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Marlies Grötzinger

Seebeben

Bodensee-Roman

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Zum Buch

Prickelndes Wasserglück Beschaulich, keinesfalls hektisch, so hatte sich Isabel Böhmer die Arbeit bei der Wasserschutzpolizei am Bodensee vorgestellt. Mit ihrem Freund Thomas von Harnsfeld war sie übereingekommen, dass sie vorerst allein an den Bodensee zieht und er in Tübingen seine Dissertation beendet. Doch kaum am Bodensee angekommen, spielt Isabel mit dem Feuer: Vom ersten Augenblick an fühlt sie sich von ihrem neuen Chef, Polizeidirektor Carl Dangelmann, magisch angezogen. Bald erliegt sie seinem Charme – abenteuerlicher Sex und Gefühlschaos inklusive. Als Thomas eine Wohnung in Friedrichshafen aus dem Ärmel zaubert und dort wieder mit Isabel zusammenziehen möchte, ist das Wirrwarr perfekt, das ihr mehr zusetzt als die Polizeiarbeit. Hilfesuchend wendet sich die Polizistin an ihre Freundin Lena, die in Konstanz eine Praxis für Psychotherapie betreibt. Doch deren Rat kann und will Isabel nicht annehmen. Die Situation verschärft sich dramatisch, als einer der beiden Männer bei einem Unfall spurlos verschwindet …

Marlies Grötzinger lebt und arbeitet in Oberschwaben und am Bodensee. Landauf landab lieben Dialektfreunde ihre humorvollen Mundarttexte. Für herausragende Verdienste um die Heimat wurde sie 2013 von der baden-württembergischen Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst mit der Heimatmedaille des Landes ausgezeichnet. In »Seebeben« erzählt die Schriftstellerin mit Spannung und Humor vom Treiben am »Schwäbischen Meer«.

Impressum

Personen und Handlung dieses Romans sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © VRD / stock.adobe.com

Druck: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-6106-4

Zitat

»Die reinste Form des Wahnsinns ist es,

alles beim Alten zu belassen

und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.«

Albert Einstein

Prolog

Wasser. Überall Wasser. Nur nicht nach unten schauen. Nicht in die Tiefe. Ignoriere das dunkle Loch da unten, hämmert er sich ein. Ich hab keinen Sauerstoff mehr, ganz schlecht, wenn man unten ist. Ich muss hoch zum Boot. Ruhig bleiben. Ganz ruhig bleiben. Oder an was anderes denken. Einfach an was anderes denken. An was Schönes. Für einen Moment schwindet die Panik, sein Gesicht hellt sich auf. Mein 911er Carrera S. Hab lange auf ihn gewartet … Kommende Woche wird er seinen neuen Porsche abholen, direkt am Werk. Er sieht ihn vor sich, seine Hand streicht über den glänzenden Lack. Die Tür öffnet sich und seine Finger gleiten über das weiche Leder in Yachtingblau. Wie in Zeitlupe neigt, hebt und senkt sich seine Hand, bewegt sich wie ein Fisch. Er blickt an sich hinab. Er ist nackt. Er wird in etwas Weiches gedrückt. Ist es der Fahrersitz mit den anatomischen Polsterungen? Die Polster passen sich den Rundungen seiner Oberschenkel, seines Gesäßes, seines Rückens an. Schmiegen sich an, zärtlich wie eine liebende Frau. Neues Leder. Jedes Mal, wenn er den Geruch von neuem Leder wahrnimmt, blähen sich lustvoll seine Nasenflügel. Auch jetzt. Aber jetzt riecht er nichts. Er will einatmen, unterdrückt den Reflex im letzten Augenblick. Wasser. Jemand glotzt durch ein Fenster, drückt die Nase platt an der Glasscheibe. Ist er das? Er selbst? Mit den Fingern einer Hand betastet er das Glas. Er spürt ein Kribbeln in den Fingerkuppen, als ob sie sich in einen Ameisenbau verirrt hätten. Das Kribbeln wird stärker, breitet sich aus, beide Hände jucken wie wahnsinnig. Er reißt die Augen auf und betrachtet staunend seine Arme. Beide beginnen zu flattern. Er holt sich die Hände vors Gesicht, starrt ungläubig auf seine Finger. Sie schweben. Fasziniert schaut er den Bewegungen zu, seine Hände verselbstständigen sich, sind schwerelos. Ein Geistesblitz signalisiert ihm plötzlich wieder: Er ist im Wasser, will zu Schwimmbewegungen ausholen. Die Muskeln der Arme gehorchen ihm nicht. Auch der Beinschlag will nicht gelingen. Jetzt registriert er einen fürchterlichen Druck im Kopf, in seiner Brust, in der Magengegend, überall. Unwillkürlich hält er die Luft an. Da ist sie wieder, die unbändige, mörderische, höllische Angst. Sein Brustkorb krampft sich zusammen. »Die Reaktionen Ihres Körpers sind richtig. Die Ausschüttung von Adrenalin und Kortisol versetzt ihn in erhöhte Alarmbereitschaft. Das hat der Menschheit das Überleben gesichert.« Die Worte des Therapeuten, den er nur ein einziges Mal konsultiert hat, dröhnen in seinem Schädel. Tiefenkrankheit, Angststörung! Er? Lächerlich, einfach lächerlich! Unfähiger Quacksalber, elender Laberer! Ein Schmerz am rechten Oberarm schneidet seine Erinnerungen ab.

