Oxen

Jens Henrik Jensen

Oxen

LUPUS

Thriller

Aus dem Dänischen von Friederike Buchinger

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Über Jens Henrik Jensen

Jens Henrik Jensen wurde 1963 in Søvind, Dänemark, geboren und hat viele Jahre als Redakteur und Ressortleiter für die Tageszeitung ›JydskeVestkysten‹ gearbeitet. Mit seinen Thrillern um den Ex-Elitesoldaten Niels Oxen wurde er zum Shootingstar der skandinavischen Krimiszene und eroberte auch in Deutschland sofort die Bestsellerlisten. Die Oxen-Serie wurde in 13 Länderverkauft.

 

Mehr zum Autor unter: www.jenshenrikjensen.de

Über das Buch

Der Danehof ist zerschlagen, aber Niels Oxen hadert noch immer mit sich. Die Beziehung zu seinem Sohn Magnus gestaltet sich schwierig. Völlig unerwartet steht eines Tages Axel Mossmann vor seiner Tür und bittet ihn um Hilfe – er soll den verschwundenen Poul Hansen aufspüren. Oxen zögert, bezieht aber schließlich im Haus des Vermissten, einem abgelegenen Hofin Jütland, Stellung. Anstatt sich auf die Suche nach Hansen zu machen, interessiert er sich mehr für die Wölfe, die in der Nähe des Hofes gesichtet wurden. Der Fall um Hansens Verschwinden ist jedoch brisanter als zunächst angenommen: Es scheint einen Zusammenhang mit einer brutalen Entführung aus dem Jahr 1963 zu geben. Und mit den lange zurückliegenden Ereignissen, die zur Folge hatten, dass Oxens Partnerin Margrethe Franck ihr rechtes Bein verlor. Gemeinsam stellen Oxen und Franck Nachforschungen an, doch das ruft dunkle Mächte auf den Plan. Und bald schon geht es um mehr als einen verschwundenen Mann, einen alten Entführungsfall und Wölfe in Jütland – es geht um Margrethes Leben.

Impressum

Ungekürzte Ausgabe 2021

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

© 2018 Jens Henrik Jensen

Titel der dänischen Originalausgabe:

›Lupus‹ (JP/Politikens Hus A/S, Kopenhagen 2018)

© 2020 der deutschsprachigen Ausgabe:

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Umschlaggestaltung: dtv

 

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eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook 978-3-423-43613-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21828-3

 

Ausführliche Informationen über unsere Autorinnen und Autoren und ihre Bücher finden Sie unter www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423436137

1.

Sichtbarer Atem stieg aus dem Mund des Mannes, und sein verschwitzter Körper dampfte. Es war klirrend kalt. Er stand eingehüllt in eine Nebelwolke da, blauweiß wie das Licht, das von seinem Kopf nach unten strahlte.

Als er eine Pause machte und sich aufrichtete, fiel der Lichtschein auch auf sein faltiges Gesicht. Er fuhr sich mit dem Arm über die Stirn. Seine groben Hände stützten sich auf den Griff des Spatens, und er lehnte sich leicht nach vorn, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Er war zwar kein Jungspund mehr, aber er konnte immer noch hart arbeiten.

Dicht an dicht standen die Stämme der Kiefern um ihn herum, wie stumme Zeugen, die nie ein Wort über sein Verbrechen verlieren würden. Und nicht mehr lang, dann war er weg und würde nie wiederkommen.

Er schuftete schon eine ganze Weile. Zum Glück war der Frost noch nicht in den Waldboden eingedrungen, den er sorgfältig abgeschritten war, bevor er angefangen hatte. Jetzt stand er in einer Grube, die so tief war, dass er fast bis zur Hüfte darin verschwand. Nur noch fünf Minuten.

Er holte ein paarmal tief Luft, was einen heftigen Hustenanfall auslöste. Er rückte die Stirnlampe zurecht, bis sie ihn nicht mehr störte. Dann legte er wieder los.

Er schaufelte die Erde nach links und rechts auf die beiden Planen, die er mitgebracht hatte, weil er ein vorsichtiger Mann war, der nicht mehr Spuren hinterlassen wollte als unbedingt nötig. Auch dass er so tief grub, war seiner Vorsicht geschuldet.

Man sah es ja oft genug in diesen amerikanischen Fernsehserien, wenn es um die Arbeit der Kriminaltechniker ging. Dass nach etlichen Jahren plötzlich Knochen aus der Erde ragten. Oder dass wilde Tiere Witterung aufnahmen und Geheimnisse aus dem Waldboden scharrten.

Das würde ihm nicht passieren.

Als er einigermaßen zufrieden war, kletterte er aus der Grube, legte den Spaten beiseite und überlegte das weitere Vorgehen, während er verschnaufte.

Er ging zu dem großen länglichen Bündel, das ordentlich eingewickelt und sorgsam verschnürt war. Dann griff er nach den Beinen und fing an zu ziehen. Das Bündel war schwer, aber die Plane glitt leicht über den Waldboden bis an die vordere Schmalseite des Grabs.

Vorsichtig, mit Rücksicht auf seine alten und jetzt auch müden Beine, stieg er zurück in die Grube, packte das Bündel, nahm alle Kraft zusammen und zog. Kurz darauf war es geschafft. Besser hätte man es nicht machen können.

Diesmal durchfuhr ein stechender Schmerz sein Knie, als er wieder nach oben kletterte. Er brauchte jetzt endlich eine Kippe. Die hatte er sich wirklich verdient.

Erschöpft angelte er eine Zigarette aus der Schachtel, steckte sie an, inhalierte gierig den ersten Zug und atmete aus. Die Rauchwolke war genauso weiß wie sein warmer Atem. Er zog ein zweites Mal an der Zigarette, ein großartiges Gefühl nach der harten Arbeit. Leider war es nach ein paar Zügen schon wieder vorbei. Er drückte die Zigarette an seiner Stiefelsohle aus und steckte den Stummel in seine Jackentasche. Es wäre mehr als dämlich gewesen, eine DNA-Spur zu hinterlassen, wenn man sich mit dem ganzen Rest solche Mühe gegeben hatte.

Dann nahm er die letzte Etappe in Angriff und fing an, die Erde zurückzuschaufeln. Das war nicht ansatzweise so anstrengend wie das Graben. In einer halben Stunde würde er auf dem Heimweg sein. Und wenn jemand ein Geheimnis für sich behalten konnte, dann er.

 

Er hatte so konzentriert zu dem grabenden Mann hinübergestarrt, dass ihm irgendwann schwindelig geworden war. Außerdem fror er. Bis ins Mark. Aber er wagte es nicht, sich zu rühren. Wagte kaum zu atmen.

Deshalb war die Erleichterung groß, als der Mann mit dem grellen, bösen Auge auf der Stirn endlich den Spaten schulterte und davonstapfte. Schon wenige Sekunden später hörte er, wie ein Motor startete, und sah zwei Scheinwerfer aufleuchten, die zu einem Quad zu gehören schienen.

Sicherheitshalber wartete er noch ein paar Minuten, dann stand er auf. Sein Körper war fast zu Eis erstarrt, und er konnte sich kaum bewegen. Langsam ging er auf die kleine Lichtung zu, die im Mondlicht vor ihm lag, und holte seine Taschenlampe heraus.

