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Für Max.
Als wundervolle Erinnerung an ein wundervolles Abenteuer.
Unser Abenteuer.
Ich liebe dich. Deine Mama.

© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de
Covermotiv: Ahmed Zaatar (Foto);
Fotolia.com (Illustrationen)
Redaktion: Regina Carstensen, München
Fotos: Janina Breitling
Karte: Marlise Kunkel
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Datenkonvertierung: psb, Berlin

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Inhalt

Karte

Prolog: One night in Bangkok …

Sieben Länder, vier Schlüpfer und ein Teddybär

Bali! Der perfekte Ortfür den Neuanfang

Gypsy-Leben Down Under

Per Anhalter durch das Paradies

Sushi für Fortgeschrittene

Mit mongolischen Pferden durch das Land unserer Vorfahren

Warum es zu Hause so schön, das Fernweh aber nie weit ist

4800 Seemeilen purer Luxus

Hand in Hand durchs Tortilla-Land

Bärti Vista Social Club

Von kalifornischen Träumen und Albträumen

Elfen, Trolle und Björk in laut

Im Land der Gegensätze – Vorurteile und Realität

Drachen, Schnaps und volle Taxis

Tausche Rucksack gegen Routine – zwei Jahre später

Danke

Bildteil

Karte der besuchtern Länder

 

Prolog: One night in Bangkok …

Auf einmal fange ich an zu schwitzen. Und zwar so richtig. Auf meiner Stirn bildet sich ein Tropfen nach dem anderen, ich kann es regelrecht fühlen. Max liegt neben mir. Alle viere von sich gestreckt. Die Augen geschlossen, auf den Lippen ein feines Lächeln. Das Leinentuch hat er weit von sich gestrampelt. Bärti, seinen Teddybär, nah an sich herangezogen. Auch Max sieht ein bisschen klebrig aus, aber im Vergleich zu mir noch immer ziemlich frisch. Ich schalte die Klimaanlage an. Das Surren hat ja manchmal etwas Beruhigendes. Manchmal. Nur nicht in diesem Moment.

Denn in diesem Moment überkommt es mich. Mitten in Thailand. Mitten im Urlaub. Mitten in der Nacht. Zukunftsangst. Völlig unangemeldet, doch dafür umso stärker. Es ist Dezember, 2015 ist bald Vergangenheit. Max ist viereinhalb Jahre alt und noch rund 550 Tage entfernt von einem Leben, das im Vergleich mit dem jetzigen nicht fremder erscheinen könnte. Einem Leben als Schulkind. Unsere gemeinsame Zeit bestimmen wir dann nicht mehr selbst. Wir werden bestimmt. Am meisten Max. Mit festen Strukturen, großen Pausen und kleinen Ferien. Dennoch: Ich als dazugehörige Mutter bin angekettet an das gleiche Programm.

Und feste Strukturen sind nicht mein Ding. Ganz und gar nicht. Ich arbeite als freie Journalistin. Ein ziemliches Privileg, denn ich kann mir meine Jobs und somit das Leben mit meinem Sohn in einem vorgegebenen Rahmen ganz gut einteilen. Je nach Auftragslage, Lust und Laune. Wird das Geld knapp, stürze ich mich in die Arbeit. Wenn wenig zu tun ist, klinken wir uns ein bisschen aus. Das ist unsere Freiheit. Und so landen wir dann an Orten wie diesem. Thailand. Bangkok. Generell eher entspannt. Generell schon sehr paradiesisch. Doch irgendwie noch nicht perfekt. Noch nicht das, was ich wirklich will. Es sind nur kurzzeitige Ausbrüche aus dem normalen Leben, denn nach ein paar Wochen müssen wir wieder zurück. Max in den Kindergarten, ich an den heimischen Schreibtisch. Das aber will ich ändern. Das will ich durchbrechen. Keine kurzen Urlaube mehr, sondern eine längere, eine lange Reise. Unterwegs leben, unterwegs arbeiten, zusammen mit Max auf der ganzen Welt ankommen.

Ich drehe mich von einer Seite auf die andere. Licht aus, Licht an. Die Gedanken im Power-Modus. Die Angst wird nicht weniger, sondern von Minute zu Minute größer. Fast panikartig. Was sind schon eineinhalb Jahre? Wo sind überhaupt die letzten vier geblieben? Habe ich nicht gestern noch Windeln gewechselt und verdreckte Strampler gewaschen? Und jetzt liegt mein einst so kleines Baby schnarchend neben mir. Fast halb so groß wie ich. Schlagartig wird mir das bewusst. In der Hitze der Nacht, in Schweiß gebadet. Angstschweiß zum Anfassen. Panik zum Mitnehmen. Solche Reisen wie diese hier gibt es höchstwahrscheinlich nicht mehr, wenn Max erst mal in der Schule ist. So viele gemeinsame Momente auch nicht. Ich möchte meinen Sohn beim Aufwachsen beobachten. Ihm zur Seite stehen und Teil seiner Welt sein. Täglich Zeit mit ihm verbringen, nicht nur am Nachmittag oder in den Ferien. Dann, wenn alle loswollen. Und ich es mir womöglich nicht mehr leisten kann.

Eine Lösung muss her. »Carpe diem« steht in großen Lettern auf meiner Hüfte. Pflücke den Tag. Mach was draus, bevor die Chance vorüber ist. Eineinhalb Jahre sind besser als gar nichts, doch wenn ich nicht bald anfange, etwas zu ändern, sind sie schneller vorbei, als ich schwitzen kann. Wir müssen die Zeit bis zu Max’ Schuleintritt nutzen. Für uns. Für die Welt. Für etwas, das wir nie vergessen werden.

