Wir alle wissen, dass Miss Wade auf Bewährung ist. Und wir alle wissen, dass wir es hier mit einem Fall von Notwehr zu tun haben. Das heißt, meine Mandantin war der gerechtfertigten Überzeugung, das eigene Leben nur unter Anwendung von Gewalt gegen einen aggressiven Triebtäter verteidigen zu können. So wie es jeder Mann in diesem Raum ohne Bedenken getan hätte. Ohne Bedenken. Jeder hier. Das möchte ich betonen.« Er sah einen nach dem anderen an, außer Delpha.

»Es hat kein Verbrechen stattgefunden, meine Herren. Da Miss Wade keine Waffe mit sich führte, hat sie nicht einmal ihre Bewährungsauflagen verletzt. Nicht einmal das. Diese Vernehmung ist eine reine Formsache und wir wissen alle, dass sie notwendig ist. Lassen Sie es uns also schnell hinter uns bringen. Vergessen Sie nicht, dass Sie meine Mandantin aus einem Krankenhausbett geholt haben.«

Während die Cops Miles ausdruckslos ansahen, bemerkte Delpha, wie sich ihr Bewährungshelfer Joe Ford aufrichtete. Er hatte die Arme gelöst, die er bisher wie einen Schutzwall vor der Brust verschränkt hatte, und steckte die Hände in die Hosentaschen. Keine Verletzung der Bewährungsauflagen bedeutete, dass man ihm nichts vorwerfen konnte.

Mit einem raschen Blick unter gehobenen Brauen sah Abels, dass der Chief sein Kinn einen halben Zentimeter vorschob.

Dann sah er wieder zu Delpha. Er legte den Kopf schief, dehnte den Nacken. »Okay. Also dann noch mal fürs Protokoll. Als der Verstorbene in das Büro kam, waren Sie allein?«

»Ja.«

»Haben Sie ihn hereingebeten?«

»Er ist so reingekommen.«

»Okay. Haben Sie mit ihm geredet?«

Zum dritten Mal wurde der Wortwechsel wiederholt. Delpha versicherte noch einmal, dass sie den Mann nicht kannte, nie zuvor gesehen hatte. Ja, ihr Boss, Mr Phelan, habe ihr von ihm berichtet.

»Und was hat Ihnen Ihr Boss berichtet?«

»Dass er hinter Jungs her ist.«

»Das wussten Sie also?«

»Ich wusste, dass Mr Phelan davon überzeugt war.«

Abels verzog den Mund. Ärger blitzte in seinen Augen auf. Nur eine Sekunde – dann verlor seine Stimme ihren neutralen Ton. »Warum sind Sie eigentlich nicht einfach weggelaufen, Delpha?«, fragte er mit geheucheltem freundlichen Interesse.

»Weil er genau darauf gehofft hat.«

Chief Guidry, der die ganze Zeit mit verschränkten Armen dagesessen hatte, schaltete sich ein. »Können Sie Gedanken lesen?«

»Nein, aber Körpersprache. Die Art, wie er das Messer schwang.«

»Nämlich?« Abels, gespielt verwirrt.

»Als wollte er, dass ich versuche wegzulaufen.«

Tucker rieb sich mit gestrecktem Zeigefinger die Nase. »Sie hätten um Hilfe rufen können.«

Sie nickte. »Das hätte ihm bestimmt gefallen.«

»Wie kommen Sie darauf? Erklären Sie es uns.« Tucker schniefte.

»Sir, wenn Sie noch nie in einen Messerkampf verwickelt waren, können Sie das nicht verstehen. Sie sollten mir besser eine konkrete Frage stellen.«

Der Anwalt ließ den Radiergummi seines Stifts auf seinem gelben Block auf und ab hüpfen und lächelte in sich hinein.

Mit finsterer Miene ergriff wieder Abels das Wort. »Sie haben also nicht gezögert, ihn umzubringen?«

»Nicht nachdem er mich verletzt hatte.«

In dem darauffolgenden kurzen Schweigen suchte Abels vermutlich nach einem neuen Ansatz. Die anderen Männer hatten erst mal an der Antwort zu kauen.

»Na gut, Delpha. Lassen wir mal kurz beiseite, was wir inzwischen wissen, nämlich dass Ihr Angreifer der Hauptverdächtige in sechs Mordfällen ist … das wussten Sie an dem fraglichen Nachmittag nicht –«

Sie öffnete den Mund und starrte Abels mit seinem räudigen, grau melierten Schnauzer an. Er musste am Schauplatz der Morde gewesen sein, davon war sie überzeugt. Angesichts seines Rangs, der Schwere des Falls. Abels hatte Bilder von den in verdreckte Plastikplanen gewickelten Überresten von Kinderleichen im Kopf, er hatte den Fäulnisgestank in der Nase.

