image

MICHAEL PALIN

EREBUS

Ein Schiff, zwei Fahrten
und das weltweit
größte Rätsel auf See

Aus dem Englischen
von Rudolf Mast

image

Die Originalausgabe erschien 2018

Copyright © Michael Palin, 2018

Das Conrad-Zitat auf Seite 7 folgt der Ausgabe:

© 2019 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel, Petra Koßmann, mareverlag

Abbildung Chris Wormell

Typografie (Hardcover) mareverlag

Datenkonvertierung E-Book Bookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-374-3

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-604-1

www.mare.de

Für Albert und Rose

Und tatsächlich ist für jemanden, der, wie man wohl sagt, »mit Leib und Seele zur See fuhr«, nichts einfacher, als in der Mündung der Themse den großen Geist vergangener Tage zu beschwören. Ihre unaufhörlich wechselnden Gezeiten sind voller Erinnerungen an Menschen und Schiffe, die sie einst in ihr friedliches Heim oder zu Seeschlachten trug (…) von der Golden Hind, deren runde Wände voller Schätze waren (…) bis hin zur Erebus und zur Terror, die zu anderen Raubzügen aufbrachen und nie zurückkehrten.

Joseph Conrad, Herz der Finsternis

INHALT

Einleitung: Hookers Strümpfe

Prolog: Die einzige Überlebende

1Made in Wales

2Der magnetische Nordpol

3Der magnetische Südpol

4Entlegene Gestade

5»Unsere südliche Heimat«

6»Weiter südlich als (vermutlich) je ein Mensch zuvor«

7Die Kapitäne bitten zum Tanz

8»Pilger des Meeres«

9»Ein elendigerer Ort, als man sich vorstellen kann«

10»Gillingham liegt drei Jahre zurück«

11Die Rückfahrt

12»Es bleibt nur noch wenig zu tun«

13Kurs Nordnordwest

14Kein Lebenszeichen

15Die Wahrheit

16Leben und Tod

17Was die Inuit erzählen

18Wiederauferstehung

Epilog: Zurück in der Nordwestpassage

ZeittafelDankLiteratur
BildnachweiseRegister
Bildteil

image

Im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren stieß Joseph Dalton Hooker als Zweiter Schiffsarzt zur Besatzung der HMS Erebus dazu. Später wurde er einer der bedeutendsten Botaniker des 19. Jahrhunderts

Einleitung

HOOKERS STRÜMPFE

Seit jeher faszinieren mich Geschichten über die Seefahrt. C. S. Foresters Romane über Horatio Hornblower habe ich entdeckt, als ich elf oder zwölf Jahre alt war. Ich durchforstete die Bibliotheken Sheffields nach Bänden, die mir möglicherweise entgangen waren. An härterem Stoff versuchte ich mich mit Grausamer Atlantik von Nicholas Monsarrat – einem der eindrücklichsten Bücher meiner Kindheit. Dass ich nur die »Kadettenausgabe« zu lesen bekam, aus der sämtliche Sexstellen getilgt waren, tat dem keinen Abbruch. In den 1950er-Jahren gab es eine Flut von Filmen über die Navy und den Krieg: The Sea Shall Not Have Them, Above Us the Waves, Cockleshell Heros. Sie erzählten Geschichten von Heldentum, Mut und unbedingtem Überlebenswillen, der allen Widrigkeiten trotzte. Es sei denn, man tat im Maschinenraum Dienst.

Mir war das Glück beschieden, später im Leben viel Zeit auf Schiffen verbringen zu dürfen, meist weit weg von zu Hause, begleitet nur von einem Kamerateam der BBC und mit einem Roman von Patrick O’Brian im Gepäck. Ich fand mich gelegentlich auf einem italienischen Kreuzfahrtschiff wieder, das sich der Küste Ägyptens näherte, während ich noch hektisch im Buch Arabisch für Anfänger herumblätterte. Im Persischen Golf bekam ich es auf einem Schiff, dessen einzige Toilette aus einem Fass bestand, das am Heck an der Reling baumelte, mit akuter Diarrhö zu tun. Ich habe knapp unterhalb der Victoriafälle eine Raftingtour unternommen und bin zum Marlinfischen weit in den Golfstrom – den »großen blauen Fluss«, wie Hemingway ihn genannt hat – hinausgefahren (wenn auch ohne etwas zu fangen). In Neuseeland bin ich einmal mit einem Jetboot direkt in einen Felsen gekracht, und im Golf von Bengalen habe ich das Deck eines jugoslawischen Frachters geschrubbt. Nichts davon konnte mich abschrecken. Zwischen Booten und Wasser besteht eine Beziehung, die ich als sehr natürlich, ja, geradezu tröstlich empfinde. Immerhin stammen wir aus dem Meer, und wie schon Präsident Kennedy sagte: »Wir haben Salz in unserem Blut, unserem Schweiß, unseren Tränen. Wir sind mit dem Meer verbunden, und wenn wir eines Tages dorthin zurückkehren (…), landen wir dort, wo wir hergekommen sind.«

2013 erreichte mich das Angebot, im Londoner Athenaeum Club einen Vortrag zu halten. Bedingung war, dass er von einem Mitglied des Clubs handelte, gleich ob tot oder lebendig, und nicht länger als eine Stunde dauerte. Meine Wahl fiel auf Joseph Hooker, der im 19. Jahrhundert viele Jahre Direktor der Royal Botanic Gardens im Londoner Stadtteil Kew war. Bei Filmaufnahmen in Brasilien hatte ich den Ausdruck »botanischer Imperialismus« gehört, dessen sich Hooker schuldig gemacht habe, indem er Pflanzensammler dazu anstiftete, exotische Pflanzen, die wirtschaftlich verwertbar waren, nach London zu schmuggeln. Auf diese Weise kam Hooker an Samen von Gummibäumen aus dem Amazonasgebiet, die er in Kew keimen und anschließend als Schösslinge in die britischen Kolonien Hinterindiens bringen ließ. Nach zwei oder drei Jahrzehnten war die brasilianische Gummi-Industrie tot, wohingegen die britische prächtig gedieh.

Ich war mit meiner Beschäftigung mit Hooker noch nicht weit gekommen, als ich zufällig auf einen Aspekt in dessen Leben stieß, der wie eine Offenbarung war. 1839, im zarten Alter von zweiundzwanzig Jahren, hatte sich der Bart und Brille tragende Gentleman, den ich von verblassten viktorianischen Fotografien kannte, als Zweiter Schiffsarzt und Botaniker einer vierjährigen Expedition der Royal Navy in die Antarktis angeschlossen. Das Schiff, das ihn in diese unerforschte Region brachte, hieß HMS Erebus. Je mehr ich über die Reise erfuhr, desto mehr staunte ich, wie wenig ich bis dato darüber gewusst hatte. Denn dass ein Segelschiff achtzehn Monate am entlegensten Ende der Welt verbringt, dabei Stürmen und Eisbergen trotzt und anschließend wohlbehalten zurückkehrt, ist eine jener außergewöhnlichen Leistungen, von denen man annehmen sollte, dass sie nie in Vergessenheit geraten. Und für die HMS Erebus war es ein triumphaler Erfolg.

