Katja Brandis

Khyona

Die Macht der Eisdrachen

Bücher von Katja Brandis im Arena Verlag

Woodwalkers. Carags Verwandlung

Woodwalkers. Gefährliche Freundschaft

Woodwalkers. Hollys Geheimnis

Woodwalkers. Fremde Wildnis

Woodwalkers. Feindliche Spuren

Woodwalkers. Tag der Rache

Seawalkers. Gefährliche Gestalten

Khyona. Im Bann des Silberfalken

Katja Brandis, Jahrgang 1970, hat Amerikanistik, Anglistik und Germanistik studiert und als Journalistin gearbeitet. Schon in der Schule liehen sich viele Mitschüler ihre Manuskripte aus, wenn sie neuen Lesestoff brauchten. Inzwischen hat sie zahlreiche Romane für Jugendliche veröffentlicht, unter anderem Ruf der Tiefe, Floaters – Im Sog des Meeres und White Zone. Mit ihrer Bestseller-Reihe Woodwalkers begeistert sie Jungen und Mädchen gleichermaßen. Für Khyona recherchierte sie drei Wochen in Island, staunte über Geysire, stapfte auf einem Gletscher herum und ritt auf Islandpferden durch die grandiose Landschaft. Sie lebt mit Mann, Sohn und drei Katzen in der Nähe von München.

www.katja-brandis.de

Für Christian

PROLOG

Menschen waren groß, ungeduldig und oft furchtbar schlecht in Musik. Doch hin und wieder vermisste Sija ihre Lieblingszauberin, die sie und die anderen Elfen im letzten Herbst durch kein Omen angekündigt besucht hatte. Leider war die Zauberin Kari nicht lange geblieben und es war schade, dass seither niemand auch nur ein Haar von ihrem Kopf gesichtet hatte. Geschweige denn etwas von dem leckeren braunen Wunder, das sie dabeigehabt hatte.

»Eine Geschichte, eine Geschichte!«, bat Tuli, die Hände zierlich gefaltet, die großen mondfarbenen Augen im Abendlicht noch größer erscheinend. Langeweile war eine Krankheit, die sie öfter plagte als andere.

»Ach, ich übe lieber noch ein wenig auf der Grasharfe«, behauptete Sija und gab erst nach, als Tuli so tat, als wollte sie stattdessen Palo fragen. Hatte ihre Freundin schon vergessen, dass er vor hundertzehn Jahren, als sie gemeinsam unterwiesen worden waren, im Fach Fantasie jeden Lehrer enttäuscht hatte? Außerdem neigte er dazu, berechenbar zu sein, dabei wusste doch jeder, dass nur diejenigen Elfen in der Welt bestehen konnten, die dem Pfad des Schmetterlings folgten.

»Na gut«, sagte Sija und berührte ein paarmal ihr goldenes Menschenwunder-Ding um ihr Handgelenk, denn das brachte ganz sieher Glück und friedliches Wetter. »Ich werde eine Geschichte über die Lieblingszauberin erzählen! Über Kari Feuermädchen.«

»Eine Geschichte aus der Zeit, die vergangen ist, oder eine aus der Zeit, die noch vergehen wird?«, fragte Palo und balancierte auf dem Stein.

»Wirst du schon sehen«, gab Sija zurück, schubste Palo vom Stein herunter und setzte sich selbst darauf. »Feuermädchen wird schon sehr bald zu uns zurückkommen mit vielen, vielen Geschenken für uns und dann wird sie Großtaten vollbringen, von denen sich das verborgene Volk noch jahrhundertelang erzählen wird!«

»Was für Großtaten?«, wollte Tuli wissen.

»Sie wird einen Drachen zähmen, einen Drachen, der so groß ist wie ein Berg«, behauptete Sija und reckte sich mit erhobenen Armen, um seine Größe anzudeuten. »Er wird ihr aus der Hand fressen und sich von ihr den Bauch kraulen lassen. Wenn sie auf ihm herabgefegt kommt, werden alle vor ihr zittern und sich neue Tänze für sie ausdenken, um sie zu beschwichtigen und ihrer Seele Heiterkeit zu bringen.«

Palo klatschte. »Wird ein Verräter versuchen, sie zu besiegen?«

»Oh ja, natürlich, denn Zauberer haben viele Feinde und müssen Wunder wirken ohne Zahl, zehn am Tag mindestens!« Sija tanzte ein paar der Wunder, die sie mit Worten nicht beschreiben konnte, und spielte eine brandneue Melodie auf der Grasharfe dazu. »Aber zusammen mit ihrem Gefährten, dem Herrn des Feuers, wird sie in den Kampf ziehen und danach weiterleben bis zu ihrem hundertfünfundsiebzigsten Lebensjahr. Dann wird sie friedlich sterben durch eine Fischgräte, die ihr im Hals stecken bleibt.«

Palo und Tuli nickten zufrieden.

»Glaubt ihr wirklich, sie kommt wieder?«, fragte Tuli plötzlich.

»Nein«, sagte Palo.

»Doch«, sagte Sija fest. »Und sie wird diesen Drachen zähmen.«

»Fiii, du bist manchmal dumm wie Käferpisse!«, meinte Tuli und wirbelte davon, bevor Sija sie an den Haaren ziehen konnte. »Der Drache wird sie in einen Eisblock verwandeln und auffressen.«

Palo hob ruckartig den Kopf. »Es geschieht etwas«, sagte er.

»Oh!« Sija hatte erspäht, was er meinte. »Das ist nicht gut, gar nicht gut ist das! Wann bemerken die Menschen endlich, was geschieht?«

In der Stadt der Nebel, die sich am Ufer erstreckte, ertönten die Widderhörner des Alarms.

REISEFIEBER

Sie standen am Rand der Klippe und rangen miteinander. Kari keuchend, verbissen, John mit wütenden Augen. Sie hatte es geschafft, ihn an der schwarzen Lederjacke zu packen, doch er war stärker als sie, schon ragten ihre Zehen über den Rand. Noch war nicht klar, wer wen in den Abgrund stoßen würde.

»Wusstest du, dass diese Schlucht dreihundertvierundzwanzig Meter tief ist?«, rief John und das regte Kari so auf, dass sie es plötzlich schaffte, ihn herumzureißen und über die Kante zu werfen. »Nein, und ich wollte es auch nicht wissen!«, schrie sie ihm hinterher …

… und schlug ihre Augen in der Dunkelheit ihres Zimmers auf. Noch ging ihr Atem rasch, ein kaltes Kribbeln lief über ihren Körper und ihr Herz schlug flach und schnell. O Gott, hatte sie das tatsächlich getan, ihren Patchworkbruder im Traum umgebracht? Besser, sie erzählte ihm das nicht. Andererseits fand er es vielleicht witzig.

