Über das Buch

Auf Eve ruhen die Hoffnungen der gesamten Menschheit, denn sie ist die erste Frau, die nach 50 Jahren geboren wurde. Man hat sie ihr Leben lang isoliert, sie in einen goldenen Käfig gesteckt und ihr die Wahrheit über ihre Eltern verheimlicht – alles nur zu ihrem Schutz, sagen die, die über sie wachen.

Doch nun, mit sechzehn Jahren, ist sie alt genug, ihre Aufgabe zu erfüllen. Drei Kandidaten stehen bereit. Einen muss sie wählen, um die Zukunft der Menschheit zu sichern.

Immer hat sie ihr Schicksal klaglos angenommen, wusste sie doch, was man von ihr erwartet.

Bis sie Bram trifft.

Eve will endlich frei sein. Sie möchte Kontrolle über ihr Leben und über ihren Körper.

Aber hat sie überhaupt die Möglichkeit, sich zwischen der großen Liebe und der Verantwortung gegenüber der Menschheit zu entscheiden?

 

 

 

 

Für unsere Jungs

Prolog

Eigentlich fiel es am ersten Tag keinem auf. Möglich, dass die Hebammen kichern mussten beim Anblick all der Neugeborenen, die da in himmelblaue Säuglingsdecken gewickelt vor ihnen lagen, und weit und breit keine rosafarbene zu sehen. In keinem Krankenhaus dachte man sich etwas dabei. Niemand konnte wissen, dass dieser Tag in Blau nur der Anfang war.

Am zweiten Tag wunderten sie sich, verwirrt über noch einmal vierundzwanzig Stunden Blau.

Nur Jungen.

Rätselhaft. Trotzdem hielten sie es für Zufall, nichts weiter. Das Y-Chromosom trat einfach mehr in Erscheinung als gewöhnlich.

Am dritten Tag bekamen die Medien Wind davon – Wir leben tatsächlich in einer Männerwelt. So wurden alle auf den Vorgang aufmerksam. Ärzte und Schwestern erkannten, dass nicht nur in ihrer Klinik nur noch Blau herrschte. Blau übernahm das Kommando. Nicht nur in einzelnen Krankenhäusern, nicht nur in einzelnen Ländern, sondern auf der ganzen Welt.

Wo war nur das Rosa geblieben?

Sonst kamen Woche für Woche ungefähr zweieinhalb Millionen Babys zur Welt, die Hälfte davon normalerweise Mädchen: Das plötzliche Ungleichgewicht war nicht zu leugnen. Die Staatsoberhäupter der Welt setzten sich mit den angesehensten Wissenschaftlern zusammen, um zu verstehen, was da gerade geschah, und um geeignete Maßnahmen zur Beobachtung der Situation zu ergreifen. Auch mussten sie eine neue moralische Basis finden, die die Menschen nicht ihrer Grundrechte beraubte. Das behaupteten sie jedenfalls.

Zu Anfang.

Zunächst war es ja nur ein Phänomen, aber bald schon stand das Überleben der Menschheit auf dem Spiel. Als das Aussterben drohte, war es in der Politik mit den freundlichen Tönen schnell vorbei. Frauen wurden stärker kontrolliert und unterdrückt als je zuvor.

Reihenuntersuchungen wurden verbindlich vorgeschrieben. Zunächst bestimmte man bei allen Schwangeren das Geschlecht der ungeborenen Kinder. Als weiterhin keine Mädchen geboren wurden, untersuchte man alle Frauen unter fünfzig, um der Entstehung der blauen Generation auf den Grund zu kommen.

Es wurde zum Sex ermuntert – die Mächtigen wollten viele Babys, weil sie hofften, dass damit die Geburt von Mädchen wahrscheinlicher würde. Dabei gab es Mädchen – man konnte sie in der Gebärmutter sehen, wie sie im Fruchtwasser herumwirbelten und ihre Mamas mit rudernden Armen und Beinen boxten.

