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Mia C. Brunner

Tödliche Klamm

Allgäu-Krimi

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Zum Buch

Tod in der Felsschlucht In den Voralpen wütet ein Jahrhundertunwetter. Als ein gewaltiger Erdrutsch in der Breitachklamm im idyllischen Oberallgäu eine verweste Leiche freilegt, stellt deren Identifizierung Hauptkommissar Florian Forster zunächst vor ein scheinbar unlösbares Rätsel. Niemand in der Gegend wurde zur fraglichen Zeit als vermisst gemeldet und auch die polizeiliche Datenbank liefert keine verwertbaren Hinweise. Wer ist die unbekannte Person und warum musste sie sterben? Seine Kollegin Jessica Grothe ermittelt währenddessen in einem schweren Verkehrsunfall. Hinweise legen nahe, dass ihre beiden Fälle miteinander zusammenhängen. Doch was hat der Unfall mit den sterblichen Überresten in der Felsspalte zu tun? Während die Ermittlungen nur sehr schleppend verlaufen, kommt Forsters ganz persönlicher Erzfeind ihm und seiner Familie wieder gefährlich nahe …

Mia C. Brunner wurde in Wedel in der Nähe von Hamburg geboren. Seit 15 Jahren lebt sie mit ihrem Mann und ihren zwei Töchtern im Allgäu. Waren es früher nur Kurzgeschichten, die sie für ihre Kinder schrieb, machte sie später ihre ersten Krimierfahrungen mit selbstverfassten Dinnerkrimis, in denen sie ihre Faszination fürs Schreiben und ihre Leidenschaft fürs Kochen verbinden konnte. Nach »Schattenklamm«, »Schonfrist« und »Tödliche Klamm« ist »Mordsklamm« ihr vierter Allgäu-Krimi im Gmeiner-Verlag.

 

Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:

Mordsklamm (2020)

Tödliche Klamm (2019)

Schonfrist (2017)

Schattenklamm (2016)

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © pencake / photocase.de

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6082-1

Haftungsausschluss

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

1

Kein einziges Auto kam ihm entgegen.

Die Dunkelheit des frühen Wintermorgens hätte etwas Friedvolles gehabt, wäre da nicht dieses tosende Unwetter gewesen, das die gesamte Region seit Stunden fest im Griff hatte.

Es stürmte, der Wind wütete und es regnete Bindfäden.

Die Tropfen prasselten unaufhörlich gegen die Windschutzscheibe und der Motor röhrte so laut, dass er die Musik seiner Lieblingsband nicht mehr hören konnte, obwohl er den kleinen schwarzen Drehknopf an dem alten Radio schon bis zum Anschlag aufgedreht hatte. Das Radio war bereits über 35 Jahre alt. Genau wie das Auto. Die alte rostige Karosserie des Kleintransporters bestand inzwischen fast nur noch aus Ersatzteilen, bunt zusammengewürfelt in den unterschiedlichsten Farben. Er hatte sich nie die Mühe gemacht, alles einheitlich neu zu lackieren. Der Motor aber war noch original. Eben echte deutsche Wertarbeit. Damals hatte man noch gewusst, wie man gute Autos baute. Deshalb behielt er den Wagen, den er vor Jahren von seinem Vater geerbt hatte. Er würde ihn um nichts in der Welt gegen eine dieser modernen Massenanfertigungen eintauschen. Er liebte seinen klapprigen Oldtimer.

In der Ferne, dort direkt vor den Bergen, blitzte es fast ununterbrochen. Dieses unberechenbare Wetter zusammen mit der unheimlichen Dunkelheit wären Anlass genug, den heftig von Windböen durchgerüttelten Wagen an den Straßenrand zu lenken und zu warten, bis die Weiterfahrt wieder sicher war.

Doch dann würde er zu spät kommen. Und das wäre unverzeihlich, denn eine weitere verpasste Chance konnte er sich einfach nicht leisten.

Mehr als 80 Stundenkilometer gab der Motor nicht her, egal wie fest er das Gaspedal durchtrat. Und jetzt, da die Straße leicht bergauf ging, bewegte sich die Tachonadel nur knapp über die 60, erlaubt waren 100.

Bis Kempten würde er in dieser Geschwindigkeit noch über eine halbe Stunde brauchen. Wenn sein neuer Chef sehr pingelig war und ihm die paar Minuten, die er zu spät kam, gleich vorhalten würde, wäre seine Probezeit vermutlich vorbei, ehe sie überhaupt angefangen hatte. Um 5 Uhr war Arbeitsbeginn und er wollte auf gar keinen Fall eine Viertelstunde später bereits wieder auf dem Heimweg sein, ebenso arbeitslos wie das halbe Jahr davor.

Konzentriert starrte er auf die Straße vor sich, trat das Gaspedal immer noch voll durch und war leicht beunruhigt, weil die alten und leuchtschwachen Scheinwerfer nur gut fünf Meter des Asphaltes vor dem Wagen erhellten. Der gelbe Lichtkegel drang einfach nicht durch den heftigen Regen, der wie ein schwerer dunkler Vorhang direkt vor seiner Windschutzscheibe zu hängen schien.

Ein Blitz schlug plötzlich krachend in einen großen Baum unweit der Straße ein und ließ ihn kurzzeitig lichterloh erglühen. Das grelle Licht und das augenblicklich folgende Donnergrollen ließen ihn erschrocken zusammenfahren. Beinahe hätte er das Lenkrad losgelassen, beinahe wäre der Wagen nach links ausgeschert, doch er fing ihn geschickt ab und seufzte erleichtert.

Das hätte böse enden können.

Er rieb sich beunruhigt mit der rechten Hand den Nacken, stellte aber schnell fest, dass er beide Hände am Lenkrad brauchte, um sein Auto in der Spur zu halten. Die Straße war nass und extrem rutschig, obwohl es seit zwei Tagen keinen Nachtfrost mehr gegeben hatte. Die Räder schlingerten gefährlich über die glitschige Fahrbahn. Gut war allerdings, dass es kein Eisregen war, der vom Himmel fiel, denn die nahezu profillosen alten Reifen taugten für so ein Wetter überhaupt nicht mehr. Dann hätte er mit dem Zug nach Kempten fahren müssen, und dann wäre er definitiv nicht pünktlich angekommen.