Um sich zu beruhigen, tastete Kari nach dem dunkelroten, rauen Lavastein auf ihrem Nachttisch und umschloss ihn mit der Hand. Schon war die Erinnerung wieder da, wie Andrik ihn ihr gegeben hatte – eine Erinnerung, die sich anfühlte wie Sonnenschein auf der Haut. Oh, dieser verdammte Typ, den sie manchmal anschreien und meistens küssen wollte … und der gerade so weit weg war.

Aber nicht mehr lange. In einer Woche begannen die Sommerferien, ihr Flugticket nach Island war längst gebucht. Endlich, endlich würde sie all ihre Freunde in Khyona wiedersehen, Andrik, Maéva, Bjarni, die Wildpferde … schon so oft hatte sie sich vorgestellt, was ihre Gefährten gerade taten, während sie selbst gezwungen wurde, Gleichungen zu lösen und Lyrik-Interpretationen zu schreiben.

Nur schade, dass ich wahrscheinlich nie herausbekommen werde, ob meine Urgroßmutter aus Isslar noch lebt, ging es Kari durch den Kopf. Jisha Ulim Thordar. Aus Isslar geflohen, aber dort immer noch Volksheldin.

Kari seufzte. Genauso offen ist, ob ich das magische Talent der Thordars geerbt habe. Beim planlosen Herumprobieren im Wald hatte sie es nicht mal geschafft, ein laues Lüftchen zu rufen, geschweige denn einen Sturm anzufachen.

Der WhatsApp-Chat glühte wegen der Reiseabsprachen zwischen allen, die diesmal dabei sein würden. Ping!, ping!, schon trafen neue Nachrichten ein.

Ella – Morgen, Freaks! Bin schon am Packen.

Leyla – WTF?! Ist noch ’ne Woche!

Ella – Ja, und? Wie viele Pullis nehmt ihr mit? Wie kalt ist das da, Kari?

John – Manchmal frieren einem die Nasenhaare ein, muss ich noch mehr sagen?

Leyla – LOL, also ICH hab keine Nasenhaare!

Kari musste lächeln. John im Zimmer nebenan war also auch schon wach. Und anscheinend nicht im Bad. Das war ihre Chance! Sie schlurfte aus ihrem Zimmer und den Gang hinunter. Verdammt, jemand anders war schneller gewesen, das Bad war besetzt. Eindeutig ein Nachteil der Familienvergrößerung. Nie kann man sicher sein, dass man duschen darf, wenn man will.

Aber lange warten musste sie nicht, bis sie dran war, schon kam ihre dreizehnjährige Schwester in einem Schwall Dampf zum Vorschein und marschierte zu ihrem Zimmer zurück, um sich etwas anderes anzuziehen als ihr schwarzes Schlabber-T-Shirt mit dem angreifenden Tyrannosaurus Rex darauf.

»Und, ist noch Warmwasser übrig?«, fragte Kari.

»Wieso, ich dachte, du duschst jetzt kalt, um dich für den rauen Norden abzuhärten?«, schoss Alice grinsend zurück.

Kari versuchte, Alice zu schnappen und durchzukitzeln. Doch die war leider deutlich zu schnell für so was, Kari bekam ein feuchtes Handtuch ins Gesicht und war nun endgültig wach. Schnell wurde Alice wieder ernst und flüsterte ihr ins Ohr: »Na, freust du dich schon auf Isslar?« Kari hatte ihr, wie versprochen, alles erzählt – die ganze, fast unglaubliche Wahrheit über die Woche, in der sie offiziell vermisst gewesen war. John hatte ebenfalls eine Zusammenfassung bekommen, als Dank dafür, dass er ihre Familie unter Lebensgefahr vor der Assassinin Cecily verteidigt hatte. Nur ihre Freundinnen wussten nichts, sonst wären zu viele Leute eingeweiht.

»Ja klar freue ich mich«, sagte Kari und schaffte ein verzerrtes Lächeln.

Der Widerspruch entging Alice nicht. »Was? So freut sich eine gemästete Gans, wenn man ihr sagt, dass bald Weihnachten ist!«

Kari versuchte zu erklären: »Na ja, es ist fast ein Jahr her. Vielleicht ist Andrik … ich meine, wie oft kann man an jemanden denken, der nicht da ist und mit dem man nicht mal eine Botschaft austauschen kann?«

»Der liebt dich noch – ganz sicher«, sagte Alice und tätschelte ihr die Schulter.

»Aber was ist, wenn er jemand anders kennengelernt hat?«, ächzte Kari.

»Dann ist er ein Volldepp und eh nicht der Richtige für dich«, versicherte ihre Schwester und kämmte sich die nassen, schulterlangen Haare – braun und glatt wie die eines Otters – mit den Fingern durch. »Und ich wette, er macht sich gerade die gleichen Sorgen wegen dir und fragt den Silberfalken täglich, ob du schon beim Grünen Tor gesichtet worden bist.«

»Wenn er überhaupt noch lebt … Andrik meine ich«, sagte Kari und spürte, wie ein Schauer sie überlief. »Bestimmt waren die Eisdrachen-Angriffe im Winter echt heftig, was ist, wenn er …«

Alice stemmte die Hände gegen die Hüften und blickte sie mit blitzenden Augen an. »Geht’s noch? Der Typ kann sämtliche Vulkane Islands gleichzeitig ausbrechen lassen, so ein mickriges Reptil juckt den doch nicht!«

»Eisdrachen sind nicht …«

»Du brauchst ganz dringend Frühstück. Nach einem Schoko-Müsli bist du bestimmt wieder normal.«

»Wer weiß?«, sagte Kari und musste schmunzeln. Alice hat recht, vielleicht ist das mulmige Gefühl in meinem Magen wenigstens zum Teil ganz ordinärer Hunger.

Beim Frühstück am großen Esstisch im Erdgeschoss schaute Kari John zu, der mit abwesender Miene und halb geschlossenen Augen an seinem Brot kaute. Er war nicht gerade ein Morgenmensch.