Keines überlebte.

Schließlich verschwanden auch diese Fälle. Von Rosa war nichts mehr zu sehen, nichts mehr zu verlieren.

Die Wissenschaft mühte sich über Jahre. Dann Jahrzehnte. Die Ursache blieb unbekannt. Der Durchbruch blieb aus. Und ohne Ursache auch keine Behandlung. Die Zukunft der Menschheit lief ab im Takt der biologischen Uhren der verbliebenen Frauen im gebärfähigen Alter.

Aufgeben kam nicht infrage, wurde verkündet. Die Menschheit würde gerettet werden. Irgendwie.

Und die Menschen wollten das glauben. Sie beteten. Flehten zu vielerlei Göttern um eine Wiedergeburt ihrer Art. Lange Zeit schien es, als würde sie niemand erhören. Die Menschen beteten inständiger und länger und riefen verzweifelt alle möglichen allgewaltigen Mächte an. Sie belebten alte Religionen, schufen sich neue und murmelten ihre Gebetsformeln voller Inbrunst.

Dann, nach fünfzigjähriger weiblicher Dürre, geschah ein Wunder – und es ereignete sich nicht in einem sterilen Forschungslabor.

Corinne und Ernie Warren waren schon seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet. Sie hatten sich immer Kinder gewünscht, aber Mutter Natur entschied anders. Corinne erlitt eine Fehlgeburt nach der anderen, bis das Paar schließlich den Traum von der Elternschaft aufgab. Mit dreiundvierzig Jahren strich man Corinne schließlich aus der Liste potenzieller Mütter. Sie nahmen ihr Versagen mit großer Trauer, aber auch Erleichterung hin. Die beiden waren so oft vom Kummer niedergedrückt worden, aber wenigstens hatten sie einander und konnten so Halt finden.

Mit einundfünfzig, acht Jahre später, wurde Corinne überraschend schwanger. Auf natürliche Weise. Sie und Ernie waren begeistert, aber voller Sorge. Würde ihnen auch dieses Baby genommen werden, so wie alle anderen? Einer weiteren Fehlgeburt waren sie nicht gewachsen.

Wie alle anderen Frauen wurde Corinne untersucht – nur dass sie und Ernie die Tests begrüßten. Sie wollten sicher sein, dass ihr Baby gesund war, wollten alles für die glückliche Ankunft des kleinen Wesens tun, das sie schon jetzt liebten und für das sie alles in ihrer Macht Stehende tun wollten.

Ihre Herzen machten einen Sprung, als ihr Geschöpf auf dem Ultraschallmonitor zu sehen war. Ihr Baby. Ihr Freudenstern.

Für die Hebamme waren diese Untersuchungen längst Routine geworden – eine monotone Testreihe mit immer demselben Ergebnis.

Natürlich rechnete sie mit Blau.

Aber es kam anders.

Rosa.

Und ihr Auftritt zeigte denkwürdige Wirkung.

Die Krise, die er auslöste, grenzte an Panik. Die Schockwellen, die nach dem Befund in jenem Untersuchungszimmer um die Welt liefen, hatten geradezu hysterische Züge. Die Leute konnten kaum glauben, dass es endlich gute Neuigkeiten gab, und alle wollten mehr über das Paar erfahren, dem man diesen Hoffnungsschimmer verdankte.

Sorge bereiteten indessen die Fehlgeburten, die Corinne erlitten hatte, ihr Alter und natürlich die Tatsache, dass jahrzehntelang kein einziges Mädchen seine Schwangerschaft überlebt hatte. Corinne und Ernie kamen in eine Spezialklinik, um die Chance zu erhöhen, das Kind voll auszutragen. Neben den täglichen Ultraschall-Scans wurden keine weiteren Untersuchungen durchgeführt. Diesmal ließ man Mutter Natur ihren Lauf – zumindest, solange es keinen Grund zum Eingreifen gab. Vielleicht war es ja doch besser, wieder dem menschlichen Körper zu vertrauen.