Neben ihm bewegt sich etwas. Ein nackter Körper. Jemand haut eine Scheibe ein. Er sieht rot. Glas zerbirst lautlos. Finger fremder Hände krallen sich an seinen Armen fest. Schütteln ihn, wollen seinen Oberkörper umfassen, ihn in den Schwitzkasten nehmen. Wem gehören die? Will mich einer umbringen? Oder eine, eine Frau? Er wendet den Kopf. Helle Haare schweben ihm entgegen, verschwommen taucht ein Gesicht auf. Ist Ella zurückgekommen? Ihre Lippen zusammengekniffen, die Augen weit aufgerissen. Hass sieht er darin, abgrundtiefen Hass. Das ist kein Gesicht, ist eine Fratze. Sie verzerrt sich mehr und mehr. Jetzt nimmt sie Rache, das Biest. Jetzt zahlt sie mir zurück, dass ich sie ausgebootet habe bei der Scheidung. Dumme Kuh. Zwei Arme ziehen sich fester um seine Brust. Heben ihn hoch, zerren ihn durch ein Loch. Ein höllischer Schmerz an seinem Oberschenkel. Alles rot. Blut. Sein Blut. Blut hämmert auch von innen gegen seine Schädeldecke. Der Druck im Kopf steigert sich, wird unerträglich. Wo ist er? Alles dunkelgrau um ihn herum. Lass mich los, elendes Miststück. Seit wann hast du solche Kraft? Niemals kannst du solche Kraft besitzen. Du bist es gar nicht! Bella, bist du es? Sein Mund öffnet sich, spuckt eine graugrüne Wasserladung aus und die Worte: Lass mich los! Panische Angst durchzuckt seinen Körper, wild schlägt er um sich und diesmal gehorchen seine Muskeln. Er kann dem Angreifer, wer auch immer es ist, ein paar kräftige Schläge versetzen. Schließlich gelingt es ihm, sich ganz aus der Umklammerung zu lösen, die Fesseln abzuschütteln. Niemand wird ihm jemals Fesseln anlegen, ihm nicht, niemals! Wieder ein kurzes Signal aus seinem Gehirn: Flucht! Wegrennen, er ist ein guter Läufer. Laufen. Aber unter seinen Füßen spürt er keinen Grund, der ihm Halt geben könnte. Da ist nichts, kein Boden, nur ein schwarzes Loch. Er strampelt aus Leibeskräften. Kommt nicht von der Stelle. Ist er tatsächlich unter Wasser? Eine schreckliche Ahnung überkommt ihn. Da schwimmt etwas neben ihm. Blubbert, etwas Buntes. Fische? Ist er mitten unter seinen kleinen Freunden? Warum antwortet ihm sein Gehirn denn nicht? So schön ist das also, völlig entrückt zu sein. So ein gutes Gefühl ist die Schwerelosigkeit. Er hatte es beinahe vergessen. Plötzlich durchzuckt ihn doch ein Gedanke: Falls er wirklich unter Wasser ist, muss er auftauchen, sofort. Seine Lunge verlangt nach Sauerstoff. Reflexartig atmet er ein, inhaliert Wasser, verschluckt sich, keucht. Er atmet ein weiteres Mal, hustet. Wasser rinnt seine Luftröhre hinunter, er spürt ein heftiges Brennen in der Brust. Ungläubig reißt er wieder die Augen auf, erschrickt. Plötzlich fangen seine Arme erneut an zu zittern, zucken krampfartig. Verzweifelt versucht er, die Bewegungen seiner Muskeln zu kontrollieren, mit Armen und Beinen zu rudern. Entgeistert blickt er an sich hinunter. Seine Beine zucken auch, kommen ihm entgegen. So sehr er sich auch bemüht, sie gehorchen ihm nicht. Dann nimmt er erneut die Umrisse eines Gesichts wahr, umspielt von hellen Fäden. Es entfernt sich. Hau ab! Endlich. Unendlich langsam weicht auch die Angst. Ein Gefühl von Frieden, von nicht enden wollender Geborgenheit, breitet sich mit einem Mal in ihm aus. Arme und Beine kommen zur Ruhe. Dann trudelt sein Körper hinab in das trübe Dunkel des Bodensees.

 

Kapitel 1

Isabels Zukunft verbarg sich hinter der blauen Metalltür. Mit jedem Schritt, mit dem sie sich dem Gebäude genähert hatte, verlangsamte sich ihr Gang und ihr Herz schlug schneller. Was würde sie erwarten im tiefen Süden? Mehr als einmal hatte sie sich gefragt, ob es richtig war, den Schritt zu wagen. »Wer zu neuen Ufern aufbrechen will, muss das Alte hinter sich lassen.« So las sie auf dem Foto, das Lena ihr am späten Abend über WhatsApp geschickt hatte, ein Emoticon mit hochgestrecktem Daumen folgte. Rasch steckte Isabel das Handy wieder in ihre Tasche. Kurz zuvor hatten die Freundinnen telefoniert. Lena hatte natürlich bemerkt, dass Isabel schwankte, und ihr für den ersten Arbeitstag alles Gute gewünscht. Noch beim Einschlafen hatte das Gespräch ein Lächeln auf ihr Gesicht gezaubert.