»Ich hab geträumt, dass ich dich umgebracht habe«, berichtete sie ihm. »Glatt über die Klippe gestoßen.«

John zog eine Augenbraue hoch. »Wofür? Was hatte ich getan?«

»Herumgeklugscheißert.«

»Also echt, wie realistisch ist das denn?«, sagte John, ohne eine Miene zu verziehen.

Alice prustete ihr Müsli auf den Untersetzer.

»Es war immerhin nicht ganz einseitig, du hast auch versucht, mich in die Schlucht zu werfen«, erklärte Kari und musste grinsen, als sie sah, wie ihre Mutter und Johns Vater Thorsten einen leicht beklommenen Blick tauschten.

»Moment«, sagte John und tippte etwas auf seinem Handy. »Muss ich notieren. Duell auf der Klippe. Kommt im Showdown meines Drehbuchs vielleicht ganz gut.«

»Ja bitte, lass mich deine Muse sein«, flachste Kari, nun schon etwas entspannter. Wieso hatte sie John am Anfang eigentlich nicht ausstehen können? Das war gefühlt hundert Jahre her.

»Habt ihr dem Hotel schon Bescheid gegeben, dass ihr spät anreist?«, erkundigte sich Thorsten. »Gut, dass Ella schon volljährig ist. Sag ihr, sie muss unbedingt eine Kreditkarte mitnehmen, die braucht man, wenn man ein Auto mieten will.«

»Mach ich«, versicherte ihm Kari und seufzte innerlich.

»Ich verstehe immer noch nicht ganz, wieso du ihr diese Reise erlaubt hast«, brummte Thorsten in Susannas Richtung und musterte Kari kritisch über den Rand seiner Zeitung. »Ich hätte gedacht, du lässt sie nie wieder aus den Augen oder nach Island, nachdem sie dort so lange vermisst war.«

Es machte Kari keinerlei Mühe, sich daran zu erinnern, warum sie mit Thorsten nie so recht warm geworden war.

Susanna lächelte, was ihr schmales, eckiges Gesicht einen Moment lang weicher wirken ließ. »Na ja … was passiert, wenn man junge Leute festbindet?«

»Kommt drauf an, ob man ihnen das Smartphone danebenlegt«, sagte John. »Und genug zu essen natürlich. Und damit meine ich nicht Brokkoli-Auflauf.«

»Absolut!«, sagte Alice. Den Brokkoli-Auflauf mit Tofu, eine Kreation von Susanna, hatte es gestern zum Abendessen gegeben, und er war von mehreren Mitgliedern der Familie nicht mit Begeisterung aufgenommen worden. Nur Thorsten hatte es geschmeckt.

»Apropos Smartphone«, mischte sich Kari ein. »Mam, hast du mir den Link zu dieser Psychologin rausgesucht, bei der ich damals war? Anna Burgsoll?« Sie wollte mit dieser Frau sprechen, die sie damals als Kind so lange behandelt hatte. Wollte mehr über diese Wut erfahren, die manchmal so plötzlich in ihr hochschoss und ihr das Leben nicht leichter machte.

»Vielleicht ist es keine schlechte Idee, dass du deine traumatischen Erfahrungen in Island noch mal mit professioneller Hilfe …«, begann Thorsten.

»Sie fand es doch gar nicht traumatisch«, protestierte Alice.

Ihre Mam hörte Thorsten gerade nicht zu, was Kari sehr erfrischend fand nach den endlosen ersten Monaten, in denen sie nur Augen für ihren neuen Freund gehabt hatte. »Moment, ich schicke dir den Link – leider hat sie ihre Praxis anscheinend geschlossen, das steht auf der Startseite. So, voilà!«

Es war reiner Zufall, dass Kari sich noch kurz die Zeit nahm, auf die Website zu gehen, bevor sie sich ihren Schulrucksack über die Schulter warf. John und Alice zogen sich schon die Jacken über und diskutierten, wieso in letzter Zeit so oft die erste Stunde ausfiel.

Ja, es stimmte, die Praxis existierte schon seit zehn Jahren nicht mehr. Wie seltsam, sie musste kurz nach Karis Behandlung geschlossen worden sein, als Kari gerade sieben gewesen war. Rasch warf Kari einen Blick ins Impressum – und fühlte, wie ein Ruck durch ihren Körper ging.

»Was ist, kommst du?«, rief Alice.

Noch immer stand Kari im Flur und fühlte sich komplett unfähig, sich zu bewegen, irgendetwas zu tun. »Nein … ich …«, stammelte sie.

»Du willst vielleicht den Bus verpassen, aber ich nicht«, wandte John ein.

Kari atmete einmal tief durch. »Sag den … sagt ihr bitte in der Schule Bescheid, dass ich krank bin? Erklärungen gibt’s später, okay?«

Sie beförderte ihren Rucksack zurück in seine Ecke am Eingang und stürmte an ihren verblüfften Erziehungsberechtigten vorbei in ihr Zimmer im ersten Stock.

SPURENSUCHE

Dass Kari sich manchmal seltsam benahm, war nicht neu. Aber so seltsam – das musste was Ernstes sein. Fast ohne es zu merken, zerknüllte John ein altes Arbeitsblatt in der Hand und zog damit leider die Aufmerksamkeit von Herrn Morgenstein auf sich. »John, könntest du uns bitte mal ein paar Beispiele geben?«

Äh bitte? Beispiele wofür? Leider hatte er keine Ahnung, worum es gerade ging. Rasch setzte John eine freundliche Miene auf – durch seinen Vater wusste er, dass die von Lehrern, die den ganzen Tag mit mürrischen Pubertierenden zu tun hatten, geschätzt wurde. »Ja, natürlich kann ich Ihnen Beispiele geben«, sagte er, während er hektisch scannte, was auf der Tafel stand – was durch Herrn Morgensteins Sauklaue nicht gerade erleichtert wurde.

Herr Morgenstein wirkte irritiert. Eine so schwammige Antwort war er von einem seiner Einserschüler nicht gewohnt. »Dann mach das jetzt bitte. Falls es nicht zu viel Mühe ist.«

Zum Glück kapierte sein Freund und Banknachbar Benjamin, dass John ein Problem hatte, und kritzelte in Großbuchstaben SYMBIOSE auf eine leere Seite seines Heftes. Ach so, alles klar. »Im Tierreich gibt es jede Menge Beispiele für Symbiose, also die Zusammenarbeit ganz verschiedener Organismen … ein besonders schönes, finde ich, ist das mit den Fischen und Putzergarnelen im Korallenriff«, legte John los, erklärte, was er meinte, und ging dann zu Kooperationen von Pflanzen und Insekten über. Schön langatmig, damit Herr Morgenstein ihn anschließend in Ruhe ließ. Es klappte, sein Biolehrer hütete sich davor, ihn noch mal aufzurufen.