Doch bislang habe ich nie den richtigen Dreh gefunden. Journalistin bin ich ursprünglich nur geworden, um in fernen Ländern zu leben und von dort zu berichten. Hat aber nie so wirklich geklappt. Nationale TV-Nachrichten mussten in den letzten Jahren reichen. Vor ein paar Monaten hatte ich einen zweiten Versuch gestartet und nebenher ein Aufbaustudium angefangen. Deutsch als Fremdsprache. Deutsch, so der Plan, könnte ich weltweit unterrichten. Im Rahmen dieses Studiums flog ich nach Kalifornien. Santa Cruz. Dort versuchte ich als Assistenzlehrerin an der Uni, langweilige Grammatik in lustige Hippie-Studenten zu quetschen. Es war nicht schlecht, bestimmt nicht, aber irgendwie auch nicht wirklich ideal. Immerhin kam ich mit einer für mich neuen Lebensform in Berührung. Der der digitalen Nomaden. Beim Kochen im Hostel lief mir eine von ihnen über den Weg. Sie zeigte mir eine völlig neue Welt. Ein komplett neues Universum: Menschen, die digital arbeiten und währenddessen um den Globus reisen. Viele von ihnen sogar äußerst erfolgreich und scheinbar ziemlich glücklich. Den Laptop immer dabei, die kreativen Ideen in dem dazu passenden Rucksack verstaut.

Ein paar von ihnen haben sich wohl als blinde Passagiere in meiner Tasche versteckt, denn auf einmal kommen sie in der Hitze der thailändischen Nacht hervor. Bevölkern das Bett und meine Gedanken. Laptop. Reisen. Schreiben. Zusammen mit Max die Welt entdecken und von unterwegs arbeiten. Spannende Länder, fremde Kulturen, neue Menschen erleben. Ihm die Welt zeigen, bevor ich ihn auf sie loslasse. Dabei genügend Geld verdienen, um das Ganze für uns zwei zu finanzieren. Nicht nur für ein paar Wochen am Stück, sondern auf lange Sicht. Ein Jahr. Ortsunabhängig, ungebunden und ohne Kindergarten. Bis zur Schulpflicht. Sie wird uns vom Rest der Welt scheiden, aber bis dahin … Ja, das könnte es sein. Das wird es sein. Unser Ticket in die Welt. Und von einer Sekunde auf die andere verfliegt meine Panik. Meine Zukunftsangst. Ich fühle ein imaginäres Handtuch, das mir den Schweiß von der Stirn tupft. Ich bin mir auf einmal sicher. Und zwar so richtig.

Meine nächtliche Eingebung lässt mich nicht mehr los. Als wir zurück in Deutschland sind, kann ich es kaum erwarten, mich in eine digitale Nomadin zu verwandeln. Die ersten Recherchen im Internet offenbaren die vielfältigsten Möglichkeiten. Eine ganz neue Welt breitet sich vor mir aus, in den unterschiedlichsten Varianten. Die Familie der digitalen Nomaden scheint zwar zumindest in unseren Gefilden noch relativ klein zu sein, dafür umso bunter. Ehemalige Bankangestellte schreiben mittlerweile Bücher über Selbstfindung, Programmierer bauen unter Palmen Webseiten. Eine Erfolgsgeschichte reiht sich an die andere, und das passende Material zum Nachmachen gibt es oftmals gratis mit dazu. Egal ob Bücher, Webseiten, Podcasts oder komplette Online-Kurse: Ich werde fündig. Und motiviert. Was die können, schaffe ich auch. Sicher.

Es ist fast schon eine Sucht, die mich packt. Eine Versuchung, der ich verfalle. Denn je mehr ich mich mit der Materie beschäftige, desto greifbarer wird das Ganze für mich. Wir leben in einer Welt, in der uns solche Türen offenstehen. Das Internet macht es möglich. Gepaart mit Flexibilität. Ist der Wille da, kann man auf Weiterbildung am hauseigenen Küchentisch zurückgreifen. Zwischen Spaghetti und Kindergeschrei. Sieben Tage die Woche. Rund um die Uhr.

Was mich allerdings verwundert: Der Großteil der digitalen Nomaden ist Single. Kein Kind. Kein Anhang. Wenn doch, dann ist die gesamte Horde unterwegs. Vater, Mutter, Kind. Mindestens zu dritt. Familie auf Weltreise. Elternzeit weit ab vom Schuss. Das scheint im Kommen zu sein. Doch wo sind die Alleinerziehenden? Wo sind die Mütter (oder Väter), die sich beruflich selbstständig machen, ihr Kind unter den Arm klemmen und zu zweit losziehen, um die Welt zu entdecken? Kann man sich nur als Single oder im Familienverband von gesellschaftlichen Zwängen freimachen? Kann man seine Träume nicht auch solo mit Kind leben? Ich verstehe es nicht. Gerade Alleinerziehende besitzen doch die perfekten Voraussetzungen für ein solches Nomadenleben: Organisationstalent. Krisenmanagement. Haushalten mit knappem Budget.

Wer es schafft, sein Kind ohne Partner im Großstadtdschungel von München, Hamburg oder Berlin durchzubringen, wird das Leben im südamerikanischen Regenwald doch mit links meistern.

Vereinzelt soll es diese alleinerziehenden digitalen Mütter oder Väter anscheinend schon geben, irgendwo versteckt. Doch keine(r) von ihnen berichtet ausführlich darüber. Journalistisch. Professionell. Die speziellen Informationen, die ich für meine Situation dringend bräuchte, gibt es somit leider nicht. Ein großes Loch in den Weiten des Internets tut sich auf. Somit auch eine riesige Marktlücke. Die gilt es zu schließen. Und zwar von mir. Von uns. Als gutes Beispiel!