Corinne und Ernie hatten Verständnis dafür, dass man die Entwicklung ihrer Tochter verfolgen und für ihre ungestörte Entwicklung sorgen wollte. Es freute sie, dass ihr Kind für andere ebenso besonders war wie für sie selbst. Dafür nahmen sie auch die verfügten Einschränkungen in Kauf – dass niemand sie besuchen durfte zum Beispiel. Sie willigten ein, alles zu tun, damit ihr Kind wohlbehalten zur Welt kam.

Im Kreißsaal kam es dann zu Komplikationen. Mutter und Kind kämpften um ihr Leben. Corinne starb kurz nach der Geburt, hatte aber ihr Lebensziel, Mutter zu sein, erfüllt.

Ernie war untröstlich. Er kam über den Verlust seiner Frau nie hinweg und war außerstande, die Vaterrolle anzunehmen.

Er hielt seine Tochter nie im Arm.

Küsste sie nie.

Sagte ihr nie, dass er sie liebe.

Und was wurde aus dem kleinen Mädchen?

Die Welt hatte ihrer Geburt mit angehaltenem Atem entgegengefiebert, hatte sehnsüchtig auf die Nachricht gewartet, dass sich ihre Hoffnungen erfüllt hatte – dass ihr Mädchen geboren worden war.

Und es war geschehen.

Entgegen allen Erwartungen hatte sie überlebt.

Das erste Mädchen seit fünfzig Jahren.

Sie wurde Eve genannt.

Sie verkörperte die Wiedergeburt der Menschheit. Sie war die Antwort auf all die Gebete. Nur sie zählte – sie war ihre letzte Hoffnung.

Eve war zur Retterin der Menschheit bestimmt.

Ich bin Eve.

1

EVE

Zehen strecken, Zehen anziehen. Zehen strecken, Zehen anziehen. Zehen strecken, Zehen anziehen …

Ich sehe, wie meine Füße eine perfekte Spitze bilden, beuge sie dann, wobei ich den Zug in den Wadenmuskeln spüre, und genieße den Luftzug auf der Haut, während ich am Rand sitze und die Beine in den Abgrund baumeln lasse.

Es gefällt mir hier. Im Freien. Von der Sonne gewärmt. Die Höhe macht mir nichts aus, und das ist gut so: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je woanders gewohnt habe, als hier über den Wolken in dem eigens für mich gebauten Anwesen, in dem ich schlafe, esse, lerne und aufwachse. Alles, was ich je brauchen könnte, ist hier in der Kuppel, einer gewaltigen Halbkugel aus Glas, die all das Schöne von draußen hereinlässt. Auf allen Flächen tanzen die Sonnenstrahlen.

Hier in meinem Zuhause über den Wolken bin ich nicht zu sehen und ich kann auch nicht hinuntersehen – dafür sorgt die Schicht aus weißen Wolken, die die Welt und mich wie ein Schleier voneinander trennt. Manchmal glaube ich unten Umrisse der Stadt zu erkennen, aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.

Und ich würde ihr auch gern näher kommen. Würde sie gern erkunden. Deshalb sitze ich so gern am Abgrund. Dies ist mein Ort, mein Fluchtpunkt am Ende eines Laufstegs ins Nichts. Hier ist es wunderbar still, und ich kann mir Gedanken über den Tag machen. Und über meine Zukunft.

Unsere Zukunft.

Die Zukunft.

»Ach, da bist du«, sagt Holly, als sie ein paar Meter hinter mir durch die Glastür kommt – als könnte ich sonst irgendwo sein.