Im Lichtkegel war nichts zu erkennen. Der Waldboden war sorgfältig abgedeckt worden, aber hier unter dem welken Laub und den braunen Nadeln war es, das Grab …

Er biss sich auf die Lippe. Irgendetwas war da unten. Das war alles, was er wusste. Aber mehr wollte er auch gar nicht erfahren.

2.

Er starrte auf die zarten weißen Finger, die aus den blauen Ärmeln der Winterjacke gekrochen waren. Magnus lehnte mit den Unterarmen auf dem Geländer vor dem Pinguinbecken, die Hände vor dem Bauch verschränkt.

Sie waren so klein, diese Hände. Fein geschnittene, unschuldige Hände, erst vierzehn Jahre alt, die noch viele Sommer vor sich hatten, in denen sie das Leben kennenlernen und Erfahrungen sammeln würden.

Sein Blick fiel auf seine eigenen rauen Pranken, gezeichnet von einem uralten Handwerk. Der Krieger und der Junge … Einen halben Meter voneinander entfernt standen sie da und beobachteten die verspielten Pinguine.

Durch den Wind, der über den Kopenhagener Zoo fegte, fühlte die Luft sich kälter an, als sie eigentlich war, denn für Mitte Februar waren die Temperaturen überraschend mild. Die gelegentlichen Regenschauer machten es natürlich nicht besser.

Er verspürte einen unbändigen Drang, seine Hand auf Magnus’ Hände zu legen. Aber aus Schaden wird man klug, deshalb ließ er es bleiben. Und trotzdem, irgendetwas musste er tun. Irgendetwas, um das Band zwischen ihnen zu stärken, auch wenn er jetzt schon wusste, dass es schiefgehen würde.

Fast beiläufig legte er einen Arm um den Jungen, klopfte ihm leicht auf die Schulter und ließ die Hand dort liegen.

»Tolle Tiere, was? Fast wie kleine Menschen. Weißt du noch, wie sie heißen? Also die Art, meine ich.«

Der Junge starrte ausdruckslos vor sich hin und schüttelte den Kopf.

»Nö …«

»Der Name fängt mit H an. H-u-m…«

»Nö.«

»H-u-m-b-o…«

»Nö.«

»Humboldt-Pinguine. Sie leben in der Antarktis. Es ist die einzige Pinguinart mit diesem fleischfarbenen Rand am Schnabel. Deshalb sind sie so leicht zu erkennen. Es gibt zwanzig verschiedene …«

»Können wir weitergehen, Niels? Mir ist arschkalt. Und wir haben die schon so oft angeschaut.«

Magnus seufzte, drehte den Oberkörper und befreite sich von der Hand auf seiner Schulter.

Niels.

Dieser Name war wie ein Eispickel, der sich jedes Mal in sein Herz bohrte, wenn Magnus ihn benutzte.

Am Anfang hatte er den Kampf aufgenommen und Magnus vorgeschlagen, ihn einfach »Papa« zu nennen, denn das war er schließlich – sein Vater. Aber da hatte er die Rechnung ohne seinen Sohn gemacht. Irgendwann hatte er kapituliert.

In Wirklichkeit besaß er inzwischen nicht einmal mehr die grundlegendsten Eltern-Eigenschaften. Er befand sich im Nicht-mehr-Vaterland. Eine verdammt unfruchtbare Gegend, entstanden aus Jahren der Abwesenheit, wo keine einzige gemeinsame Erinnerung gedieh. Der Gedanke war wie ein Schlag in die Magengrube.

»Okay, lass uns gehen. Was hältst du davon, wenn wir noch kurz bei den Wölfen vorbeischauen, Magnus?«

Er schlug seine Lieblingstiere vor, wohl wissend, dass ein Wolf diesen Tag auch nicht mehr retten konnte.

Magnus zuckte gelangweilt mit den Schultern und vergrub die Hände tief in den Jackentaschen. So konnte es nicht weitergehen. Er musste sich etwas Neues einfallen lassen. Der Zoo hatte ausgedient – ohne je funktioniert zu haben.

Wie schon so oft fiel ihm wieder ein, was er vor ihrem ersten Treffen gedacht hatte: dass der Zoo der perfekte Ort wäre. Weil sie draußen an der Luft sein würden, weil man die Plätze, wo zu viele Menschen waren, meiden konnte und weil er einiges über die Tiere wusste. Am ganzen Leib zitternd hatte er Tiger, Wölfe, Lemuren und alle anderen Zoobewohner angefleht, ihm bei seinem ersten Auftritt als Vater zu helfen.

Umsonst. In den drei Stunden damals hatte Magnus kaum ein Wort gesagt. Hatte sich in den letzten acht Monaten wirklich etwas geändert? Sie redeten mehr miteinander, aber die meiste Zeit blieb der Junge verschlossen.

Ihm graute davor, wie es in den Winterferien werden würde. Es war nicht mehr lange bis dahin. Er und seine Ex zogen nicht gerade an einem Strang, was Magnus betraf. Sie sahen sich nie. Sie redeten nicht über das Ergebnis ihrer einstigen Verliebtheit. Nur vereinzelt gab es kurze, klärende Telefonate – mit Eis in der Leitung.

Sie waren Feinde. Für immer. Nichts konnte daran etwas ändern.

Trotzdem hatte er Birgitte versprochen, sich in den Winterferien um Magnus zu kümmern, obwohl er nicht an der Reihe war. Wie sollte er auch etwas ablehnen, von dem er jahrelang geträumt hatte? Seinen Sohn bei sich zu haben … Er musste sich unbedingt etwas einfallen lassen, um den Super-GAU in seiner Wohnung in Vangede zu verhindern.

Schweigend gingen sie zum Wolfsgehege, blieben auf der Holzbrücke stehen und ließen den Blick über das Gelände schweifen. Es war alles andere als beeindruckend.

»Ich lade dich auf einen Hotdog ein, wenn du dich an den lateinischen Namen erinnern kannst, Magnus.«

Das Angebot wurde mit einem Seufzen und erneutem Schulterzucken kommentiert. War er vielleicht zu oberlehrerhaft? Als Junge aus Skovshoved konnte man auch groß werden, ohne sämtliche lateinischen Namen vom Gnu bis zum Geier zu kennen.

»Na gut. Du bekommst auch so einen Hotdog. Lupus … Canis lupus, Grauwolf. Fantastische Tiere, findest du nicht?«

Magnus brummte irgendetwas Unverständliches und schaute auf seine Uhr.

»Ist es okay, wenn ich bald nach Hause gehe, Niels? Ich habe ein bisschen Kopfweh, und außerdem muss ich noch jede Menge Hausaufgaben machen.«

»Hast du die Nase voll von den Zoobesuchen?«

Magnus zuckte wieder mit den Schultern.

»Ich mag Tiere. Aber wir sind immer nur hier. Das ist langweilig … Nur weil du …« Magnus verstummte.