Nach der Schule begegnete er Alice wie üblich an der Bushaltestelle. »Schwestern, also echt!«, beschwerte sie sich und fingerte an dem Schneeflocken-Anhänger herum, den sie an einer feinen silbernen Kette trug. Das Ding sah einer echten Schneeflocke täuschend ähnlich. »Sich einfach krankmelden und uns herumrätseln lassen, das ist gemein.«

»Aber so was von«, sagte John, während sie sich neben ihm in den Bus drängte. Etwas mühsam hielt Alice, die einen Kopf kleiner war, mit ihm Schritt, als er die letzten Meter bis zu ihrem Haus im Eiltempo zurücklegte.

Als sie kurz anklopften und in Karis Zimmer hineinplatzten, lag sie auf dem Bett und starrte zur Decke. Ihre wilden blonden Locken sahen aus, als hätte sie heute vergessen, sich zu kämmen. Wieder einmal fiel John auf, wie sich ihr Zimmer verändert hatte, seit sie im letzten Sommer in Island verschollen gewesen war. Es wirkte irgendwie … erwachsener. Verschwunden waren die aus Zeitschriften herausgerissenen Pferdeposter, stattdessen schmückte nun das gerahmte Bild eines Wasserfalls in grün-schwarzer Lavalandschaft die Wand. Die schon etwas abgewetzte violette Kuscheldecke war in der Altkleidersammlung gelandet, dafür hatte sie sich silbrig schimmernde Kissen für ihr Bett genäht. Nur der Allgemeinzustand hatte sich nicht geändert: Auf dem Boden lagen immer noch benutzte Klamotten, ein Isländisch-Wörterbuch und das Einwickelpapier einer Tafel Vollmilch-Nuss herum.

»Anna Jisha Burgsoll«, sagte Kari, bevor John es geschafft hatte, den Mund zu öffnen. »Jisha ist ein sehr seltener Name, das kann kein Zufall sein, oder?«

Alice hatte schnell kapiert, was das bedeutete. »Soll das heißen, unsere Urgroßmutter aus Isslar hat unter einem Decknamen hier gelebt und dich als Psychologin behandelt, als du klein warst? Aber wieso hat sie nicht einfach gesagt, wer sie ist? Dann hätten wir sie zum Kaffee einladen können, sie hätte mich babysitten dürfen, was weiß ich …«

»Wenn wir ihr geglaubt hätten«, antwortete Kari. »Anna Jisha Burgsoll, ich fasse es echt nicht! Sie hatte schon in Schweden, nach ihrer Flucht aus Isslar, einen Decknamen, bei dem sie das ›Jisha‹ behalten hat. Ich wette darauf, sie ist es.«

»Also ich wette nicht, denn sie ist es unter Garantie!«, jubelte Alice.

»Vielleicht ist es doch nur ein Zufall«, meinte John. Irgendjemand musste hier unbedingt den Skeptiker geben.

»Glaubst du? Na, dann schau mal hier.« Kari rollte sich vom Bett, tappte auf bloßen Füßen zum Schreibtisch, klappte den Laptop auf und deutete auf einen Eintrag. »Wie viele Leute ziehen aus Deutschland weg und haben danach eine Kontaktadresse, die auf .is für Island endet?«

Fasziniert starrte John auf den Bildschirm. »So etwa 0,001 Prozent, schätze ich.«

»Sag bloß, du hast ihr geschrieben!«, quiekte Alice.

Kari verzog das Gesicht. »Hab ich mich nicht getraut. Aber ich hab im isländischen Telefonverzeichnis nachgeschaut, das praktischerweise nach Vornamen sortiert ist. Es gibt eine Jisha Ragnarsdottír, sie führt in Reykjavik einen Buchladen mit Café.«

Inzwischen war John überzeugt. Aber er fand, das war eine reichlich seltsame Karriere für eine Volksheldin aus Isslar. »Hast du nicht erzählt, die Familie Thordar kann den Wind beherrschen?«, meinte er. »Hätte sie dann nicht irgendwas anderes gemacht? Was weiß ich, sie hätte in Deutschland eine große Nummer im Windkraft-Business werden können oder so was.«

Ganz plötzlich musste er an Cecily denken. An ihre gewandten Bewegungen, ihre Tricks, ihre Coolness, die er in tausend Jahren so nicht hinbekäme. Wo sie jetzt wohl war? Wie viele Aufträge sie wohl im letzten Jahr erfüllt … ähm, also Leute getötet … hatte? Nein, er fantasierte nicht von ihr, sie hatte verdammt noch mal versucht, ihn umzubringen!

»In einer Woche wissen wir mehr«, sagte Kari und John sah, dass sie tief durch atmete. »Und ich glaube, ehrlich gesagt, es ist verdammt wichtig, dass ich mit ihr spreche, bevor ich mich noch mal nach Khyona traue. Ich habe das letzte Mal nicht wirklich durchgeblickt dort und das hätte mich fast das Leben gekostet.«

»Immerhin, diesmal wird keine Assassinin in der Gegend sein, wir dürfen also alles essen«, versuchte John, herumzualbern, doch natürlich fand keiner es witzig.

In diesem Moment klopfte es an der Tür. »Schön, dass es dir wieder besser geht, Kari«, sagte Susanna und zog die Augenbrauen hoch, als sie die kleine Versammlung im Zimmer sah. »Hier ist ein Erkältungstee. Willst du nicht mal niesen, damit ich dir glaube, dass du wirklich krank bist?«

»Äh«, sagte Kari.

***

Eine Woche später war es endlich so weit. Der Abschied von Alice war hart, Kari sah, dass ihre kleine Schwester Tränen in den Augen hatte. »Du passt aber wirklich auf dich auf, ja?«, fragte Alice.

»Versprochen«, sagte Kari, umarmte Alice fest und versuchte, nicht selbst zu heulen.

»Hast du die Taschenlampe gegen die Trolle und die Schokolade für die Elfen?«, flüsterte ihre Schwester ihr ins Ohr, als gerade weder Susanna noch Thorsten hinhörten.