Nun stand Isabel vor der Tür. Im fast bodentiefen Glaseinsatz spiegelte sich ihre Gestalt. Das große Metallschild daneben glänzte neu, als wäre es extra für sie angebracht worden. »Wasserschutzpolizeistation Friedrichshafen«, las Isabel und blickte in die gläserne Halbkugel des Türspions. Bestimmt hatte man sie bereits gesehen. Direkt unterhalb des großen Schildes schimmerte ein kleines mit der Aufschrift »Klingel«. Isabel blickte auf ihre Uhr und zögerte. Zum Klingeln war es zu früh. »Wir erwarten Sie um 10.30 Uhr«, hatte ihr neuer Chef, Polizeidirektor Dangelmann, geschrieben. Ihr blieb noch Zeit, um Seeluft zu schnuppern. Sie trat aus dem Arkadenbogen und überquerte mit wenigen Schritten die Uferpromenade. Dabei glitt ihr Blick über die Wasserfläche. Wie ein Silberspiegel lag sie vor Isabel. Nur im Osten tänzelte ein leichter Wind über das Wasser der Friedrichshafener Bucht. Isabel kniff die Augen zusammen, das helle Rund der Sonne war bereits über die österreichischen Berge geklettert. Ihre Strahlen spielten auf dem dunklen Stahlgerippe des Moleturms an der Hafenausfahrt. Das Ufer gegenüber lag noch im Morgendunst und Isabel konnte die sanften Höhen der Schweiz nur erahnen. Ihr Blick wanderte zurück zum Graf-Zeppelin-Haus und den beiden Türmen der Schlosskirche. Über ihr bevölkerten Spatzen die noch kahlen Äste der Platanen, die wie Arme in die Höhe ragten, und zwitscherten munter ihren Frühlingsgruß. Sie hob den Kopf zum Himmel. Oben war der Dunst bereits einer lichten Bläue gewichen. Ein Flugzeug zog weiße Kondensstreifen hinter sich her. Tief sog Isabel die frische Morgenluft ein und wurde zunehmend ruhiger. Es roch nach Wasser und nach Fisch und ein Duft von Freiheit und Neubeginn lag in der Luft. Sie lehnte sich an das Geländer, und die Kühle des Metalls kroch in ihren Körper. Wie oft hatte sie sich gewünscht, hier am Bodensee zu leben. Lena hatte diesen Schritt schon vor zwei Jahren geschafft und war in Konstanz in eine Praxisgemeinschaft von Psychotherapeuten eingetreten. Im letzten Sommer, Isabel erinnerte sich genau an den Tag, als sie Lena besuchte und mit ihr auf der Mole picknickte, verließ ein großes Polizeiboot mit Blaulicht den Hafen. Fasziniert hatte Isabel der schäumenden Spur nachgeschaut und spontan ausgerufen: »Lena, ich bewerbe mich bei der Wasserschutzpolizei und komm an den Bodensee!«

»Eine super Idee!«, hatte Lena geantwortet. »Dann können wir uns wieder viel öfter sehen.«

»Und gemeinsam schwimmen und paddeln und surfen und segeln«, schwärmte Isabel und strahlte die Freundin an.

»Ja, alles das – vorausgesetzt, ich habe einen Babysitter für Ben!«

»Ich kann dann auch mal aufpassen, wenn du in Not bist. Und ich kann Beruf und Hobbys verbinden! Mensch, dass ich da nicht früher drauf gekommen bin«, sprudelte es aus Isabel heraus, bis Lena fragte: »Und was ist mit deinem Thomas? Will der überhaupt von Tübingen weg?«

Die Begeisterung auf Isabels Gesicht war mit einem Mal verflogen. Unsicher sagte sie: »Keine Ahnung, ich werde ihn fragen.«

»Wie lange braucht er denn eigentlich noch für seine Doktorarbeit?«

»Ach, da frag ich schon gar nicht mehr. Solange sein Vater zahlt, sieht er keinen Grund zur Eile.«

»Tja, man kann nicht vorsichtig genug in der Wahl seiner Eltern sein! Reiche Eltern sind nie von Nachteil – und reiche Schwiegereltern auch nicht, gell Frau von Harnsfeld in spe!«

Mit einem freundschaftlichen Klaps hatte Lena ihren Worten Nachdruck verliehen, doch schnell hatte sie ihre Hand zurückgezogen, als sie gesehen hatte, wie nachdenklich Isabel geworden war. Isabel hatte ihre Lippen aufeinandergepresst und Lena mit großen Augen schweigend angesehen.

»Nun sag schon, was los ist«, forderte die Freundin sie auf.

»Sagt Thomas doch das letzte Mal, als ich ihn auf seine Promotion angesprochen habe: Ja nun, wichtiger als von etwas zu leben ist mir, für etwas zu leben. Für etwas zu brennen, einen Sinn zu finden in dem, wie ich meine Zeit verbringe.«

»Da hat er vollkommen recht.«

»So sehe ich das ja auch. Ich liebe meinen Beruf auch! Trotzdem hat mich seine Art, wie er das gesagt hat, seine stoische Ruhe, auf die Palme gebracht. Thomas ist 32 Jahre alt, lässt sich wie selbstverständlich von seinen Eltern unterstützen, um sich die ganze Zeit seinen Studien widmen zu können. Ich halt ihm den Rücken frei und mach neben meinem Vollzeitjob den kompletten Haushalt. Das sieht er gar nicht, verstehst du! Das ist selbstverständlich für ihn. Meist hab ich nach einem anstrengenden Arbeitstag einfach nicht die Kraft, mich einem Disput zu stellen.«

Von ihrem Antrag auf Versetzung zur Wasserschutzpolizei hatte Isabel ihrem Partner erst erzählt, als dieser bewilligt war. Sie empfand es als glückliche Fügung des Schicksals, dass sie gleich an den Bodensee durfte und nicht zuvor in Mannheim beginnen musste. Ihrem Bekenntnis waren mehrere Diskussionen mit Thomas gefolgt. Thomas fühlte sich wohl in der Universitätsstadt, inmitten seiner Bücher und Geisteswissenschaftler und wollte Tübingen nicht verlassen. Jedenfalls war er nicht mit an den Bodensee gezogen. Er wohnte weiter in der schmucken Altbauwohnung, in der sie die vergangenen Jahre zusammengelebt hatten. Geäußert hatte er es zwar nie, doch insgeheim konnte er Isabels Alleingang nicht verstehen und hoffte, sie würde ihn bald bereuen und zu ihm zurückkommen. Ohnehin hatte er seinem biblischen Namen einmal mehr alle Ehre gemacht: Thomas, der Ungläubige. Denn erst als Isabel eine kleine Wohnung gefunden hatte, glaubte er, dass sie wirklich Ernst machte mit dem Wegzug.

Plötzlich riss ein Scheppern Isabel aus ihren Gedanken. Donnernd war die Metalltür ins Schloss gefallen. Ein Mann in Polizeiuniform stand davor, stampfte mit einem Bein auf, gestikulierte und schimpfte. Jetzt drehte er sich wieder zur Tür und drosch mit einer Hand auf die Klinke ein. Als sich die Tür öffnete, schrie er etwas ins Innere, was sich wie ein Fluch anhörte, und schlug sie erneut zu. Dann streckte sich sein Körper, sein Kopf schoss hoch und zwei blaue Augen blitzten Isabel erstaunt an. Der Blick traf sie ins Mark und ließ sie erschauern. Der Polizist zog seine Schirmmütze tiefer ins Gesicht, streifte mit beiden Händen die Uniformjacke glatt und stapfte mit großen Schritten davon, die Uferpromenade entlang. Nanu, welche Laus ist denn dem über die Leber gelaufen, fragte sich Isabel und sah dem Uniformierten nach. Ob das ein künftiger Kollege war?