»Weil ich was? Was meinst du?«

»Na ja, weil es dir nicht so gut geht. Und weil es nie besser wird. Nie können wir was anderes machen. Zu einem Fußballspiel gehen oder so, nur weil du … dich nicht traust.«

»Nicht traust?«

»Du magst es nicht, wenn viele Menschen um dich herum sind. Das hast du selbst gesagt.«

Nicht traust … Er spürte den nächsten Schlag, der genau in seiner Magengrube landete. Schon an einem der ersten Wochenenden hatte er versucht, Magnus die Situation zu erklären. Er hörte sich noch auf der Bank in der Sonne stottern:

»Hör zu, Kumpel … Ich habe … ein paar Probleme. Aber ich arbeite daran …«

Er war so offen damit umgegangen, wie das gegenüber einem Vierzehnjährigen möglich war. So ehrlich, wie man sein konnte, wenn es um den Krieg ging. Krieg gehörte nicht in das Universum eines Kindes.

In diesem einen Punkt waren Birgitte und er sich einig gewesen: Für ihren Sohn sollte Niels ein ganz gewöhnlicher Ex-Soldat sein, ein Soldat wie alle anderen. Ihm etwas anderes zu erzählen, wäre Wahnsinn gewesen. Das Profil eines Jägersoldaten und die Dinge, mit denen sich diese Spezialeinheit beschäftigte, hatten im Hinterkopf eines Kindes nichts verloren.

Damals auf der Bank in der Sonne hatte er vorsichtig versucht, Verständnis zu wecken. Hatte versucht zu erklären, was ein Trauma war. Eine Art schreckliche Erinnerung an beängstigende Erlebnisse. Es war nur schwer loszuwerden. Und nervig, weil es dazu führte, dass man sich manchmal unwohl fühlte. Zum Beispiel wenn zu viele Menschen in der Nähe waren und man das Gefühl hatte, alle gleichzeitig im Blick behalten zu müssen. Oder Lärm. Ein lautes Geräusch, das einen erschreckte, als hätte sich jemand hinter einer Tür versteckt und wäre plötzlich mit einem lauten Schrei hervorgesprungen. Und die bösen Träume, die Albträume. Oder diese seltsamen Erinnerungsfetzen, die sogar am helllichten Tag aus dem Nichts auftauchen konnten – Flashbacks. Blitzschnelle kleine Filme einer Situation, die man erlebt hatte. Da konnte es passieren, dass man auf einmal ins Stocken geriet, ganz egal, wo man gerade war.

So ging es ihm leider, weil er als Soldat gearbeitet hatte. Viele Jahre lang. Nicht, um zu töten, sondern um Menschen zu beschützen. Etwas Gutes zu tun. Aber Magnus hatte das anscheinend anders verstanden …

»Dass es nie besser wird? Das habe ich sicher nicht gesagt. Oder doch? Oder … Wer hat das gesagt, Magnus?«

»Niemand … Ich dachte einfach, das ist so.«

Der Junge schützte seine Mutter. Eigentlich war es ja gut, dass er sie nicht verriet. Aber Oxen hatte nicht zum ersten Mal das ungute Gefühl, dass fleißig eine neue Front hochgezogen wurde, während er auf der anderen Seite versuchte, alte Gräben zuzuschütten.

Hier und jetzt, vor dem Alpharüden, der dort drüben durchs Unterholz pirschte, wurde er von der Machtlosigkeit ausgeknockt. Vielleicht war der Kampf zu ungleich, um ihn je gewinnen zu können?

»Es stimmt, dass ich Probleme habe, das habe ich dir ja gleich am Anfang erzählt. Aber diese Probleme kann man lösen. Zum Glück. Ich arbeite daran. Und wenn ich es geschafft habe, dann können wir auch zu einem Fußballspiel gehen. Einigen wir uns darauf, dass wir das mit dem Zoo erst mal sein lassen. Und es ist absolut in Ordnung für mich, wenn du nicht ganz fit bist und jetzt nach Hause möchtest, um deine Hausaufgaben zu machen.«

Diese Ausreden hatte er schon öfter zu hören bekommen, aber was sollte schon Gutes dabei herauskommen, wenn er darauf bestand, dass ihr gemeinsames Wochenende erst Sonntagnachmittag um fünf zu Ende war, obwohl der Junge lieber zu seiner Mutter zurückwollte?

»Von mir aus können wir vorher noch den Hotdog essen«, sagte Magnus.

War das ein Anflug von schlechtem Gewissen oder hatte der Junge einfach Hunger? Er liebte Magnus mehr als alles andere. Er musste versuchen, ein paar Schritte zurück zu machen, und einen neuen Ansatz finden. Eine neue Strategie entwickeln. Sonst würden die Winterferien eine Katastrophe werden.

3.

Die Wohnanlage Mjølnerpark am Rand von Nørrebro, ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus aus den Achtzigern, grenzte im Norden an den Tagensvej, im Süden an den Hothers Plads, im Osten an die Midgårdsgade und im Westen an den Mimerspark.

Das Areal war nach Mjølnir benannt, dem berühmten Hammer des nordischen Supergottes Thor. Das Besondere an diesem Hammer war, dass er nach jedem Wurf in Thors Hand zurückkehrte. Und genauso zuverlässig kehrte auch die Kriminalität immer wieder hierher zurück, egal wie oft die Gebäudeverwaltung versuchte, sie abzuschütteln.

Der Mjølnerpark bestand aus knapp sechshundert Wohneinheiten. Die meisten davon waren Dreizimmerwohnungen. In einer davon hielt sich an diesem Sonntag ein sechsunddreißigjähriger Bewohner libanesischer Abstammung auf. Er war erst vor zwei Tagen wieder eingezogen, nachdem er fünf Monate hinter Gittern verbracht hatte. Anders als sonst war dem Vorstrafenregister des Mannes diesmal keine weitere Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung hinzugefügt worden. Er hatte wegen Hehlerei gesessen.

Idris Nassar lag im Bett, nur mit einem Laken zugedeckt. Ihm war immer noch warm nach dem Sex mit der Frau, die neben ihm eingeschlafen war. Der Name Idris bedeutete so viel wie »der Männliche«, und er war ihm absolut gerecht geworden. Er hatte lange durchgehalten. Vollkommen entspannt schaute er an die Decke, die Hände im Nacken verschränkt.

Vielleicht sollte er aufstehen? Omar war sicher bald da. Er hatte vor drei Stunden angerufen. Sie hatten sich nicht mehr gesehen, seit er eingebunkert worden war. Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht, klingelte es an der Tür. Er stand auf und ging nackt, wie er war, in den Flur, um aufzumachen. Sicherheitshalber warf er einen Blick durch den Türspion. Im Treppenhaus stand Omar, in einem weißen Kapuzenpulli.

Idris öffnete die Tür und drehte seinem Besucher sofort wieder den Rücken zu, um zurück ins Schlafzimmer zu gehen und sich eine Unterhose anzuziehen.

»Fuck you, Bro …!«, rief er. »Du weißt doch, dass ich am Sonntagnachmittag immer ficke. Ich hatte seit fünf Monaten keine Möse mehr, und ausgerechnet jetzt tauchst du hier auf … Was ist los mit dir, Bro

Er kam feixend zurück und ging ins Wohnzimmer, um Omar zu begrüßen und ihn zu umarmen. Aber Omar war nicht mehr da. Stattdessen starrte er auf zwei vermummte Männer mit schwarzen Sturmhauben und Handschuhen.