Plötzlich riss er voller Panik die Augen auf, starrte durch den Regen in die für einen kurzen Augenblick taghell aufleuchtende, doch dann wieder schwarze Nacht, riss das Lenkrad hart nach rechts und preschte den Abhang neben der Straße hinunter. Der alte Wagen rutschte erst und begann anschließend unkontrolliert zu schlenkern. Die Vorderreifen blockierten, als er jetzt mit beiden Füßen gleichzeitig aufs Bremspedal stieg und es mit aller Kraft nach unten drückte. Dann verlor er die Kontrolle über das heftig vibrierende Lenkrad und konnte nicht verhindern, dass der Transporter hart nach rechts ausscherte, ganz plötzlich die Richtung änderte und sich überschlug. Sein Kopf prallte gegen den Holm der Fahrertür, der Sicherheitsgurt vor seiner Brust brach ihm das linke Schlüsselbein und schnitt ihm tief in die Haut über seiner Schulter. Doch der Wagen kam einfach nicht zum Stehen. Das sich jetzt mehrmals überschlagende Auto schleuderte ihn erst zurück in den Sitz, dann mit voller Wucht gegen das Lenkrad. Die Windschutzscheibe brach im selben Moment wie seine Rippen. Herumfliegende Scherben zerschnitten ihm Hals und Gesicht.

Noch bevor der Transporter weit ab der Straße endlich zum Stehen kam, verlor er das Bewusstsein.

Hauptkommissar Kern blieb am Straßenrand stehen und beobachtete die Einsatzkräfte der Verkehrspolizei und die Sanitäter, die nach getaner Arbeit bereits wieder auf dem Weg zu dem am Straßenrand geparkten Krankenwagen waren.

In der Ferne hörte man das rhythmische Wummern der Rotorblätter des Rettungshubschraubers, der sich langsam entfernte. Es hatte endlich aufgehört zu regnen, nachdem in der Nacht ein Sturm gewütet hatte, der seinesgleichen suchte.

So ein heftiges Unwetter gab es in dieser Region nur alle paar Jahre.

In seiner direkten Nachbarschaft in Kempten waren einige Keller und Tiefgaragen vollgelaufen, weil das Kanalsystem unter den Straßen völlig überlastet war und die heruntergeregneten Wassermassen nicht mehr aufnehmen konnte. Wäre das alles Schnee gewesen und kein Regen, hätte man in den höher liegenden Alpendörfern den Notstand ausrufen müssen. So war nur hier und da eine Verbindungsstraße unterspült oder von einem Erdrutsch verschüttet worden.

Vorsichtig setzte Kern einen Fuß in das nasse Gras am Straßenrand und drückte mit der Spitze seines ausgetretenen Lederhalbschuhs prüfend in den aufgeweichten Boden. Dann trat er einen Schritt zurück und schüttelte heftig seinen Kopf.

»Sie gehen«, befahl er seiner jungen Kollegin, gestikulierte dabei wild mit dem rechten Arm und zeigte schließlich auf den alten Transporter, der etwa 30 Meter von der Straße entfernt im matschigen Ackerboden lag, gleich neben dem provisorischen Metallgerüst, das durch den Aufprall des Wagens komplett zerstört worden war. Die breite, mehrere Zentimeter tiefe Furche, die das von der Straße geschleuderte Auto in den aufgeweichten Boden gezogen hatte, hatte sich durch den Regen mit Wasser gefüllt.

»Na los, gehen Sie«, wiederholte er ungeduldig. »Vergewissern Sie sich, dass es ein Unfall war, dann ist der Bericht schnell geschrieben.«

Ihm war schleierhaft, was er hier sollte, schließlich war das ganz offensichtlich ein zwar tragischer, aber dennoch ganz normaler Verkehrsunfall. Doch sein Chef Hauptwachtmeister Götze hatte ihn hierhergeschickt, damit er herausfand, ob es sich um grobe Sachbeschädigung handelte. Schließlich war das Unfallfahrzeug geradewegs in eine geplante Baustelle eines ausländischen und sehr einflussreichen Logistikunternehmens gerast, das sich hier im Allgäu niederlassen wollte und über 300 Arbeitsplätze schaffen sollte. Das Fahrzeug hatte das Gerüst mit dem überdimensionierten Werbeplakat zerstört.

Die geplante Allgäuer Niederlassung der Firma wurde trotz der wirtschaftlichen Vorteile für die Region von der hiesigen Bevölkerung mehrheitlich abgelehnt. Schon seit Wochen gab es vereinzelt kleine Demonstrationen. Ein anonymer Drohanruf eines besorgten Bürgers im Sekretariat des Bürgermeisters vor ein paar Tagen, bei dem auch Morddrohungen ausgesprochen wurden, hatte die Staatsanwaltschaft und Hauptwachtmeister Götze schließlich veranlasst, Ermittlungen einzuleiten.

Jessica seufzte und stieg nach kurzem Zögern den Abhang hinunter. Schon nach wenigen Metern durchdrang die Feuchtigkeit ihre gefütterten Wildlederstiefel, die knöcheltief im Matsch versanken. Jeder ihrer Schritte machte ein schmatzendes Geräusch, immer dann, wenn sie ihren nassen Schuh aus der durchweichten Erde zog.

Heute war ihr dritter Tag im Dienste der Kemptener Kriminalpolizei.

Hauptwachtmeister Götze war anfangs nicht begeistert gewesen, dass ausgerechnet die ehemalige Freundin von Hauptkommissar Forster eine Bewerbung eingereicht hatte. Er hatte händeringend nach einem Ersatz für den Kollegen Jakob gesucht, der zum Ende des letzten Jahres in Rente gegangen war, doch hatte er Unruhe im Kollegium befürchtet. Jessica hatte ihn schließlich überzeugen können, dass sie und ihr Ex-Freund erwachsen genug waren, professionell mit der Sache umzugehen. Ihre Arbeit würde mit Sicherheit nicht unter ihrer Situation leiden. Jessicas Worte und die durchweg guten Empfehlungen ihrer ehemaligen Vorgesetzten aus Hamburg hatten den Hauptwachtmeister schließlich dazu veranlasst, Jessica einzustellen und an die Seite von Hauptkommissar Detlef Kern zu setzen. Er hatte ja auch kaum eine Wahl. Eine alleinerziehende Mutter hatte immer den größten Anspruch auf eine Stelle in Wohnortnähe und stach jeden männlichen Mitbewerber aus.

»Entschuldigen Sie bitte.« Jessica winkte einem entgegenkommenden Sanitäter zu und lächelte freundlich. »Können Sie mir sagen, wie es dem Fahrer des Transporters geht? Hauptkommissarin Grothe«, stellte sie sich schließlich vor und reichte dem jungen Mann ihre Hand. Gleichzeitig zückte sie ihren Dienstausweis und hielt ihn dem Rettungssanitäter so entgegen, dass er ihn lesen konnte.

