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ÜBER DEN AUTOR

Mason Currey wurde in Pennsylvania geboren und studierte an der University of North Carolina. Seine Artikel erschienen in Zeitungen wie der New York Times oder Slate. Aus seinem beliebten Blog »Daily Routines« entstanden die Bücher der Musenküsse-Reihe. Er lebt in Los Angeles.

ÜBER DAS BUCH

Der neue Band der Musenküsse widmet sich ausschließlich Künstlerinnen. Wie finden sie zu Inspiration? Schreiben, malen oder komponieren sie jeden Tag, und wenn ja, wie lange und an welchem Ort? Suchen sie Ausgleich in der Ruhe oder im Exzess? Und: Wie vereinbaren die Frauen ihre kreative Tätigkeit mit den jeweiligen gesellschaftlichen oder familiären Erwartungen?

Kein & Aber

 

Für Rebecca

 

»Wie die Zeit nach und nach unser Äußeres verändert, so verändern Gewohnheiten unser Inneres, unser Leben; und man bemerkt es nicht einmal.«

 

Virginia Woolf, Tagebucheintrag vom 13.  April 1929

VORWORT

Dieses Buch ist gleichermaßen Fortsetzung wie Korrektiv. Im Jahr 2014 erschien auf Deutsch Musenküsse, eine Sammlung kurzer Abrisse des Arbeitsalltags von Schriftstellern, Dichtern, Malern, Komponisten, Philosophen und anderen großen Künstlern. Ein Jahr später folgte mit Mehr Musenküsse ein Band, der auch zahlreiche deutschsprachige Künstler beleuchtete. Ich freue mich sehr, dass diese Bücher eine Leserschaft aus gleichgesinnten Voyeuren des kreativen Prozesses gefunden haben, die sich dafür interessieren, dass Beethoven jeden Morgen genau sechzig Kaffeebohnen abgezählt hat, George Balanchine am besten beim Bügeln arbeiten konnte oder Maya Angelou umgeben von einem Wörterbuch, einer Bibel, einem Satz Karten und einer Flasche Sherry in einem »winzigen, unwirtlichen« Hotelzimmer. Heute ist mir jedoch klar, dass die beiden Bände einen eklatanten Fehler hatten: Von den insgesamt 176 porträtierten Persönlichkeiten waren nur 33 Frauen. Weniger als 19 % also.

Wie konnte ich diese Bücher bloß mit einem derart unausgewogenen Geschlechterverhältnis in den Druck gehen lassen? Darauf habe ich keine gute Antwort. Meine ursprüngliche Idee war es, die »klugen Köpfe« der westlichen Welt der letzten Jahrhunderte darzustellen, und ich meinte, der Erfolg des Buches würde sich aus der Gegenüberstellung von berühmten Namen und deren banalen Gewohnheiten speisen. Leider sind die bekanntesten Figuren der westlichen Literatur, Kunst und Musik nun einmal Männer. Die Tatsache, dass ich mir nicht mehr Mühe gegeben habe, die Geschichten von Künstlerinnen ausfindig zu machen, zeugt von einem erheblichen Mangel an Vorstellungsvermögen meinerseits, und ich bereue es zutiefst.

Dieser Band ist also ein verspäteter Versuch, das Geschlechterverhältnis auszugleichen; gleichzeitig soll es aber auch besser die Absicht hinter den ersten beiden Bänden widerspiegeln. Damals wollte ich nicht nur Ansammlungen wissenswerter Belanglosigkeiten für Intellektuelle zusammenstellen, sondern Lesern und Leserinnen helfen, die selbst mit kreativen Projekten kämpften, nicht genug Zeit oder die richtige Einstellung fanden. So ist es mir beim Schreiben oft ergangen, und deswegen war ich immer auf der Suche nach dem Erfolgsrezept anderer. Schrieben, malten oder komponierten die anderen jeden Tag, und wenn ja, wie lange, und um wie viel Uhr ging es bei ihnen los? Wie verdienten sie damit genug Geld, fanden ausreichend Schlaf und kümmerten sich noch um Familie oder Freunde? Und selbst wenn sie die logistischen Fragen gelöst hatten, das Wann, Wo und Wie lange, wie gingen sie mit den weniger greifbaren Problemen wie mangelndem Selbstvertrauen und Selbstdisziplin um?