Isabel besah sich das mehrstöckige Gebäude genauer. Die Fassade über den Arkaden war durchbrochen von mehreren identischen zweiflügeligen Fenstern. Nur eines unterbrach die Symmetrie: Es war viel größer als alle anderen, etwas weiter vorgezogen und sah aus, als sei es nachträglich eingebaut worden. Über den Dachgaupen im obersten Stock glitzerten von der Sonne angestrahlte Antennen und mehrere Windmesser drehten sich geschwind. Meine neue Dienststelle also. Hinter welchem Fenster steht wohl mein Schreibtisch?

Ein knatterndes Geräusch lenkte ihre Aufmerksamkeit zu einem Flaggenmast, der direkt vor ihr eingelassen war. Dort hatten die drei Flaggen von Deutschland, Österreich und der Schweiz begonnen, sich synchron im Wind zu bewegen. Isabel schmunzelte. Offensichtlich hielt die Wasserschutzpolizei etwas auf Traditionen. Wer hisst die jeden Morgen und holt sie abends wieder ein? Eine Szene aus ihrem Urlaub in Kuba kam ihr in den Sinn. Dort hatten Thomas und sie beobachtet, wie das tägliche Hissen und Einholen der Flagge zum Staatsakt geraten war: Polizisten sperrten die mehrspurige Fahrbahn, Fahrradfahrer mussten absteigen, Fußgänger warten. Vor diesem Publikum hatten dann Soldaten defiliert, salutiert und in einer Zeremonie, die selbst Thomas endlos vorgekommen war, die Staatsflagge eingeholt. Vielleicht gehört das hier zur täglichen Aufgabe einer stellvertretenden Dienstgruppenleiterin? Isabel schaute wieder auf ihr Handy und stellte es stumm. Noch wenige Minuten. Sie merkte, wie Nervosität sich in ihr ausbreitete. Wie werden die neuen Kollegen sein? Komme ich mit ihnen zurecht und sie mit mir? Was erwartet der neue Chef, fragte sie sich und beobachtete, während sie sich diese Gedanken machte, wie sich die Fußgängerzone allmählich belebte: Zwei Frauen in buntem Outfit joggten in Richtung Park, erste Touristen spazierten mit Rucksäcken gerüstet zur Schiffsanlegestelle. Die Türen der Eisdielen öffneten sich, Kellner nahmen Ketten ab und platzierten Tische und Stühle einladend. Ein erneuter Blick zur Uhr: 10.25. Isabel nahm einen kleinen Spiegel aus der Handtasche, zog ihre Lippen mit einem farblosen Stift nach und vergewisserte sich, dass das Make-up – heute hatte sie sich ausnahmsweise leicht geschminkt – nicht verwischt war. Dann strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr, zog an ihrer Jacke, holte tief Luft und ging wieder zu der Tür hinüber. Sekundenbruchteile zögerte sie, bis sie die Klingel drückte. Eine Männerstimme fragte: »Ja bitte?« Sie klang etwas mürrisch. Nicht wegen mir, das kann nicht sein, ging es ihr durch den Sinn, als sie sagte: »Isabel Böhmer, ich …«

Ein leiser Summton unterbrach ihren Satz. Sie spähte durch den Glaseinsatz und drückte gegen den runden Metallknopf. Dann stand sie in einem kleinen Vorraum einem älteren Mann gegenüber. Als er die Brauen zusammenschob und Isabel aus wachen Augen musterte, zog die sonnengegerbte Haut tiefe Falten in seinem Gesicht. Sein Mund dehnte sich zu einem Grinsen, als er sagte: »Sie sind also der Nachfolger von Kurt, äh … die Nachfolgerin! Hab schon ghört, dass mir eine Frau kriegen.« Er seufzte. Mit den neumodischen Gepflogenheiten, die auch bei der uniformierten Polizei eingekehrt waren, konnte er sich nicht so recht anfreunden. Musste er auch nicht mehr. Es reichte vollkommen, diese zur Kenntnis zu nehmen, und ansonsten galt es, die wenigen Monate durchzuhalten bis zum Ruhestand.

»Ja, ich bin die Quotenfrau!«, gab Isabel lächelnd zurück. Normalerweise wäre ihre Antwort schärfer ausgefallen, aber sie wollte es sich nicht gleich am ersten Tag mit dem Kollegen verscherzen. Außerdem war ihr der Mann auf Anhieb sympathisch. Er sprach schwäbischen Dialekt und erinnerte sie an ihren Vater. Der wäre jetzt ungefähr im selben Alter, hätte der Hooligan damals nicht sein Messer gezückt und rasend vor Wut auf ihn eingestochen. Schnell schluckte sie die Erinnerung hinunter.

»Kommet Sie herein. Zuerscht hab ich dacht, da will wieder eine ’ne Anzeige erstatten. Die hätt mir grad noch gfehlt heut Morgen.«

»Nein, keine Anzeige …«

»Schon gut. Frieder Kahle. Willkommen«, brummte er augenzwinkernd und streckte Isabel eine Hand entgegen. »Mir brauchet dringendscht Verstärkung und freuet uns, dass Sie endlich da sind.«

Sein fester Händedruck zeigte Isabel, dass er es ehrlich meinte.