Mein Kopfkino geht los: Wie wäre es also, wenn Max und ich loszögen und ich über unser Leben von unterwegs berichtete? Wenn ich alles in Deutschland auf Pause setzte und einen kleinen Zwischenstart hinlegte? Wir das wagten, was sich viele andere zwar auch schon getraut haben, aber nicht unbedingt in dieser Konstellation? Ich will zusammen mit Max Träume leben. Von jetzt an bis zum Schulstart. 550 Tage. Mit den Möglichkeiten, die wir haben. Sowohl jobtechnisch als auch finanziell. Mit all dem Wissen, das ich bereits in mir trage. Hauptsächlich also mit dem Schreiben und Reisen, plus dem, was ich noch dazulernen möchte. Unternehmerischem Hintergrundwissen, um beides miteinander zu verbinden.

Die Startzeichen stehen gar nicht so schlecht. Und den Rest bekomme ich auch noch irgendwie hin. Mit der entsprechenden Vorbereitung und einer ordentlichen Portion Mut. Und den habe ich, denn immerhin starte ich das Ganze nicht allein. Sondern mit dem mir wichtigsten Menschen an der Seite. Die Idee wächst und gedeiht. Von Minute zu Minute. Von Tag zu Tag. Laptop. Reisen. Schreiben. Die Grundidee steht.

Vorher kommt aber noch der zweite Auslandsaufenthalt als Teil meines Deutschstudiums. Kolumbien. Bogotá. Das Goethe-Institut hat mich als Gastdozentin in die südamerikanische Hauptstadt eingeladen. Drei Wochen lang stehe ich mit Kreide bewaffnet vor der Klasse und habe dasselbe Gefühl wie schon vor ein paar Monaten in Santa Cruz. Nicht schlecht, aber irgendwie auch nicht perfekt. Was mich viel mehr reizt: Kolumbien scheint eine Hochburg für digitale Nomaden zu sein. Die meisten davon tummeln sich in Medellín, mit mehr als 2,4 Millionen Einwohnern die zweitgrößte Metropole in Kolumbien. An einem verlängerten Wochenende mache ich mich also auf in Richtung der Stadt des ewigen Frühlings.

Anstatt in typischen Büroräumen sitzen viele der digitalen Nomaden tagsüber in hübschen Cafés. Coworking mit Gleichgesinnten am Nachbartisch. Abends werden Treffen organisiert und die Vor- und Nachteile eines Lebens rund um den Globus diskutiert. Die entsprechenden Orte und Daten finde ich online, meine potenziellen Gesprächspartner in einer Bar im Zentrum der Stadt.

Dort sitzen sie also, zum Anfassen nah und mehr als hilfsbereit. Nach ein paar Bier und dem typischen Small Talk packe ich meine Gedanken auf den Tisch. Meine Geschichte, meine Idee, meine Sorgen und meine Ängste. Und bin anscheinend genau richtig. Denn die Phase, in der ich mich momentan befinde, hat jeder hier durchgemacht. Irgendwie. Irgendwo. Irgendwann. Vor kurzer Zeit oder schon ein paar Jahre früher. Die Ratschläge gehen somit gebündelt in ein und dieselbe Richtung: »Bei uns war es doch genauso.«

»Als Erstes ist die Idee da. Dann tauchen die Ängste und die Zweifel auf.«

»Der erste Schritt ist der wichtigste, du musst dich von deinem alten Leben Stück für Stück verabschieden.«

»Wer etwas Neues aufbauen möchte, braucht einen starken Willen, aber es lohnt sich.«

Motivation und entsprechende Lösungen liegen parat. Hier bekomme ich das, was ich brauche. Den nötigen Anstupser. Lebendige Vorbilder, an denen ich mich orientieren kann. Ähnliche Gedanken hatte ich mir schon selbst gemacht, aber es von anderen zu hören, bestätigt mich noch einmal mehr. Jeder hier ist ein erfolgreicher Unternehmer und bestimmt sein Leben selbst. Ob als Grafikdesigner, Coach und Berater oder sonstiger Online-Entrepreneur. Jedoch alle, die die Welt zu ihrem Arbeitsplatz gemacht haben, wagten diesen Schritt allein. Ohne Kind. Meine persönliche Achillesferse …

»Wieso beunruhigt dich das?«, werde ich gefragt. »Das ist doch ein Pluspunkt. Das kennt keiner. Noch niemand hat das gemacht.«

»Wenn du schreibst, wie es ist, digital mit einem Kind unterwegs zu sein, werden das alle mögen. Alle.«

»Warte aber nicht so lange, sonst schnappt dir jemand die Idee weg. Fang sofort an!«

Mit jedem weiteren Getränk an diesem Abend werde ich mir sicherer. Mit jeder Frage, die sofort beantwortet wird. Mit jeder Sorge, deren Lösung anscheinend auf der Hand liegt. Es gibt so viele Möglichkeiten, jenseits des Üblichen seinen Lebensunterhalt zu verdienen und sogar eine Karriere zu starten. Es gibt so viele Alternativen, abseits der Norm glücklich zu sein. Machen, so lautet das Motto. Einfach machen.

Meine Idee nach der kolumbianisch-nomadischen Gehirnwäsche: ein Reiseblog. Auf den ersten Blick erscheint das nicht besonders innovativ, doch in meiner Situation ist es durchaus schlau. Denn in dieser Form gibt es das noch nicht. Und so vertiefe ich während meines weiteren Aufenthalts in Bogotá mein Wissen über ein Leben mit Laptop und Rucksack. Mittlerweile geht es mir nicht mehr um die Frage, »warum« Menschen aus ihrem alten Leben ausbrechen. Den Punkt habe ich bereits hinter mir. Jetzt geht es mir um das »Wie«. Und um Listen. Jede Menge Listen. Abends gehe ich mit neuen Erkenntnissen ins Bett und wache morgens mit weiteren Ideen auf. Selbstbestimmtes Arbeiten. Ortsunabhängiges Leben. Wer wagt, gewinnt. Ich bin auf dem richtigen Weg!