Doch Hochmut kommt bekanntlich vor dem Fall. 1846 verschwand dasselbe Schiff zusammen mit seinem Schwesterschiff Terror und 129 Mann Besatzung bei dem Versuch, sich einen Weg durch die Nordwestpassage zu bahnen, für immer von der Bildfläche. Es war der größte Verlust an Menschenleben, den die britische Polarforschung je erleiden musste.

Ich verfasste und hielt meinen Vortrag über Hooker, doch die Abenteuer der Erebus gingen mir nicht aus dem Sinn. Dort trieben sie noch immer ihr Unwesen, als ich im Sommer 2014 gemeinsam mit ein paar anderen greisen Männern wie John Cleese, Terry Jones, Eric Idle und Terry Gilliam, bedauerlicherweise aber ohne Graham Chapman, zehn Abende in der O2-Arena von Greenwich mit einem Programm auftrat, das sich Monty Python Live – One Down Five to Go nannte. Es waren wundervolle Abende mit einem großartigen Publikum, aber nachdem der Tod des norwegischen Blaulings zum letzten Mal beklagt, das Holzfäller-Lied zum letzten Mal gesungen war, blieb ich mit einem Gefühl der Leere zurück. Was blieb mir jetzt noch zu tun? Eins stand fest: Mit dem, was gewesen war, dürfte es nichts zu tun haben. Was immer es wäre, es müsste etwas völlig anderes sein.

Zwei Wochen später erhielt ich frei Haus die Antwort. Am 9. September sah ich in den Abendnachrichten einen Bericht, der mich aufhorchen ließ. Bei einer Pressekonferenz in Ottawa teilte der Premierminister Kanadas der Welt mit, dass ein Team von kanadischen Meeresarchäologen ein Wrack entdeckt hatte, bei dem es sich ihrer Überzeugung nach um die HMS Erebus handelte, die seit fast 170 Jahren vermisst und irgendwo auf dem Meeresgrund der Arktis vermutet wurde. Der Rumpf war nahezu intakt, das Innere vom Eis konserviert. In diesem Moment wusste ich, dass es eine Geschichte gab, die nur darauf wartete, erzählt zu werden. Eine Geschichte, die nicht nur von Leben und Tod handelt, sondern auch von einer Art Wiederauferstehung.

Was war der Erebus widerfahren? In welchem Zustand war sie? Was hatte sie erreicht? Wie hatte sie so viel ertragen können, um dann auf derart rätselhafte Weise zu verschwinden?

Ich bin kein Marinehistoriker, aber ich interessiere mich für Geschichte. Ich bin kein Seemann, aber ich fühle mich zum Meer hingezogen. Von nichts als schierer Begeisterung getrieben, fragte ich mich, wo auf der Welt ich das Abenteuer, das vor mir lag, angehen sollte. Ein naheliegender Kandidat war jene Institution, die ab 1803 zahllose Expeditionen in die Arktis und Antarktis auf den Weg gebracht hatte. Der Zufall wollte es, dass ich mich mit ihr einigermaßen auskannte, denn ich war drei Jahre lang ihr Präsident.

Also stattete ich der Royal Geographical Society in Kensington einen Besuch ab und legte dem Leiter der historischen Abteilung, Alasdair MacLeod, mein leicht verstiegenes Projekt und die Dringlichkeit meines Anliegens dar. Wusste er von irgendwelchen Hinweisen, die zur HMS Erebus führten?

Er runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Erebus«, murmelte er schließlich. »Erebus?« Plötzlich strahlte sein Gesicht. »Natürlich«, sagte er triumphierend. »Wir haben doch Hookers Strümpfe.«

Sie hatten mehr als nur die Strümpfe, aber sie waren der erste Fund, den ich bei meiner Recherche machte, und seither für mich eine Art Talisman. Die Strümpfe selbst sind eher gewöhnlich: cremefarbene Kniestrümpfe aus grober Wolle und nicht eben flauschig. Doch im Verlauf des einen Jahres, in dem ich die Welt auf den Spuren der Erebus bereist und mich bis zur Erschöpfung mit Büchern, Briefen, Plänen, Zeichnungen, Fotografien, Seekarten, Tage-, Log- und Beschickungsbüchern befasst habe, hatte ich wiederholt Anlass, Hookers Strümpfen dafür zu danken, dass sie mich auf diese ungewöhnliche Reise geschickt haben.

Michael Palin

London, im Februar 2018

image

image

Eine Sonaraufnahme von 2014 zeigt das Wrack der Erebus. Es ist der Wasseroberfläche so nahe, dass die Masten einst aus dem Wasser geragt haben müssen

Prolog

DIE EINZIGE ÜBERLEBENDE

Wilmot and Crampton Bay, Nunavut, Kanada, den 2. September 2014. Unweit der Küste einer öden, flachen, konturlosen Insel, einer von Tausenden in der kanadischen Arktis, wo bei trübem Wetter Himmel, Meer und Land nahtlos ineinander übergehen, fährt ein kleines Boot aus Aluminium mit dem Namen Investigator langsam und vorsichtig über das eisblaue Meer. Knapp unter der Wasseroberfläche schleppt es einen schlanken silberfarbenen Zylinder hinter sich her, der gerade einmal einen Meter lang ist und ein Sonar enthält, das Schallsignale aussendet und empfängt. Die Wellen, die es aussendet, prallen am Meeresboden ab und kehren zum Sender zurück, werden über ein Kabel an Monitore weitergeleitet und dort in Bilder übersetzt.

Sieht man vom Motorengeräusch ab, herrscht Stille auf der Investigator. Es ist windstill, der Himmel ist klar, die Sonne wirft ihr milchiges Licht auf eine spiegelglatte See. Alles scheint gedämpft. Die Zeit vergeht, aber mehr passiert nicht.

Unvermittelt kommt Bewegung ins Schiff. Die Sonde wäre um ein Haar gegen ein Riff geprallt. Die Männer an Bord sind hellwach und überzeugen sich davon, dass dem teuren Gerät nichts passiert ist. Der Meeresarchäologe Ryan Harris wirft noch einen letzten Blick auf den Bildschirm, um anschließend seinen Kollegen beizuspringen, als er auf dem Meeresgrund etwas anderes als Sand und Steine entdeckt. Etwas, das alle seine Sinne schärft.

Auf dem Monitor ist eine dunkle Silhouette zu sehen: ein fremdartig wirkender Gegenstand, der nur gut zehn Meter unter ihm auf dem Meeresboden liegt. Er ruft nach den Kollegen, die sich um den Monitor scharen. Er zeigt auf den Schatten. Sie trauen ihren Augen nicht. Direkt unter dem Sonar, das hinter der Investigator hängt, im Detail nur zu erahnen, aber anhand der Umrisse deutlich zu erkennen, liegt der hölzerne Rumpf eines Schiffes. Das Heck ist unvollständig und sieht aus, als hätte jemand ein Stück herausgebissen, die Decksbalken liegen blank, und der komplette Rumpf ist von einem Gespinst aus Unterwasserpflanzen überzogen. Sie haben zweifelsfrei ein Schiff vor sich. Ein Schiff, das vor 168 Jahren mit Mann und Maus von der Bildfläche verschwunden ist. Ein Schiff mit einer der schillerndsten Karrieren in der Geschichte der britischen Seefahrt. Und ein Schiff, das mit diesem Tag eine beispiellose Wiederauferstehung feiert.