»What the fuck!«

Jeder Muskel seines durchtrainierten Körpers spannte sich. Unwillkürlich machte er einen Satz nach vorn, holte aus und zielte mit der Faust auf den Unterkiefer des Maskenmannes, der vor ihm stand. Aber der Kerl konnte dem Schlag ausweichen, während Idris zu einem Roundhouse-Kick ansetzte und den zweiten Typen mit einem Tritt ins Gesicht zu Boden schickte. Und dann war das Spiel vorbei.

Idris Nassar sah gerade noch, wie der erste Mann ihm einen komischen schwarzen Stab an die Schulter drückte, und dann sackte er auch schon zusammen, von mehreren tausend Volt zu Boden gestreckt.

Der Mann, den Idris mit seinem Karatekick erwischt hatte, sprang auf. Und jetzt arbeiteten die beiden Männer blitzschnell, routiniert und ohne ein Wort zu verlieren.

Der eine war mit wenigen Schritten im Schlafzimmer und setzte auch die Frau mit seinem Elektroschocker außer Gefecht, bevor sie schreien konnte. Er fesselte ihre Handgelenke und Knöchel mit Kabelbinder und klebte ihr einen Streifen Gaffa-Tape über den Mund.

Dasselbe geschah mit dem nackten Muskelpaket auf dem Wohnzimmerboden. Dann packten sie ihn zu zweit unter den Armen und hievten seinen einhundertdreißig Kilo schweren Körper auf einen Sessel. Hier dämmerte dem Libanesen schnell, was ihm bevorstand. In seinen aufgerissenen Augen spiegelte sich Verwirrung – und ein Gefühl, das ihm bisher völlig fremd gewesen war: Angst.

Der kleinere der vermummten Männer zog eine Pistole aus dem Holster unter seiner Jacke hervor und befestigte mit geübtem Griff einen Schalldämpfer an der Waffe. Dann richtete er die Mündung auf Nassars rechte Kniescheibe und drückte ab. Den zweiten Schuss platzierte er ein paar Zentimeter tiefer. Nassars Körper krümmte sich vor Schmerz, und er warf sich auf dem Sessel nach beiden Seiten, bis ein zweiter Stromstoß aus dem Elektroschocker seinem Widerstand ein Ende setzte.

Der Mann richtete die Pistole auf das andere Bein und zerstörte auch Nassars linkes Knie mit zwei Schüssen.

Dann legte er die Mündung an Nassars rechten, aufgepumpten Bizeps, drückte ab und wiederholte dasselbe auch am linken Oberarm, was große blutige Flecke auf Nassars Oberkörper hinterließ. Und was ihn in kürzester Zeit zum Krüppel machte.

Die Männer, die ihr Schweigen kein einziges Mal gebrochen hatten, nickten sich kurz zu. Dann zogen sie sich so schnell aus der Wohnung zurück, wie sie gekommen waren.

Omar, der Mann, den sie gezwungen hatten, Nassar anzurufen und sie bis vor die Wohnungstür zu begleiten, hätte zumindest theoretisch in der Zwischenzeit Alarm schlagen können. Allerdings war das wenig wahrscheinlich, da ihre Komplizen einen von Omars kleinen Söhnen in Gewahrsam hatten.

In sechs Stunden würde der Junge wieder zu Hause abgeliefert werden, und zwar dann, wenn sie sicher sein konnten, dass Nassars Beine nicht mehr zu retten waren. Falls er bis dahin nicht verblutet war, was ebenfalls ein akzeptables Ergebnis gewesen wäre.

4.

Vom einen Ende zum anderen. Durch die wenigen Zimmer und wieder zurück. Rastlosigkeit trieb ihn durch seine Wohnung in Vangede, genau wie er es von den Raubtieren im Zoo kannte, wo sie heute gewesen waren.

Jetzt war Sonntagabend. Er versuchte, ein weiteres missglücktes Wochenende mit Magnus aus seinem gequälten Körper und Hirn zu verdrängen.

Er drehte Runde um Runde, über Teppichboden, Linoleum und Parkett, und seine Wanderung war so trostlos, als befände er sich in einer Steinwüste irgendwo in Afghanistan.

Schließlich setzte er sich auf die Fensterbank im Wohnzimmer, seinen gewohnten Platz, nur durch eine Scheibe von der winterdunklen Welt getrennt.

Er war schon wie die alte Dame in der Wohnung gegenüber, die pausenlos in ihrem lila Morgenmantel herumtigerte, jede Minute, die sie sich auf den Beinen halten konnte. Nur heute nicht. Er hatte sie noch nicht gesehen. In ihrer Wohnung war alles dunkel. Vielleicht hatte die Familie sie ausnahmsweise zu einem Sonntagsbesuch abgeholt? Er hatte keine Ahnung, wie die lila Frau hieß. Er hatte keine Ahnung, wie sonst wer hier in der Nachbarschaft hieß.

Es war nicht mehr wie früher, als er in einem Keller im Nordwestquartier wohnte. Mittlerweile ging er auch bei Tageslicht vor die Tür. Nur nicht so wahnsinnig oft. Die Dunkelheit war immer noch seine Freundin. Wenn er die Joggingklamotten anzog und seine Laufschuhe schnürte, was er vier, fünf Mal in der Woche tat, dann war es draußen dunkel. Er lief und lief, nicht von Wand zu Wand, sondern drehte große, freie Runden in einem Umkreis von mindestens sieben oder acht Kilometern.

Oxen = Durchmesser x π …

War das nicht die Formel seines Lebens? Vielleicht sollte er sich einfach umziehen und laufen gehen. Das Wochenende ausschwitzen und Platz schaffen für die Hoffnung auf mehr Glück beim nächsten Mal. Oder sollte er ins Schlafzimmer gehen und Gewichte stemmen? Sich auf die Hantelbank legen, die abgesehen von der Matratze auf dem Boden das einzige Möbelstück in dem Raum war, in dem nicht einmal guter, ruhiger Schlaf zur festen Einrichtung gehörte?

Er war barfuß, in Jeans und Unterhemd, und musterte seinen rechten Arm von oben bis unten.

Seine Muskeln waren klar definiert. Er konnte große Gewichte heben und sie lange hochhalten. Er konnte ohne Probleme zwanzig Kilometer laufen. Er war fünfundvierzig Jahre alt, und jede Faser seines Körpers war beim kleinsten Wink einsatzbereit.

Sein Blick wanderte weiter bis zu seinem großen Zeh und von dort über das Fensterbrett und die Wand hoch zu der weißen Decke. Er hatte immer noch keinen Lampenschirm gekauft, deshalb hing die Glühbirne nackt am Ende des Kabels. Aber wenigstens hatte er sich ein kleines Sofa mit einem Tisch und einem Stuhl bei Ikea besorgt. Schließlich konnte er Magnus nicht jedes zweite Wochenende die spartanischen Verhältnisse zumuten, die für ihn selbst vollkommen ausreichend waren. Deshalb stand das Sofa auch vor dem 55-Zoll-Flachbildfernseher, der an der Wand hing und den eigentlichen Mittelpunkt des Wohnzimmers bildete.