Diesen Fragen wollte ich mich in den ersten beiden Bänden widmen. Aber wenn man sich auf berühmte, erfolgreiche Männer konzentriert, vergisst man schnell, dass deren Hindernisse häufig von treusorgenden Ehefrauen, Bediensteten, beachtlichen Erbschaften und – nicht zu vergessen – jahrhundertealten Privilegien größtenteils aus dem Weg geräumt wurden. Deswegen sind sie für die heutige Leserschaft nur bedingt hilfreich. Ihr Alltag, der aus fein säuberlich abgesteckten Arbeitseinheiten, Spaziergängen und Nickerchen bestand, wirkt oft wunderlich: Anscheinend mussten sie sich nie mit banalen Themen wie Geld, Essenszubereitung und zwischenmenschlichen Beziehungen belasten.

Mit einem Fokus auf Frauen eröffnen sich dagegen aufschlussreiche neue Perspektiven auf Frust und Kompromisse. Zugegeben, viele Frauen in diesem Buch stammen ebenfalls aus wohlhabenden Familien, und nicht alle mussten tagtäglich die Hindernisse des Alltags unter einen Hut bringen. Doch viele wuchsen in einer Gesellschaft auf, in der kreatives Schaffen von Frauen ignoriert oder abgelehnt wurde, und viele hatten Eltern oder Ehepartner, die sich entschlossen gegen ihre Versuche wehrten, mehr zu sein als nur Gattin, Mutter und Hausfrau. Viele hatten Kinder und mussten schwere Entscheidungen treffen, wenn es darum ging, die Bedürfnisse ihrer Schutzbefohlenen mit den eigenen Wünschen zu vereinbaren. Praktisch jede Einzelne war mit dem Sexismus des Publikums und den Hütern des beruflichen Erfolgs konfrontiert – Herausgeber, Verleger, Kuratoren, Kritiker, Gönner und andere Mächtige, die die Arbeit von Männern nun mal für überlegen hielten. Und damit sind noch nicht einmal die inneren Hindernisse von Künstlerinnen berücksichtigt: sämtliche Formen von Wut, schlechtem Gewissen und Verbitterung, die sich einstellen, wenn man sich seinen Platz in der Welt erkämpfen will.

Ich bin mir natürlich auch des Risikos bewusst, wenn ich Künstlerinnen und Künstler getrennt betrachte (vor allem als Mann!). Viele der Frauen, die ich hier porträtiere, waren es gewohnt, ihren Erfolg mit ihrem Geschlecht verknüpft zu sehen, und keine war sonderlich begeistert davon. Die Malerin Grace Hartigan etwa sagte gegenüber einem Reporter einmal: »Ich habe mich nie als ›weiblicher Künstler‹ gefühlt, und ich wehre mich gegen die Bezeichnung. Ich bin einfach Künstlerin.« Ich habe mir jedenfalls beste Mühe gegeben, die hier Versammelten genauso zu behandeln wie die Männer (und Frauen) in den ersten beiden Bänden. Die Porträts setzen sich aus Briefen, Tagebüchern, Interviews und Zeitzeugenberichten zusammen und sollen zeigen, wie sie tagein, tagaus ihre Arbeit erledigten.

Dennoch gibt es ein paar Unterschiede zwischen diesem Buch und seinen Vorgängern. Dort habe ich hauptsächlich Persönlichkeiten aufgenommen, deren Alltag ich vollständig rekonstruieren konnte. In diesem Band bin ich freier vorgegangen und schreibe auch über Künstlerinnen, die keinem geregelten Tagesablauf folgten – entweder, weil sie sich diesen Luxus nicht leisten konnten, oder weil sie keinen Wert darauf legten. Zudem nehme ich an, dass viele Leserinnen und Leser nicht mit den hier versammelten Namen vertraut sind. Alle spielten eine wichtige Rolle in ihrem Fach, nur manche von ihnen sind jedoch einem breiten Publikum bekannt. Daher gehe ich etwas näher auf ihre Biografien ein und stelle ihren Alltag in den Kontext ihrer Karriere.