»Was hat denn die Kriminalpolizei hier zu suchen?«, bemerkte dieser und sah sie verwundert an. »Das ist doch ein stinknormaler Unfall.« Dann zog er eine Schachtel Zigaretten aus seiner rechten Hosentasche, sah kurz zum Rettungswagen hinüber und schob die Schachtel seufzend wieder zurück.

Jessica legte den Kopf leicht schräg, schob die Hände in ihre Jackentaschen und schaute fragend in seine Richtung. Nichts zu erklären hatte in den meisten Fällen mehr Wirkung, als unnütze Fragen aus reiner Höflichkeit zu beantworten.

»Der Mann ist schwer verletzt«, begann der Sanitäter schließlich zu berichten und seufzte etwas genervt. »Keine Ahnung, ob er das überlebt. Das Lenkrad hat ihm sicherlich sämtliche Bauchorgane zerquetscht. Die Feuerwehr musste ihn mit der Flex aus dem Auto befreien. Er war regelrecht eingeklemmt. Nahezu alle Knochen des Mannes sind gebrochen. Schlüsselbein, Rippen, beide Beine mehrfach. Vermutlich schlimmste innere Verletzungen«, zählte er auf. »Wenn der noch mal aufwacht, dann grenzt das an ein Wunder.«

»Das hört sich schlimm an. Danke für die Auskunft«, bemerkte Jessica nur und ließ den jungen Mann einfach stehen. Jetzt würde sie noch einen Verkehrspolizisten oder einen Beamten der Spurensicherung ansprechen, der einigermaßen kompetent wirkte und ihr mit Sicherheit bestätigen konnte, dass das schlimme Unwetter schuld war an diesem schrecklichen Unfall und dass es sich keineswegs um einen Anschlag auf die Speditionsfirma handelte. Letzteres war selbstverständlich absoluter Quatsch. Der verunglückte Mann würde doch nicht sein Leben riskieren, um ein simples Baugerüst dieser Firma zu zerstören. Noch dazu wirkte das Gerüst um einiges stabiler als die alte Rostlaube, die einige Meter vor Jessica total zerstört auf der Seite lag, begraben unter dem riesigen Werbeschild.

»Frau Grothe, warten Sie.« Der junge Sanitäter hinter ihr griff nach ihrem Arm, bekam aber nur den Stoff ihres Mantels in die Finger. »Mir ist da noch etwas eingefallen.«

»Was denn?«, polterte Jessica etwas zu rüde. Sie mochte es gar nicht, wenn man sie ungefragt anpackte, fuhr herum und entriss ihm wütend ihren Arm.

Der Sanitäter hob entschuldigend beide Hände und zuckte schließlich bedauernd mit den Schultern. »Das Unfallopfer war zweimal für wenige Sekunden ansprechbar, was wirklich schon ein Wunder war«, begann er und zuckte erneut entschuldigend mit den Schultern. »Ich habe ihn gefragt, wie er heißt, doch er hat immer nur gesagt, er hätte Jesus überfahren. ›Der Herrgott möge mir vergeben, ich habe Jesus getötet‹, hat er gestammelt. Merkwürdig, oder?« Er lächelte und hob zum Abschiedsgruß die Hand. »Das Morphin hat wohl recht schnell gewirkt und ihn halluzinieren lassen.«

Wenig später ließ sich Jessica von einem Beamten der Spurensicherung die Personalien des Unfallopfers geben. Nachdem sie in Ermangelung eines Taschentuchs mit dem linken Jackenärmel ihres Mantels den Schlamm vom Kennzeichen gewischt hatte, tippte sie neben den Personalien auch die Buchstaben und Zahlen des Nummernschilds in das Notizbuch ihres Smartphones.

»Gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass der Fahrer absichtlich in das Baugerüst gefahren ist?«, fragte sie schließlich, schob das Telefon zurück in die Innentasche ihres Mantels und schlang die Arme um den Oberkörper, anstatt die Jacke zu schließen. Jetzt, Anfang Februar, war es zwar nicht mehr so frostig wie den ganzen Januar über, und auch der Schnee war bereits seit einer Woche weggetaut, doch es war immer noch empfindlich kalt.

»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst, oder?«, fragte der junge Beamte ungläubig. »Ist die Kripo etwa hier, weil ein Anschlag vermutet wird?«

»Ich mache nur meinen Job.« Jessica sah den jungen Mann streng an. »Die Staatsanwaltschaft hat Ermittlungen gegen unbekannt eingeleitet aufgrund diverser Kleinststraftaten gegen den Konzern, der sich genau hier ansiedeln will. Ist wohl eine politische Entscheidung, mit der nicht jeder einverstanden ist. Immerhin will die Region die Arbeitsplätze und die Steuereinnahmen. Der gemeine Bürger allerdings will das wohl nicht.«

»Die ganzen Demos, ja, verstehe.« Der Beamte nickte. Dann wies er mit ausgestrecktem Arm in Richtung Fahrbahn. »Der Wagen ist dort von der Straße abgekommen«, erklärte er. »Meiner Meinung nach würde niemand in diesem Winkel von der Straße fahren, wenn er das Baugerüst rammen wollte. Mal abgesehen von dem schlechten Wetter, dem aufgeweichten Boden und der schlechten Sicht«, jetzt hob er auch den zweiten Arm, hielt den einen parallel zur Straße und den anderen in Richtung des Unfallfahrzeuges, »würde niemand im rechten Winkel von dieser Straße herunterfahren, wenn er größtmöglichen Schaden anrichten wollte. Da würde der ganze Schwung abhandenkommen und der Wagen viel zu schnell an Geschwindigkeit verlieren. Und das Werbeplakat ist ja auch nicht beleuchtet. Man sieht es nachts von der Straße aus gar nicht.« Er schüttelte den Kopf.

»Die Unfallursache ist also einzig und allein auf die schlechten Wetterbedingungen zurückzuführen«, schloss Jessica und rieb sich mit dem Handrücken ihre eiskalte Nase. Auch ihre inzwischen komplett nassen Füße schmerzten bereits vor Kälte. Sie wollte unbedingt von dieser feuchten Wiese herunter.

»Der Fahrer hat in jedem Fall das Lenkrad bereits auf der Straße spontan herumgerissen. Ob er während der Fahrt eingeschlafen ist, einen Herzinfarkt hatte oder einem entgegenkommenden Fahrzeug ausgewichen ist …« Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Das kann uns wohl nur der Fahrer selbst beantworten.«

Das leise Brummen des Laptops vor ihr machte sie wahnsinnig.

Der Bericht zum tragischen Unfall auf der Bundesstraße war schon lange getippt, und doch mochte sie den Fall nicht abschließen, indem sie den kurzen Text abspeicherte, ausdruckte und ihrem Kollegen Kern zur Unterschrift vorlegte.