Nur selten bin ich ganz allein hier. Oder, genauer gesagt, dauert es nie lange, wenn ich draußen bin, bis sie auftaucht. Ohne den Blick von der herrlichen Aussicht zu reißen, hebe ich einladend die Hand. Es ist nicht ihre Schuld, dass sie meine Stille hier stört. Sie tut nur, was man von ihr verlangt. Sie wollen meine Gedanken hören – besonders jetzt, wegen morgen. Deshalb schickt man sie her. Holly. Meine beste Freundin. Meine ständige Gefährtin. Mein Anker. Noch vor wenigen Minuten saß ich mit ihr zusammen im Unterricht, und wir sprachen darüber, wie William Shakespeare es schaffte, eine Tragödie fast in eine Komödie zu verwandeln. Sie hatte einiges dazu zu sagen, was ich interessant und aufschlussreich fand – manchmal kann ich von ihr genauso viel lernen wie von der Person, die uns unterrichtet.

Dabei ist Holly schon anders als ich, nicht ganz so fleißig, aber dafür … zugänglicher.

»Schicke Schuhe«, sage ich, als sie sich neben mich setzt und mir ihre orangefarbenen Slipper ins Auge fallen. Ihr honigblondes Haar regt sich nicht im Wind, aber sie zieht ihre Jeansjacke ein bisschen enger um sich, als würde sie frösteln.

Ich finde es lustig, dass man sie nicht immer das Gleiche tragen lässt. Für jeden Tag und jeden Besuch wird etwas Neues ausgewählt. Wozu die Mühe? Vielleicht wollen sie mir damit zeigen, was sie von mir erwarten; oder sie wollen meinen Sinn für Mode anregen, weil ich mir ja nichts von Gleichaltrigen abschauen kann. Es gibt ja kein anderes Mädchen.

Niemand schreibt mir vor, was ich zu tragen habe. Ich kann mir aus dem Kleiderschrank nehmen, was ich will; die Sachen, die sie für mich zusammengestellt haben, sind eine bunte Mischung von Stilen der vergangenen Jahrzehnte – geometrische Drucke, Schlaghosen, Jacken mit Schulterpolstern und hübsche Hemdblusenkleider.

Ja, ich habe die freie Wahl. Nehmen wir zum Beispiel heute. Heute Morgen habe ich mich für ein luftiges türkisfarbenes Sommerkleid mit zartem Blumenmuster entschieden. Es reicht bis übers Knie und lässt über den braunen Schnürstiefeln, mit denen ich es kombiniert habe, eine Handbreit nackte Haut frei. Auf Fotos habe ich ähnliche Kleider zusammen mit Keilabsätzen, Sandalen oder Espadrilles gesehen, aber für mich kommen nur Schnürschuhe infrage, wenn ich hier draußen am Abgrund bin. Keine Slipper. Nicht hier.

Bei Holly ist das anders, was mich ein bisschen ärgert, aber nur, weil ich es leichtsinnig von ihnen finde. Wenn sie mir Holly schon an die Seite stellen, warum gilt die Regel, an die ich mich halten muss, nicht auch für sie? Da kann ich Holly doch nicht mehr ernst nehmen, und das finde ich nicht gut.

Ich versuche, nicht allzu laut zu seufzen, und sehe woandershin. Ich flechte meine Finger in die Enden meiner langen braunen Haare, die der Wind verknäuelt hat.

Als ich klein war, haben sich die Mütter um mein Haar gekümmert. Damals habe ich die komplizierten Frisuren nicht begriffen, aber jetzt kann ich stundenlang mit meinem Haar herumspielen und bin gar nicht so ungeschickt dabei. Ich kann es verdrehen, verknoten, flechten, hochstecken … unendlich viele Möglichkeiten. Dafür bin ich dankbar. So habe ich etwas zu tun. Früher durfte ich auch mit Make-up experimentieren, aber jetzt trage ich es nur noch bei besonderen Anlässen, um es nicht unnötig zu verschwenden. Solche Sachen werden ja kaum noch nachgefragt, und es wird nichts mehr hergestellt. Ich muss mit dem auskommen, was ich habe.

»Morgen also«, bricht Holly das Schweigen.