»Niemand lässt mal kurz sechs tote Jungen beiseite«, sagte sie. »Auch Sie nicht.«

Abels’ Kopf zuckte, als müsste er seine Wirbelsäule ausrichten. Kein Geräusch war zu hören, nur Atmen. »Nein, das stimmt, Ma’am.«

Ma’am. Nicht mehr als eine Höflichkeitsformel, aber immerhin. Ein erstes Zeichen von Respekt.

Als hätte ein Wecker geklingelt, blickte Miles Blankenship auf seine silberne Armbanduhr und stand auf. »Ich denke, wir sind hier fertig, Officers«, sagte er freundlich.

Er wandte sich an den Chief. »Alle weiteren Fragen richten Sie bitte an mich. Miss Wade, es war mir eine Ehre.«

Er beugte sich zu ihr und packte die Rückenlehne ihres Stuhls.

Delphas Hände umklammerten die Seiten des Sitzes.

Sie drehte sich zu Blankenship um, der sie freundlich anlächelte und leise Darf ich sagte. Etwas widerstrebend ließ sie den Stuhl los, ließ zu, dass er ihn vom Tisch wegzog, erhob sich und sah einen nach dem anderen an: begegnete den prüfenden Augen des Chiefs, wandte sich Joe Fords vertrautem hagerem Gesicht zu, dann den beiden vor ihr sitzenden Detectives. Abels seufzte, dann hüstelte er schnell darüber hinweg. Tucker blinzelte ihr zu, vielleicht litt er aber auch unter einem Tick.

Im Flur hatten sich Uniformierte versammelt, bis zum Dienstraum standen sie. Sicher hatten ein paar von ihnen die geborgenen Leichen gesehen. Zwei nickten nachdenklich, so als wollten sie der Frau in der blutigen Bluse ihre Zustimmung bekunden, andere gafften sie an. Delpha ging an ihnen vorbei in den offenen Dienstraum. Ein heftiger Schmerz zwischen den Schulterblättern durchzuckte sie, sie hatte zu lange gesessen. Auf einmal spürte sie ihre Erschöpfung, das scharfe Stechen in der Wunde, den Haken in ihrer Brust, während sie auf das Wartezimmer des Reviers zuging und hinter ihr wieder leises Murmeln einsetzte.

»Meinen Segen hat sie«, hörte sie, dann Steakmesser, Arschloch und Gemetzel. Jemand kicherte.

Schlüssel klirrten. »Wir sehen uns«, sagte Joe Ford leise und ging schnell davon.

Ja, sie würde ihn in seinem Büro sehen. Das würde bestimmt schön werden.

Es war etwa drei Uhr nachmittags, als Fontenot wieder hinter dem Tresen Platz nahm und Phelan mit blauen Augen anblitzte.

»Hab ich’s nicht gesagt«, sagte er munter und Phelan wusste, dass sie Delpha von der Angel ließen.

Sein Kumpel Joe Ford kam als Erster raus und als er an Phelan vorbeiging, weiteten sich seine Augen und sein Kinn zuckte. Dann kam Miles. Sie legten ihr nichts zur Last. Vermutlich würden sie es als Fall von Notwehr an die Staatsanwaltschaft weitergeben. Miles hatte keine Zeit mehr. Auf ihn wartete ein Scheidungspaar, das sich wegen eines alten Beagles namens Betty in den Haaren lag.

»Schick mir deine Rechnung«, sagte Phelan.

»Das muss ich leider, Tom. Wir führen Stundenzettel in der Kanzlei.« Miles lächelte schief. »Sie hätte das auch ohne mich hingekriegt. Aber schön, dich mal wieder gesehen zu haben, alter Kumpel.« Er schüttelte Phelan die Hand und ging.

»Ich nehme Sie mit«, sagte Phelan zu Delpha, als sie und Abels an Fontenots Tresen vorbeigingen. »Ins Krankenhaus? Oder heim?«

»Heim.«

Im Auto fragte Phelan, ob sie eine saubere Bluse brauche. »Ja, danke«, sagte sie, »sonst verursache ich im Rosemont noch einen Aufruhr.« Er hielt bei Gus Meyer und suchte eine weiße Damenbluse aus. Sie zog sich im Auto um, und der Anblick einer empfindlich aussehenden roten Linie quer über eine Rippe, eines rostfleckigen Baumwoll-BHs und der Wölbung ihrer Brüste brannte sich ihm ein.