Auf der Fahrt zurück zum Präsidium hatte Jessica Hauptkommissar Kern von allen Erkenntnissen berichtet, ihm erzählt, dass sie vorhatte, das Nummernschild und die Personalien noch einmal zu überprüfen und den endgültigen Bericht der Spurensicherung abzuwarten, bevor sie den Fall abschlossen. Doch ihr Vorgesetzter wollte von der ganzen Angelegenheit nichts wissen. Für ihn war die Sache klar. Es war ein dem Unwetter geschuldeter Unfall. Die zuständigen Beamten der Verkehrspolizei würden sich um den Rest kümmern. Damit brauchte sich die Kripo nun wirklich nicht herumschlagen.

Dieses Büro, das sie sich mit Hauptkommissar Kern teilte, war größer als alle anderen hier im Präsidium und lag im obersten Stockwerk des Gebäudes, mit einer herrlichen Aussicht über die Innenstadt. Auf dieser Etage war es das einzige Arbeitszimmer. Daneben gab es ein Badezimmer und drei Lagerräume, in denen ausgediente Schreibtische, alte Computerbildschirme und allerlei unwichtiger Kram aufbewahrt wurden, der eigentlich längst auf den Müll gehörte. Doch beschweren wollte sich Jessica nicht. Kerns Büro war perfekt gelegen, ruhig und absolut ohne jeden menschlichen Durchgangsverkehr. Hier hatte man wirklich seine Ruhe.

Leider stand ihr Schreibtisch etwas versteckt in einer Nische direkt neben der Tür. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster und starrte stattdessen auf eine hellgrau gestrichene Betonwand. Der Schreibtisch ihres Kollegen Kern allerdings dominierte den ganzen Raum, indem er zentral und leicht schräg mitten im Zimmer stand, nur einen modernen Aktenschrank hinter sich und mit der atemberaubenden Aussicht durch das große Fenster ideal platziert.

»Kurz und knapp formuliert. Perfekt«, lobte Kern, der urplötzlich hinter ihr stand und ihr über die Schulter sah. »Ausdrucken und rüberbringen.« Er schlich zurück zu seinem Schreibtisch und ließ sich in den neuen Lederstuhl fallen, den er erst gestern geliefert bekommen hatte. Hauptwachtmeister Götze hatte das Teil nach langem Ringen schließlich genehmigt, nachdem Kern ihm wiederholt ein Attest seines Hausarztes vorgelegt hatte, der die Rückenschmerzen des Beamten auch auf die unsachgemäße Haltung beim Sitzen zurückführte und einen orthopädisch unterstützenden Stuhl vorschlug. Jessica vermutete als Ursache für seine schmerzende Wirbelsäule allerdings eher seine gut 20 Kilo Übergewicht und seine Unsportlichkeit. In den dritten Stock kam er nur sehr langsam und schwer nach Atem ringend.

Kerns alter Stuhl stand jetzt nebenan in einem der Lagerräume. Er seufzte zufrieden und strich fast liebevoll über die weichen Armlehnen, bevor er sich zurücklehnte und selig die Augen schloss.

Unter ihrem eigenen Schreibtisch strichen ihre nackten Füße vorsichtig über den rauen dunkelgrünen Teppich. Jessica überlegte kurz, ob sie ihre nassen Stiefel wieder anziehen sollte, bevor sie aufstand, entschied sich dann aber dagegen. Ihre Schuhe und Socken waren nach dem morgendlichen Ausflug über die feuchtkalte Wiese so nass, dass sie jetzt unter der Heizung vor dem Fenster standen beziehungsweise über ihr hingen. Der Heizkörper lief zwar auf Hochtouren und es war fast unerträglich warm hier im Büro, doch vermutete Jessica, dass die Stunden bis zum Feierabend nicht ausreichen würden, um die Feuchtigkeit komplett zu trocknen, vom Dreck ganz zu schweigen. Ihre schönen neuen Stiefel waren ruiniert.

Also lief sie barfuß und mit bis zum Knie hochgekrempelter Hose zum Drucker hinüber, der auf einem kleinen Tischchen in einer Zimmerecke stand, und wartete geduldig, bis der Bericht ratternd und brummend aus dem Gerät glitt. Sie nahm die Zettel, ging zu Kerns Tisch, platzierte die Papiere direkt vor ihrem Kollegen auf der ledernen roten Schreibunterlage und stellte zum wiederholten Male fest, dass sie noch nie so einen aufgeräumten Schreibtisch gesehen hatte. Auch keiner ihrer ehemaligen Hamburger Kollegen war derart ordentlich wie Hauptkommissar Kern. Außer vielleicht Wolfgang, ihr verstorbener Schwager.

Es klopfte.

Noch bevor Hauptkommissar Kern die Augen geöffnet hatte, schwang die Tür auf und Hauptkommissar Forster stürzte in den Raum, blieb abrupt stehen, als er Jessica erblickte, und hielt erschrocken die Luft an.

Er räusperte sich und hob etwas unbeholfen die rechte Hand, doch Jessica konnte nicht deuten, ob er grüßen oder sich die Augen reiben wollte, denn jetzt hatte er ihre nackten Füße entdeckt und starrte sie ungeniert an.

»Grüß Gott, Herr Forster«, mischte sich Kern belustigt ein. »Was gibt’s? Ist lange her, dass Sie sich in mein Büro bemüht haben.«

Florian riss sich vom Anblick der Füße seiner Ex-Freundin los und schaute jetzt zu Kern. In seinem Gehirn überschlugen sich die Gedanken. Als er den Mund öffnete, um etwas zu sagen, bekam er keinen Ton heraus.

»Ähm«, räusperte er sich schließlich erneut, rieb sich nervös mit der linken Hand den Nacken und griff mit der rechten bereits wieder nach dem Türgriff. »Entschuldigung – falsche Tür.« Er verließ den Raum genauso hektisch, wie er ihn betreten hatte. Hinter ihm schlug die Tür krachend ins Schloss.

»Hauptwachtmeister Götze hat mich ja bereits vorgewarnt«, bemerkte Kern amüsiert. »Forster hat heute seinen ersten Arbeitstag nach seinem Urlaub. Der arme Kerl hat vermutlich gerade erst erfahren, dass seine Verflossene jetzt seine Kollegin ist.«

»Tut mir leid«, sagte Jessica und wusste doch nicht, wofür sie sich eigentlich entschuldigte.