In Magnus’ Zimmer gab es ein Bett, einen kleinen Schrank, eine Kommode und einen Schreibtisch, den er gekauft hatte, weil doch alle Kinder Hausaufgaben bekamen, die am Wochenende erledigt werden mussten. Aber Magnus hatte noch nie ein Schulbuch dabeigehabt. Er wollte seine Aufgaben lieber zu Hause machen. Sagte er immer.

Oxen warf einen Blick auf die Armbanduhr. Sollte er sich einfach auf das Sofa fallen lassen und National Geographic oder Animal Planet einschalten? Oder weiter auf eine der seltenen Neuigkeiten aus dem Leben hinter dem Vangede-Fenster gegenüber warten?

Er rutschte von der Fensterbank und hatte gerade seine Raubtierrunde durch den Käfig wieder aufgenommen, als die Wohnungsklingel schrillte und ihn fast zu Tode erschreckte.

Es war kurz vor acht Uhr an einem Sonntagabend im dunkelsten Februar, und es regnete in Strömen. Wer in aller Welt war das? Er ging zur Tür und drückte auf die Gegensprechanlage.

»Ja?«

Für einen Moment hörte er nur knisternde Stille. Dann meldete sich eine tiefe Stimme.

»Ich bin es … Mossman …«

Oxen drückte den Knopf. Kurz darauf wurden Schritte im Treppenhaus laut, und er öffnete die Tür. Mossman stand auf dem Treppenabsatz und schüttelte sich den Regen vom Mantel. Er sah exakt so aus wie vor über einem halben Jahr, als sich ihre Wege getrennt hatten. Damals hatten all die Puzzleteile plötzlich ein Bild ergeben, und es war ihnen entgegen jeder Wahrscheinlichkeit gelungen, die Danehof-Organisation zu zerschlagen.

Der früher so mächtige Chef des polizeilichen Nachrichtendienstes erinnerte ihn nach wie vor an eine Bulldogge, deren Haut ihr zu groß geworden war, weil sie so stark abgenommen hatte.

»Guten Abend, Soldat. My black knight in shining armour, darf ich reinkommen?«

Mossmans Händedruck war ein Knochenbrecher. Der anglophile Hüne mit der korrekten dunkelbraunen Tweedjacke hängte sich den nassen Mantel über den Arm und sah ihn fragend an. Sein Lächeln schien echte Wiedersehensfreude auszudrücken.

»Natürlich.«

Immer noch ziemlich überrumpelt machte er einen Schritt zur Seite und ließ den unerwarteten Gast in die Wohnung. Das Gefühl eines Déjà-vu stellte sich ein.

Axel Mossman schaute sich in dem kahlen Flur vergeblich nach einem Kleiderhaken um und hängte seinen Mantel schließlich über die Türklinke.

Heimlich musterte er seinen Gast. Als er ihm zum allerersten Mal begegnet war, thronte Mossman groß, mächtig und um etliche Kilo schwerer über dem Verhör der Kripo in Aalborg, zu dem man Oxen aus den Tiefen des Rold Skovs geholt hatte. Danach hatte Mossman ihn zur Mitarbeit bei den Ermittlungen gezwungen.

Wie ein Samenkorn in einem Tornado war er in den Strudel des langwierigen Kampfes gegen die heimliche Machtelite des Danehof hineingewirbelt worden.

Er hatte Axel Mossman nicht mehr gesehen, seit sie gemeinsam mit Margrethe Franck und Mossmans Neffen, Christian Sonne, die Übermacht besiegt hatten.

Der mehrjährige Kampf, bei dem er selbst zeitweilig zum Mordverdächtigen und zum Opfer einer großangelegten Menschenjagd geworden war – und der ihn einige Male fast das Leben gekostet hatte –, hatte im zweiten Stock in der Dalstrøget in Vangede sein Ende gefunden, wo der Alltag so ereignislos war, dass schon ein unangemeldeter Gast am Sonntagabend genügte, um ihn aus dem Konzept zu bringen.

»Ich habe keinen Tee. Nur Kaffee.«

»Danke, gern. Du hast es hier ja wirklich … gemütlich … Soldat.«

Er quittierte Mossmans Höflichkeitsfloskel mit einem Schulterzucken.

»Zumindest habe ich ein Dach über dem Kopf.«

Sie gingen in die Küche, wo er den Wasserkocher füllte und zwei Becher und das Glas mit dem Pulverkaffee aus dem Schrank nahm. Er wollte Mossman das Tempo selbst bestimmen lassen.

»Wie läuft es denn so? Ich hoffe, das Leben in Vangede ist dir gnädig, Soldat.«

Es war typisch für Mossman, große Worte zu wählen. Wann war etwas »gnädig«? Er zuckte wieder die Schultern.

»Es ist ganz okay hier.«

»Und wie sieht es mit Margrethe Franck aus? Seht ihr euch manchmal?«

Die Frage klang beiläufig, aber nichts, was der alte Geheimdienstchef sagte, war tatsächlich beiläufig. Das hatte Oxen inzwischen gelernt.

»Selten … Na ja, um ehrlich zu sein, so gut wie nie. Wir telefonieren ab und zu. Ich glaube, sie hat eine Menge um die Ohren in ihrem neuen Job.«

Mossman nickte, ging ins Wohnzimmer, stellte sich ans Fenster und blickte hinaus in die Dunkelheit.

»Well, Vangede …« Er seufzte und blieb mit dem Rücken zu Oxen stehen.

»Kennst du hier jemanden?«, fragte er dann.

»Nein.«

»Wie lange wohnst du jetzt hier?«

»Gut acht Monate.«

»Ich hätte dich wirklich schon früher besuchen sollen, Oxen, nur um Hallo zu sagen. Es tut mir leid, aber ich bin einfach nicht dazu gekommen.«

»Wegen der Arbeit in der Kommission? Der Mossman-Kommission, richtig?«

Mossman lachte leise.

»Ja. Manche bezeichnen sie auch als Mausoleum, aber die Arbeit ist vielseitig und erspart mir den Titel ›Pensionär‹. Damit konnte ich mich noch nie anfreunden.«

Oxen stellte die beiden Becher auf den kleinen Tisch. Mossman setzte sich auf das Sofa, er selbst ließ sich auf den Stuhl daneben fallen.

»Also, ich versuche es noch einmal. Wie geht es dir, Soldat? Wie ist das Leben

Was erwartete Mossman? Ein Debriefing über sein Leben – in diesem völlig ramponierten Sonntagszustand? Da hatte er ihn auf dem falschen Fuß erwischt.

»Es gibt gute und schlechte Tage. Wie bei jedem anderen auch.«

»Bist du in Behandlung oder in einer Therapie?«

»Ich habe feste Termine bei einer Psychologin im Veteranenzentrum der Armee.«

»Und bringt das etwas?«

»Es ist ein Prozess. Ein langer Prozess. Es sollte eigentlich schneller gehen, aber die Dinge hatten zu lange Zeit, sich festzusetzen. Ich weiß nicht …«

»Und deine Albträume?«

»Die sind noch da.«

»Keine Besserung?«

»Mal so, mal so, wie immer.«

»Hmm … Und dein Sohn? Siehst du ihn?«

»Jedes zweite Wochenende.«

»Klappt das?«

Er zögerte einen Sekundenbruchteil zu lange.