Stolz wirkt es, und es ist der Oberfläche so nahe, dass zumindest die beiden höheren Masten einst aus dem Wasser geragt haben müssen. Der Rumpf scheint intakt, sieht man mal von den Schäden am Heck ab. Seetang, der von seinem Gebälk herabhängt, erinnert an einen medizinischen Verband, der sich gelockert hat. Die drei Masten sind ebenso abgeknickt wie der Bugspriet. Zusammen mit anderen Wrackteilen liegen sie, mehrfach gebrochen, neben dem Rumpf. Halb im Sand versunken, sind zwei Propeller, acht Anker und ein Segment des Steuerrads zu erkennen. Die drei Decks sind zumindest stellenweise zusammengebrochen. Die Balkweger, die den Rumpf versteifen, sehen noch stabil aus, auch wenn die Beplankung weitgehend fehlt. Von oben betrachtet, ergibt sich das Bild eines halb filetierten Fischs.

Eine massive gusseiserne Ankerwinde steht unversehrt auf dem Oberdeck, ganz in der Nähe zwei große Handpumpen aus Messing. Einige Skylights und die Decksprismen, die den Männern Licht spenden sollten, haben die Zeit überdauert.

Das Unterdeck, wo sich die Männer während ihrer Freiwachen aufhielten, liegt hier und da bloß, an anderen Stellen bleibt es im Verborgenen. Unter Schlick und abgestorbenem Tang lassen sich Seemannskisten ausmachen, in denen die Männer ihre Habseligkeiten aufbewahrten und auf denen sie während der Mahlzeiten Platz nahmen. Die Spanten sind nummeriert, damit jeder Matrose wusste, wo er seine Hängematte aufspannen sollte. Niedergänge und Luken, durch die Decks miteinander verbunden waren, liegen nutzlos und gespenstisch herum. Der Ofen in der Kombüse, auf dem die Mahlzeiten zubereitet wurden, steht einsatzbereit an Ort und Stelle. Im Bug sind die Umrisse der Krankenstube zu erkennen.

Weiter achtern lassen sich in einem Wirrwarr aus umherliegendem Holz die Kabine des Kapitäns, die Messe und mehrere Offizierskajüten unterscheiden. In einer der Kabinen steht ein Kojenbett mit Schubladen darunter. Der Spiegel – quasi die Rückwand des Schiffes – hat die größten Schäden erlitten, doch das Bett des Kapitäns gleich daneben befindet sich ebenso an seinem Platz wie die Spinde und ein Heizofen. Das Orlopdeck, das unterste der drei Decks, ist am glimpflichsten davongekommen, aber auch am schlechtesten zu erreichen. Gleichwohl konnten Taucher von dort einen Schuh sowie mehrere Senftöpfe und Staukästen bergen. Auch einen Satz Porzellanteller mit chinesischem Dekor, den Stiel eines Weinglases, eine Schiffsglocke, einen Sechspfünder aus Bronze, verschiedenste Zierknöpfe, den mit einem gekrönten, auf einer Krone stehenden Löwen verzierten Verschluss eines Schultergurts der Royal Marines sowie eine Arzneiflasche mit der Prägung »Samuel Oxley, London« förderten sie ans Tageslicht. Die Flasche enthielt ursprünglich ein Elixier aus jamaikanischem Ingwerkonzentrat, das Oxley als Heilmittel gegen »Rheuma, Magenverstimmung, Blähungen, Kopfschmerzen und Schwindel, Hypochondrie« – mir gefällt der Gedanke, dass es Medikamente gegen Hypochondrie gibt –, »Gemütsverstimmungen, Beklemmungen, Muskelzittern und -krämpfe sowie Lähmungserscheinungen« anpries. Nach meinem Dafürhalten ist diese Flasche mit einem Allheilmittel für alle Lebenslagen eines der ergreifendsten Dinge, die von der HMS Erebus geborgen werden konnten. Sie erinnert uns daran, wie nahe epische Abenteuer und alltäglichste Sorgen beieinanderliegen.

Zehn Monate im Jahr ist das Wasser hier vor der kanadischen Küste zu Eis erstarrt. Dann behält das Schiff seine Geheimnisse wieder für sich. Doch wenn es taut, kehren Männer wie Ryan – der mehr als zweihundert Tauchgänge auf dem Buckel hat – und die anderen aus seinem Team zurück, um nach weiteren kostbaren Details Ausschau zu halten. Ich wünschte, ich könnte der Erebus einmal so nahe kommen wie sie. Nur ein einziges Mal. Aber dafür bräuchte ich nicht Hookers Strümpfe, sondern seinen Taucheranzug.

Kapitel 1

MADE IN WALES

7. Juni 1826, Pembroke, Wales. Wir schreiben das sechste Jahr der Regentschaft von George IV., dem ältesten Sohn von George III. und Königin Charlotte. Er ist dreiundsechzig Jahre alt, mit einer zänkischen Frau verheiratet, pflegt einen obszön extravaganten Lebensstil und zeigt Interesse an Architektur und den schönen Künsten. Robert Jenkinson, 2. Earl of Liverpool, ein Tory, ist seit 1812 Premierminister. Die Zoological Society of London wurde soeben gegründet. Britische Forscher sind auf der ganzen Welt unterwegs, nicht nur in der Arktis. Alexander Gordon Laing erreicht im August des Jahres Timbuktu, wird aber nur einen Monat später ermordet, weil er sich weigert, dem Christentum abzuschwören. Im Norden von Wales werden derweil zwei Meisterwerke des Ingenieurwesens gefeiert: Die Menai Bridge und die Conway Bridge gehören zu den ersten Hängebrücken weltweit und werden im Abstand von wenigen Wochen eröffnet.