»Der alte Kahle ischt momentan Mädchen für alles – na ja, für fascht alles«, fügte er nach kurzem Innehalten hinzu, und seine Stimme klang weniger freundlich, als er sagte: »Unsere Sekretärin ischt heut mal wieder unpässlich. Diese jungen Dinger. Auf die ischt einfach kein Verlass! Melden sich krank wegen jedem krummen Furz! Tschuldigung, Frau Böhmer, aber so ischt es!«

Statt einer Antwort nickte Isabel nur mit dem Kopf und überlegte, ob Frieder Kahle sie auch noch zu diesen jungen Dingern zählte.

»Ich kann hier nicht lang weg, ich zeig Ihne nur kurz Ihr Büro. Kommet Sie mit.« Damit ging er Isabel voran die Treppe hoch. Oben angekommen, öffnete er eine Glastür, die den Blick auf einen langen Korridor mit vielen Türen freigab.

»Drittes Zimmer rechts, das sehet Sie.« Mit diesen Worten stapfte er bereits wieder die Treppe hinunter. Er drehte sich nochmals um und rief: »Ach übrigens: Ich bin dr Frieder! Mir sind hier alle per Du, bis auf den Chef.«

»Isabel«, stotterte Isabel, überrascht, dass das bei dem älteren Kollegen so schnell ging.

Frieder Kahle hatte ihr Zögern bemerkt: »Sie wisset doch: Im Team muss sich einer auf den andern verlasse könne. Das ›Du‹ ischt einfacher.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Und außerdem sagt man auch leichter ›du Seckel‹ als ›Sie Seckel‹!«

Bei diesen Worten nickte er Isabel zu und marschierte dann zurück zum Empfang. Isabel ging langsam den Flur entlang. Mehrere Uniformierte kamen ihr entgegen. Sie grüßten wortlos und schienen erstaunt, dass eine fremde Frau in Zivil sich alleine in den Diensträumen bewegte. Keiner sprach sie an, jeder eilte nach kurzem Kopfnicken in sein Zimmer. Komische Kerle. Stimmt da was nicht? Die sehen irgendwie aus wie begossene Pudel, schoss es Isabel durch den Kopf, und ein Frösteln durchzog ihren Körper. Sie hatte zwar keinen Sektempfang mit Brezeln erwartet, aber ein bisschen freundlicher hatte sie sich ihre Ankunft hier schon vorgestellt. Jetzt schlenderte ein großer, schlaksiger Mann den Gang entlang. Auch er trug Uniform, Isabel schätzte ihn etwa so alt wie sie selbst. Er verschwand nicht gleich, sondern schaute sie an, lächelte und kam auf sie zu: »Hallo. Sie sind bestimmt die neue Kollegin. Ich bin Timo, Timo Fessele!«

»Ja, erraten. Isabel, Isabel Böhmer«, sagte Isabel erleichtert und drückte die ausgestreckte Hand.

»Willkommen im Irrenhaus«, sagte er, und Isabel erkannte keine Spur von Sarkasmus in seiner Stimme.

»Ihr Büro ist da vorne, der Schreibtisch links. Zimmerkollege Markus ist heut nicht da.«

Ob das der Mann ist, der vorher aus dem Gebäude gestürmt ist, überlegte Isabel, als sie hinter Timo Fessele den Flur entlang marschierte. Vor dem angezeigten Zimmer blieben sie stehen.

»Darf ich Ihnen, ah … dir erst mal einen Kaffee bringen?«

»Dir! Ja, sehr gerne.«

»Erster Polizeihauptkommissar Proll«, las Isabel auf dem Schild neben der Tür und öffnete sie. Ein Schwall abgestandener Heizungsluft schlug ihr entgegen. Das Dienstzimmer sah aus, wie Isabel Hunderte bei der Polizei kannte: Die Wände bis zur Decke tapeziert mit Aktenschränken, ein kleiner Besprechungstisch mit zwei Stühlen, in der Mitte zwei Schreibtische – einer davon blank bis auf einen Bildschirm. Das wird meiner sein. Immerhin ein Flachbildschirm, dachte Isabel und erinnerte sich an den wuchtigen Kasten, mit dem sie bisher hatte vorliebnehmen müssen. Sie trat einen Schritt näher und sah auf dem Standfuß des Bildschirms ein kleines, schwarzes Männchen sitzen: ein Schornsteinfeger, auf der Schulter eine Leiter, im Mund ein vierblättriges Kleeblatt und ein Täfelchen Schokolade zwischen den Händen, darauf stand: »Auf gute Zusammenarbeit!« Vor dem Kerlchen klebte ein gelbes Notizblatt, auf dem mit schwungvoller Handschrift: »Herzlich, Markus Proll« gekritzelt war. Isabel musste lächeln und dachte: Wird ja schon besser, und langsam verschwand ihre Beklemmung. Auch der Kollege schien nett zu sein. Isabel war gespannt, wann sie ihn kennenlernen würde.

Einen Unterschied zu den meisten anderen Dienstzimmern der Polizei, einen großen, entscheidenden, entdeckte Isabel, als sie ans Fenster trat: Büro mit Seeblick, wie cool ist das denn? »Phantastisch«, würde sie abends Thomas vorschwärmen. Jetzt stand sie nur staunend davor und unterdrückte einen Jauchzer, als sie einen Flügel aufriss. Unglaublich diese Weite! Diese Aussicht auf den Bodensee und die Berge war mit keinem Büro vergleichbar, was sie bisher gesehen hatte. Statt trostloser Hinterhofidylle mit einer Armee von Gelben Säcken und Mülltonnen in verschiedenen Farben konnte sie auf Wasserweite blicken. Konnte ihre Ängste und Bedenken einfach von Wind und Wellen wegtreiben lassen. Konnte ihren Ärger, der sicher nicht ausbleiben würde, gegen das Bergmassiv da drüben schmettern, das vom Schweizer Ufer herüber grüßte. Der obere Teil war noch schneebedeckt, und alles Ungemach würde mit der Schneeschmelze verschwinden, versickern auf Nimmerwiedersehen. Als den »Wächter des Bodensees« und »das schönste Gebirge der Welt« hatte ein Schriftsteller den Säntis einmal bezeichnet. Isabel wusste nicht mehr welcher, wahrscheinlich der berühmte Walser. Thomas wüsste den Namen, und wenn nicht, würde er sofort den Computer zu Rate ziehen. Ihr war er in diesem Moment vollkommen egal, aber sie gestand dem Mann zu: Er hatte absolut recht.