»Alles bestens.«

»Du musst nichts beschönigen. Wir kennen uns doch, Oxen. Das mit dem Jungen, das ist auch ein Prozess. Wie sieht es mit der Arbeit aus? Du hast keinen Job, oder?«

»Noch nicht. Ich sollte erst mal Fortschritte in der Therapie machen. Aber laut meiner Sachbearbeiterin können wir bald anfangen, über Jobtraining, Wiedereingliederung und solche Dinge nachzudenken. Ich habe einen Kurs gemacht, wie man Bewerbungen schreibt. Und sie haben mir einen Lebenslauf zusammengeschustert.«

Mossman lachte, sodass die faltige Haut unter seinem Kinn wackelte.

»Du lieber Himmel. Wenn die wüssten, was du in Wirklichkeit alles kannst, Soldat, wenn die wüssten …«

Für einen Moment saßen sie schweigend da. Schließlich setzte Mossman von Neuem an. Er klang nachdenklich.

»Dann könnte man dem Soldaten vielleicht einen kleinen Job anbieten?«

»Wohl kaum. Ich muss dem Arbeitsmarkt in Kürze zur Verfügung stehen. So läuft das doch, oder?«

Mossmans »Ha!« hallte hohl im Kaffeebecher.

»Du könntest stattdessen mir zur Verfügung stehen. Darf ich es erklären?«

»Ja.«

Sie waren also zu Mossmans eigentlichem Anliegen vorgedrungen.

»Als wir die Danehof-Archive ausgehoben haben, sind wir natürlich auf einige spannende Akten gestoßen. Wie du weißt, ist das ganze Zeug in der Müllverbrennung gelandet. Es war im Interesse der Nation, alles zu vernichten. Aber ein kleiner Teil der Dokumente ist, nun, man könnte sagen, beiseitegelegt worden …«

»Du hast vergessen, einige der Ordner in die Flammen zu werfen?«

Axel Mossman nickte ernst.

»Ich habe aus reiner Zerstreutheit ein paar Unterlagen übersehen. Interessante Dinge für die Archive in meinem Keller. Diese ganze Geschichte rund um den Danehof war ja so etwas wie die Büchse der Pandora. Die schlimmen und für unsere Demokratie so kompromittierenden Fakten sind uns förmlich um die Ohren geflogen. Ich habe mich inzwischen durch einen Teil dieser Akten gearbeitet. Und es nimmt kein Ende. In der Büchse war noch eine Büchse und darin wieder eine und immer so weiter. Wie bei diesen russischen Matroschkas. Verkommenheit, so weit das Auge reicht.«

Mit hochgezogenen Brauen sah Mossman ihn an. Jeden Moment würde er das Geheimnis lüften. Mossman räusperte sich und fuhr fort.

»In einer der Akten bin ich auf die Spur eines neuen Unheils gestoßen«, sagte er. »Aber bisher ist es nicht mehr als ein Schatten. Und ich möchte betonen, dass es selbstverständlich möglich ist, dass ich mich irre. Trotzdem würde ich gern ein paar … Voruntersuchungen anstellen. Und hier kommst du ins Spiel, Soldat. Ich wollte dich fragen, ob du Lust hättest, nach Jütland zu fahren und für mich ein paar Dinge über den Besitzer eines alten Bauernhofs herauszufinden. Ein älterer Herr, sechsundsiebzig, ledig. Ich würde mich wirklich gern mit dem Mann unterhalten, aber er scheint wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Ich stand neulich bei ihm vor der Tür, aber er ist nicht mehr da. Einfach verschwunden. Was meinst du, wäre das nicht eine willkommene Abwechslung in deinem … Vangede-Trott?«

»Ein Bauernhof in Jütland?«

Der Auftrag klang überraschend banal, aber er würde sich bestimmt nicht mehr in irgendetwas hineinziehen lassen. Damit war es vorbei. Vorbei mit der Arbeit für Mossman. Vorbei mit allem, was nicht ihn selbst betraf – oder Magnus.

»Ein ehemaliger Bauernhof, ja … Er heißt Harrildholm und liegt genau genommen in Mitteljütland, in der Harrilder Heide. Was übrigens ganz in der Nähe der Fischzucht in Brande ist, wo du mal gearbeitet hast.«

An diesen Ort hatte es ihn erinnert, das Déjà-vu bei Mossmans Ankunft. Es war ein verregneter Abend wie heute gewesen, als Axel Mossman vor einer halben Ewigkeit plötzlich vor der Tür der schäbigen Mitarbeiterunterkunft bei der Fischzucht stand. Dieser Besuch war der Vorbote einer schicksalhaften Wendung gewesen, die sein ganzes Leben auf den Kopf gestellt und ihn zur Flucht gezwungen hatte.

Er hörte Mossman weiterreden.

»Ich dachte, dass so eine Konfrontation mit der Vergangenheit vielleicht hilfreich für dich sein könnte. Es waren ja schließlich dramatische Umstände da drüben … Du könntest sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Besuch den Hof, schau dich um und frag vielleicht ein paar Nachbarn, ob sie wissen, wo der Alte abgeblieben ist. Und wenn du willst, kannst du auch noch zur Fischzucht fahren. A walk down memory lane, nicht wahr? Das ist an einem oder zwei Tagen leicht zu schaffen. Ich bezahle dir natürlich auch ein vernünftiges Honorar.«

 

Er war zurück auf seiner Fensterbank. Vor einer Stunde hatte Axel Mossman sich verabschiedet. Ein Wetterwechsel kündigte sich an. Eine Kaltfront, die rasch näher rückte.

Aus dem Regen war Schnee geworden. Ein Gestöber aus winzigen weißen Kristallen.

Mossman hatte sein Nein widerspruchslos akzeptiert. Sie hatten noch ein wenig geplaudert, dann war Mossman einfach aufgestanden, hatte ihm die Hand gegeben, seinen nassen Mantel genommen und war im Treppenhaus verschwunden – ein kalter Luftzug begleitete seinen schnellen Abgang.

Es klang alles so seltsam harmlos. Ganz anders als bei seinen Besuchen in den letzten Jahren. Damals hatte Mossmans Erscheinen jedes Mal wie ein düsteres Omen radikale Veränderungen angekündigt.

Als er ihm heute gegenübersaß, hatte er exakt dasselbe Gefühl wie früher: dass er dem legendären Geheimdienstmann unterlegen war. Dass der Hüne in Tweed ihm immer mehrere Schritte voraus war und dass die Koffer des Handlungsreisenden Mossman grundsätzlich einen doppelten Boden hatten.

Herrgott. Ein Hof in Jütland. In der Harrilder Heide. Ein Sechsundsiebzigjähriger, der verschwunden war … Die Syntax war viel zu simpel.

Plötzlich ging in der Wohnung gegenüber das Licht an und erhellte die weiß verschneite Umgebung. Wahrscheinlich wurde die lila Dame gerade nach Hause gebracht.

Jetzt tauchte eine Frau auf. Dem Aussehen nach eine Mitarbeiterin des Pflegedienstes. Das passte zur Uhrzeit. Auch in den anderen Zimmern ging das Licht an. Komisch … Die Frau gegenüber schaute zum Fenster, und für einen kurzen Moment kam es ihm vor, als hätten sie Augenkontakt. Deshalb verzog er sich aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein.