Außerdem achte ich in diesem Band auch mehr auf die Familienverhältnisse. Der Nachwuchs stellte für zahlreiche Künstlerinnen die größte Herausforderung für ihr Zeitmanagement dar (dicht gefolgt von unselbstständigen und aufmüpfigen Ehepartnern), und um ihre alltägliche Realität abzubilden, muss ich darauf eingehen, wie sie ihre kreative Arbeit mit häuslichen Sorgen und Pflichten vereinbarten – sei es durch eine fanatische Arbeitseinstellung, geschickte Zeiteinteilung, strategische Vernachlässigung bestimmter Aufgaben oder eine Kombination der drei. Hoffentlich hilft es meiner Leserschaft außerdem besser dabei, die eigenen kreativ-logistischen Knoten zu lösen. Soweit möglich, war es meine Absicht, die täglichen Hindernisse dieser Frauen darzustellen und zu erklären, wie sie sie überwanden – sofern das der Fall war.

Damit will ich nicht den Eindruck erwecken, dass das Künstlerdasein nur aus freudloser Schinderei besteht. Auch wenn man sämtliche Reserven aufbringen muss, um der kreativen Arbeit Platz zu machen, ist sie doch oft befriedigend und erholsam. Dieser Zweischneidigkeit versuche ich mit dem vorliegenden Band gerecht zu werden – der Unmöglichkeit, »das Leben und das Projekt« miteinander zu vereinbaren, wie Susan Sontag es formulierte, ebenso wie der Unmöglichkeit, es nicht wenigstens zu versuchen. Während der Recherchen zu diesem Band geisterte mir immer wieder die Frage durch den Kopf, die Colette einst in Bezug auf George Sand gestellt hat: »Wie zum Teufel hat sie das geschafft?« Hier folgen nun vierundsechzig Versuche einer Antwort.

Coco Chanel

(1883–1971)

Chanel stammt aus ärmlichen Familienverhältnissen, verbrachte ihre Jugend im Waisenhaus und genoss nur sehr wenig Bildung. Trotz dieses schwierigen Starts ins Leben hatte sie mit dreißig ihren Namen zu einer weltbekannten Marke gemacht und war mit vierzig mehrfache Millionärin. Es überrascht wohl niemanden, dass die Arbeit ihr Leben war. Die Arbeit war auch ihre einzige Konstante. Ihre absolute Hingabe an die Marke Chanel machte sie zu einer beeindruckenden Businessfrau, für ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter war sie jedoch eine anspruchsvolle, manchmal fast unerträgliche Vorgesetzte. Ihre Biografin Rhonda K. Garelick schreibt, dass die Angestellten im Pariser Hauptgeschäft sich stets in einem Zustand »nervöser Anspannung« befanden. Garelick beschreibt Chanels Arbeitsalltag in Paris folgendermaßen:

Die Angestellten fingen um etwa acht Uhr dreißig mit der Arbeit an, Coco selbst war jedoch absolut keine Frühaufsteherin und tauchte meistens erst Stunden später auf. Wenn sie dann gegen ein Uhr erschien, wurde sie empfangen wie eine Generalin oder eine Königin. Sobald sie ihr Apartment im Ritz auf der anderen Straßenseite verlassen hatte, gaben die Hotelangestellten dort sofort im Büro in der Rue Cambon Bescheid. Ein Signal ertönte und ließ alle wissen: Mademoiselle ist unterwegs. Vor dem Eingang versprühte dann jemand etwas Chanel No. 5, damit Coco das Gebäude eingehüllt in eine Wolke ihres charakteristischen Dufts betreten konnte.

»Wenn sie dann das Studio betrat«, erinnert sich Fotograf Willy Rizzo, »erhoben sich alle wie Schulkinder, wenn die Lehrerin hereinkommt.« Man stellte sich in einer Reihe auf, die Hände an der Hosennaht – »wie beim Militär«, so die ehemalige Angestellte Marie-Hélène Marouzé.

Sobald sie im Büro war, begann Chanel sofort mit der Arbeit. Sie mochte weder Schnittmuster noch Schneiderpuppen und steckte ihre Stoffe stattdessen lieber stundenlang an lebenden Modellen fest, wobei sie eine Zigarette nach der anderen rauchte. Laut Garelick arbeitete sie »problemlos neun Stunden am Stück durch ohne etwas zu essen, ohne einen Schluck zu trinken, angeblich sogar ohne auf die Toilette zu gehen«.