»Kein Problem.« Kern schickte Jessica mit einer Handbewegung wieder auf ihren Platz an ihren kleinen Schreibtisch, lehnte sich in seinem rückenschonenden Sessel zurück und schloss erneut die Augen. »Ich hoffe nur, so etwas passiert jetzt nicht alle naslang. Ich hab hier oben nämlich gern meine Ruhe.«

»Ich hab gedacht, du weißt es, Chef.« Berthold sah bedrückt aus. So zusammengesunken, wie er auf dem Stuhl vor Hauptkommissar Forsters Schreibtisch saß, wirkte er trotz seiner immensen Körpergröße von 2,10 Meter beinahe klein und zerbrechlich. »Hat Hauptwachtmeister Götze denn nichts erzählt?«

»Götze hat überhaupt nichts gesagt, verdammte Scheiße«, fluchte Florian und ließ sich hinter dem Schreibtisch auf seinen Bürostuhl fallen.

Er hatte sich benommen wie ein Trottel eben im Büro vom alten Kern. Natürlich wusste er, dass das Kommissariat einen Nachfolger für den Kollegen Jakob gesucht hatte. Florian hatte insgeheim schon befürchtet, Götze würde Berthold an die Seite von Kern setzen und ihm selbst dann einen neuen Anfänger zuordnen. Florian wusste, dass Hauptwachtmeister Götze die Frischlinge ungern an die Seite der ältesten Beamten im Dezernat setzte. Doch diese Angelegenheit hatte sich ja jetzt erledigt. Götze hatte Jessica eingestellt, keinen blutjungen Anfänger.

Florian massierte sich mit den Fingern die Schläfen, doch diese Aktion beruhigte ihn gar nicht.

Er war wie ein Vollidiot ins oberste Stockwerk gerannt, um sich zu vergewissern, ob es wirklich stimmte, ob Jessica wirklich ihren Job bei diesem Anwalt aufgegeben hatte, um in ihren alten Beruf zurückzukehren.

Doch warum hier? Warum ausgerechnet in seinem Revier?

Sie hatte sich nach ihrem unverschämten Geständnis im letzten Spätsommer komplett in Luft aufgelöst. Zuerst hatte sie ihren Handyvertrag gekündigt, sodass seine zahlreichen Versuche, sie zu erreichen, ins Leere gelaufen waren. Kurz darauf war sie aus dem Reihenhaus ausgezogen und er hatte sie und die zwei Kinder ihrer Schwester, die bei ihr lebten, weder über das Einwohnermeldeamt noch über ihren kleinen Sportwagen und das Straßenverkehrsamt ausfindig machen können. Der Wagen war abgemeldet. Die Nachmieter im Reihenhaus bestätigten ihm zwar, dass Jessica immer noch Eigentümerin des Hauses war, dass sie aber nur eine Postfachadresse von ihr hatten. Er hatte versucht, von irgendeinem Staatsanwalt den Wisch zu bekommen, um bei der Post die Meldeadresse für das Schließfach zu erfahren, doch auch hier hatte er keinen Erfolg gehabt. Ihren Job hatte sie gekündigt und Florian hatte zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal gewusst, ob sie überhaupt noch in Kempten war. Dann hatte er ewig Christian Hanke hinterhertelefoniert, dem Mann, mit dem Jessica ihn betrogen hatte. Doch das Arschloch, das ihm wochenlang vorgegaukelt hatte, er wäre ein guter Freund, war einfach nicht erreichbar gewesen.

Alles, was Florian wollte, war eine Erklärung. Er hatte nichts bemerkt. Alles war wie immer gewesen, und plötzlich – wie aus dem Nichts – hatte sie die Beziehung beendet und war untergetaucht. Er verdiente eine Erklärung. Das war sie ihm schuldig.

Verdammt noch mal, ja. Sie war ihm das schuldig.

Seit Ende November kannte er ihre neue Adresse. Warum er nicht früher daran gedacht hatte, sich bei der Schule zu informieren, die Svenja besuchte, wusste er nicht. Als er vor dem Mietshaus stand, in dem seine Ex-Freundin mit den zwei Kindern jetzt wohnte, und er nur fremde Namen auf den Klingelschildern entdeckte, hatte er beschlossen, endlich einen Abschluss zu finden, endlich die Sache auf sich beruhen zu lassen. Sie wollte ihn nicht mehr sehen und er würde ihr nicht mehr hinterherlaufen.

»Denkst du an den Termin bei der Sicherheitsfirma, Chef?«, erinnerte ihn Berthold und lächelte ihm etwas mitleidig zu. »Wir haben nur noch 20 Minuten.« Er tippte sich auf sein Handgelenk, so als würde er eine Armbanduhr tragen, die ihn vor dem Zuspätkommen warnte, stand auf und ging zur Tür.

»Ja, klar.« Florian rieb sich mit beiden Händen das Gesicht und erhob sich ebenfalls. »Hast du die Unterlagen von der Staatsanwaltschaft?«

2

Sie öffnete die Glastür zum kleinen halbrunden Balkon im ersten Stock, trat hinaus ins helle Sonnenlicht und atmete tief durch. Der Himmel war klar, ohne jede Wolke, und die Sonne wärmte ihr Gesicht. Eine leichte Brise wehte und bewegte den Saum ihres dünnen Seidenmorgenmantels. Die winterliche Februarkälte kroch langsam ihre Beine hinauf und ließ sie frösteln, doch das helle Licht in ihrem Gesicht war so angenehm, dass sie noch einige Minuten ausharrte, bevor sie ins Schlafzimmer zurücktrat und die Tür wieder schloss.

Heute war einer der guten Tage. Heute fühlte sie sich nicht erschöpft und müde, sondern ausgeruht und innerlich von einem Frieden erfüllt, den sie schon lange nicht mehr gespürt hatte. Und sie hatte Appetit. Auf Rührei und Speck. Und Kaffee.

Die große breite Steintreppe ins Erdgeschoss hatte sie schon so viele Wochen nicht mehr betreten, dass sie an der obersten Stufe zuerst zögerte, doch dann mit einem Lächeln im Gesicht und erhobenen Hauptes hinunterschritt, als wäre sie eine Königin.

Der Eingangsbereich war groß und die überdimensionierten Fenster ließen eine solche Flut an Licht in den Raum, dass sie die Augen zukneifen musste. Ihr Zimmer im oberen Stock war seit Wochen dunkel, die schweren Vorhänge immer verschlossen.

»Luise?«, rief sie und wunderte sich selbst über ihre feste, klare Stimme. Kein Halsweh, keine Heiserkeit.