So richtig klar wird mir das eines Vormittags, als ich in einem überfüllten Bus sitze. Umringt von unzähligen Menschen in unerträglicher Hitze. Auf einmal fange ich an zu schwitzen. Und zwar so richtig. Auf meiner Stirn bildet sich ein Tropfen nach dem anderen, und unter meinen Armen stimmt sich das Deo gerade auf Höchstleistungen ein. Das Gefühl kenne ich irgendwoher. Das Gefühl hatte ich schon einmal. Doch dieses Mal ist es anders. Es ist mitten am Tag. Und es ist keine Zukunftsangst, es ist Zukunftsfreude. Ich weiß in diesem Moment: Wir können die Zeit nutzen. Max und ich. Für uns. Für die Welt. Für etwas, das wir nie vergessen werden.

 

Sieben Länder, vier Schlüpfer und ein Teddybär

Ich sitze im Flugzeug, es geht von Kolumbien zurück nach Deutschland, und ich kann nicht mehr aufhören zu grinsen. Kann nicht mehr aufhören, glücklich zu sein. Kann nicht mehr aufhören, unser neues Leben vor mir zu sehen. Ein Jahr Weltreise. Ein Jahr Abenteuer. Ein Jahr Max und ich, rund um den Globus. Der Tomatensaft schmeckt so lecker wie nie zuvor, und selbst mein Sitznachbar mit seinem Hang zum Armlehnen-Besetzen kann meine gute Laune nicht trüben. Ich platze fast vor Aufregung und Tatendrang. Und trotzdem – eine Kleinigkeit ist da noch. Eine wichtige Frage steht noch aus. Die Frage aller Fragen. Die Entscheidung aller Entscheidungen. Haben sich die nomadischen Gene auch beim Ableger ausgebreitet? Findet Max meine Idee genauso toll wie ich?

Die nächsten Tage bin ich ziemlich aufgeregt und warte auf den passenden Augenblick. Irgendwie muss ich das Ganze schlau anstellen. Nicht so offensichtlich. Eher nebenbei. Aus dem Ärmel heraus. Ohne Max zu überrumpeln. Am besten auf dem Weg zum Spielplatz, vielleicht sogar mit einem kleinen Eis garniert. Oder einem höchst dekorativen Knoten. Und so knie ich eines Nachmittags vor ihm, die Schnürsenkel rutschen mir immer wieder aus der Hand, so angespannt bin ich.

»Sag mal, Max, hast du Lust, mit mir zusammen die Welt anzugucken? Bis du in die Schule kommst? Nur wir zwei?«

Einundzwanzig. Zweiundzwanzig. Dreiundzwanzig. Die Spannung steigt. Nicht bei meinem Gegenüber. Als hätte ich ihn gerade zu der Wahl seines Abendessens befragt, guckt er zu mir herunter. Und grinst. »Au ja! Aber Bärti muss mit …«

Bingo. Entscheidung gefallen. Das war einfach. Das war kinderleicht. Von außen sieht es wenige Minuten später genauso aus wie immer. Eine Mutter, die mit ihrem Sohn zum Spielplatz stapft und sich, als sie dort angekommen sind, im Stehen gedankenverloren ein Hirsebällchen nach dem anderen genehmigt, und ein Kind, das von einem Gerät zum nächsten rennt. Doch in mir drin läuft ein völlig anderer Film ab. Blockbuster. Oscarverdächtig. Ich sehe mich irgendwo am Strand, mit dem Laptop auf dem Schoß und einer Kokosnuss in der Hand. Max kommt mit seinem Surfbrett unter dem Arm und einem breiten Lächeln auf den Lippen aus dem Wasser gerannt. Die Luft riecht nach Sommer, das Wasser schmeckt nach Meer.

Minusgrade statt Strandgelage holen mich in die Realität zurück. Es ist Februar in München. Meine Finger erfrieren fast auf dem Weg von der Tüte in den Mund. Aufwärmpausen in meiner Winterjackentasche sind mehr als notwendig. Das werde ich sicherlich nicht vermissen. Bei ekelhaft nasskaltem Wetter am Spielplatz herumlungern, bis es langsam dunkel wird und wir nach einem kleinen Zwischenstopp im Supermarkt nach Hause kommen. So schnell es geht, Heizung an, ein paar Stunden später Licht aus. Nicht mehr mit uns.

Doch bis dahin ist es noch ein langer Weg. Die Reise muss organisiert, das Leben hier in München zum Stoppen gebracht und Freunde und Verwandte langsam in die Pläne eingeweiht werden. Doch noch weitaus mehr Respekt habe ich vor meinem neuen beruflichen Projekt. Ein Reiseblog mit Podcast macht nach meiner wochenlangen Recherche offensichtlich am meisten Sinn. Natürlich muss er toll werden. Muss aus der Reihe fallen und uns und das Projekt ins richtige Licht rücken. Außerdem die Informationen liefern, die mir in meiner jetzigen Situation so fehlen und die ich mir mühsam zusammensuchen muss. Tipps zur Vorbereitung. Erfahrungsberichte. Er muss Mut machen. Den Sinn herausstellen. Doch wie genau funktioniert so etwas überhaupt? Wie baue ich eigentlich eine Internetseite, und wer kann mir dabei helfen?