Am anderen Ende von Wales, an einem Meeresarm unweit der von dicken Mauern umgebenen Stadt Pembroke, versammeln sich die Menschen am Morgen dieses Junitages für eine nicht gar so ausschweifende Feier. Unter dem Beifall einer Gruppe Ingenieure, Zimmerleute, Schmiede, Büroangestellter und ihrer Familien gleitet das korpulente, ein wenig dickbäuchig geratene Kriegsschiff, das sie in den vergangenen Jahren gebaut haben, mit dem Heck voraus von der Helling der Werft von Pembroke. Als es sanft ins Wasser des Milford Haven eintaucht, jubelt die Menge auf. Es tanzt, wackelt und schüttelt sich wie ein gerade geschlüpfter Wasservogel. Der Name des Schiffes lautet Erebus.

image

Zwei zeitgenössische Pläne zeigen die Seitenansicht einer typischen Bombarde (oben) sowie das Orlopdeck und die Lagerräume der Erebus und ihres Schwesterschiffes Terror (unten)

Das ist kein sonderlich fröhlicher Name, aber sie war ja auch nicht gebaut worden, um Fröhlichkeit zu verbreiten, sondern um Feinde abzuschrecken, und der Name war mit einiger Überlegung gewählt. In der klassischen Mythologie galt Erebos, aus dem Chaos entstanden, als Personifikation der Finsternis und Teil der Unterwelt, eines Ortes also, der für Entwurzelung und Zerstörung stand. Der Name dieses Gottes stand Pate, um mögliche Feinde davor zu warnen, dass sie es mit einem Sendboten des Chaos und einem furchterregenden Überbringer des Höllenfeuers zu tun hatten. Die HMS Erebus – 1823 in Auftrag gegeben – war das vorletzte Exemplar eines Typs von Kriegsschiffen, der unter der Bezeichnung Bombarde bekannt wurde. Ende des 17. Jahrhunderts entstanden, diente dieser Schiffstyp zunächst den Franzosen, später auch den Engländern dazu, Küstenbefestigungen des Feindes aus schweren Mörsern unter Beschuss zu nehmen oder die Kugeln darüber hinwegzutragen und so größtmögliche Schäden anzurichten, ohne dafür Truppen an Land schicken zu müssen. Von den übrigen Schiffen dieses Typs waren zwei nach Vulkanen benannt – Hecla und Aetna –, und auch die anderen kündeten auf diese oder jene Weise von Raserei und Zerstörung: Infernal, Fury, Meteor, Sulphur und Thunder. Auch wenn sie nie so berühmt werden sollten wie manches Schlachtschiff, hat ihr letzter großer Auftritt, die Belagerung von Fort McHenry im Hafen von Baltimore während des Britisch-Amerikanischen Krieges von 1812, immerhin Eingang in die amerikanische Nationalhymne The Star-Spangled Banner gefunden. Wenn dort vom »grellen Licht im Flug explodierender Bomben« die Rede ist, dann sind damit die Geschosse der britischen Bombarden gemeint.

Die Werftarbeiter sahen mit einigem Stolz, wie die Erebus ins Wasser glitt, doch als sie endlich aus eigener Kraft schwamm und ihren Platz am Ufer des Milford Haven gefunden hatte, wusste niemand, was aus ihr werden würde. War sie ein Modell für die Zukunft, oder gehörte sie schon der Vergangenheit an?

Mit der vernichtenden Niederlage Napoleons in der Schlacht bei Waterloo am 18. Juni 1815 waren die Napoleonischen Kriege beendet, die Europa, von einer kurzen Pause nach dem Frieden von Amiens 1802 abgesehen, sechzehn Jahre lang in Atem gehalten hatten. Die Briten hatten sich in führender Rolle daran beteiligt und zum guten Schluss einen Schuldenberg von 679 Millionen Pfund angehäuft, das Doppelte des Bruttoinlandsprodukts. Auch die Royal Navy hatte Unsummen ausgegeben, auf diese Weise aber immerhin Frankreich in die Schranken verwiesen, und herrschte nun unangefochten über die sieben Weltmeere. Damit verbunden waren auch Verpflichtungen wie die Unterbindung des Sklavenhandels, den England 1807 unter Strafe gestellt hatte, sowie die Bekämpfung der Piraterie entlang der Küste Nordafrikas. Nur in ihrem eigentlichen Aufgabengebiet, der Kriegsführung, gab es für die Navy nichts mehr zu tun. In den vier Jahren von 1814 bis 1817 sank die Zahl der Marineangehörigen von 145 000 auf 19 000 Mann. Für viele war der Einschnitt traumatisch. Zahllose unbeschäftigte Matrosen mussten sich als Bettler durchschlagen. In seinem Buch Royal Tars schildert Brian Lavery beispielhaft das Schicksal von Joseph Johnson, der mit einem Modell von Nelsons Victory auf dem Kopf durch die Straßen von London streifte, durch gleichmäßiges Nicken die Bewegungen des Schiffes in den Wellen imitierte und so ein paar Pennys verdiente. Ein arbeitsloser Matrose der Handelsmarine, der nur noch auf einem Kriegsschiff anheuern konnte, äußerte voller Verzweiflung: »Zum ersten Mal in meinem Leben empfand ich beim Anblick des monströsen Kastens, der mehrere Jahre mein Zuhause werden sollte, bodenlose Trauer.«

Wie die Zukunft der Royal Navy aussehen sollte, darüber wurde heftig gestritten. Einige begriffen das Ende der Feindseligkeiten als Chance, die Militärausgaben drastisch zu senken und den Schuldenberg abzutragen, der sich durch den Krieg angehäuft hatte. Andere meinten, dass dem Frieden nicht zu trauen war. Kaiser Napoleon schmorte auf der Insel St. Helena, doch schon einmal war ihm die Flucht aus der Verbannung gelungen, und viele zweifelten daran, dass das letzte Kapitel seiner Geschichte geschrieben war. Nach dieser Logik musste sich die Navy also für alle Eventualitäten wappnen.

Schließlich setzten sich die Kassandrarufer durch. Die Regierung stellte Geld für den Bau neuer Werften zur Verfügung, so auch für eine weitläufige Anlage in Sheerness in Kent und eine kleinere in Pembroke, Wales. In den Werftanlagen, die im Eiltempo am Ufer unweit von Milford Haven errichtet worden waren, wurde mit dem Bau von vier Kriegsschiffen begonnen: der Valorous, der Ariadne, der Arethusa und der Thetis.

Jener Teil der Werft, in dem die Erebus entstand, existiert noch heute, allerdings werden dort keine Schiffe mehr gebaut; von hier aus wird die riesige Ölraffinerie versorgt, die sich einige Kilometer flussabwärts befindet. Die Slipbahn, über die die Erebus im Sommer 1826 ins Wasser glitt, liegt heute unter einer dicken Betonschicht und gehört zu dem Anleger der Fähre, die Pembroke mit dem irischen Rosslare verbindet.

Bei meinem Besuch bekomme ich ein Gefühl dafür, wie es hier früher einmal ausgesehen haben muss. Die Anlage der Straßen, die an den wenigen, in den 1820er-Jahren für Vorarbeiter und leitende Angestellte erbauten schiefergrauen Reihenhäusern vorbeiführen, die noch erhalten sind, beeindruckt bis heute. Diese Häuser können es mit denen in der Zeit König Georges in London erbauten unbedingt aufnehmen. In einem davon lebte Thomas Roberts, seines Zeichens leitender Schiffbaumeister, der den Bau der Erebus überwachte. Er war 1815 in diese entlegene Ecke im Südwesten von Wales gekommen, als die Werft gerade einmal zwei Jahre alt war.