Kari musste schmunzeln, während sie sich ihren vollgestopften Wanderrucksack auf den Rücken wuchtete. »Klar doch. Zehn Tafeln. Die vom Zoll werden schön blöd gucken.«

John wirkte verlegen, als Alice die Arme um ihn schlang. »Hey, alles gut, in vier Wochen sind wir schon wieder da, soll ich dir irgendwas Besonderes mitbringen?«

»Ein Wildpferd – am besten ein Fohlen!«, sagte Alice und grinste, als John die Augen verdrehte.

»Schon klar, und auf das passe ich dann auf, während du in der Schule bist?«, stöhnte Susanna und tat, als raufe sie sich die Haare.

Es klingelte; das waren Leyla und Ella, beide wirkten aufgedreht. »Moin! Alles klar bei euch?« Ella hatte glänzende Augen. Sonst musste sie immer mit ihrer ausgedehnten Familie in Urlaub fahren, das hier war das erste Mal, dass sie mit Freundinnen unterwegs sein durfte.

»Zum Glück hab ich einen Kombi, sonst hätten wir keine Chance, das alles zum Flughafen zu schaffen«, sagte Susanna mit einem Blick auf den Gepäckstapel, zu dem sich gerade noch Leylas prall gefüllte Reisetasche gesellt hatte. »Was hast du dadrin, Leyla, ein Zwergmammut oder so was?«

»Ach, deswegen macht das Ding so komische Geräusche«, meinte Ella, die ihren schlacksigen Körper in Jeans und eine Outdoorjacke gehüllt hatte. Sie war ebenso dünn und blond wie Leyla dunkel und mollig.

»Ihr werdet mir noch dankbar sein, so ein Mammut kann irre viel Gepäck schleppen«, verkündete Leyla, während sie das ganze Zeug ins Auto luden.

»Na, so still, Kari?«, meinte Ella.

»Das kommt euch nur so vor, weil ihr so viel redet«, behauptete Kari. Doch eigentlich hatte sie ein schlechtes Gewissen. So gerne Kari auch sie eingeweiht hätte – ihre Freundinnen durften nichts von Khyona wissen. Leyla nicht, weil Geheimnisse bei ihr nie besonders lange geheim waren. Und Ella nicht, weil Leyla gemerkt hätte, wenn Kari und Ella gemeinsam etwas vor ihr geheim hielten. Hoffentlich schadet es unserer Freundschaft nicht allzu sehr, dass ich ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählen kann!

Es war nicht gerade schön gewesen, den beiden klarzumachen, dass Kari die meiste Zeit nicht mit ihnen in Island unterwegs sein würde, sondern vorhatte, sich mit einem Jungen zu treffen. Beide waren enttäuscht gewesen, besonders Ella, aber schließlich hatten sie Ja gesagt. Und bisher dichtgehalten – Susanna und Thorsten ahnten nichts.

Während des Fluges schaffte Kari, die unangenehmen Gedanken zu verdrängen. Sie unterhielten sich quer über ihre Sitzreihen hinweg, rissen Witze und schmökerten in ihren Reiseführern. Als es endlich so weit war und Kari aus dem Flugzeugfenster auf die raue Küste Islands hinunterblickte, fühlte sie ihr Herz schneller schlagen. Ich bin zurück. Noch nicht in Isslar, aber immerhin in Island. Für diese Reise hatte sie das ganze Jahr lang gespart. Es war ihr leichtgefallen, auf neue Klamotten, Kino und den besseren Handytarif zu verzichten, sie musste nur eine Sekunde lang an Andrik denken. Manchmal auch zwei Sekunden lang, wenn es um den neusten Roman ihrer Lieblingsautorin ging. Oder drei Sekunden, zum Beispiel beim Marzipan an Ostern. Dann war das Marzipan stärker gewesen.

Sobald sie ihre Koffer hatten, übernahm John die Führung. »Okay, ich erinnere mich – da vorne fährt der Bus in die Stadt ab. Vom Busbahnhof können wir zum Hotel laufen«, erklärte er. Kari war zufrieden damit, einfach nur hinterherzuzockeln und sich zu fragen, wie es ihrem ehemaligen Diener Bjarni und seinen Geschwistern wohl ging. Für Bjarni hatte sie ein ganz besonderes Geschenk dabei.

Um vier Uhr nachmittags konnten sie endlich ihre Zimmer aufschließen und sich auf ihre Betten werfen. »Was jetzt? Erst mal ausruhen?«, stöhnte Leyla, doch Ella verkündete: »Nichts da, wir gehen erkunden – dein Mammut kannst du meinetwegen mitnehmen, nachdem du es ausgepackt hast!«

Kari und John, die sich schon ein bisschen auskannten, spielten die Reiseführer. Sie zeigten ihnen die Laugavegur, in der Touristen aus aller Welt an Läden und Restaurants vorbeischlenderten, und die hoch aufragende, aus hellem Stein erbaute Kirche namens Hallgrímskirkja mit der Statue des Entdeckers Leif Eriksson davor. Bis Kari spürte, wie sie unruhig wurde. »Ich würde gerne noch in einem bestimmten Buchladen vorbeischauen, wollt ihr mitkommen oder lieber noch zu dritt rumlaufen?«

Natürlich sagte John sofort: »Ich komme mit«, wobei er zum Glück daran dachte, gleichgültig zu klingen. Darin hatte er Übung, obwohl er im letzten Jahr nicht mehr ganz so sehr darauf geachtet hatte, cool zu wirken.

»Wir bummeln noch ein bisschen, vielleicht bis zum Hafen«, entschieden ihre Freundinnen und endlich, endlich konnte Kari sich auf den Weg machen zu Jishas kleiner Buchhandlung in der Grettisgata.

Sie hatte keine Mail geschrieben. Sich nicht angekündigt. Nur kurz bei einem Mitarbeiter angerufen – der zum Glück Englisch sprach, denn Karis Isländisch war noch sehr holprig – und gefragt, ob Jisha an diesem Tag da sein würde.

Ist es die richtige Jisha? Plötzlich waren die Zweifel zurück. Werde ich gleich nur irgendeiner Frau begegnen? Oder Jisha Ulim Thordar, Anführerin der großen Rebellion, Urheberin der Fünf Forderungen, meiner Urgroßmutter?

Auf einmal kam ihr das völlig lächerlich vor. Aber falls sie es doch war, konnte Kari nur hoffen, dass ihr der Besuch auch recht war … und es keinen wichtigen Grund gab, aus dem sich ihre Urgroßmutter all die Jahre über von ihr und ihrer Familie ferngehalten hatte.