Sie blieb bis spätabends im Büro und zwang ihre Angestellten, ebenfalls länger zu bleiben, servierte Wein und verwickelte sie in Gespräche, um so lange wie möglich ihre Rückkehr in das einsame, langweilige Hotelzimmer im Ritz hinauszuzögern. Sie arbeitete sechs Tage die Woche und konnte Sonn- und Feiertage nicht ausstehen. Einer Freundin vertraute sie einmal an: »Wenn ich ›Urlaub‹ nur höre, wird mir schon schlecht.«

Dorothy Parker

(1893–1967)

»Haben Sie Freunde, die vom Schreiben leben wollen, und möchten ihnen einen Gefallen tun, so wäre das Zweitbeste, ihnen ein Stilwörterbuch zu schenken«, soll Parker einst gesagt haben. »Das Erstbeste wäre natürlich, sie sofort zu erschießen, solange sie noch glücklich sind.«

Das meinte sie wohl nur zum Teil im Scherz, wenn überhaupt. Denn obwohl sie eine beliebte Autorin mit gutbezahlten Aufträgen von Vanity Fair und dem New Yorker war, hasste Parker den Schreibprozess und schaffte es oft nicht, ihre Artikel rechtzeitig abzugeben. Sie folgte eigentlich keiner bestimmten Schreibroutine, wenngleich sich in ihrer Arbeitsweise doch ein gewisses Ritual abzeichnete, ein Gerangel zwischen der widerstrebenden Autorin und ihrem Redakteur, das Marion Meade in ihrer Biografie Parkers folgendermaßen beschreibt:

Beinahe von Anfang an schien sie es sich zur Gewohnheit gemacht zu haben, mit ihren Artikeln in Verzug zu geraten. Freitags sollten die beim New Yorker vorliegen. Sonntagmorgens rief jemand von der Zeitung bei Dorothy an, woraufhin sie versicherte, die Kolumne sei fast fertig, es fehle nur noch der letzte Absatz, und versprach, sie innerhalb der nächsten Stunde abzuliefern. Über den Tag wiederholte sich dies noch einige Male. Nicht selten behauptete sie, den Artikel zerrissen zu haben, weil er so grottenschlecht gewesen sei. Und an diesem Punkt fing sie dann an zu schreiben.

»Bis aufs Schreiben macht mir alles Spaß.«

So lief es mit allen ihren Redakteuren. Bei The Saturday Evening Post erinnert sich einer von ihnen folgendermaßen: »Man sitzt herum und wartet darauf, dass sie beendet, was sie angefangen hat. Falls sie schon angefangen hat. Was höchstwahrscheinlich nicht der Fall ist.« Ein Redakteur beim Esquire sagte, das Schreiben sei für sie eine Qual. Manuskripte von ihr zu bekommen, sei in etwa vergleichbar mit einer Zangengeburt, und der Redakteur dabei Geburtshelfer. Parker verabscheute dieses Hin und Her ebenso sehr wie die Redakteure, doch ändern konnte sie es nicht. In einem Interview antwortete sie auf die Frage, was sie zum Spaß täte: »Bis aufs Schreiben macht mir alles Spaß.«

Zadie Smith

(*1975)

Über die Jahre betonte die in London geborene Romanautorin in Interviews immer wieder, sie schreibe nicht jeden Tag. Obwohl Smith es sich manchmal anders wünscht, schätzt sie doch die Tatsache, dass sie lediglich schreibt, wenn sie den inneren Drang dazu verspürt. »Ich glaube, das Bedürfnis zu schreiben muss dringlich sein«, sagte sie 2009, »denn sonst ist auch beim Lesen keine Dringlichkeit spürbar. Deshalb schreibe ich nur, wenn ich wirklich das Gefühl habe, schreiben zu müssen.« Doch selbst wenn sich dieses Gefühl einstellt, schreibt sie »sehr langsam«, sagte sie 2012, »und ich schreibe ständig alles um, jeden Tag, wieder und wieder … Ich lese jeden Tag alles noch einmal von vorne an und überarbeite es, bis ich zu der Stelle komme, an der ich aufgehört habe. Von dort aus schreibe ich weiter. Das ist fürchterlich mühsam und gegen Ende eines langen Romans quasi nicht mehr zu bewerkstelligen.«