»Wow, keine Umschweife.« Ich muss kichern, drehe mich um. Sie blickt nach vorn. Ihre blassgrünen Augen funkeln. Manchmal schleicht sie auf Zehenspitzen um solche Themen herum und lässt mich regelrecht in der Luft hängen, welche Richtung das Gespräch einschlagen wird. Ein andermal, wie im Unterricht, ist sie ganz auf die Sache konzentriert. So ist es mir auch lieber. Sie ist mir so lieber. Glaubwürdiger. Beinahe echt.

»Wird ein großer Tag«, erklärt sie und zuckt mit den schmalen Schultern.

»Der größte in meinem Leben.« Ich nicke und mache ein ernstes Gesicht. Sie soll denken, dass sie mich angesteckt hat und ich bereit bin für ein tiefgründiges, bedeutungsvolles Gespräch. »Meine Geburt natürlich ausgenommen – die war monumental.«

»Eigentlich keine große Sache«, erwidert sie und versucht das Schmunzeln zu verbergen, das in ihren Mundwinkeln lauert.

»Kaum eine Schlagzeile wert«, setze ich nach.

»Haargenau«, haucht sie. »Dann kannst du mir ja von ihm erzählen.«

»Drinnen habe ich einen ganzen Ordner über ihn. Du kannst ihn dir ansehen, wenn du willst. Warum holst du ihn nicht einfach her?«, schlage ich keck vor, obwohl sie doch längst weiß, was drinsteht, und sie die Akte gar nicht herausbringen dürfte, selbst wenn Gegenstände hier am Abgrund erlaubt wären.

»Willst du mich etwa loswerden?«, fragt sie mit großen, funkelnden Augen.

»Wie kannst du so was nur von mir denken?«, lache ich, obwohl ich schon an den Fremden denken muss, den ich treffen soll. Kandidat Nummer eins. »Er heißt Connor … Auf den Fotos sieht er ja ziemlich gut aus.«

»Das ist schön, aber es geht ja nicht nur ums Aussehen«, antwortet sie.

»Natürlich nicht – das Aussehen kann täuschen.« Die Ironie dessen ist uns beiden bewusst. Ihre Lippen verraten, dass sie wieder ein Lächeln unterdrückt. Diese Vielschichtigkeit mag ich wirklich an ihr.

»Ist sonst irgendwas Besonderes an ihm?«, fragt sie und streicht sich eine lose Strähne hinters Ohr wie bei einer harmlosen Frage unter Freundinnen. Als ob sie nicht jede Information aufsaugen wollte und versuchte, meine Gedanken zu ergründen – nur dass ich diese, soweit ich weiß, selbst noch nicht einmal annähernd in den Griff bekommen habe. Und so könnte es von mir aus auch bleiben.

Aber sie ist diese Holly, rufe ich mir in Erinnerung. In ihren Augen lese ich, dass sie sich wirklich sorgt, dass sie mehr als eine bloße Botin ist, die auf meine Ängste und Freuden mildernd einwirken soll.

»Schwer zu sagen, nach allem, was ich bis jetzt gesehen und gelesen habe. Morgen, wenn ich ihn getroffen habe, werde ich mehr wissen«, sage ich und klinge dabei ruhiger, als mir zumute ist.

Seit Jahren arbeiten wir auf diesen Punkt hin. Seit ich denken kann, weiß ich, dass es drei Kandidaten sein werden. Nicht zwei oder vier, sondern drei. Die Erwählten männlichen Geschlechts, die sich der bevorstehenden Aufgabe bereits als würdig erwiesen haben. Wie man das bewerkstelligt hat, ist mir nicht verraten worden, aber man wird sie wohl ebenso getestet, trainiert und ausgehorcht haben wie mich. Jetzt darf ich also auch mal etwas sagen. Aus drei Männern soll ich mir den einen fürs Leben aussuchen. Meinen Partner. Den Mann, mit dem ich zusammen sein werde. Aber nicht, dass man von mir erwartet, die Welt auf einen Schlag wieder zu bevölkern – es soll eher ein sanfter Neustart sein, damit wir noch einmal von vorn anfangen und die alten Fehler vermeiden können. Das ist die Hoffnung, die Aufgabe, die man mir anvertraut hat.