TROLLBÜCHER

Die Buchhandlung Trollbooks erwies sich als kleines, weiß gestrichenes Haus mit zwei Schaufenstern, durch die Kari Räume mit Büchern und ein paar Caféstühle erspähte. Nervös beglotzte Kari so lange die Auslage, bis John fragte: »Na? Hosen voll?«

»Nee!«, schoss Kari zurück, packte die Klinke und betrat Trollbooks, wo es vielleicht wirklich Bücher über Trolle gab. Drinnen war es angenehm warm, es roch nach Kaffee, Gebäck und dem alten, ein bisschen staubigen Orientteppich, der im vorderen Raum den Boden dekorierte. Alle Wände waren von Bücherregalen bedeckt, an drei Cafétischchen mit Marmorplatte und gusseisernem Fuß saßen Touristen. An der Kasse stand eine junge Frau, die ihnen freundlich zunickte und sie dann in Ruhe ließ. Langsam ging Kari in den zweiten Raum, in dem die vollen Bücherregale ebenfalls bis zur Decke reichten; John folgte ihr schweigend und mit ein paar Schritten Abstand.

Plötzlich begann Karis Herz, wild zu pochen. Eine große, hagere ältere Frau, den Rücken ihr zugewandt, sortierte dort vorne gerade neue Bücher ein. Ihre Haare waren prachtvoll – lang und seidig, von derselben silbrigen Farbe wie das Gefieder eines Graureihers.

Irgendwie schien die Frau zu spüren, dass jemand hereingekommen war und sie anstarrte, jedenfalls drehte sie sich mit fragendem Blick um. Kari vergaß zu atmen. Dieses Gesicht habe ich nie gesehen, aber ich kenne es trotzdem. Genau so wird Alice mit siebzig aussehen!

Denn diese Frau mit den kühnen blaugrauen Augen wirkte nicht älter als siebzig, obwohl sie, wenn sie wirklich Karis Urgroßmutter war, über hundert sein musste. Aber das war bei Menschen aus Isslar anscheinend normal.

Noch hatte die fremde Frau kein Wort gesprochen. Sie hatte auch kein unverbindliches Lächeln aufgesetzt und fragte nicht »Kann ich Ihnen helfen?«. Schweigend, prüfend, blickte sie Kari entgegen. Wartete. Ahnte sie etwas?

Weil Karis Mund so trocken war, dass sie kein Wort herausbrachte, legte sie stattdessen die Hände mit gespreizten Fingern übereinander. Der Schneeflockengruß.

Etwas geschah in den Augen der Buchhändlerin. Sie legte den Band weg, den sie in der Hand gehalten hatte, und erwiderte den Gruß. »Ich habe es mir fast gedacht«, sagte sie mit einem Lächeln. »Wie schön, dass du hier bist, Kari!«

»Woher wissen Sie, wer ich bin? Sie sind Jisha, oder?« Kari fühlte sich so durcheinander wie lange nicht mehr.

Die alte Frau warf einen wachsamen Blick in Johns Richtung. »Gehört der Junge zu dir?«

»Ja, der ist in Ordnung«, versicherte Kari schnell. »Das ist John Elzheimer, er, äh, gehört zu meiner Familie.«

»Gehen wir ins Büro, da hört keiner mit«, sagte die alte Buchhändlerin und hielt Kari und John die Tür zu einem Raum auf, der mit gestapelten Büchern, Rechnungen und anderem Zubehör vollgestopft war. Als sie sorgfältig die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, wandte sie sich Kari zu. »Ja, ich bin Jisha. Du hast gefragt, woher ich weiß, dass du kommen würdest. Tja, das verdanke ich gemeinsamen Bekannten.« Sie deutete an, dass es sich dabei um Gestalten in Knie- bis Hüfthöhe gehandelt hatte.

Ah, die Elfen! Natürlich! Diese geschwätzigen Geschöpfe wechselten hier in Island unbeschwert zwischen den Welten.

»Nur durch sie kann man Leute in Isslar kontaktieren, oder?«, fragte Kari.

Jisha nickte. »Ja, sie sind die einzige Möglichkeit, man muss sie überreden, eine Botschaft mitzunehmen. Ab und zu berichten sie mir, was in der alten Heimat los ist. Vor ein paar Monaten haben sie mir erzählt, dass du in Khyona warst. Seither habe ich gehofft, dass du mich findest, aber nicht gewagt, dich direkt anzusprechen.«

»Warum nicht?«, fragte Kari – es hatte keinen Sinn, um die Sache herumzureden. »Und warum hast du dich als Psychologin ausgegeben, statt uns einfach zu besuchen?«

»Ich bin Psychologin«, erwiderte Jisha und lächelte. »Aber jetzt erst mal von Anfang an. Nach der Rebellion bin ich durchs Blaue Tor geflohen, davon hast du gehört, oder? Der Zweite Weltkrieg war in vollem Gange und Island wimmelte von amerikanischem Militär – scheußlich. Weil ich nicht wusste, ob mir jemand durchs Tor gefolgt ist, habe ich mich nach Schweden abgesetzt und dort behauptet, meine Papiere seien bei einem Luftangriff verbrannt.«

»Die haben Ihnen einfach einen neuen Pass ausgestellt?«, mischte sich John ein.

»Ganz genau. In Schweden habe ich mit meinem Verlobten Frida bekommen, deine Großmutter – aber es war nicht leicht mit ihr.« Jisha atmete tief durch. »Ihre Pubertät war eine Art Naturkatastrophe, kannst du dir das vorstellen?«

»Äh, ja«, sagte Kari.

»Sie blieb oft die ganze Nacht weg, nahm Drogen und ließ sich mit einem Kerl ein, der schon seit Jahren süchtig war und sie ausnutzte.« Jishas Finger krampften sich um die Tasse. »Wir haben viel gestritten, oh ja. Kritik wollte sie keine hören. Schließlich ist sie nach Deutschland gezogen und hat den Kontakt zu mir abgebrochen.«

»Der drogensüchtige Typ … das war aber nicht etwa Karis Großvater, oder?«, mischte John sich mit höflich-gedämpfter Stimme ein.