Eine Fähre steuerte gerade auf die Stadt mit den dunklen Türmen gegenüber von Friedrichshafen zu. Es musste die nach Romanshorn sein. Übermütig schwang Isabel ihren Oberkörper über die Fensterbrüstung. Unter ihr die Seepromenade, reine Fußgängerzone. Keine hupenden Autos und keine stinkenden LKWs mehr, jubilierte Isabel innerlich. Amüsiert beobachtete sie zwei Damen, die ihre Einkaufswägelchen hinter sich herzogen. Die bunten Bänder ihrer Hüte flatterten im Wind. Auf einmal dröhnte Technomusik an Isabels Ohr und sie drehte den Kopf. Ein schwarz gekleideter junger Mann in Schnürstiefeln und einem CD-Player unter dem Arm näherte sich. Er hob den Kopf mit den blauen Haaren und Isabel wollte sich schnell zurückziehen. Doch er hatte sie bereits gesehen, zog eine Grimasse und winkte ihr zu. Isabel nickte nur, wahrscheinlich war er den Kollegen bekannt.

Die beiden Frauen waren stehen geblieben und schüttelten die Köpfe, nachdem der Punker sie passiert hatte. Nun nahm Isabel die drei Flaggen ins Visier. Fast auf Augenhöhe wogten sie synchron im Wind. Höchstens Windstärke eins, dachte Isabel. Zu wenig, um zu surfen, für eine Jolle wär’s genug. Ich brauch nur aus dem Fenster zu sehen und weiß, was ich nach Dienstschluss machen werde, sinnierte Isabel. Ihre Augen folgten einer Möwe, die gerade krächzend versuchte, mit ihren roten Beinchen auf der Spitze des Flaggenmasts zu landen. Es wollte ihr nicht gelingen. Lärmend und flügelschlagend flog sie weiter Richtung Friedrichshafener Bucht, wo im Flachwasser eine ganze Kolonie Station gemacht hatte. Mit bloßem Auge waren die kleinen weißen Pünktchen fast nicht auszumachen. Die größeren Punkte mussten Schwäne sein, die ihre langen Hälse im Gefieder versteckten.

Überwältigt sog Isabel noch einmal tief die Luft ein, ging zum Schreibtisch zurück und ließ sich in den Stuhl fallen. Dann hob sie ihre Arme über den Kopf, streckte den Oberkörper und ließ die Atemluft langsam und hörbar wieder austreten. Hier also. Hier werde ich zukünftig meine Arbeitstage verbringen. Angenehmer als in Tübingen. Endlich weg vom Streifendienst, von den immer gleichen Hausstreitigkeiten unter Eheleuten und Nachbarn, die Langeweile hatten. Den Beleidigungen, Ruhestörungen, sexuellen Belästigungen, Verkehrsunfällen und den Großeinsätzen bei Demos in der Universitätsstadt. Sie hatte die letzten Jahre genug Erfahrungen gesammelt, und Überdruss. Jetzt war sie – nach den spöttischen Worten der früheren Kollegen – bei der »Entenpolizei« in der tiefsten Provinz im tiefsten Süden des Landes angekommen. Natürlich würde sie weiterhin auf Streife gehen – nicht nur zu Fuß, mit dem Auto oder dem Fahrrad, sondern auch mit dem Boot. Streife fahren auf ihrem Element, dem Wasser, auf dem Wasser des Bodensees. Sie fröstelte nun doch, erhob sich wieder und schloss gerade das Fenster, als sich Timo durch die angelehnte Tür schlängelte, in den Händen zwei Kaffeebecher balancierend. »Das Lebenselixier von uns Wasserschützern.«

Mit diesen Worten stellte er eine Tasse vor Isabel auf den Schreibtisch und setzte sich ihr gegenüber.

»Auch von den Wasserschützern! Danke.«

Timos helle Augen fixierten Isabel, als er fortfuhr: »Ich freu mich, dass du endlich da bist. Obwohl ich zugeben muss, dass ich die Stelle auch gerne gehabt hätte. Eine Beförderung kann ich nun abschreiben.«

Erstaunt zog Isabel die Augenbrauen hoch. »Hast du dich denn auch beworben?«

»Nein«, gab er kleinlaut zu, »hab mich nicht getraut. Hätt den Job ja sowieso nicht gekriegt.«

»Warum bist du dir so sicher?«

»Du kannst nichts dafür. Schon gut, alles okay.« Timo blickte zum Fenster hinaus und wechselte das Thema: »Ich weiß nicht, wann Markus kommt. Soviel ich mitbekommen habe, wollte dich der Chef heute beim Jour fixe vorstellen, aber er ist … na ja«, Timo zuckte mit den Schultern, »momentan nicht im Haus.«

»Ach, ich werde ihn schon noch kennenlernen.«

»Mit Sicherheit wirst du das.«

Ein seltsamer Unterton in Timos Stimme ließ Isabel aufhorchen. Später würde sie nachfragen. Im Moment zog sie es vor, das Thema ruhen zu lassen. »Ist die IT bereits eingerichtet?«

Damit drückte sie den Startknopf ihres Computers.

»Probier’s einfach. Wenn’s nicht klappt, frag Scheysa. Keine kennt sich mit Technik besser aus als sie, die ist heute leider auch nicht da!«

»Scheysa? Ungewöhnlicher Name. Wer ist das?«

»Die derzeitige Gesp… die derzeitige Assistentin des Chefs.«

Wieder dieser seltsame Ton. Spöttisch, abwertend, ängstlich? Oder eine Mischung aus allem? Vielleicht sprach Timo immer so, sie kannte ihn ja noch nicht. Isabel schaute ihrem Kollegen offen ins Gesicht. Grinsend saß er ihr gegenüber. Er machte keine Anstalten weiterzusprechen, sondern nippte an seinem Kaffeepott, den er mit beiden Händen zum Mund führte. Trotzdem sah Isabel, dass seine Mundwinkel zuckten. Das hörte sich nach Flurfunk an, und sie musste sich eingestehen, dass der sie doch nicht so unberührt ließ, wie sie es gern gehabt hätte. Aber sie verbot sich nachzuhaken und öffnete stattdessen die Schubladen ihres Schreibtischs. Sie waren nahezu leer. Nur ein paar Formulare lagen ungeordnet darin.