»Und wie fühlst du dich, jetzt, wo du ihn treffen sollst?«, fragt sie und sieht mir in die Augen.

Ihr entgeht nichts.

»Nervös, aufgeregt, bange, begeistert, entsetzt …« Ich komme nicht weiter und fahre mit den Fingern den Umriss der etwa mondsichelförmigen Stelle mit harter Haut auf meinem linken Handgelenk nach – eine dauerhafte Erinnerung daran, wie gefährdet ich früher gewesen bin und warum ich mich hier, wo ich jedem trauen kann, so geborgen fühle. »Es ist das Unbekannte.«

Sie lächelt, als würde sie sofort verstehen. Was nach mehr als einem Jahrzehnt als meine beste Freundin eigentlich der Fall sein sollte; aber welche Bürde auf mir lastet, konnte sie nie wirklich ermessen. Niemand kann das. So gesehen bin ich völlig allein, ganz egal, mit welchen Tricks sie mich vom Gegenteil überzeugen wollen. Diese Leute sehen mich an, als sei ich die Antwort auf ihre Gebete, aber was, wenn nicht?

»Er weiß alles über mich. Ich dagegen weiß außer dem, was in der Akte steht, nichts über ihn«, vertraue ich ihr die Spitze eines ganzen Eisbergs an Sorgen an und versuche, die nagenden Selbstzweifel, die darunter liegen, zu ignorieren.

»Auch er weiß nur, was man ihm gezeigt hat«, meint sie nüchtern und erinnert mich damit an Zeiten, als man mir Kameras vor die Nase gehalten und mich gebeten hat, der Menschheit in ihrer Not etwas Aufmunterndes zu sagen. Natürlich hat man vergangene Woche die Feier zu meinem sechzehnten Geburtstag in Bildern festgehalten. Zwischen den ausgelassenen Spielen, dem Singen und Tanzen, sollte ich ein paar Worte darüber sagen, wie es sich anfühlt, diesen Meilenstein erreicht zu haben. Ich bin so etwas gewohnt und habe mich nicht beklagt. Seit jeher ist die Welt begeistert, wenn ich ein weiteres Lebensjahr vollende.

Früher waren mir solche Augenblicke peinlich, aber jetzt spüre ich wirklich eine Verbindung zur Öffentlichkeit – fast als würde ich durch die Linse zu ihnen reisen und mit jedem Zuschauer persönlich sprechen. Irgendwie bin ich dann Teil des Ganzen, spüre meine Bedeutung und fühle mich nicht ganz so allein.

»Er hat von mir aber mehr zu sehen bekommen als ich von ihm in diesem albernen Video, auf dem er Runden auf der Bahn läuft und Cello spielt – das allerdings verdammt gut«, stöhne ich beim Gedanken an die Aufnahmen von Connor, die mir Vivian Silva, die Chefin hier, gezeigt hat – als müsse ich dankbar sein für das musikalische Talent eines fremden Mannes und auch für die Geschwindigkeit, mit der er seine Beine bewegen kann. »Ich hätte gern mehr von ihm gesehen.«

»Dann hat dir das, was du gesehen hast, gefallen? Hat dir Appetit gemacht?« Sie schmunzelt und hat den Kopf so weit gesenkt, dass sie mit klimpernden Wimpern zu mir aufblickt.

»Ja. Nein … ach, ich weiß nicht. Ich brauche einfach mehr«, sage ich. »Ich möchte wissen, was für ein Leben er führt. Was ihn zum Lachen und was ihn zum Weinen bringt. Ob er Geschwister hat … eine Mutter. Wie es sich außerhalb des Turms lebt, mit vielen Freunden.«

»Vielleicht hat er ja gar nicht viele

»Bestimmt mehr als ich. Wirkliche Freunde.«

»Autsch. Das war unfair.« Sie ächzt und hält sich den Bauch wie nach einem Tiefschlag.