Jisha zog eine Augenbraue hoch. »Oskar? Doch, genau der. Er war als junger Mann sogar im Gefängnis, weil er damals Heroin genommen hat.«

Kari blieb der Mund offen stehen. He, Moment mal, mein Großvater Oskar? Dieser freundliche, etwas kauzige alte Mann, der am liebsten in seinem halb verwilderten Obst- und Gemüsegarten vor sich hin werkelt?

»Dass Susanna – deine Mutter – geboren wurde, habe ich erst Jahre später mitbekommen. Ich habe es erst erfahren, nachdem Frida bei einem Motorradunfall gestorben war. Eigentlich hätte ich sofort nach Deutschland fahren und mich um euch kümmern müssen … aber das habe ich nicht geschafft, ich war völlig am Ende.« Jishas Blick, als sie das sagte, ließ sie zum ersten Mal wirklich alt wirken. Alt und müde. »Ich wusste ja auch nicht, was euch Frida über mich erzählt hatte, vermutlich nicht viel Gutes. Um ganz neu anzufangen, habe ich in Stockholm Psychologie studiert.«

»Und danach sind Sie … bist du … nach Deutschland gezogen?«

»Ja, um in eurer Nähe zu sein. Es lief schlecht zwischen deinen Eltern, wahrscheinlich kannst du dich nicht daran erinnern. Du warst unglücklich und hattest Schwierigkeiten in der Schule. Wenigstens dir wollte ich helfen. Als du ausgerastet bist, weil dieser Junge deine Katze schlecht behandelt hat, habe ich eingefädelt, dass du zur Behandlung zu mir geschickt worden bist.«

Karis und Jishas Blicke trafen sich und plötzlich war die Erinnerung wieder da, an diese Frau mit den langen silbergrauen Haaren, an ihre freundlichen Augen, ihre geduldigen Fragen. Karis Hand in ihrer, als sie statt zur Therapie einfach mal zum Eisessen gegangen waren. Ja, Jisha hat mir geholfen, ging es ihr durch den Kopf, und doch hatte sie noch so viele Fragen. »Warum als Frau Burgsoll?«

»Ich wollte euch nicht in Gefahr bringen«, sagte Jisha und von einem Moment auf den anderen klang ihre Stimme hart – und sie war nicht mehr die freundliche Frau Burgsoll, sondern Jisha Ulim Thordar, die Revolutionärin. »Hast du die Fürstinnen kennengelernt? Rachsüchtige Geschöpfe! Mir war klar, dass sie Späher in dieser Welt hatten und versuchen würden, mich zu finden und hinzurichten. Wie du siehst, ist es ihnen bisher nicht gelungen. Aber ein-, zweimal war es knapp.«

Kari konnte sich nur knapp von einem nervösen Blick über die Schulter abhalten. »Wieso bist du dann nach Island zurückgegangen?«

»Ganz ordinäres Heimweh«, sagte Jisha und lächelte schief. »Außerdem bin ich zu alt, um noch Angst vor dem Tod zu haben.«

Es war Zeit für gute Nachrichten. »Ich glaube, diese Gefahr ist vorbei«, sagte Kari. »Hast du gehört, was im letzten Sommer in Isslar los war?« Sie berichtete, wie sie den Sturz der Fürstinnen miterlebt hatte, erzählte von Magnus Thordars Versuch, die Macht zu übernehmen, und von Andriks Eingreifen. Jishas Gesicht leuchtete, während sie lauschte. »Endlich. Endlich werden meine Fünf Forderungen Wirklichkeit! Andrik Caymar Vikanes ist natürlich lange nach meiner Zeit in Isslar geboren worden, ich kenne ihn nicht. Aber ich mag seine Familie und Caymar ist ein starker Mondname. Erzähl mir von ihm.«

»Wenn er spricht, hören die Leute zu – und nicht nur, weil sie Angst vor ihm haben«, erzählte Kari und hörte ihr Herz laut pochen. »Lange wollte er sich nicht einmischen. Aber er ist mutig und hat ein gutes Herz …«

Sie erzählte, dass vor wenigen Jahren seine Eltern umgekommen waren – bei einem Unfall, an dem sein Bruder die Schuld trug. Dann berichtete Kari, wie sie zu ihm geritten war, um ihn um Hilfe zu bitten, und was sie voneinander gelernt hatten.

»Der richtige Mann, scheint mir«, sagte Jisha, als Kari geendet hatte. Sie legte eine ihrer Hände über Karis, eine federleichte Berührung. »Der richtige für Isslar … und für dich.«

»Glaube ich auch.« Kari spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde. Wahrscheinlich wechselte sie gerade die Farbe bis unter die Haarspitzen.

Jishas Ausdruck wurde eindringlich, sie lehnte sich in ihrem Stuhl nach vorne. Ihr Griff um Karis Hand wurde fester. »Es gibt jemanden in Isslar, vor dem du dich hüten musst. Der euch sehr schaden kann, dir und Andrik.«

Sofort stand Kari das kantige Gesicht des Eiswachenkommandeurs vor Augen. »Wen meinst du? Magnus Thordar?«

»Natürlich auch, wenn es stimmt, was ich über ihn gehört habe. Aber nein, den meinte ich nicht. Über die Thordars reden wir noch. Diejenige, vor der du dich in Acht nehmen musst – falls sie noch lebt –, heißt Agrina Mar. Sie ist die Schneidermeisterin, bei der ich gelernt habe. Aber man nennt sie in Khyona nicht nur deshalb die Schneiderin. Sie webt auch Schicksalsfäden und ist dabei sehr geschickt … und hinterhältig. Du darfst sie nie unterschätzen.«

Ein Schauer überlief Kari. »Aber sie gehört nicht zu einer der Fünf Familien, oder? Sonst hätte sie ja einen richtigen Nachnamen. Hat sie wirklich Macht?«

»Oh ja!« Jishas Stimme war leise und durchdringend. »Eine Menge sogar. Obwohl sie nie einen offiziellen Posten hatte, war sie immer eine enge Vertraute der Fürstinnen und hat für sie im Hintergrund die Fäden gezogen.«

»Dann hat es sich mit ihrer Macht ja nun erledigt«, meinte Kari erleichtert. »Die Fürstin und ihre Tochter sind weg vom Fenster.«

Doch Jisha blickte drein, als würde sie das keineswegs beruhigen. »Schon. Aber dass sie in Khyona viel Einfluss hat, liegt auch daran, dass in ihrer Familie magisches Talent mit absoluter Sicherheit vererbt wird. Als sie noch jung und schön war, war sie eine Art Kurtisane, viele hat sie in ihr Bett gelockt. Sie hat drei uneheliche Kinder von verschiedenen Männern … aber nicht von irgendwelchen Kerlen. Sie hat sich nur Männer aus den Fünf Familien ausgesucht.«

Patchwork pur, dachte Kari mit gemischten Gefühlen und fühlte, wie Jishas Hände die ihren wärmten. Wie seltsam, dass sie – Kari Schneider! – gerade vor einer Frau gewarnt wurde, die man die Schneiderin nannte.