»Büromaterial bekomm ich wo?«

»Auch bei Scheysa. Sie verwaltet das Zeug«, bedauerte Timo. »Komm mit, dann zeig ich dir eben deinen Spind und die Dienststelle. Solange, bis ein Anruf reinkommt, hab ich Zeit.« Damit nahm er seinen Kaffee und erhob sich.

»Danke, echt nett von dir. Zeig mir bitte auch gleich, wo die Fettnäpfchen stehen!«

»Die wirst du schon noch selbst ausfindig machen«, antwortete Timo.

Isabel folgte ihm mehrere Treppen hinunter, während ihr Blick auf seinem langen Rücken und den noch längeren Beinen ruhte. Hemd und Hose schlackerten um seinen hageren Körper. An einer Türe musste er seinen Kopf einziehen, sonst hätten die blonden, nach oben stehenden Haarbüschel den Türrahmen gestreift. »Da sind unsere Zellen. Zum Ausnüchtern, für Randalierer oder wenn wir sonst jemanden kurzfristig in Gewahrsam nehmen müssen.«

»Oh, das kommt also auch hier vor«, scherzte Isabel und blickte durch die offene Tür in den Raum. Das Mobiliar: ein Stuhl, ein Tisch, eine Toilette ohne Deckel und ein schmales Bett mit dunkler Wolldecke, die allein beim Anblick kratzte. Im oberen Viertel der gegenüberliegenden Seite befand sich ein vergittertes Fenster ohne Tageslicht. »Schnucklig! Und die zwei reichen euch?«, fragte Isabel. Wenige Meter weiter blickte sie in einen Verschlag, der komplett weiß gekachelt und nur mit weißer Sanitärkeramik ausgestattet war.

»Meistens schon. Wenn nicht, haben wir ja noch unsere Juniorsuite hier«, scherzte Timo, »reserviert für die besonders heftigen Fälle.« Isabel ersparte sich einen Kommentar. Timos Humor gefiel ihr. Gerade öffnete er eine massive Metalltür und sie betraten einen langen Flur. »Hier kommst du auch von der anderen Seite des Gebäudes aus rein«, erklärte Timo, als er die Tür zu einem fensterlosen Raum aufstieß. Hier reihten sich Schränke aneinander, hellgrau und schmucklos. Bei einem Spind war die Tür nur angelehnt und der Schlüssel steckte. »Das ist deiner. Platz für Nerz und High Heels gibt’s nicht!«

»Hauptsache, ich kann hier meine Schminke und meinen Alk deponieren«, fiel Isabel im Weitergehen in Timos Ton ein.

»Voilà! Der weiße Salon«, erklärte der Kollege, als sie vor einem Aufenthaltsraum mit Kaffeemaschine, Kühlschrank, einem Tisch mit weißer Kunststoffplatte und weißen Plastikstühlen Halt machten. »Zum Schichtende erwartet dich hier täglich ein Gourmetmenü vom Sternekoch«, alberte Timo und deutete auf eine einzelne Kochplatte, die auf einem weißen Schränkchen thronte. Im Spülbecken stapelten sich benützte Kaffeetassen. Sie gingen weiter. Vor einer Tür mit grünem Kreuz blieben sie stehen: »Kannst du noch? Wir sind gleich durch. Das ist der Sanitätsraum.«

»Kein Problem, Tübingen ist viel größer!«

Am Ende des Flurs steuerten sie auf eine weitere massive Metalltür zu, diesmal mit Fenster. Timo musste sich bücken, um hinaussehen zu können, und sagte: »Und hier geht’s zum Fuhrpark.«

Isabel schaute in einen Hinterhof, auf dem einige silberblaue Dienstwagen parkten.

»Die Schlüssel und die Fahrtenbücher sind hier, griffbereit.«

Isabel nickte und folgte Timo wieder zur Treppe. Vor ihrem Zimmer angekommen, sagte er: »Bisschen viel auf einmal, ich weiß. Meld dich einfach, wenn ich was für dich tun kann. Ansonsten wünsche ich dir einen guten Start.«

Isabel wollte sich bedanken, doch Timo war bereits in das Büro zwei Türen weiter entschwunden.

Einige Stunden später drückte Isabel auf die linke Maustaste und lauschte dem Klicken, das das Abschalten des Computers signalisierte. Feierabend. Der erste Arbeitstag war ruhig verlaufen, etwas zu ruhig für ihren Geschmack. Sie hatte ihn mit Ausnahme der Führung fast ausschließlich am Schreibtisch verbracht. Am Nachmittag hatten weitere Kollegen die Köpfe hereingestreckt, sich kurz vorgestellt und mit Handschlag ihre Zusammenarbeit angeboten. Markus Proll war nicht aufgetaucht, und auch ihren Chef hatte sie nicht zu Gesicht bekommen.