Ich hangele mich mal wieder von Online-Kurs zu Online-Kurs. Es dauert, und es ist anstrengend. Es motiviert mich, lässt mich aber auch verzweifeln. Denn der Berg, vor dem ich momentan stehe, ist groß. Ziemlich groß! So vieles gibt es zu bedenken, so viel umzusetzen. Zwischendurch möchte ich alles hinwerfen, mir die ganze Idee wieder aus dem Kopf schlagen. Natürlich nur in der Theorie. Denn das, was ich mir gerade aufbaue, bin zu hundert Prozent ich. Vor mir breitet sich Fantasia aus. Ein Traumland, das ich gefühlt schon jetzt vor lauter Bäumen nicht mehr sehen kann. Und doch zieht es mich von Tag zu Tag stärker dorthin. An ein Zurückrudern ist nicht mehr zu denken. Die Leinen sind los.

Nun wird der ultimative Schritt gemacht. Ganz konkret. Ganz real. Mit einem Klick. Ich buche unsere Flugtickets. Ende Juni sind wir weg. Ende Juni starten wir durch. Auf Bali. Der Beginn unseres digitalen Abenteuers. Bis dahin muss ich unser altes Leben in Kisten verpackt, das neue im Rucksack verstaut haben. Der Zeitdruck tut gut. Der ultimative Schritt auch. Jetzt ist es amtlich. Jetzt steht es fest. Jetzt ist unser Aufbruch zum Greifen nah. Die Uhr tickt. Ich liebe dieses Geräusch in meinem Kopf. Und dann sind da Vorfreude und Aufregung. Das dazugehörige Kribbeln im ganzen Körper. Vor allem morgens, wenn ich gerade aufwache und von einer Welt in die nächste drifte und mir mit einem Schlag bewusst wird:

Wir werden die Welt erobern. Max und ich. Kawumm!

Meine legendären Listen hängen an der Wand und werden immer länger. Meine Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum und werden immer wilder. Um ruhig zu bleiben, hake ich Punkt für Punkt akribisch ab. Sonst funktioniert es nicht. Sonst werde ich verrückt. Was mir dabei hilft: viel Yoga und Meditation. Viel Rotwein und Freunde. Sie unterstützen mich: »Das ist so ein geiler Plan, Janina. Und wenn ihn eine umsetzen kann, dann du. Klar, dass du jetzt Stress hast. Aber du schaffst das. Denk einfach daran, wie genial es wird. Das ist eure Geschichte, eure Reise. Euer Leben! Das ganze Projekt bist so du! Und in einem Jahr sitzen wir wieder zusammen, trinken Wein wie jetzt, und du erzählst von all deinen Abenteuern.«

Jetzt traue ich mich auch mehr, mein Vorhaben in die Welt zu bringen. Ich schreibe Magazine an, ob ich für sie über die Reise mit Max berichten darf. Hake bei Sponsoren nach, ob sie nicht ein Teil des Ganzen sein wollen. Die Rückmeldungen hauen mich um. Egal ob Rucksäcke, Schuhe oder die zu unserem Abenteuer passenden Outfits – wir bekommen sie zur Verfügung gestellt. Ohne langes Betteln, ohne langes Verhandeln. Einfach so. Aus Überzeugung. Doch nicht nur das. Ich bekomme die erste Anerkennung für das, was ich seit Wochen fast im Alleingang aufbaue. Anerkennung und Respekt. Das tut gut. Und schubst mich weiter an. Zum nächsten Schritt und einer neuen, nicht ganz unwichtigen Frage. Wo wollen wir eigentlich hin? Es soll ja nicht nur Bali sein …

Ich sitze an meinem Küchentisch. Den Kaffee in der einen Hand, den Kopf auf die andere gestützt. Vor mir liegt der in die Jahre gekommene Weltatlas meiner Mitbewohnerin. Erinnerungen an die fünfte Klasse werden wach. Und ein Gefühl der Unwirklichkeit. Gepaart mit einer immer lauter bohrenden Frage in meinem Gehirn. Was könnten die weiteren Stationen sein? Und wie lange sollen wir am jeweiligen Ort leben und arbeiten? Die Qual der Wahl. Sensationell!

Bali, unser erster Stopp, steht schon seit Langem aufgrund unzähliger Erzählungen vieler Freunde auf meiner Liste: »Da könnt ihr den ganzen Tag surfen und Yoga machen. Die Leute sind so unglaublich freundlich. Und das Spirituelle gefällt dir sicher auch.« Tropisch, warm, am Meer und von netten Menschen besiedelt. Das hört sich nach einem soliden Start an. Und ist ja eh schon seit ein paar Tagen gebucht.

Doch was kommt dann? Ziemlich schnell entscheide ich mich gegen ein Weltreiseticket. Schon im Vorfeld all unsere Stopps zu planen und unsere Route an ein vorgegebenes Ticket anzupassen, gefällt mir gar nicht. Viel zu organisiert. Viel zu durchgeplant. Lieber will ich spontan sein. Von einem Land zum nächsten hüpfen, so wie es uns gefällt. Entweder länger oder kürzer bleiben, wie es sich eben anbietet. Die Route ist natürlich trotzdem ein wenig naheliegend, denn von Bali aus sollte es weiter Richtung Osten gehen: Australien und Neuseeland. Seit Jahren träume ich auch von Tahiti, von einem Inselhopping in der Südsee. Und/oder Hawaii? Alles Orte, an denen ich noch nie war. Alles Orte, bei denen ich eine gewisse Sehnsucht verspüre. Das bedeutet: Die grobe Richtung klingt schon mal gut. Und somit sind die ersten Monate vage geplant. Aber auch wenn meine Gedanken längst auf Reisen sind, die Realität hält noch stark an mir fest.

Denn das Budget ist knapp bemessen. 1000 Euro dürfen es pro Monat sein, Flüge nicht zwangsweise mit eingerechnet. Dafür Unterkünfte, Essen und Vergnügungen. 33 Euro am Tag. Für zwei Personen. Ein Jahr lang. Nicht viel, aber auch nicht wenig. Diese Summe scheint realisierbar. So kann ich ungefähr einschätzen, wie viele Artikel ich pro Monat schreiben und veröffentlichen sollte. Erprobt durch vergangene Reisen weiß ich, dass es funktionieren kann. Dass ich mit diesem Geld auskommen kann.