»Alle drei Kinder haben starke magische Fähigkeiten«, fuhr Jisha fort. »Das ist sehr ungewöhnlich. Meist erbt nur einer von drei Nachkommen das Talent.«

»Aus welchen Familien waren denn die Väter?«, fragte Kari neugierig.

»Fjellkar, Akuri und Reykan«, berichtete Jisha und ließ behutsam Karis Hand los.

Jeden dieser Namen kannte Kari. Fjellkar hieß Maévas Familie, die Schnee und Eis beherrschte. Svala Akuri hatte zu den beiden Leuten gehört, die sie durchs Tor geholt hatten, ihre Verwandten waren magische Ingenieure. Auch der Name Reykan sagte Kari etwas – Daro Reykan hatte mitgeholfen, sie nach Isslar zu bringen, seine Familie beherrschte das Wasser.

»Wie heißen denn die Kinder der Schneiderin?«, fragte Kari neugierig. Vielleicht kannte sie ja eins von ihnen.

»Hilmar Reykan, Grimur Akuri und Lilja Fjellkar.«

Kari erschrak. Einen dieser Namen hatte sie schon mal gehört. Hilmar Reykan, war das nicht der Vater von Daro? Doch, und er war in den neuen Rat gewählt worden. Die beiden anderen Namen kannte sie nicht.

»Vielleicht lernst du sie noch kennen«, sagte Jisha. »Aber denk immer daran, geh der Schneiderin aus dem Weg. Und lass vor allem auf keinen Fall zu, dass sie Andrik oder dich in ihre Intrigen einspinnt! Das ist mein wichtigster Rat an dich.«

Noch immer war es ein seltsamer Gedanke, dass sie ein Mitglied der Familie Thordar war, ob sie wollte oder nicht. »Ich passe auf, versprochen. Was ist mit den Kindern der Schneiderin passiert?«

»Sie sind in die Fünf Familien adoptiert worden. So etwas ist üblich, wenn jemand das Talent geerbt hat.«

»Tja.« Kari lachte nervös auf. Sie hasste dieses Lachen, schaffte aber nur selten, es zu unterdrücken. »Ich habe keine Ahnung, ob ich es geerbt habe. Kannst du mich … ich weiß nicht, irgendwie testen oder so was?«

»In so was bin ich etliche Jahrzehnte außer Übung, meine Liebe«, meinte Jisha lächelnd. »Aber falls du nach Khyona zurückkehrst, werden die Thordars das garantiert als Allererstes tun, damit sie wissen, woran sie bei dir sind.«

»Oh … okay«, sagte Kari mit gemischten Gefühlen. »Dann weiß ich es vielleicht schon bald, wenn alles klappt. Ich habe die Formel für das Grüne Tor. Morgen fahren wir hin.«

»Gut. Ich hoffe, es klappt alles.« Ihre Urgroßmutter stemmte sich hoch und ging hinüber zu einem Wandschrank. Mit einem kleinen silbernen Schlüssel, in den eine Schneeflocke eingraviert war, schloss sie ihn auf und sprach währenddessen weiter. »Ich war nie wirklich glücklich darüber, dass ich eine Thordar bin. Du wirst noch merken, dass es keine einfache Familie ist. Also viel Glück, du wirst es brauchen.«

Sie holte einen kleinen braunen Trinkbecher hervor, der aus gebranntem Ton zu sein schien. In die Seite war eine Gewitterwolke eingearbeitet, anscheinend ein Symbol für Wind. »Dieser Becher ist mehr als zweihundert Jahre alt, er ist ein Familienerbstück. Ich hatte ihn dabei, als ich fliehen musste. Wenn du diesen Becher den Thordars zeigst, werden sie wissen, dass du wirklich eine von ihnen bist.«

Kari schluckte. Vorsichtig nickte sie, nahm den Becher und brachte ihn in ihrem Rucksack unter. Dann zückte sie etwas verlegen ihr Handy. »Ginge vielleicht ein Selfie mit uns beiden … für Alice? Und für mich natürlich, als Erinnerung?«

»Na gut, eins«, sagte ihre Urgroßmutter nach langem Zögern.

Zum Abschied durften sich Kari und John Lesestoff für ihre Reise aussuchen. John entschied sich schnell für einen isländischen Roman, doch Kari stöberte länger. »Habt ihr irgendetwas über die Fabelwesen … etwas, was, du weißt schon, halbwegs realistisch ist?«, raunte Kari ihrer Urgroßmutter ins Ohr. So was könnte ich wirklich gut brauchen, schließlich gibt es in Isslar verdammt viele solcher Wesen!

Mit einem schiefen Lächeln zog Jisha ein Buch aus dem Regal. Neugierig las Kari den Titel. Wie man Trolle zähmt. Das Buch hatte etwa dreihundert Seiten und war vermutlich voller guter Tipps. »Das muss ich haben«, sagte Kari.

»Schlag es vielleicht erst mal auf«, meinte Jisha und schmunzelte.

Verblüfft stellte Kari fest, dass nur die ersten Seiten bedruckt waren. Und auch sie enthielten nur wenige Sätze.

Schritt 1: Sie können einen Troll nicht zähmen. Nehmen Sie eine starke Lichtquelle und bringen Sie ihn um.

Schritt 2: Hacken Sie den Kopf des versteinerten Trolls ab.

Schritt 3: Verschenken Sie den Kopf. Er eignet sich hervorragend als Gartendekoration.

Die restlichen zweihundertsiebenundneunzig Seiten des Buchs boten Platz für Notizen.

Kari nahm es sportlich. »Ich hätte es trotzdem gerne. Notizen hätte ich mir schon bei meinem ersten Besuch in Khyona machen sollen.« Sie brachte das Werk in ihrem Rucksack unter und wandte sich noch einmal an Jisha. »Danke. Für alles. Auch für die, äh, Therapie damals.«

»Nichts zu danken«, gab ihre Urgroßmutter trocken zurück. »Das hat alles die Krankenkasse bezahlt.«