Angekommen beim New Rosemont, begleitete er sie durch die große Lobby mit dem glanzlosen blauen Samt und dem geblümten Chintz, den Fransenlampenschirmen, zerkratzten Beistelltischen mit Aschenbechern aus Aluminium. Auf den Sofas und Sesseln, die für gemütliche Plauderrunden zusammengerückt worden waren, saßen vereinzelt ältere, zu arthritischen Marmorstatuen erstarrte Gäste. Am Fuß der Treppe blieben sie stehen. Ihr Boss warf ihr einen langen Blick zu, so als wollte er ihr etwas Wichtiges mitteilen, das Gesicht verquält. Schließlich sagte er nur: »Erholen Sie sich, ja?«

Delpha bedankte sich leise und ging die Treppe hinauf. Sie musste sich am Geländer abstützen.

Eine Nachtschwester hatte beim Messen von Temperatur und Blutdruck Mr Phelan erwähnt. Ist das Ihr Mann oder Ihr Freund?, hatte sie gefragt. Einen Ring trägt er jedenfalls nicht. Ich mag die ohne Bauch auch lieber. Wenn er noch frei ist, geben Sie mir Bescheid.

Er hatte sie nach der Operation täglich besucht, selbst als sie eine Woche lang nur vor sich hindämmerte und eine Infektion wegschlief. Nach Feierabend hatte er neben ihrem Bett gesessen, ohne viel zu sagen. Die durch das Fenster fallende Augustsonne hatte einen rotbraunen Schimmer auf seine dunklen Haare geworfen. Die immer länger wurden. Sein blaues Hemd sah aus, als hätte es ein Blinder gebügelt. Von neuen Aufträgen hatte er nichts erzählt. Es gab wohl keine. Daran war vielleicht sie schuld, dachte sie mit schlechtem Gewissen. Mr Thomas Phelan, ehemals Arbeiter auf einer Bohrinsel, Empfänger einer Entschädigung für einen verlorenen Mittelfinger, neuerdings Privatdetektiv. Arbeitgeber von Delpha Wade, nachdem sonst niemand in ganz Beaumont, Texas, diesen Titel hatte haben wollen.

3

Der eine oder andere Bewohner des New Rosemont Retirement Hotel hatte die Titelseite des Beaumont Journal studiert oder die Abendnachrichten von Channel 4 gesehen und die anderen über die unfassbare Geschichte unterrichtet. Miss Delpha Wade aus Zimmer 221 am Ende der Treppe hatte in Notwehr einen Mann umgebracht, und wie es weiter unten in dem Bericht hieß, war es nicht der erste. Als sie letztes Frühjahr in die Lobby getreten war, kam sie direkt aus dem Frauengefängnis in Gatesville! Es gab betroffene Blicke und skeptisches Zungenschnalzen und manchen blieb der Mund mit dem kaffeefleckigen Gebiss offen stehen.

Delpha hatte ihre Mitbewohner nicht in Verlegenheit bringen wollen. In den letzten zehn Tagen hatte sie morgens, wenn es nicht gerade regnete, ihren Kaffee auf die Veranda getragen, an der frischen Luft gesessen und den Treck der Angestellten in die Stadt beobachtet. Nach acht Tagen hatte sie morgens Rock und Bluse angezogen, als wollte sie ins Büro.

Auch heute hatte sie sich schick gemacht, der Kaffee brannte in ihrem Magen und stieß ihr sauer auf. Der Himmel hatte sich zugezogen, ein schwarzer Regenschirm mit Holzgriff lehnte an ihrer Hüfte.

Tropfen zerplatzten in ihren Haaren. Delpha sah nach oben zu den überfließenden, lila gesäumten Wolken, dann stand sie auf und öffnete den Schirm, um unter sein schwarzes Dach zu flüchten.

Phelan starrte in den Regen hinaus, dann auf Beine unter einem Schirm, die langsamer, als es angesichts der Wetterlage angebracht erschien, die Straße überquerten. In flachen schwarzen Schuhen. Nassen flachen schwarzen Schuhen.

Der Tropensturm Celia fegte zum zweiten Mal über Freemont hinweg. Vor zwei Tagen hatte er schon einmal vorbeigeschaut und sich dann zum Golf verzogen, nur um dort Ätsch! eine Kehrtwende zu vollziehen und mit frischer Kraft und aufgefüllten Regenvorräten an denselben Küstenabschnitt zurückzukehren. Beaumont bekam die volle Breitseite ab. Als Phelan die gemessenen Schritte auf der Treppe hörte, setzte er sich in seinen Chefsessel. Dann stand er wieder auf. Fuhr sich mit der Hand durch seine immer länger werdenden Haare.