Die Leitung des noch jungen Unternehmens teilte sich Roberts mit seinem Stellvertreter Richard Blake und dem Finanzchef James McKain. Die Zusammenarbeit war wenig harmonisch. Edward Wright, der unter McKain als Buchhalter arbeitete, zeigte Richard Blake an, weil der ihn tätlich angegriffen habe. Dabei soll er ihm »mehrmals die Nase verdreht und mit seinem Schirm Prügel angedroht« haben. Roberts und McKain beschuldigten sich wechselseitig der Bestechlichkeit und der Unfähigkeit. 1821 hatte McKain genug und verließ Pembroke, um künftig auf der Werft in Sheerness zu arbeiten. Er wurde durch Edward Laws ersetzt. Die Atmosphäre war nicht mehr gar so vergiftet, als am 9. Januar 1823 die Nachricht eintraf, dass die Marineleitung in Anerkennung der Leistung der Werft beschlossen hatte, eine 372 Tonnen verdrängende Bombarde in Auftrag zu geben. Das Schiff nach einem Entwurf von Sir Henry Peake, einem ehemaligen Marineinspekteur, sollte den Namen Erebus tragen.

Sonderlich groß war dieses Schiff nicht, und mit knapp 32 Meter Länge war es nicht einmal halb so lang wie ein durchschnittliches Kriegsschiff. Im Vergleich mit der 2141 Tonnen verdrängenden Victory war die Erebus sogar ein kleiner Fisch. Aber robust sollte sie werden. Eher ein Arbeitsschiff denn eine ranke und elegante Jacht. Decks und Rumpf sollten stabil genug geraten, um dem Rückstoß von zwei großen Mörsern standhalten zu können, der eine im Kaliber 25 Zentimeter, der andere im Kaliber 33 Zentimeter. Deshalb sollte der Rumpf auf Höhe des Laderaums mit diagonal verlaufenden Eisenstreben versteift werden, was die Stabilität erhöhte und gleichzeitig das Gewicht verringerte. Die Formgebung des Rumpfes war darauf ausgerichtet, möglichst viele Granaten laden zu können. Zu seiner eigenen Sicherheit sollte das Schiff zudem mit zehn kleineren Kanonen bestückt werden, um den Feind gegebenenfalls direkt zu bekämpfen.

Die Erebus entstand weitestgehend in Handarbeit. Den Anfang machte der Kiel aus geschäftetem Ulmenholz, der auf den Helgenbock gelegt wurde. Daran wurden Vor- und Achtersteven befestigt, die das Schiff nach vorn und hinten begrenzten, wobei der Achtersteven später das Ruder aufnahm. Das Gerüst aus Spanten und Wrangen – das Skelett des Schiffes –, das langsam heranwuchs, bestand aus Eichenholz, das im Forest of Dean in Gloucestershire geschlagen und über den Severn nach Pembroke gebracht worden war. Der passgenaue Zuschnitt erforderte großes Geschick, weil die natürliche Krümmung des Holzes möglichst mit der gewünschten Form des Schiffes übereinstimmen musste und in Anschlag zu bringen war, dass das Holz künftig noch arbeiten würde.

Als das Gerüst des Schiffes fertig war, ließ man es deshalb eine Zeit lang in Ruhe, damit das Holz trocknen konnte. Dann erst wurden, am Kiel beginnend, die sieben Zentimeter dicken Planken angebracht, die Decksbalken montiert und die Decks verlegt.

Die Erebus entstand ohne jeden Zeitdruck. Anders als ihr späteres Schwesterschiff, die HMS Terror, die auf der Werft in Topsham, Devon, in weniger als einem Jahr gebaut wurde, lief sie erst zwanzig Monate nach der Kiellegung vom Stapel. Als die Arbeit abgeschlossen war, schickte der Finanzchef der Werft der Marineleitung eine Rechnung über 14 603 Pfund – was heute circa 1,25 Millionen Pfund entspricht.

Alles in allem wurden in Pembroke 260 Schiffe gebaut. Ziemlich genau einhundert Jahre nach dem Stapellauf der Erebus kam die Admiralität zu der Erkenntnis, dass die Werft nicht mehr benötigt wurde. Die Belegschaft sank mit einem Schlag von dreitausend Beschäftigten auf vier. Das war 1926, das Jahr des Generalstreiks. Während des Zweiten Weltkriegs erlebte die Werft noch einmal eine kurze Blüte, als hier die Sunderland-Flugboote entstanden. In jüngerer Zeit sind die verbliebenen Werftanlagen zu Lagerhäusern von Transportfirmen umfunktioniert worden, und als ich ein letztes Mal durch das eindrucksvolle steinerne Portal schreite, erfüllt mich der Gedanke, dass die ruhmreichen Zeiten der Werft endgültig vorbei sind, mit Wehmut.

Nach dem Stapellauf in Pembroke wurde die Erebus, einem Brauch folgend, zu einer anderen Werft der Admiralität gebracht, wo sie ausgerüstet werden sollte. Noch besaß sie weder Masten noch Segel, und so trat sie ihre erste Reise, die in südwestliche Richtung rund um Land’s End in den Ärmelkanal und nach Plymouth führte, vermutlich an einer Schlepptrosse an. In Devonport, das heute zu Plymouth gehört, gab es eine noch junge, viel beschäftigte Werft, die später zu einem Flottenstützpunkt der Royal Navy ausgebaut wurde. Hier sollte sich die Erebus in ein Kriegsschiff verwandeln und zu diesem Zweck Geschütze bekommen: zwei Mörser, zehn Kanonen, davon acht Vierundzwanzigpfünder und zwei Sechspfünder, sowie alles, was nötig war, um die dazugehörige Munition lagern und bereitstellen zu können. Hier sollte sie auch ihre drei Masten erhalten, dessen größter zweiundvierzig Meter über das Deck aufragte.

Diese Arbeiten wurden im Eiltempo erledigt, doch unmittelbar danach setzte eine Phase des Nichtstuns ein, und die bewaffnete und voll ausgerüstete Erebus dümpelte untätig herum. Anderthalb Jahre lang lag sie vor Devonport auf Reede und wartete darauf, dass jemand Verwendung für sie hatte.

Mich würde interessieren, ob es damals schon »Ship-Spotter« gab: Schuljungen, die in ihren Heften mit Bleistift festhielten, welche Schiffe die Werften des Landes ansteuerten und wieder verließen. Als Kind habe ich es so mit den Zügen gehalten, die durch Sheffield kamen. Diesen Schuljungen, so meine Fantasie, könnte es der nagelneue, etwas klobige Dreimaster angetan haben, der kein Ziel zu haben schien. Dafür hatte er Charakter. Der Bug war reich verziert, die Deckshaut von Stückpforten durchzogen, die Fenster im Spiegel waren mit Ornamenten geschmückt, und am Achterschiff stachen die Seitengalerien hervor, in denen sich die Toiletten befanden.