Die Fixkosten zu Hause versuche ich, bis zur Abreise in ein paar Monaten, weitestgehend zu minimieren. Es gibt keine Shoppingtouren, keine kostspieligen Hobbys. Ich gehe nicht mehr essen oder kaufe irgendwelchen Schnickschnack. Unsere Zimmer werden während unserer Abwesenheit von einer Freundin übernommen. Von Dingen, die wir seit Ewigkeiten nicht mehr benutzen, trennen wir uns rigoros. Der Keller wird ausgemistet, diversen Flohmärkten ein Besuch abgestattet. Alte Bücher, Anziehsachen, Sportgeräte: Es ist unglaublich, welche Schätze bei uns zu Hause einfach so rumliegen. Und mit Vergnügen neue Besitzer finden. Ich verfalle in einen richtigen Rausch. Kiste für Kiste packe ich zusammen, renne die Treppen in absoluter Bestzeit vom ersten Stock in den Keller und schaffe dabei Platz. Nicht nur materiell, sondern auch gedanklich. Lasse das alte Leben immer mehr los. Ein für mich wichtiger Prozess, der den Neubeginn leichter macht. Und mir nebenher sogar noch das Geld für unsere ersten Flugtickets verschafft.

Weniger Spaß macht der gefühlt tägliche Gang zum Tropenmediziner unseres Vertrauens. Impfen gehört nicht gerade zu unseren Lieblingsbeschäftigungen, doch was muss, das muss. Für uns beide. Ohne Diskussion. Da ich mich im Vorfeld nicht auf die typischen Familienreiseländer beschränken möchte, darf es das Komplettpaket an Impfsicherheit sein. Von Tollwut bis Gelbfieber. Bis die Nadel glüht. Max hasst es, ich auch.

»Da seid ihr zwei ja schon wieder. Wir haben für Max extra unsere Süßigkeiten-Box erweitert. Wer so oft hierherkommen muss, hat einen besonderen Service mit vielen Leckereien verdient.«

Selbst die Sprechstundenhilfe hat Mitleid mit uns. Doch irgendwie bewältigen wir diesen Marathon heil und ohne bleibende Schäden. Im Anschluss geht es direkt weiter zu diversen Ämtern. Die Pässe müssen erneuert werden, die entsprechenden Visa zumindest für die ersten Ziele in Bearbeitung sein.

Zwischendurch tauche ich gedanklich ein in den Lifestyle digitaler Nomaden. Ein ganz großer Pluspunkt ist das minimalistische Leben. Also das Reduzieren auf das Wesentliche. Das Wichtige. Das Eigentliche. Weg mit dem Ballast, her mit dem puren Leben. Fast automatisch bin ich hierbei anscheinend schon auf dem richtigen Weg. Doch wie geht es weiter? Was passiert, wenn die eigenen vier Wände leer sind und das Portemonnaie dafür gefüllter ist? Und wie gestaltet sich das Ganze dann auf Reisen? Mit Kind sieht der Bedarf an Dingen vielleicht etwas anders aus. Weniger begrenzt. Was zu der Frage führt: Was müssen wir tatsächlich mitnehmen? Auf was können wir verzichten? Was gibt es überall auf der Welt zu kaufen? Und was nicht?

Handgepäck ist auf einmal das Zauberwort. Handgepäck als neue Religion. Rucksäcke zum Einchecken sind der Teufel. Und den will niemand auf seiner Reise dabeihaben. Also denke ich in völlig neuen Sphären.

Und ganz ehrlich: Wer braucht unterwegs mehr als zwei T-Shirts? Oder diverse Schuhe? Am Ende zieht man eh immer dasselbe an. Ich gehe tief in mich und stelle unsere persönliche Zweier-Regel auf: zwei T-Shirts, zwei lange Shirts, zwei kurze Hosen, zwei lange Hosen, zwei warme Kleidungsstücke, zwei Paar Socken. Nur bei der Unterwäsche schummele ich und lege großzügig vier Slips pro Person auf den noch recht klein erscheinenden Haufen. Shampoo und Co. müssen in 100-Milliliter-Flaschen umgefüllt und in verschließbaren Beuteln verstaut werden. Überflüssiges Zeug packe ich gar nicht erst ein. Laptop. Handy. Noch ein paar Lego-Bausteine und Malstifte für Max. Bärti. Fertig. Ein weiterer Punkt, den ich von der Liste abhaken kann.

Vor mir liegt nun alles, was wir im nächsten Jahr besitzen werden. Es scheint genug zu sein. Ich fühle mich frei und sehr revolutionär, mit weniger als fünfzehn Kilo Gepäck eine Weltreise mit meinem Kind anzutreten. Auch mein Rücken wird es mir danken.

Leider folgt nun eine ziemlich anstrengende Nummer. Die ich tatsächlich nur durchhalte, weil ich eine Meisterin in Disziplin bin. Morgens um vier Uhr klingelt mein Wecker, ein paar Minuten später sitze ich mit der ersten Tasse Kaffee an meinem Küchentisch und beginne mit der Arbeit.

Der Aufbau von Blog und Podcast ist kompliziert und erfordert viel Zeit. Und Kreativität. Und Geduld. Doch das Gute dabei ist, dass ich mein Ziel klar vor Augen habe. Es sind inzwischen nur noch wenige Wochen bis zu unserem Abflug, und ich spüre, dass ich ein wenig gestresst bin. Wenn auch irgendwie positiv.