Miss Wade trat durch die Tür von Phelan Investigations und blieb unvermittelt stehen. Rasch sah sie sich um, musterte die Apollo-weißen Wände.

Phelan beobachtete sie, sein Nacken wurde warm.

Die Falte an ihrem linken Mundwinkel schien sich ein bisschen tiefer eingegraben zu haben. Sie hatte etwas Gewicht verloren. Wog weniger als die 55 Kilo, die auf ihrem Entlassungsschein aus dem Gefängnis standen. Immer noch eins achtundsechzig. Immer noch graublaue Augen, aber jetzt ging ihr Blick weiter in die Ferne. Leicht erklärlich. Die Gefängnisblässe war längst verschwunden: Auf ihren Wangenknochen und den Strähnen ihrer aschbraunen Haare lag Sonne. Oft genug hatte sie von den Verandastühlen des New Rosemont Retirement Hotel aus die Parade von und nach Downtown abgenommen. Er hatte sie aus dem Fenster seines Büros beobachtet, das gegenüber dem Rosemont lag, und sich gefragt, ob sie an Körper und Seele heilte. Sich gefragt, ob Phelan Investigations und sein Besitzer eine Rolle dabei spielten.

Heute lag mehr als Sonne auf ihren Wangenknochen – sie waren dunkelrosa vor Verlegenheit. Sie machte die Tür hinter sich zu. »Ich hätte anrufen sollen, aber dann hab ich beschlossen, lieber von Angesicht zu Angesicht mit Ihnen zu reden, egal wie das hier ausgeht. Ich wollte Ihnen sagen, wie dankbar ich bin, dass Sie mich angestellt haben, und wie leid es mir tut, dass ich Sie und Ihr Büro in diese scheußliche Sache mit reingezogen hab.«

Phelan hatte das Gefühl, als läge ihm eine ganze Schüssel Chili im Magen. Die Wärme in seinem Nacken hatte mittlerweile seine Ohren erreicht.

Delpha kam nicht zurück.

»Ich beziehungsweise Phelan Investigations, das läuft ja aufs selbe raus, haben Sie in diese Lage gebracht, und das wissen Sie.«

»Keiner von uns ist schuld an dem, was dieser Mann gemacht hat, Mr Phelan.« Das klang sehr bestimmt.

Phelan räusperte sich und gab sich einen Ruck. »Geht es Ihnen gut genug, dass Sie Ihre Arbeit wiederaufnehmen können?«

Sie vermieden es, sich anzusehen, er hatte den Blick auf die Höhe ihrer Taille gesenkt, an der eine blassblaue Bluse in einen Glockenrock gesteckt war, den er schon oft an ihr gesehen hatte. Sie blickte zur Seite auf die neuen Möbel. Das Rosa auf ihren Wangen wanderte zu ihrem Hals.

»Gibt es denn Arbeit, Mr Phelan?«

»Ja, die gibt es. Wir haben heute um zehn einen Termin.« Man hörte ihm die Erleichterung an. Auch wenn er eigentlich geschäftsmäßig klingen wollte. Und … wir, er hatte wir gesagt. »Der Mann, mit dem Sie gesprochen haben, bevor … na ja, vorher eben.«

. Er atmete tief aus.

Sie sah zu Boden, stellte die Füße in den flachen schwarzen Schuhen nebeneinander. Strich sich die Haare hinters Ohr. »Was halten Sie davon, wenn wir uns mit Vornamen anreden, Mr Phelan? Nach allem, was passiert ist. Und weil Sie mich ja offenbar behalten wollen. Viele Leute würden das nicht –«

»Wenn ich hier gewesen wäre, wie ich es eigentlich hätte sein sollen …«, Phelan senkte den Blick und vergrub die Hände in den Hosentaschen, »… dann hätte ich an Ihrer Stelle das gute Werk vollbracht.«

»So ticken diese Männer nicht, Mr Phelan. Tom. Wenn Sie hier gewesen wären, dann hätte er nichts unternommen. Dann würde er immer noch da draußen rumlaufen.« Ein Schauer kroch über ihre Schultern. Delpha drehte sich um, stellte ihren Schirm in den Garderobenschrank, ging zu ihrem Schreibtisch und setzte sich. Sie verschob die Selectric um zwei Zentimeter, zog die Stiftablage auf und nahm einen Stift heraus. Dann holte sie aus der mittleren Seitenschublade einen neuen Aktendeckel, legte ihn auf den Schreibtisch und blickte Phelan mit gezücktem Stift an.

»Wie heißt unser Zehn-Uhr-Termin?«