Smith thematisierte außerdem die Schwierigkeiten, in einer Welt unendlicher digitaler Ablenkungsmöglichkeiten zu schreiben: In der Danksagung ihres Romans London NW dankt sie zwei Internetblocker-Softwares, Freedom und Self Control dafür, dass sie ihr »Zeit verschafft haben«. Sie nutzt keine sozialen Medien, besaß zumindest Ende 2016 kein Smartphone und hatte auch nicht vor, sich eines zuzulegen. »Ich habe einen Laptop, es ist also nicht so, als würde ich wie eine Nonne leben«, sagte Smith. »Aber ich checke eben auch nicht alle fünf Sekunden in meiner Hosentasche meine Mails.«

Frida Kahlo

(1907–1954)

»Ich hatte zwei Schicksalsschläge in meinem Leben«, sagte Kahlo einmal. »Der erste war, dass ich von einer Straßenbahn überfahren wurde. Der zweite war Diego.«

Kahlo heiratete 1929 den berühmten Wandmaler Diego Rivera, damals zweiundvierzig, im Alter von zweiundzwanzig Jahren. Vier Jahre zuvor hatte sie mit der Malerei angefangen, während sie sich von dem schlimmen Unfall erholte, bei dem sie einen Bruch an der Wirbelsäule erlitt und ihr die Hüfte und ein Fuß zerschmettert wurden. (Sie brachte sich das Malen während der langen Genesungszeit mithilfe einer extra angefertigten Leinwand selbst bei, die sie im Bett liegend benutzen konnte.) Im Verlauf der nächsten Jahre folgte sie Rivera nach San Francisco, Detroit und New York, wo er jeweils gutbezahlte Aufträge für Wandmalereien hatte. Kahlo perfektionierte in dieser Zeit ihren Malstil, sehnte sich jedoch stets zurück nach Hause.

1934 hatte sie Rivera schließlich überreden können, nach Mexiko-Stadt zurückzukehren, wo sich die beiden vom Architekten Juan O’Gorman im reichen Viertel San Ángel ein modernistisches Haus bauen ließen. Genau genommen waren es zwei Häuser, eins für Frida, eins für Diego, die mit einer Brücke von Dach zu Dach verbunden und ringsum von einer hohen Kakteenhecke eingefasst waren. In ihrer Biografie schildert Hayden Herrera den Alltag des Künstlerpaares:

Wenn zwischen den beiden Frieden herrschte, begann der Tag meistens mit einem ausgedehnten späten Frühstück in Fridas Haus, wo sie ihre Post durchgingen und besprachen, wer den Chauffeur benötigte, welche Mahlzeiten sie gemeinsam einnehmen würden und welche Gäste erwartet wurden. Nach dem Frühstück ging Diego in sein Atelier, manchmal machte er auch Ausflüge aufs Land, um dort Skizzen anzufertigen, und kam erst spätabends wieder. […] Manchmal begab sich Frida nach dem Frühstück ebenfalls in ihr Atelier, sie malte jedoch nicht jeden Tag, manchmal wochenlang gar nicht. […] Stattdessen ließ sie sich vom Chauffeur ins Stadtzentrum fahren und traf sich dort mit Freunden.

Eine ihrer Freundinnen, die schweizstämmige Künstlerin Lucienne Bloch, schrieb in ihr Tagebuch: »Frieda [sic] fällt ein geregelter Tagesablauf sehr schwer. Sie braucht einen genauen Plan, wie früher in der Schule. Wenn es dann aber losgehen soll, kommt immer etwas dazwischen und bringt ihr den Tag ihrer Meinung nach durcheinander.«

Die turbulente Beziehung zwischen Frida und Diego tat ihr Übriges. Die beiden wurden stets von Geldproblemen geplagt und betrogen einander immer wieder. Zu Riveras Eroberungen gehörte unter anderem Kahlos jüngere Schwester, zu Kahlos Leon Trotzki, der damals im mexikanischen Exil lebte.

Viele ihrer berühmtesten Gemälde entstanden in zwei sehr intensiven Phasen: in den Jahren 1937 und 1938 nach ihrer Affäre mit Trotzki, sowie 1939 und 1940 während der zeitweiligen Trennung und Scheidung von Rivera. (Nach etwa einem Jahr heirateten die beiden ein zweites Mal, Kahlo wohnte jedoch nie wieder in dem Haus in San Ángel, sondern lebte stattdessen in La Casa Azul, ihrem Elternhaus im Vorort Coyoacán.)