»Frau Wiedemann.« Die kleine rundliche Luise erschien in der Tür zum Salon und schaute sie erschrocken an. »Verzeihen Sie bitte, ich dachte, Sie schlafen noch. Ihr Tee ist gleich fertig.«

»Heute keinen Tee, Luise. Haben wir Eier und Speck im Haus? Ich habe so sehr Appetit auf etwas Deftiges. Und vielleicht einen Kaffee.«

Luise zögerte, betrachtete die Hausherrin zweifelnd, nickte dann aber ergeben und begab sich in die Küche.

»Ist mein Mann schon in seiner Praxis?« Frau Wiedemann war Luise in die Küche gefolgt und setzte sich jetzt an den kleinen Tisch vor dem Fenster, der den Blick in den großen gepflegten Garten freigab. Selbst jetzt im Winter wirkte er aufgeräumt und lud zum Verweilen im Freien ein. Vielleicht würde sie später einen kleinen Spaziergang zu der großen Eiche am Grundstücksende machen.

»Ich serviere Ihnen das Frühstück im Salon, Frau Wiedemann. Ich bin gleich fertig.« Luise beeilte sich, Schüsseln und Pfannen bereitzustellen und die Eier und den Speck aus dem Kühlschrank zu holen. Die Kaffeemaschine lief bereits.

»Nein, nein. Hier ist es viel schöner, Luise. Stellen Sie es einfach hier auf den Tisch.«

»Alexander Richter«, stellte der schlanke Mann in der schwarzen Uniform sich höflich vor und reichte der Dame an der Tür seinen Dienstausweis. »Richter Security, wir sind für die Sicherheit in diesem Haus verantwortlich und würden gern mit Ihnen oder Ihrem Mann sprechen.«

»Herr Dr. Wiedemann ist nicht im Haus. Ich bin nur die Haushälterin. Ich weiß nicht …«, stammelte sie unsicher und verstummte dann. Die drei Männer vor der Tür machten sie nervös. Hinter Herrn Richter von der Sicherheitsfirma standen noch ein Polizeibeamter in Uniform und ein Mann in Zivil mit Jeans und schwarzer Lederjacke. Alle drei lächelten freundlich.

»Ist Frau Wiedemann denn im Hause?«, fragte Herr Richter jetzt und spähte an der kleinen dicken Frau vorbei in den Flur der Villa. »Es gibt da einige Unstimmigkeiten und ich würde gern wissen, wie Richter Security damit umgehen soll. Immerhin geht es um Ihrer aller Sicherheit.«

»Ja, gut. Aber könnten Sie nicht wiederkommen, wenn Dr. Wiedemann da ist? Wir erwarten ihn am Nachmittag.« Luise schob die Tür etwas weiter zu und versperrte den schmalen Durchlass mit ihrem imposanten Körper. »Herr Dr. Wiedemann schätzt es gar nicht, wenn fremde Besucher in seinem Haus sind, während er nicht anwesend ist.«

»Verstehe.« Richter nickte und lächelte wieder entwaffnend. »Doch die Angelegenheit ist äußerst dringend. Ich habe mir sogar erlaubt, zwei Beamte der Kripo mitzubringen, da wir vermuten, dass gestern Abend bei Ihnen eingebrochen worden ist. Wir haben schon die Außenanlage begutachtet und würden jetzt auch gern einen Blick ins Haus werfen. Können wir bitte mit Frau Wiedemann sprechen?«, wiederholte er sein Anliegen, legte die Hand auf die schwere Eingangstür und drückte vorsichtig dagegen. Hauptkommissar Florian Forsters Hand legte sich von hinten auf seinen Arm und zog ihn von der Tür weg.

»Wir haben wirklich nur ein paar kurze Fragen und vermutlich handelt es sich um ein Missverständnis«, mischte sich jetzt Florian ein und hielt der Dame einen Zettel entgegen. »Dieses Schreiben erlaubt uns, Haus und Garten zu untersuchen. Die Vorfälle der letzten Nacht haben einen Staatsanwalt veranlasst, einen Durchsuchungsbeschluss zu unterschreiben. Das zeigt doch die Dringlichkeit unseres Anliegens. Bitte lassen Sie uns rein.«

Die kleine Dame biss sich nervös auf die Unterlippe, trat dann zurück und ließ die drei Herren eintreten.

»Warten Sie bitte in der Bibliothek.« Sie wies mit der Hand zur linken Seite, vergewisserte sich, dass alle drei Männer den Raum neben der Steintreppe betraten und beeilte sich dann, ihrer Arbeitgeberin vom Besuch zu berichten.

Im Vergleich zum Eingangsbereich mit der breiten Marmorempore und der schweren Steintreppe wirkte dieser Raum beinahe erdrückend klein. Außerdem war er dunkel. Die wandhohen Bücherregale aus massivem Nussbaumholz waren über und über mit dicken Wälzern bestückt. Klassiker der Weltliteratur in edlen Einbänden aus Leder mit goldenen Verzierungen reihten sich an moderne Literatur, eine ganze Reihe Bibeln in unterschiedlicher Ausführung und medizinische Fachliteratur. Ein kleiner Kamin war neben der Tür in die Wand eingelassen und zwei Ohrensessel standen davor. Das einzige Fenster war mit dunklen Vorhängen aus dichtem Stoff behangen und ließ nur mattes Licht von draußen in das Zimmer. Direkt vor dem Fenster stand ein kleines Kaffeetischchen mit zwei samtbezogenen Stühlen.

Kommissar Berthold Willig stand fasziniert vor dem hohen Regal und fuhr mit dem Zeigefinger ehrfurchtsvoll über die mit Gold eingelassenen Lettern einer alten Sonderausgabe von Shakespeares »Hamlet«.

»Damit ich das wirklich richtig verstehe, Alex«, begann Florian und ließ sich auf einem der Sessel vor dem Kamin nieder. »Ihr habt festgestellt, dass die Alarmanlage für über zwei Stunden ausgeschaltet war und jemand um das Haus geschlichen ist, aber keines der Fenster ist beschädigt und die Haustür wurde ganz normal mit einem Haustürschlüssel geöffnet.«

»Zweimal. Einmal um etwa 3 Uhr morgens und einmal um kurz nach 5 Uhr«, bestätigte Alexander Richter, schob den schweren Vorhang beiseite und schaute in den Vorgarten. »Wir betreuen dieses Haus seit drei Jahren. Es ist noch nie vorgekommen, dass die Alarmanlage so lange aus war. Normalerweise schaltet sich das Gerät nach geraumer Zeit eigenständig ein, damit uneingeschränkter Schutz auch dann besteht, wenn man das manuelle Aktivieren einmal vergessen sollte. Man muss diese Funktion durch eine besondere Tastenkombination und einen Schlüssel unterdrücken, wenn die Anlage dauerhaft deaktiviert bleiben soll. Vor einem Jahr«, fuhr er fort, »war im ganzen Stadtviertel Stromausfall und selbst in so einem Fall bezieht die Anlage ihre Energie über ein Notstromaggregat und bleibt aktiviert.«

Florians nächste Frage erübrigte sich also. Er hatte vermutet, dass der heftige Sturm von letzter Nacht vielleicht für den Ausfall der Sicherheitsanlage verantwortlich gewesen war.