Eine große Hilfe ist eine Arbeitsgruppe, bei der ich seit einiger Zeit Mitglied bin. Hört sich recht förmlich an, die Gruppe besteht aber eigentlich nur aus mir und meiner digital nomadischen Freundin Birgit, die ich in der Hostel-Küche in Santa Cruz kennengelernt hatte. Sie war früher Marketingchefin in einem großen Unternehmen und hat sich mittlerweile als ortsunabhängiger Coach auf Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen spezialisiert. Nun steht sie mir mit Rat und Tat zur Seite. Ein ziemlich wichtiger Punkt, denn im Gegensatz zum Arbeiten in einem richtigen Büro mit guten Kollegen und schlechter Kantine kann es zu Hause manchmal ganz schön einsam sein. Gerade wenn es um Entscheidungen geht. Sosehr ich es genieße, Chefin meines Projekts zu sein, sosehr bin ich auch dankbar für den ein oder anderen Blick von außen.

Mein Küchentisch und ich werden beste Freunde, Kaffeeabhängigkeit bekommt ein völlig neues Gesicht. Meins. Mehr als vier Stunden Schlaf sind aktuell nicht drin. Macht nichts, das hole ich irgendwo in der Welt am Strand nach. Mein Deutschstudium läuft genauso nebenher wie meine journalistische Tätigkeit. Trotzdem schaffe ich mein Diplom wenig später, und auch mein aktueller Arbeitgeber ist mit meinen Auftritten weiterhin zufrieden.

Max bekommt von dem Ganzen nicht so viel mit. Doch über die bevorstehende Reise reden wir jeden Tag. Und freuen uns.

»Ich möchte unbedingt zu den Koalas und einen davon auf den Arm nehmen. Die sind so süß und kuschelig und flauschig.«

Oft sitzen wir zusammen auf der Couch und sammeln unsere Ideen. Wen wir unterwegs besuchen wollen. Was wir uns unbedingt ansehen müssen. Was lieber nicht. »Und zu dieser Brücke möchte ich gerne. Dieser roten in Amerika.« Max strahlt und ist aufgeregt. Er freut sich auf die fremden Kinder und neuen Abenteuer. Auf Sonne, Strand und Meer und das Fliegen in großen Flugzeugen. In solchen Momenten bekomme ich richtiges Herzklopfen. All das werden wir erleben. All das haben wir vor uns. Nur wir zwei!

Während ich anfangs noch versucht habe, den Ball flach zu halten und meine Pläne vor der breiten Masse zu verstecken, geht das langsam nicht mehr. Mein Chef, für den ich die letzten Jahre beim Fernsehen gearbeitet habe, weiß Bescheid. Er findet die Idee toll und freut sich auf meine Rückkehr in einem Jahr. Das war easy, das sind die Vorteile vom freiberuflichen Arbeiten. Ähnlich leicht verläuft es auch mit den Eltern im Kindergarten oder aus der Nachbarschaft. Alle finden die Reise super, alle möchten uns irgendwie unterstützen. Max’ Vater ist ebenfalls einverstanden, und meine Familie reagiert sogar entspannter als erwartet.

»So was musste ja mal kommen. O je, ein ganzes Jahr ohne euch. Aber vielleicht können wir euch mal besuchen. Und für Max ist es bestimmt toll. Für euch beide. Wir wissen ja, dass du am liebsten in der Weltgeschichte umherreist.« Meine Mutter versucht, die Tränen am anderen Ende der Leitung im Norden Deutschlands mit einem unkoordinierten Rascheln zu übertönen. Doch sie schlägt sich wacker. Was ist schon ein Jahr?

Anscheinend war es für meine Eltern sogar irgendwie absehbar. Sie kennen meine Reiselust und sehen die Chancen: für meine berufliche Weiterentwicklung, für Max, der mit anderen Kulturen vertraut wird. Sie stehen hinter uns, wo sie nur können. Das ist mittlerweile auch richtig nötig. Denn je näher das Abreisedatum rückt, desto öfter fahren meine Gefühle Achterbahn. Wir geben immerhin alles auf. Und wer weiß schon, was in einem Jahr sein wird. Vielleicht wollen wir ja gar nicht mehr zurück? Doch solche Gedanken lasse ich vorerst nicht an mich heran. Ein Jahr ist eine lange Zeit. In einem Jahr kann sich so viel verändern. Wir können uns verändern. Dramatische Szenen, fließende Tränen und die Frage, ob die Entscheidung auch die richtige ist, braucht momentan niemand. Ich am wenigsten. Also Emotionen aus und Malocher-Modus an. Denn der allein bringt mich weiter. Alles andere blockiert nur. Und verwirrt.

So wie die vielen Zweifel, die mich trotz der positiven Reaktionen aus meinem Umfeld erreichen. Versteckt unter dem Deckmantel beiläufiger Nachfragen. Gerne zwischen Tür und Angel, wenn ich Max zum Kindergarten bringe oder ihn abhole. Interessanterweise sind sie oft nur von einem Gefühl bestimmt. Angst. »Hast du denn gar keine Angst, allein mit deinem Kind loszuziehen? Was, wenn euch etwas passiert? Ihr krank oder entführt werdet? Das Geld ausgeht und euer eigentliches Zuhause dann so weit weg ist … Also, für mich wäre das nichts.«

Bei all den Momenten, in denen ich emotional werde, Angst kommt mir nie in den Sinn. Auch keine Horrorszenarien. Warum sollte uns unterwegs etwas passieren? Warum etwas schiefgehen? Warum ist es dramatisch, im Ausland krank zu werden? Warum wird das so aufgebauscht? Ich verstehe das nicht, fange aber aufgrund der akkuraten Gehirnwäsche trotzdem an, mich selbst zu hinterfragen. Warum habe ich all diese Gefühle nicht? Warum verfalle ich nicht in Panik? Warum überwiegt die Vorfreude?