Sollten diese Schuljungen hier auch die dunklen Wintermorgen am Ende des Jahres 1827 verbracht haben, dann durften sie zur Belohnung erleben, wie auf der Erebus unvermittelt Leben Einzug hielt. Planen wurden abgenommen, Lampen entzündet, Schuten herbeigerudert, Masten getakelt, Rahen montiert, Segel angeschlagen. Im Februar 1828 erhielt die Erebus einen Eintrag im »Progress Book«, in dem sämtliche Schiffsbewegungen der Flotte der Royal Navy erfasst wurden. Dort heißt es nüchtern: »Schiff ins Dock verholt, Schutzbeplankung entfernt; Kupferverstärkung montiert, bis Freibordmarke erreicht ist.« Die Vorbereitungen für die Indienststellung hatten begonnen. Von Pallhölzern gestützt, wurde die Erebus von ihrer provisorischen Schutzhülle befreit und mit einer Beschichtung aus Kupfer versehen, bis das Schiff exakt so schwer war, dass es den zuvor berechneten Tiefgang erreichte. Seit den 1760er-Jahren hatte die Royal Navy mit derlei Kupferverstärkungen experimentiert, um so Beschädigungen durch den Schiffsbohrwurm, die bis zum Totalverlust reichen konnten, zu verhindern. Diese auch »Termiten des Meeres« genannte Muschelart dringt ins Holz ein und höhlt es von innen aus. Dass die Erebus nun mit Kupfer beschlagen wurde, deutete auf eine unmittelbar bevorstehende Reise hin.

Am 11. Dezember 1827 kam mit Commander George Haye von der Royal Navy der erste Kapitän der Erebus an Bord. Im Laufe der folgenden sechs Wochen führte Haye penibel über die Versorgung des Schiffes mit Lebensmitteln und Vorräten Buch: Am 20. Dezember wurden 756 Kilogramm Brot, 106 Liter Rum, 27 Kilogramm Kakao und 700 Liter Bier geordert. Und kaum dass sich die etwa sechzig Mann starke Besatzung mit dem neuen Schiff halbwegs vertraut gemacht hatte, wurden die Decks mit Sand, Wasser und Bimsstein geschrubbt und an Segel und Takelage letzte Hand angelegt.

Über den ersten »Diensttag« der Erebus, den 21. Februar 1828, vermerkte Haye im Logbuch: »8 : 30 Uhr. Lotse kommt an Bord. Leinen los, Schiff wird an Mooring verholt.«

Am nächsten Morgen passierten sie den Eddystone-Leuchtturm, der vor einer gefährlichen Untiefe südwestlich von Plymouth warnt, die schon vielen Schiffen zum Verhängnis geworden ist. Nun nahmen sie Kurs auf die Biskaya, die für Stürme und schwere Seen bekannt ist. Schon bald nach der Abfahrt machten sich erste Kinderkrankheiten bemerkbar, etwa ein Leck in der Kapitänskabine, auf das Haye in seinem Logbuch mehrfach zu sprechen kam: »Musste alle zwei Stunden Wasser aus der Kabine schöpfen«, hieß es dort, oder auch: »Den ganzen Nachmittag gelenzt«.

Für ein breites und schweres Schiff, wie es die Erebus nun einmal war, machte es erstaunlich gute Fahrt. Vier Tage nach der Abreise hatten sie die Biskaya überquert und standen vor Kap Finisterre an der Nordküste Spaniens. Am 3. März erreichten sie Kap Trafalgar. Viele an Bord werden sich an der Reling versammelt haben, um einen Blick auf den Schauplatz eines der blutigsten Siege in der Geschichte der Royal Navy zu werfen. Möglicherweise hatten zwei oder drei der Älteren sogar noch unter Nelson gedient.

Die nächsten zwei Jahre verbrachte die Erebus auf Patrouillenfahrt im Mittelmeer. Aus den Einträgen in den Logbüchern, die ich im britischen Nationalarchiv einsehen durfte, geht hervor, dass es eine eher ereignislose Zeit war. Dort sind fast ausschließlich die Wetterbedingungen, die aktuelle Position, die versegelte Strecke und die Segelführung vermerkt. »Laufen unter Fock und Besan«, hieß es mal, dann wieder »Großsegel und Treiber gesetzt«, ein anderes Mal »Bramsegel gesetzt«. An keiner Stelle bekommt man den Eindruck, dass jemand es eilig gehabt haben könnte. Aber dazu bestand auch kein Anlass. Die Konflikte zwischen den Staaten ruhten. Napoleon war aus dem Spiel genommen worden, und bislang war niemand auf der Bildfläche erschienen, der seine Rolle hätte übernehmen wollen. Im Oktober 1827, wenige Monate vor der Indienststellung der Erebus, hatten britische, russische und französische Kriegsschiffe in der Bucht von Navarino die türkische Marine angegriffen und durch einen zwar blutigen, aber auch entscheidenden Sieg die osmanische Herrschaft in Griechenland beendet. Doch das war die Ausnahme von der Regel gewesen. Die führenden Nationen waren eher durch Kooperationen denn durch Konflikte verbunden. Die größte Gefahr, die Handelsschiffen im Mittelmeer drohte, stellten Piraten dar, die von Nordafrikas Küste aus operierten. Doch seit die Häfen, in die sie sich zurückzogen, von der Navy angegriffen worden waren, war auch diese Gefahr geringer.

Die Erebus musste also lediglich Flagge zeigen, um damit die Welt an die Überlegenheit der britischen Marine zu erinnern und, wann immer es ihr möglich war, die Türken zu ärgern.

Von Tanger aus führte die Reise entlang der Küste Nordafrikas nach Algier, wo die britische Garnison sie mit einundzwanzig Salutschüssen begrüßte, die die Erebus höflich erwiderte. Im Hafen wurden sechs Säcke an Bord gebracht, die, so Commander Hayes’ aufschlussreicher Logbucheintrag, »angeblich 2652 Dukaten und 1350 Dollar enthalten und an mehrere Kaufleute in Tunis gehen sollen«. Kaum hatten sie Algier wieder verlassen, kam es laut Logbuch zur ersten Bestrafung. Als der Ruf »Alle Mann an Deck« erging, war John Robinson unter Deck geblieben, was mit vierundzwanzig Peitschenhieben geahndet wurde.

Drückebergerei oder Befehlsverweigerung galten als schwerer Verstoß gegen die Disziplin, und so wurde an Robinson vor der versammelten Mannschaft ein Exempel statuiert. Er musste den Oberkörper frei machen, wurde mit den Handgelenken an eine Gräting gefesselt und quer über eine Gangway gelegt. Dann schritt der Bootsmann zur Tat, bei der er sich der berüchtigten »neunschwänzigen Katze« bediente, einer Peitsche mit neun Strängen, die jeweils in einem Knoten ausliefen und deshalb Spuren hinterließen, die denen von Krallen einer Katze glichen.