Ausnahmsweise entschied er sich für die reale Welt und wählte einen anderen Sender als sonst. Die Spätnachrichten hatten gerade angefangen. Der amerikanische Präsident hatte mal wieder einen Tweet ausgekotzt und die ganze Welt sprachlos zurückgelassen. Er wollte den Fernseher schon wieder ausschalten, als der Nachrichtensprecher das Thema wechselte:

»… Und damit zu den Meldungen aus Dänemark. Der Wolf ist zurück. Bereits 2012 ist in der Harrilder Heide in Mitteljütland ein Foto entstanden, das eindeutig belegt, dass nach über zweihundert Jahren wieder Wölfe in Dänemark heimisch geworden sind. Viele unserer Zuschauer werden sich sicher noch an die Aufnahme erinnern. Hier sehen wir sie noch einmal … ein Wolf, den eine Wildkamera an einem Futterplatz für Rehe eingefangen hat. Damals war das eine einzigartige Aufnahme. Und jetzt ist er am selben Ort erneut gesichtet worden, der Wolf. Die Naturschutzbehörde hat heute Abend eine Reihe ungewöhnlich guter Videoaufnahmen veröffentlicht. In Zusammenarbeit mit der Universität Århus und dem Naturhistorischen Museum Århus wurden gleich mehrere Wildkameras im gesamten Gebiet aufgehängt. Und nun achten Sie bitte darauf, was gleich links im Bild erscheint …«

Der Wolf war gestochen scharf zu erkennen, er stand ganz nah vor der Kamera. Wachsam bewegte er sich in die Mitte des Bildes auf einen matschigen Waldweg voller Pfützen. Der Wolf schnüffelte am Boden, stand dann wieder reglos da und fiel schließlich in seinen charakteristischen leichten Trab, ehe er kurz darauf verschwunden war.

»Diese Aufnahmen sind knapp drei Wochen alt, aber sie wurden der Öffentlichkeit erst heute zugänglich gemacht. Die Harrilder Heide ist eine der größten unberührten Naturlandschaften in Mitteljütland. Neben der Heide gehören zu dem Areal auch große Waldgebiete, die in der Nachkriegszeit angepflanzt wurden. Ein Wolf kann im Laufe eines Tages bis zu achtzig Kilometer zurücklegen, er könnte also längst über alle Berge sein. Und damit wenden wir uns wieder den politischen Ereignissen zu. Die Verhandlungen des Wochenendes haben gezeigt, dass die Tage der Minderheitsregierung gezählt sein könnten …«

Er schaltete aus. Das war eine beeindruckende Aufnahme gewesen. Wenn es ein Tier gab, das ihn in seinen Bann zog, dann der Wolf. Dieser fantastische Jäger und Überlebenskünstler, Canis lupus.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier auf dem Sofa saß und beobachtete, wie sich Mossmans Spur vor seinem inneren Auge mit der Spur der Wölfe kreuzte, als ihn ein blaues, kreisendes Licht vor dem Wohnzimmerfenster aus seinen Gedanken riss.

Er unterdrückte den Impuls, sich ans Fenster zu stellen, sah aber trotzdem, wie die Rettungssanitäter in der Wohnung gegenüber eine Trage durch das Zimmer schoben. Die lila Frau war mit einem weißen Tuch zugedeckt.

Sie hatte ihre letzten Schritte gemacht. Ohne jemals irgendwo angekommen zu sein.

5.

Lieber eine schlimme Nacht in der Helmand-Provinz, umzingelt von einer Handvoll Milizionäre, als am helllichten Tag ein Duell mit dieser Frau auf dem Stuhl gegenüber.

Er schielte auf seine Armbanduhr. Bald hatte er die Hälfte der Sitzung überstanden. Seine Psychologin war eine intelligente und freundliche ältere Frau, die seit etlichen Jahren im Veteranenzentrum des dänischen Heers mit traumatisierten Kriegsveteranen arbeitete.

Es war Zeit für den Statusbericht. Sie saß ihm wie immer gelassen und aufmerksam gegenüber, mit klugen Augen hinter den glänzenden Brillengläsern. Er dagegen war wie immer gespannt wie die Feder eines Fangeisens.

»Und, wie ist es mit den Sieben, Niels? Hat sich etwas verändert?«

Sie fragte nach den wiederkehrenden Albträumen, die ihn in den letzten Jahren gequält hatten. In schweißnassen Nächten gingen sie in seinem Kopf ein und aus, wie es ihnen gefiel. Die einzige gute Phase, die er je erlebt hatte, fiel in die Zeit, als er in der Fischzucht die Teiche versorgt und im Wald Bäume gefällt hatte. Die langen Tage mit harter Arbeit hatten den Albträumen die Intensität genommen.

Ruhe, Routine und körperliche Anstrengung waren die einzige Medizin, die er sich selbst verordnen konnte, wie unzulänglich sie auch sein mochte.

»Die Sieben? Nein, eigentlich nicht …«

»Flashbacks?«

»Wie letztes Mal, nicht viele. Mein Alltag ist ruhig. Es gibt nichts, was eine Reaktion auslösen könnte.«

»Lassen Sie uns über Ihr Vermeidungsverhalten sprechen. Haben Sie versucht, sich den Herausforderungen zu stellen, über die wir gesprochen haben? Hat nicht inzwischen die Saison begonnen?«

Er schüttelte den Kopf. Ihn schauderte bei dem Gedanken daran, ein Fußballspiel im Parkstadion durchstehen zu müssen.

»Ich hatte nicht das Gefühl, dass ich … schon so weit bin.«

»Das werden Sie nie haben, Niels. Wie ich Ihnen neulich schon gesagt habe – es klingt zwar paradox, aber wenn man etwas ständig vermeidet, um sich selbst zu schützen, führt das letztlich nur dazu, dass man seine Situation festigt oder sogar noch verschlimmert.«

Die Psychologin schwieg. Sie sah ihn an. Ihr Lächeln wirkte angespannt, und er kam sich vor wie ein Schulkind, das seine Hausaufgaben nicht gemacht hatte.

»Ich habe mir über Ihre Situation und unsere Fortschritte hier Gedanken gemacht. Ich muss leider sagen, dass die Therapie überhaupt nicht nach Plan verläuft. Sie sind kein Stück vorangekommen. Oder höchstens minimal. Aber das ist nicht Ihre Schuld. Sie stecken schon viel zu lange in diesem Sumpf. Die PTBS ist ein komplexes und unberechenbares Phänomen. Ich muss unsere Zusammenarbeit deshalb hier beenden – es ist besser für Sie.«

Er sah sie an und konnte seine Überraschung nicht verbergen. Ein geradezu teuflisches Gefühl von Erleichterung überkam ihn. Dann machte sich Sorge in ihm breit.