Florian kannte Alexander Richter bereits seit fast 20 Jahren. Sie hatten als Jugendliche im selben Fußballverein trainiert, bis Alexander als junger Erwachsener in den damals noch recht unpopulären, neu gegründeten Rugbyverein gewechselt war. Heute trainierte er ehrenamtlich den Kemptener Rugbynachwuchs.

»Und einen Schlüssel zu dem Haus und den Geheimcode für die Alarmanlage haben nur die Wiedemanns?«

Alexander Richter setzte sich auf den zweiten, noch freien Ohrensessel und nickte.

»Das Ehepaar Wiedemann, die Haushälterin Luise Kramer und wir natürlich, Richter Security, also ich und meine vier Mitarbeiter«, zählte der Sicherheitsbeamte auf.

In diesem Moment hörten sie jemanden an der Eingangstür.

Kommissar Willig hob alarmiert den Kopf und starrte durch den Spalt in der Tür in den Flur, Richter sprang auf und lief zum Fenster, um hinauszusehen. Hauptkommissar Forster erhob sich etwas langsamer, ging zur Tür, schob sie mit dem Fuß etwas weiter auf und schaute ebenfalls in den Flur.

Vor der Haustür fiel ein Schlüsselbund scheppernd auf die Granitfliesen, jemand fluchte. Sekunden später wurde die Haustür aufgeschlossen und ein Mann in einem dicken Wintermantel und mit etwas schütterem dunkelbraunem Haar stürmte in den Eingangsbereich, sah sich hektisch um und rief nach der Haushälterin. Dann drehte er sich um und gab routiniert die Tastenkombination am Display neben der Tür ein, um den ansonsten folgenden Alarm zu deaktivieren.

»Herr Dr. Wiedemann?« Florian trat aus dem Schatten der dunklen Bibliothek, gefolgt von Berthold Willig und Alexander Richter, und hielt seinen Dienstausweis in die Höhe. »Kripo Kempten, mein Name ist Hauptkommissar Forster.«

»Oh Gott«, rief der Hausherr entsetzt, schlug die Hände über dem Kopf zusammen und ging dann auf den Beamten zu. »Ist etwas mit meiner Frau? Ist Monika etwas passiert? Um Gottes Willen.«

Noch bevor Florian verneinend den Kopf schütteln konnte, sah er im Augenwinkel eine Frau die steinernen Stufen herunterkommen.

»Keine Panik, Schatz«, begrüßte Monika Wiedemann ihren Gatten. »Mir geht es sehr gut.« Dann nickte sie den drei Herren zu, die vor der massiven Eichenholztür zur Bibliothek standen und zu ihr hinaufsahen. »Guten Tag, die Herren.«

Das Bild, das diese Frau bot, erschütterte Florian so sehr, dass er sich anfangs nicht von ihrem Anblick losreißen konnte. Ihr Alter war schwer einzuschätzen. Ihre Haut war dermaßen blass und dünn, dass die Adern an Händen und Hals deutlich als dunkle Linien zu erkennen waren. Das Haar hing stumpf und wasserstoffblond an ihrem Kopf herunter und reichte bis zu ihren Schultern. Durch die helle Bluse aus edlem, zartem Stoff sah man deutlich Schulterknochen und Schlüsselbeine hervorstechen. Ihr ganzer Körper war so dünn und gebrechlich, dass Florian sich kaum vorstellen konnte, woher sie die Kraft nahm, auf eigenen Füßen zu stehen. Er bemerkte, wie auch ihr Ehemann sie entsetzt anstarrte, als sie die Treppe hinunterschwebte, lautlos und unheimlich wie ein Geist, beinahe durchsichtig.

Dr. Wiedemann lächelte jetzt und lief seiner Frau entgegen. »Dir geht es besser. Schön«, sagte er und nahm sie in seine Arme.

»Kommst du jetzt schon aus der Praxis?«, fragte sie und wirkte verwundert.

»Ich war in Frankfurt, Moni, das habe ich dir doch erzählt. Ich bin vor drei Tagen gefahren. Das Klassentreffen«, half er ihr auf die Sprünge, doch Frau Wiedemann schüttelte nur langsam den Kopf.

Dann sah sie entschuldigend zu den drei Männern hinüber. »Ich bin manchmal etwas neben der Spur«, erklärte sie lachend. »Aber heute geht es mir gut.«

»Das freut mich sehr, Liebes.« Dr. Wiedemann geleitete seine Frau die restlichen Stufen hinunter, indem er ihre Hand in seine Armbeuge legte. »Und was kann ich für Sie tun? Sie haben mir mit dem Polizeiwagen in meiner Auffahrt einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«

Die vier Männer nahmen im Wohnzimmer Platz. Florian bemerkte, wie Dr. Wiedemann immer wieder durch die große Terrassentür in den imposanten Garten schaute und seine Frau beobachtete, die dick eingepackt in einen teuren Pelzmantel neben dem kleinen Gartenteich stand und in die Ferne blickte. Sein Gesichtsausdruck wechselte zwischen Sorge und Unzufriedenheit. Es wirkte fast so, als würde ihm nicht gefallen, dass seine Frau dort draußen alleine herumlief.

Der Blick auf die Alpen war atemberaubend. Die Sicht war klar, der Himmel hellblau und die Sonne schien. In der Ferne ragte der Grünten empor. Eine weiße Schneehaube zierte seinen Gipfel. Vor Mai würde der Schnee auf den höher gelegenen Berggipfeln auf gar keinen Fall schmelzen. In manchen Jahren waren die Spitzen der Allgäuer Berge nur für zwei Monate im Jahr schneefrei.

»Und Sie sagen, jemand hat gestern Abend die Alarmanlage deaktiviert?«, wandte Herr Wiedemann sich jetzt an den Chef der Sicherheitsfirma. Er hatte sie vor drei Jahren beauftragt, seine Villa zu sichern, nachdem Einbrecher versucht hatten, ins Haus zu gelangen. Seitdem Richter Security das Anwesen elektronisch überwachte, war nichts dergleichen mehr vorgefallen.