Manchem Seemann war das zehnminütige Auspeitschen dennoch lieber als ein zehntägiger Arrest unter Deck. Für sie war es eine Frage des Stolzes. Michael Lewis, Marinehistoriker und Autor des Buches The Navy in Transition 1814–1864, äußerte gar die Ansicht, »dass mancher, der ausgepeitscht wurde, es zu einer gewissen Kunstfertigkeit brachte, die darin bestand, dass ein erfahrener Seemann vier Dutzend Peitschenhiebe mit einer Haltung entgegennahm, die den Vorgang des Auspeitschens radikal von dem Scherz trennte, den er auslöste. Dadurch war es des Zusammenhanges mit Bestrafung und Abschreckung beraubt und konnte als Teil der normalen Bordroutine begriffen werden.« Doch die Zeichen der Zeit standen auf Wandel. Wenige Jahre später, im Jahr 1846, erging auf Betreiben des Parlamentariers Joseph Hume der Erlass, dass jede Auspeitschung auf See dem Unterhaus gemeldet werden musste. Die Wirkung war enorm: 1839 hatte es noch mehr als zweitausend Auspeitschungen gegeben, bis 1848 sank die Zahl auf 719. Um 1880 wurde der Einsatz der neunschwänzigen Katze auf Schiffen der Royal Navy verboten. Körperliche Züchtigung, meist mit einem Rohrstock, blieb aber bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg üblich.

image

Von der Auspeitschung Robinsons abgesehen, verlief die Reise ereignislos. Ein Tag glich dem anderen, und jeder bestand aus der Abfolge immer gleicher Tätigkeiten: essen, schlafen, Wache gehen, Deck schrubben sowie Pflege von Körper und persönlicher Habe. Dass so penibel auf die Sauberkeit der Kleidung und Hängematten geachtet wurde, war aber mehr als nur ein Spleen. Es war Teil der Routine, und ohne Routine gab es keine Disziplin.

Gelegentlich ereignete sich doch noch etwas Interessantes. Am 7. April 1828 vermerkte der Kapitän im Logbuch die Sichtung eines Schiffes, das von Triest nach New York unterwegs war. Es wurde gestoppt und durchsucht. Am 24. Juni »kam ein russischer Schiffsverband in Sicht, bestehend aus einem Schlachtschiff und einer Brigg. Zur Begrüßung wurden wechselweise dreizehn Salutschüsse abgegeben, anschließend ließ sich der Kapitän mit einem Beiboot zu dem Schlachtschiff bringen, das, wie sich herausstellte, von einem russischen Admiral befehligt wurde.« Nach seiner Rückkehr notierte Haye: »Mit dem Beiboot zurückgekehrt. Weinfass mit der Nummer 175 geöffnet. Enthält 110 Liter.«

Als die Erebus griechische Gewässer und schließlich die Ionischen Inseln erreichte, geriet der Ton des Logbuchs zunehmend wie in einer Urlaubsbroschüre. Tagelang »leichte Brise und klarer Himmel« und eine Reiseroute, die Neid aufkommen lässt: Kefalonia, Korfu, Syrakus, Sizilien, Capri. Ein schöneres Ziel hätte die Marineleitung der Erebus kaum vorgeben können. Es sei denn, man war der Marineartillerist Caleb Reynolds und wurde wegen »Unreinlichkeit und Ungehorsam« zu vierundzwanzig Peitschenhieben verurteilt, oder der Steuermannsmaat Morris, der wegen »fortgesetzter Missachtung der Dienstvorschriften und Befehlsverweigerung« zwölf Hiebe erhielt. So gut, wie die umgebende Landschaft es vermuten lässt, war die Stimmung an Bord der Erebus offenbar nicht.

Die Dinge änderten sich, als im zweiten Jahr ihres Mittelmeereinsatzes Commander Philip Broke Kapitän wurde. Er war der Sohn von Konteradmiral Sir Philip Bowes Vere Broke, der sich mit der tollkühnen Kaperung der USS Chesapeake im Jahr 1813 einen Namen gemacht hatte. Brokes Herangehen an seine Aufgabe als Kapitän unterschied sich grundsätzlich von dem seines Vorgängers. Manche Abläufe blieben die alten – das Logbuch listete wie zuvor detailliert alltägliche Dinge wie das Scheuern des Decks, den Verbrauch von Proviant, die Windrichtung und die Segelführung auf –, aber offenbar wurden weniger Strafen ausgesprochen. Broke verfügte wohl über andere Mittel, die Disziplin an Bord aufrechtzuerhalten, zumindest aber setzte er andere Prioritäten. Anfangs wöchentlich, später nahezu täglich, berichtete das Logbuch von Schießübungen. Am 13. April 1829 hieß es: »Habe eine Gruppe Marineartilleristen in den Umgang mit den großen Kanonen und den Handfeuerwaffen eingewiesen.« Am 20. April, sie lagen vor der Insel Hydra, notierte Broke: »Eine Gruppe Matrosen zum Üben mit dem Säbel eingeteilt.« Und am 6. Mai: »Eine Gruppe Matrosen zum Zielschießen mit Pistolen befohlen.« Gleich, ob er damit der Langeweile vorbeugen wollte oder Anweisungen der Admiralität umsetzte, scheint es Broke wichtiger als seinem Vorgänger gewesen zu sein, die Erebus jederzeit kampffähig zu halten. Er sollte jedoch nie Gelegenheit haben, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, denn schon im Mai 1830 befand sich die Erebus wieder auf dem Heimweg, ohne – außer zu Übungszwecken – auch nur eine Kugel abgefeuert zu haben.

Zwei Einträge im Logbuch möchte ich dem Leser nicht vorenthalten. »Beiboot zu Wasser gebracht, damit die Besatzung baden kann«, hieß es an einer Stelle, und als sie am 27. Mai Gibraltar erreichten, lautete der Vermerk: »Beigedreht, um zu baden.« Am Planschen im Mittelmeer scheint der neue Kapitän deutlich mehr Gefallen gefunden zu haben als am Auspeitschen seiner Männer.

Drei Wochen später tauchte vor der Erebus der Leuchtturm am Lizard Point auf. Am 18. Juni wurden ihre Kanonen zum letzten Mal für eine Übung in Stellung gebracht, und am 26. Juni 1830 erreichte sie Portsmouth, wo zu Ehren von König George IV., der am Morgen gestorben war, die Segel gerefft und die Flagge am Heck auf halbstock gesetzt wurde. (Weniger respektvoll geriet der Nachruf der Times: »Nie ist ein Mensch von seinen Mitmenschen weniger betrauert worden als der verstorbene König«, hieß es dort. »Kein Auge hat um ihn geweint, kein Herz ist durch echte Trauer beschwert.«) Noch am selben Tag trat sein jüngerer Bruder die Nachfolge an. William IV., wie er sich nun nannte, hatte zehn Jahre in der Marine gedient und sich dabei die Hochachtung Nelsons sowie den Ehrentitel »König zur See« erworben.

Als die britische Krone den Besitzer gewechselt hatte, wurden Commander Broke und die Besatzung der Erebus abberufen. Obwohl der Kapitän alles getan hatte, um seine Männer im Umgang mit Kanonen und Säbeln zu schulen, war die Zeit der Erebus als Kriegsschiff abgelaufen.

image

Ein triumphaler Moment in der Geschichte der Polarexpeditionen: James Clark Ross erreicht 1831 den magnetischen Nordpol

Kapitel 2

DER MAGNETISCHE NORDPOL

Die Jahre, in denen die Erebus im Mittelmeer patrouillierte, waren also vergleichsweise friedlich, und das blieb für die Royal Navy nicht ohne Folgen. Zwangsrekrutierungen waren Geschichte. Matrosen konnten sich ihr Schiff aussuchen. Die Marine spezialisierte und professionalisierte sich. Und nach dem Ende der Napoleonischen Kriege hatte sie sich zivilen Zwecken geöffnet, was es den besser Ausgebildeten und Entdeckungsfreudigen unter den englischen Seefahrern ermöglichte, die Überlegenheit der britischen Flotte für neue Ziele zu nutzen, insbesondere dem, das geografische und naturkundliche Wissen durch Forschungsund Entdeckungsreisen zu vergrößern.