Bin ich etwa naiv oder womöglich eine schlechte Mutter, die sich zu wenig sorgt und ihr Kind in Gefahr bringt? Oder bin ich von einem tiefen Urvertrauen geleitet und glaube an mich und meine Entscheidungen?

Kann ich absehen, ob ein Land zu gefährlich ist oder nicht und dementsprechend rational handeln und entscheiden? Sind all diese Bedenken womöglich typisch deutsch und damit für unsere geplanten Reiseländer eh nicht anwendbar? Letztlich sage ich mir: Ich bin dreiunddreißig und kann selbst über unser Leben entscheiden. Damit fahre ich ganz gut. Meine Ohren stelle ich auf Durchzug und finde so wieder rasch zu mir und dem Wissen, was das Beste für Max und mich ist. Ohne Angst, ohne Misstrauen, sondern in heller Vorfreude.

Die Monate vergehen schneller als gedacht. Die Dinge laufen besser als angenommen. Mittlerweile ist Juni. Knapp ein halbes Jahr harte Arbeit liegt hinter mir. Der Blog kann gestartet werden, letzte Anschaffungen sind erledigt. Um uns zu verabschieden, organisiere ich eine Party an der Isar. Meine Familie kommt angereist, Freunde von nah und fern feiern uns und unsere Entscheidung mit Bier und Tofu-Würstchen. »Wir werden euch so vermissen! Aber es ist genial, wie du das durchziehst. Du machst das richtig, und Max wird dir ewig dankbar sein.«

Max’ letzter Tag im Kindergarten nimmt mich mit. Stundenlang verabschieden wir uns von all seinen Freuden und Erzieherinnen. Das Kapitel ist mit einem Schlag beendet. Wenn wir in einem Jahr zurückkehren, geht die Schule los. Max ist relativ cool, fast gelassen, aber nicht ohne Gefühle.

»Meine Freunde im Kindergarten werde ich schon vermissen. Und auch die leckeren Nudeln mit Tomatensoße. Können wir nicht allen Postkarten schicken, damit sie mich nicht vergessen?«

Langsam wird aber auch ihm bewusst, dass wir in ein paar Stunden einen ungewöhnlichen Neustart hinlegen. Ich beruhige ihn: »Es ist ganz normal und auch gut, dass sich das ein bisschen komisch anfühlt. Aber warte mal ab, bis wir im Flugzeug sitzen. Dann geht’s endlich los!«

Wir nehmen uns fest in den Arm und setzen uns auf eine der übrig gebliebenen Kisten, die bis zum letzten Moment im Weg herumstehen. Den Aufbruch bildlich darstellen.

Die letzte Nacht ist komisch, ebenso der letzte Morgen. So fühlt es sich also an, wenn ein neuer Abschnitt beginnt. So, wie wir uns das gewünscht haben. Das, was jetzt folgt, ist meine Entscheidung. Unsere Entscheidung. Unser neues Leben, so wie wir es haben wollen.

Und da stehen wir jetzt. Am Flughafen. Zwei Menschen, zwei Rucksäcke, die Welt. Nun kann ich auch meine persönlichen Niagarafälle nicht länger zurückhalten. Ich kann mich gar nicht mehr beruhigen. Die Tränen fließen nur so. Unsere Freunde winken, unsere Herzen pochen. Kollabieren fast, als der Zollbeamte noch ein paar Fragen hat. Mich kurzerhand der Kindesentführung außerhalb der Ferienzeiten verdächtigt. »Ist das denn auch wirklich Ihr Kind? Können Sie das nachweisen? Haben Sie auch die entsprechenden Papiere dabei, dass Ihr Kind trotz Kindergarten aus Deutschland abreisen darf?«

Also krame ich mit einer sekündlich wachsenden Warteschlage in meinem Rücken meinen Laptop aus dem Rucksack. Geburtsurkunde und Co. hatte ich schlauerweise als Teil der Vorbereitung akkurat eingescannt und digital abgeheftet. Wie es sich für eine digitale Nomadin gehört. Kurzer Check. Kurzes Nicken. Kurzer Wink. Wir dürfen passieren. Letzter Blick zurück. Ab jetzt nur noch nach vorn.

Die Wartezeit am Gate kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Die ich jetzt aber irgendwie genießen kann. Wir haben alles geschafft. Von der Idee, die mich vor ein paar Monaten gepackt hat, über die Umsetzung bis zu genau diesem Moment. Mein neues Business läuft, unser altes Leben ist verstaut und das Abenteuer nur noch einen kleinen Gang entfernt.

Und auf einmal sitzen wir im Flugzeug nach Bali und können nicht mehr aufhören zu grinsen. Ein Jahr Abenteuer. Das sich beschleunigende Flugzeug drückt uns in die Rückenlehnen. Max’ Hand liegt in meiner, fest umschlungen. Das Flugzeug rollt immer schneller und immer schneller. Mein Herz ist kurz vor dem Herausspringen. Wir heben ab. Es geht los.

Tipps

Nicht lange überlegen, sondern machen

Die Zeit, in der Du mit den Vorbereitungen für eine längere Reise beginnst, ist verdammt stressig und oft von Zweifeln begleitet. Da heißt es: Nägel mit Köpfen machen, aka, so schnell es geht, Flüge organisieren. Der Moment ist aufregend, der Moment ist spannend, und der Moment ist angsteinflößend. Doch hast Du die Tickets für Dich und Dein Kind erst einmal gebucht, gibt es kein (günstiges) Zurück mehr. Die größte Entscheidung ist der Online-Klick. Was für eine Erleichterung. Jetzt schaffst Du auch den Rest. Whoop, whoop: Du wirst zusammen mit Deinem Kind auf Reisen gehen. Und Ihr startet bald. Sehr bald. Stoßt darauf an, freut Euch darauf. Es gibt nichts Schöneres.