Auf Anraten von Rivera hin nahm Kahlo eine Anstellung an einer neuen Schule für experimentelle Malerei und Bildhauerei an, an der Kinder aus armen Verhältnissen kostenlos Kunstkurse besuchen konnten. Kahlo machte die Tätigkeit als Lehrerin sehr viel Spaß, aber früher oder später wurde es natürlich zu einer weiteren Ablenkung von ihrer eigentlichen Arbeit. In einem Brief aus dem Jahr 1944 beschreibt sie ihren Alltag als Lehrerin und Künstlerin:

Ich fange um acht Uhr an und bin um elf fertig. Ich brauche eine halbe Stunde von der Schule nach Haus = zwölf Uhr. Ich kümmere mich ein wenig um den Haushalt, um halbwegs »ordentlich« zu leben, sorge also dafür, dass Essen, saubere Handtücher, Seife im Haus sind und der Tisch gedeckt ist und so weiter und so fort = vierzehn Uhr. So viel Arbeit!! Ich esse etwas, dann die rituelle Waschung von Händen und Scharnieren (also Zähnen und Mund). Den Nachmittag habe ich frei und kann mich der wundervollen Kunst des Malens widmen. Irgendein Bild habe ich immer gerade in Arbeit, weil ich sie immer sofort verkaufen muss, sobald ich eins fertig habe, damit wir unsere Rechnungen bezahlen können. (Diego und ich kommen gemeinsam für die Fixkosten auf.) Abends muss ich einfach raus, ich geh ins Kino oder sehe mir irgendein dämliches Theaterstück an, dann wieder ab nach Hause und ins Bett fallen. (Manchmal kann ich nicht schlafen, dann gehts mir scheiß-tastisch!!!)

Während der Vierzigerjahre musste Kahlo sich als Folge ihres Straßenbahnunfalls mit unzähligen Erkrankungen herumschlagen. Insgesamt wurde sie über dreißig Mal operiert, und seit 1940 musste sie mehrere Korsetts aus Metall und Leder oder Gips tragen, um ihre Wirbelsäule zu stützen. Je mehr sich ihr Gesundheitszustand verschlechterte, umso schwerer fiel ihr auch das Malen. Mitte der Vierzigerjahre konnte sie weder für längere Zeit stehen noch sitzen. 1950 verbrachte die Künstlerin neun Monate im Krankenhaus, wo sie sich einer Knochentransplantation unterzog, die jedoch zu einer Entzündung führte, die wiederum mehrere Folgeoperationen nach sich zog. Kahlo nutzte die Zeit, so gut sie konnte, und griff auf die Leinwand zurück, mit der sie im Liegen malen konnte.

Wenn die Ärzte es erlaubten, malte sie vier bis fünf Stunden täglich. »Ich habe nie aufgegeben«, sagte Kahlo. »Ich habe immer gemalt, weil ich die ganze Zeit Demerol bekommen habe, das hat mir Kraft gegeben und mich bei Laune gehalten. Ich habe mein Gipskorsett bemalt und meine Bilder gemalt, ich habe mit den Ärzten herumgealbert, ich habe geschrieben, ich durfte Filme sehen. [Das Jahr] im Krankenhaus war eine einzige Fiesta. Ich kann mich nicht beklagen.«

Anna Pawlowa

(1881–1931)

»Am Tage der Aufführung bekommen die meisten Ballerinas keinen Bissen herunter«, erklärte die russische Primaballerina einmal. »Ich schon! Um fünf nehme ich eine Tasse Bouillon zu mir, ein Schnitzel und ein Cremedessert. Während des Auftritts trinke ich Wasser mit Brotkrümeln, was sehr erfrischend ist. Nach dem Ballett dusche ich so schnell wie möglich. Dann gehe ich zum Essen aus, denn zu dem Zeitpunkt plagt mich bereits schrecklicher Hunger. Zu Hause trinke ich Tee.«

So beschrieb Pawlowa ihre Zeit als Nachwuchsballerina. Mit der Zeit entwickelte sie sich zu einer der größten Tänzerinnen ihrer Ära, die im Mariinski-Theater tanzte sowie für kurze Zeit in Sergei Djagilews Ballets Russes. Auch war sie die erste Ballerina, die auf Welttournee ging und auf ihren Reisen nach Nord- und Südamerika, Neuseeland und Australien, Indien, China und Japan und in zahlreiche weitere Länder als eine Art Botschafterin ihrer Kunstform fungierte.