Isabel betrat die Uferpromenade. Die bunten Tücher am Flaggenmast hingen schlaff herunter. Erst jetzt fielen Isabel neben dem Flaggenmast mehrere Windspiele auf. Sonnenstrahlen legten sich auf die blauen und grünen Metallflächen, die aussahen wie geblähte Segel. Auch sie standen still, kein Windhauch drehte sie um ihre Achse. Isabel setzte sich auf die Bank unter dem Flaggenmast und rieb sich verwundert die Augen. Die Wasserfläche vor ihr leuchtete nicht mehr silbern wie am Vormittag, auch nicht blaugrau wie nachmittags. Sie sah aus wie ein riesiger Topf, in dem orangegoldene Farbe waberte. Jeden Tag werde ich den schönsten aller Seen nun sehen können, zu jeder Tageszeit seine Befindlichkeit aufnehmen, ihn studieren können wie ein lieb gewonnenes Kind. Ab sofort sollte ich Tagebuch führen, Seetagebuch, dachte Isabel glücklich und gönnte sich einen weiteren Moment der Ruhe. Dann erhob sie sich und schlenderte zu einer Panoramatafel, die jeden Gipfel am österreichischen und Schweizer Ufer benannte. Bald werde ich alle kennen, dachte Isabel zuversichtlich. Als sie am Schaufenster der Buchhandlung vorbeischlenderte, lachte sie ihrem Spiegelbild zu. Sie freute sich auf ihr Zuhause und auf das Skypen mit Thomas. Bestimmt war er neugierig, wie ihr Tag verlaufen war. An der Bushaltestelle zog sie ihr Handy aus der Tasche. Keine Nachricht von ihm. Unspektakulär – bis auf die grandiose Aussicht aus meinem neuen Büro: Ich sehe den Bodensee vor mir und hab das Gefühl, mein ganzes Revier zu überblicken. Ansonsten völlig unspektakulär. Das war das Wort, mit dem Isabel ihren ersten Arbeitstag charakterisieren würde, wenn Thomas sie nachher fragen würde. Die ganze Nervosität war umsonst. Ja nun, das hab ich dir doch gesagt, würde er wahrscheinlich antworten. Und bei »Ja nun« würde er lächeln, seine rechte Hand heben und seine Hornbrille zurechtrücken.

Die Anspannung der vergangenen Tage fiel vollends ab, als Isabel in ihrer kleinen Wohnung ankam. Ganz kurzfristig hatte sie diese beziehen können. Die Suche nach einer bezahlbaren Unterkunft am Bodensee hatte sich schwierig gestaltet. Gleich nachdem ihre Versetzung bewilligt war, hatte sie die einschlägigen Foren im Internet und die Zeitungen durchstöbert, doch der Markt war leer gefegt. Die wenigen Male, die sie zu Besichtigungen gefahren war, hätte sie sich sparen können. Entweder schreckte sie bereits ein verdrecktes Treppenhaus, dessen Wände nach Wasser und Farbe lechzten, oder die muffige Enge einer feuchten Wohnung ab. Oder der für ihr Beamtengehalt astronomische Mietpreis. Einen Monat vor Dienstantritt hatte Lena angeboten, dass sie sich vorübergehend bei ihr einquartieren könne, um vor Ort in aller Ruhe weitersuchen zu können. Allerdings hätte Isabel mit der Katamaranfähre von Konstanz nach Friedrichshafen pendeln müssen. Dann schlug Lena vor, eine kleine Ferienwohnung anzumieten, die es im April am See auch noch zu günstigen Bedingungen geben würde. Mit beiden Lösungen hätte sich Isabel anfreunden können – und auch Thomas. Ihm schien es ohnehin nichts auszumachen, dass Isabel keine Bleibe fand. Kurz danach hatte Isabel in einem Internetportal diese Zweizimmerwohnung ausfindig gemacht – teilmöbliert und nicht weit entfernt von ihrer Dienststelle. Lenas Urteil nach einer Inaugenscheinnahme fiel positiv aus, und so hatte Isabel sofort zugesagt.

Ohne die Kartons mit restlichem Umzugsgut zu beachten, setzte sie sich erwartungsfroh an den Computer, um mit Thomas Kontakt aufzunehmen. Aber Thomas meldete sich nicht. Enttäuscht tippte sie seine Nummer auf dem Handy, doch auch mobil war er nicht zu erreichen. Das war ungewöhnlich. Wo war Thomas? Normalerweise verbrachte er die meiste Zeit zu Hause am Computer. Isabel überlegte, ob er zur Uni gefahren war. Vielleicht war er einkaufen. Immerhin war er nun Selbstversorger – eine ganz neue Erfahrung für ihn. Sie tippte ihm eine kurze Nachricht auf WhatsApp. Dann versuchte sie, Lena anzurufen. Sie erreichte die Freundin ebenfalls nicht, Sekunden später kam die Nachricht: »Bin in Fobi, melde mich später.« Wie konnte Isabel das vergessen, gestern hatte Lena von ihrer Fortbildung erzählt.

Isabel lag schon mit einem Buch im Bett, als Lena anrief. Die beiden quatschten lange und vereinbarten ein Treffen fürs Wochenende. Erst danach sah Isabel die Nachricht von Thomas: »Dein Telefon ist ständig belegt. Bin jetzt in einer Videokonferenz mit Stanford. Wie war dein Tag? Vermisse dich.« Ein Kussemoticon folgte. Isabel legte das Handy auf den Nachttisch, kuschelte sich in ihre Decke und fing erneut an zu grübeln. Wahrscheinlich fühlte sich Thomas doch gekränkt, dass sie ihn allein zurückgelassen hatte. So sah er es nämlich: Isabel hatte ihn im Stich gelassen. Isabel wusste das, wenngleich sein männlicher Stolz dies niemals zugeben würde. Die Bewerbung bei der WaPo in Friedrichshafen war allein ihr Ding gewesen. Thomas hatte versucht, nachdem sie ihm gebeichtet hatte, ihr die Sache auszureden. Unruhig wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Oder war sie zu egoistisch gewesen, als sie sich unbedingt beruflich neu orientieren wollte? Sie selbst hatte sich schnell mit dem Gedanken angefreundet, dass sie allein an den Bodensee ziehen und Thomas in nächster Zeit nur an dienstfreien Tagen sehen würde. Wenn sie in sich hineinhorchte, kam es ihr sogar ganz gelegen. Das Alleinsein gab ihr die Chance, über ihre Beziehung, ihr Leben und ihre Wünsche an die Zukunft nachzudenken. Und sie freute sich, wieder mehr mit Lena unternehmen zu können. Endlich fiel sie in einen unruhigen Schlaf.