»Aber was schlagen Sie stattdessen vor?«

»Sie leben schon zu lange mit diesen Dingen. Meine Kompetenzen reichen nicht aus, um daran weiterzuarbeiten. Ich halte es aber auch für grundverkehrt, den nächsten Schritt in unserem System zu machen und sie zu den wirklich schweren Fällen in die Psychiatrie zu schicken. Das würde in die völlig falsche Richtung führen. Sie gehören nicht in die Psychiatrie. Wenn Sie einverstanden sind, möchte ich Sie gern einem Therapeuten vorstellen, den ich kenne. Er hat viel Erfahrung mit EMDR-Therapien.«

»EM…«

»…DR. Eye Movement Desensitization and Reprocessing. Das ist eine relativ neue psychotherapeutische Methode, die in der Praxis schon sehr gute Ergebnisse erzielt hat. Der Erfolg ist wissenschaftlich belegt, auch wenn bisher noch nicht nachgewiesen werden konnte, wie EMDR eigentlich wirkt. Die WHO hat die Wirksamkeit dieser Therapieform bei posttraumatischer Belastung anerkannt.«

»Eine Therapie durch Bewegung der Augen?« Seine Skepsis stand ihm wohl deutlich ins Gesicht geschrieben – in Großbuchstaben.

»Korrekt. Ein Teil der Methode besteht darin, dass der Therapeut eine Reihe rhythmischer Augenbewegungen provoziert, zum Beispiel indem er seinen Finger vor dem Patienten hin- und herbewegt, etwa dreißig Sekunden lang. Während der Patient den Finger mit den Augen verfolgt, wird er aufgefordert, sich die negativen Gefühle, Erinnerungen und Gedanken erneut bewusst zu machen, die mit dem Trauma verbunden sind. Dadurch kann er sie verarbeiten und schließlich durch positive Erfahrungen ersetzen. Das mit den Augen – man nennt es bilaterale Stimulation – ist nur ein Teil des Prozesses. Vermutlich werden die Patienten dadurch in eine leichte Trance versetzt, sodass sie besser auf die Behandlung ansprechen. Vereinfacht gesagt geht es darum, die Vergangenheit von der Gegenwart zu trennen. EMDR kann diese Verbindung kappen.«

Er nickte stumm. In seiner Vorstellung sah er einen Hypnotiseur vor sich, der ihm mit dem Finger vor dem Gesicht herumwedelte und ihn davon überzeugen wollte, dass er ein brünstiges Kaninchen war.

»Es ist eine äußerst konfrontative Methode. Das kann ziemlich hart sein. Eine Sitzung dauert sechzig bis neunzig Minuten. Man braucht dafür Ruhe, sonst hält man das nicht durch. Aber Sie haben sich inzwischen ja ein ruhiges Lebensumfeld geschaffen.«

Er nickte wieder. Die kognitive Verhaltenstherapie sollte also von einem Gewaltmarsch mit rollenden Augäpfeln abgelöst werden, auf Empfehlung der WHO. Who the fuck …?

»Wenn ich nicht überzeugt davon wäre, dass das der richtige Weg für Sie sein könnte, würde ich Ihnen das niemals empfehlen, Niels«, sagte die Psychologin ernst.

Er kämpfte einen Kampf. Es gehörte zur Therapie, die eigenen Reaktionsmuster zu erkennen. Eins seiner unzähligen Symptome war das Misstrauen. »Den Gegner identifizieren, festhalten und entwaffnen.« So lautete sein selbstgewähltes Kommando.

»Das klingt … interessant … sehr interessant. Wenn Sie es mir empfehlen, dann werde ich es … gern … ausprobieren.«

Die Psychologin nickte zufrieden.

»Gut. Ich werde so schnell wie möglich alles Nötige in die Wege leiten. Sie bekommen eine gründliche Einführung, und es ist wichtig, dass Sie sich bei Ihrem Therapeuten hundertprozentig sicher fühlen.«

»Okay. Ich habe eine Frage.«

Die Psychologin nickte.

»Wäre es eher hilfreich oder schädlich, wenn ich beispielsweise an einen Ort zurückkehren würde, an den ich belastende Erinnerungen habe?«

»Aus der Zeit, als Sie im Ausland stationiert waren?«

»Nein, hier in Dänemark.«

»Wie weit in der Vergangenheit befinden wir uns?«

»Anderthalb Jahre.«

»Ich glaube nicht, dass das von Bedeutung wäre. Ihre Traumata sind viel älter. Was versprechen Sie sich davon?«

»Ich will Erinnerungen und Spekulationen mit der Wirklichkeit abgleichen.«

»Machen Sie das ruhig. Es wird Ihren posttraumatischen Stress sicher nicht wegzaubern, aber wenn es Ihnen anderweitig hilft, ist das doch wunderbar.«

Die Psychologin lächelte und sah zu der Uhr an der Wand. Nur noch wenige Minuten, dann konnte er aufatmen.

»Darf ich Sie zum Abschluss noch etwas Privates fragen? Mich würde nur Ihre Meinung interessieren … Es geht um meinen Sohn …«

»Natürlich, Niels.«

»Sie wissen ja, dass wir uns seit den Sommerferien letztes Jahr regelmäßig sehen. Aber es funktioniert einfach nicht.«

Die Psychologin hob die Augenbrauen.

»Ach ja? Ich dachte, es würde ganz gut klappen. Das haben Sie zumindest gesagt, als ich Sie das letzte Mal danach gefragt habe.«

Er zuckte bedauernd mit den Schultern.

»Das war gelogen. Oder Wunschdenken. Tut mir leid. Letztes Wochenende war Magnus bei mir. Ich komme einfach nicht ins Gespräch mit ihm. Ich komme nicht an ihn ran. Ich habe keine Ahnung, was ich noch tun soll.«

»Ich bin natürlich keine Kinder- und Jugendpsychologin, aber ich habe selbst drei Kinder. Zwei Töchter und einen Sohn. Ich bin sogar schon Oma. Wenn Sie mich fragen, ist es wie so oft im Leben: Wenn man sich zu sehr bemüht, dann steigt das Risiko zu scheitern. Bemühen Sie sich sehr?«

»Ich achte darauf, ihm genug Zeit und Raum zu lassen. Und mich nur vorsichtig und langsam zu nähern.«

»Was unternehmen Sie, wenn er bei Ihnen ist?«

»Wir verbringen viel Zeit in meiner Wohnung, aber manchmal machen wir auch einen Spaziergang in den Wald oder gehen in den Zoo. Einmal waren wir im Tivoli, aber bei großen Menschenmengen stoße ich an meine Grenzen.«

»Sehen Sie, genau das bremst Sie aus und drängt Sie immer weiter in die Isolation. Haben Sie sich schon mal überlegt, dass Ihr Sohn sich vielleicht schrecklich langweilt, wenn er bei seinem Vater ist?«

Er nickte. Ja, das hatte er.

»Aber ich dachte, dass es vor allem am Anfang wichtig ist, nicht ständig irgendetwas zu unternehmen. Damit wir uns kennenlernen können.«

»Waren Sie jemals zusammen im Urlaub? Oder zumindest ein paar Tage woanders als in … Ihrem Viertel?«

»Vangede …«

»Vangede, richtig. Und? Waren Sie?«

»Eigentlich nicht.«

»Warum versuchen Sie es nicht einfach? Ändern Sie den physischen Rahmen für Ihre Begegnungen. Tauschen Sie die äußeren Umstände gegen andere aus. Durchbrechen Sie das Muster, das ja offenkundig nicht funktioniert.«

»Also Urlaub, ja?«