»Nicht nur das, Herr Dr. Wiedemann«, erklärte Alexander Richter seinem Auftraggeber. »Jetzt, da Sie mir erneut bestätigt haben, dass Sie drei Tage nicht im Hause waren, kommt mir auch die Tatsache komisch vor, dass ihr Wagen gestern Abend das Grundstück verlassen hat und erst nach guten zwei Stunden zurück in die Garage fuhr.«

»Der Mercedes meiner Gattin?«, fragte Wiedemann dazwischen und suchte durch das Fenster erneut nach seiner Frau im Garten. Sie war bereits an der hinteren Grundstücksgrenze.

»Sie meinen also, Ihre Frau hätte das Haus für zwei Stunden verlassen und vergessen, die Alarmanlage zu aktivieren?«, mischte sich jetzt Florian ein, während Berthold der Haushälterin half, die Kaffeetassen von dem Tablett auf dem Glastisch anzurichten und Kaffee einzuschenken.

»Nein, das meine ich nicht«, brummte Dr. Wiedemann etwas unhöflich, lächelte dann entschuldigend und griff nach der Porzellantasse mit dem dampfend heißen Getränk. »Meine Frau ist krank, wie Sie sicher schon bemerkt haben. Seit Wochen hat sie ihr Schlafzimmer nicht verlassen. Deshalb war ich ja so erschrocken, als ich sie eben auf der Treppe gesehen habe.« Er nippte an der Tasse, entschied dann, dass der Kaffee noch viel zu heiß war, und stellte die Tasse zurück auf den Unterteller.

»Darf ich fragen, an welcher Krankheit ihre Gattin leidet?«, brachte sich jetzt Berthold ins Gespräch ein und fing sich einen ärgerlichen Blick vom Doktor ein.

»Meine Frau leidet unter schweren Depressionen und Angstzuständen.«

»Und behandeln Sie sie selbst?«, fragte Berthold und zog unmerklich den Kopf ein, so als fürchtete er eine wütende Schimpftirade von Dr. Wiedemann. Doch als er Florians anerkennendes Lächeln sah, fühlte er sich etwas sicherer. »Sie sind doch Arzt.«

Dr. Wiedemann sah den jungen Beamten beinahe verächtlich an. »Ich bin Allgemeinmediziner, kein Psychologe«, erklärte er leicht ungehalten. »Doch meine Frau ist seit drei Jahren bei einem befreundeten Psychotherapeuten in Behandlung. Und er spricht vor allem die medizinische Unterstützung durch Medikamente mit mir ab, also ja, auch ich versuche, meiner Frau zu helfen. Aber was hat das mit der kaputten Alarmanlage zu tun?«

»Die Anlage ist nicht kaputt, sondern wurde manuell für einen kurzen Zeitraum deaktiviert. Das ist ein Unterschied«, verteidigte Alexander Richter sich und seine Firma. »Wie es unsere Art ist, möchten wir für Ihre absolute Sicherheit sorgen. Und gestern Abend hat ein Außenstehender an Ihrer Anlage gespielt, wenn es Ihre Frau und Ihre Haushälterin nicht waren. Scheinbar hatte diese Person auch einen Schlüssel.«

»Sie haben doch Luise und meine Frau befragt«, polterte Dr. Wiedemann zurück. »Die beiden waren es nicht. Die Medikamente meiner Frau lassen ja auch gar nicht zu, dass sie sicher Auto fährt. Der Wagen wurde von ihr seit Monaten nicht bewegt.« Er stand auf und trat ans Fenster, hob die Hand und winkte seiner Frau, die bereits wieder auf dem Rückweg war und in Richtung Villa ging. Sie winkte ihrem Mann zurück.

»Suchen Sie einfach die Person, die angeblich hier im Haus war und die mit dem Wagen gefahren ist, aber tun Sie mir den Gefallen und halten Sie meine Frau da raus. Ihr Zustand lässt es nicht zu, dass sie sich ängstigt. Wir haben lange daran gearbeitet, dass sie wieder ruhig schlafen kann. Auch dank der Medikamente«, fügte er hinzu und wandte sich dann an Hauptkommissar Forster.

»Ich möchte eine Anzeige gegen unbekannt aufgeben. Und suchen Sie zuerst bei Herrn Richters Angestellten. Vielleicht ist dort einer dabei, der sich etwas Geld nebenbei verdienen will und sich bei reichen Leuten bedient. Ich gebe also eine Anzeige auf. Das kann ich doch bei der Kripo tun, oder ist da eine andere Abteilung zuständig?« Er sah Hauptkommissar Forster fragend an.

»Nein, den Fall übernehmen ich und mein Kollege Willig. Wir ermitteln ja bereits im Namen der Staatsanwaltschaft, aber natürlich ist es hilfreich, wenn auch Sie den Vorfall melden und für Fragen weiterhin zur Verfügung stehen. Und ich würde Sie bitten, in naher Zukunft zu überprüfen, ob vielleicht etwas gestohlen wurde.«

»Und ich möchte Sie bitten, etwaige Anschuldigungen gegen die Mitarbeiter meiner Firma zu unterlassen«, drohte Alexander Richter, bewirkte mit seinen Worten aber nur, dass Herr Dr. Wiedemann ihn wütend anstarrte.

»Dann erwarte ich spätestens morgen Ihren Anruf bezüglich gestohlener Gegenstände«, wiederholte Florian und griff nach seiner Kaffeetasse.

Dr. Wiedemann nickte und begrüßte seine Frau, als sie durch die Terrassentür das Wohnzimmer betrat.

3

Die welken Blumen auf dem Grab seiner Frau sahen erbärmlich aus. Letzte Woche, als die Temperaturen noch merklich unter null Grad lagen, waren die Rosen mit einer dünnen Schicht kristallklarem Eis überzogen gewesen und hatten in der Sonne geglitzert. Jetzt war der ganze Strauß matschig braun und verwelkt. Er hätte ein Gesteck aus Tannenzweigen an ihrem Geburtstag aufs Grab legen sollen. Es war schließlich Winter. Auch war die Erde auf dem Grab noch trostlos leer, da er bisher keine Gelegenheit gehabt hatte, sich über die Begrünung Gedanken zu machen. Immerhin war Petra im November gestorben, kurz bevor der erste Frost ins Allgäu kam und eine Bepflanzung unmöglich machte. In ein paar Wochen würde er sich darum kümmern. Oder besser, er würde einen Gärtnerdienst beauftragen. Die hatten mehr Erfahrung als er und würden das Grab mit Sicherheit professioneller bepflanzen und pflegen.

Nachdem er die alten Blumen entsorgt hatte, verließ er den Friedhof wie jeden Sonntagnachmittag über den kleinen Weg durch die schön angelegte Teichlandschaft zum Nebenausgang, wo er sein Auto geparkt hatte.

ein paar Stunden