Wie ihr Ehemann und Manager Victor Dandré berichtete, wurde Pawlowas gesamtes Leben auf diesen Tourneen »von der Uhr diktiert, und nichts durfte ihrer Routine in die Quere kommen«. Die Tänzerin stand gegen 9 Uhr auf, um 10 Uhr war sie bereits im Theater, um ihre umfangreichen Aufwärmübungen zu absolvieren, zunächst am Barren, dann auf der Bühne. Dies dauerte anderthalb bis zwei Stunden, bis schließlich die Kompanie für die Probe dazukam. Um eins war die Probe beendet, und alle fuhren für das Mittagessen zurück in ihr Hotel. Danach blieb Pawlowa ein Zeitfenster von etwa dreißig Minuten, um sich eine Sehenswürdigkeit der Stadt anzuschauen, in der sie gerade gastierte. Anschließend ruhte sie sich etwa neunzig Minuten lang aus, bevor sie gegen 18 Uhr wieder ins Theater fuhr. Dann schminkte Pawlowa sich (sie trug ihr Make-up immer selbst auf) und legte eine Pause für die letzte Übungsrunde auf der Bühne ein. Schließlich zog sie Perücke und Kostüm an, beendete ihr Make-up und ertrug die letzten Momente voller Lampenfieber. »Bevor sie die Bühne betrat, befand sie sich immer in einem Zustand größter Erregung«, schreibt Dandré.

Anna Pawlowa bei der Berliner Aufführung von Der sterbende Schwan, 19081909

In der Pause zwischen den Akten wechselte Pawlowa, falls es nötig war, Kostüm, Perücke und Make-up, dann trank sie eine Tasse schwachen Tee. Zwischen den Akten empfing sie niemals Gäste in der Garderobe, doch war die Performance erst einmal vorbei, begrüßte sie dort gern die Besucher. Zurück im Hotel, nahm Pawlowa schließlich ein leichtes Abendessen zu sich, trank weiterhin Tee und verbrachte eine Stunde mit Lesen oder Konversation, bevor sie zu Bett ging. Diesen Ablauf hielt sie an jedem Vorführungstag ein, ohne Ausnahmen. »Die Menschen denken immer, wir [Ballerinas] pflegten einen frivolen Lebensstil. In Wahrheit wäre das gar nicht möglich«, sagte Pawlowa nach ihrer ersten Tour. »Wir müssen uns zwischen Frivolität und unserer Kunst entscheiden. Sie sind unvereinbar.«

Patti Smith

(*1946)

»Wenn ich nach dem Aufstehen schlecht drauf bin, mache ich erst mal ein bisschen Sport«, erzählte die Punksängerin, Künstlerin und Schriftstellerin im Jahr 2015. »Dann füttere ich meine Katze, nehme mir Kaffee und Notizbuch und schreibe ein paar Stunden. Danach stromere ich einfach umher, mache lange Spaziergänge und so, aber eigentlich schlage ich nur die Zeit tot, bis was Gutes im Fernsehen kommt.« Smith schreibt zu Hause, meist im Bett – »Ich habe einen schönen Schreibtisch, arbeite aber lieber im Bett«, schrieb sie einmal, »wie eine Genesende aus einem Gedicht von Robert Louis Stevenson« – oder in einem Café in der Nähe ihrer Wohnung in Manhattan. Was das Fernsehen angeht, so ist sie ein großer Krimifan, sie mag vor allem die düsteren Serien und zieht Parallelen zwischen deren launischen, besessenen Kommissaren und dem Schriftstellerleben: »Die Dichter von gestern sind die Detektive von heute«, schrieb Smith 2015 in ihrem Memoir M Train: »Sie haben einen Riecher für gute Zeilen und eine Nase für gute lines, lösen einen Fall und hinken dann erschöpft in den Sonnenuntergang. Sie unterhalten mich und geben mir Kraft.«