Für diese Neuausrichtung waren vor allem zwei bemerkenswerte Männer verantwortlich. Der eine war der Universalgelehrte Joseph Banks, der vehement die Sache der Aufklärung vertrat. Der Autor und Reisende, Botaniker und Naturkundler hatte im Jahr 1768 gemeinsam mit Captain Cook die Welt umsegelt und nicht nur eine Fülle wissenschaftlicher Informationen mitgebracht, sondern unterwegs auch manchen bislang unbekannten Winkel des Planeten vermessen und kartiert. Der andere war einer seiner Schüler, John Barrow mit Namen, ein energiegeladener, ehrgeiziger Beamter, der 1804, im Alter von vierzig Jahren, zum Zweiten Sekretär der Admiralität ernannt worden war.

Barrow und Banks scharten eine Gruppe von unternehmungslustigen Wissenschaftlern und Nautikern um sich. Inspiriert durch die Arbeit des deutschen Naturforschers Alexander von Humboldt, setzten sie sich zum Ziel, durch die Zusammenarbeit unterschiedlichster Disziplinen die Welt neu zu vermessen, zu kartieren und alles, was dort kreuchte und fleuchte, unter geografischen, naturgeschichtlichen, zoologischen und botanischen Gesichtspunkten zu bestimmen. Damit sollten sie ein Goldenes Zeitalter der britischen Seefahrt einläuten, das dieses Mal mehr von wissenschaftlichem Interesse denn vom Streben nach militärischem Ruhm geprägt war.

Barrows Hauptinteresse galt der Arktis, die noch weitgehend unerschlossen war. Seit John Cabot, ein Italiener, der sich in Bristol niedergelassen hatte, 1497 in Neufundland gelandet war, drängte die Welt darauf, zu erfahren, ob es weiter im Norden möglicherweise eine Verbindung gab, die nach »Cathay«, wie China damals genannt wurde, und Indien führte und sich als Alternative zur Südroute via Kap Hoorn anbot (die von Spaniern und Portugiesen dominiert wurde). Von seinem Schreibtisch bei der Admiralität aus betrieb Barrow Werbung in eigener Sache, indem er alle erdenklichen Kontakte nutzte und, wo immer es möglich war, seinen Einfluss geltend machte, um zum Ziel zu gelangen: Sollte die Royal Navy tatsächlich eine Nordwestpassage finden, die den Atlantik und den Pazifik miteinander verband, dann, so sein Argument, könnte Großbritannien von der Möglichkeit, schneller und sicherer in den wirtschaftlich extrem lukrativen Fernen Osten und wieder zurück zu kommen, enorm profitieren.

Um das Jahr 1815 herum, das Jahr der Schlacht bei Waterloo, wusste mancher Walfänger – die in der Geschichte der Polarforschung meist zu kurz kommen, aber doch die Einzigen waren, die regelmäßig in arktischen und antarktischen Gewässern unterwegs waren – bei der Rückkehr aus dem hohen Norden vom Rückgang des Eises rund um Grönland zu berichten. Einer von ihnen, ein gewisser William Scoresby, äußerte die These, dass, hatte man erst das Packeis zwischen dem 70. und dem 80. Breitengrad überwunden, offenes Wasser wartete, das bis zum Pol reichte. Damit verbunden war die verlockende Aussicht, auf direktem Wege in den Pazifik fahren zu können. Zum Beweis seiner These führte er Wale an, die vor Grönland harpuniert worden und südlich der Beringstraße wieder aufgetaucht waren – die Harpunen noch immer in ihrem Fleisch.

Barrow, den die Aussicht, ein eisfreies Polarmeer anzutreffen, faszinierte, konnte die Royal Society dazu bewegen, für das Vordringen in arktische Gewässer unterschiedlich hohe Belohnungen auszusetzen. Sie reichten von 5000 Pfund für das erste Schiff, das bis 110° W vordringen würde, bis zum »Hauptgewinn« in Höhe von 20 000 Pfund für die Durchquerung der Nordwestpassage. Mit Rückendeckung von Sir Joseph Banks wandte er sich anschließend an Robert Dundas, 2. Viscount Melville und Erster Lord der Admiralität, um ihn dazu zu bewegen, gemeinsam mit der Royal Society zwei von der öffentlichen Hand finanzierte Arktisexpeditionen auf den Weg zu bringen: Eine sollte einen Seeweg vom Atlantik in den Pazifik suchen, die andere sollte zum Nordpol führen, um dort die These vom eisfreien Polarmeer zu überprüfen.

Robert Dundas muss dieser Vorschlag einem Geschenk des Himmels gleichgekommen sein. Der Schotte, dessen Vater die zweifelhafte Ehre zuteilgeworden war, als erster Minister aus dem Amt gejagt worden zu sein – der Grund war die Veruntreuung öffentlicher Gelder –, war seit sechs Jahren bei der Admiralität. Dort hatte er viel Zeit darauf verwendet, Kürzungen des Marine-Etats zu verhindern. Barrows Vorschlag eröffnete ihm die Chance, wenigstens einige seiner Schiffe sinnvoll zu beschäftigen und damit Vorhaltungen zu begegnen, die Royal Navy unterhalte mehr Schiffe, als ihre Aufgaben es erforderten. Und so griff er Barrows Gedanken dankbar auf.

Als Leiter einer der beiden Expeditionen wurde ein schottischer Seemann ausgewählt. John Ross, dritter Sohn von Reverend Andrew Ross, stammte aus der Nähe von Stranraer in Wigtownshire. Der Naturhafen von Stranraer wurde regelmäßig von Schiffen der Royal Navy angelaufen, und für die dort lebenden Familien gehörte es quasi zur Erziehung ihrer Söhne, sie zur Marine zu schicken. So war John im Alter von neun Jahren als Kadett zur Navy gekommen. Mit dreizehn Jahren war er auf das mit achtundneunzig Kanonen bestückte Kriegsschiff Impregnable abkommandiert worden. Es folgte eine steile Karriere. Als er spät im Jahr 1818 zum Leiter einer Expedition berufen wurde, die im Auftrag der Admiralität die Nordwestpassage finden sollte, war er vierzig Jahre alt, hoch angesehen und hatte den größten Teil seines Lebens bei der Royal Navy verbracht.

Ross übernahm das Kommando der HMS Isabella und sorgte dank seiner guten Beziehungen dafür, dass ihm sein achtzehnjähriger Neffe James Ross zugewiesen wurde. Inspiriert und ermutigt durch seinen Onkel, war James mit elf Jahren in die Navy eingetreten und hatte unter seinem Vorbild in der Ostsee und im Weißen Meer gedient. Auf der Isabella diente er als Fähnrich zur See, ein Dienstgrad, mit dem er die erste Stufe auf der Leiter zum Offizier erklommen hatte.