»’tschuldigung«, murmele ich.

»Da wäre doch jeder nervös, Eve«, sagt sie, und die Leichtigkeit verfliegt aus ihrer Stimme.

»Bin ich doch gar nicht! Ich bin nur …« Mein Gesicht beginnt zu prickeln, und ich verliere den Faden. »Vielleicht finde ich ihn ja widerlich.«

»Deshalb hast du doch noch zwei andere Kandidaten zur Wahl«, erinnert sie mich. »Du hast verschiedene Möglichkeiten. Immerhin bist du Eve.«

»Ich weiß«, antworte ich. »Eve, die Retterin der Menschheit.« Die Worte passen fast nicht in meinen Mund.

»Nein«, widerspricht sie energisch. »Stark, begabt, humorvoll, schön, einzigartig. Er dagegen, er sollte nervös sein. Du hast hier die Kontrolle. Vergiss das nicht. Es gibt viele wie ihn. Dich gibt es nur einmal.«

»Danke«, murmele ich, und mir ist klar, dass ich rot angelaufen bin. Auch mein Magen sendet nervöse Signale. »Nach jahrelangem Warten, Gesprächen und Vorbereitungen, Hoffen und Bangen ist morgen also der große Tag. Es ist so weit. Ich werde einen Kandidaten kennenlernen. Einen Jungen … einen Mann.«

»Ich glaube, ›Junge‹ trifft es wohl eher.« Sie lacht und vergräbt das Gesicht in den Händen.

»Ein neuer Anfang.«

Connors jugendliches Gesicht kommt mir in den Sinn. Wie besessen habe ich es studiert, die Pickel an seinem Kinn, die hellbraune Schmalzlocke und das schiefe Lächeln. Lauter Oberflächlichkeiten. Ich möchte wissen, was darunter ist.

Kurz huscht ein schmerzlicher Zug über Hollys Gesicht, aber schon strahlt ihr perfektes Lächeln wieder, und sie fährt fort: »Hast du gesehen, wie er sich immer wieder das Haar aus dem Gesicht schüttelt, bevor er etwas sagt? Ich fand das liebenswert …«

»Ich auch.« Mein Mundwinkel zuckt.

Ich ärgere mich über die Informationen, die sie mir über Connor gegeben haben, weil sie einfach nicht ausreichen. Ich will mehr. Stundenlang habe ich immer wieder dieselben drei Minuten und dreiundzwanzig Sekunden der Aufnahme angesehen, habe auf jede Einzelheit geachtet, habe zurückgespult, um ihn noch mal an seiner Weste zupfen zu sehen, wie er den Stoff mit den Fingern fasst, wie dieselben Finger mühelos über die Seiten seines Cellos gleiten und wie er beim Notenlesen die Augen zusammenkneift. Das fesselt mich mehr als alles, was ich jemals sehen, tun oder lesen durfte. Es ist das Leben. Dort draußen.

Ich weiß, dass sie mich beim Beobachten beobachten.

Ich weiß, dass sie glauben, ich hätte mich in den ersten Mann verguckt, den man mir vorsetzt; dabei bin ich nur fasziniert, mehr nicht. Ich wollte einfach jede seiner Bewegungen und jede sprachliche Nuance in mich aufsaugen. Viel haben sie ihn nicht sagen lassen, aber alles ist Information – Wissen über diese Welt dort unten, von der ich so gut wie nichts weiß. Wir sehen zwar denselben schönen Nachthimmel, aber sonst ist unser Leben völlig verschieden. Ich bin die meiste Zeit hier oben im Turm, der Sicherheit wegen, er dagegen kann gehen, wohin er will. Kann sein eigenes Leben führen. Es sei denn, morgen wird ein Erfolg, natürlich. Dann wird sein Leben eher wie meines werden, oder – die Hoffnung stirbt zuletzt – meines wird mehr wie seines …

»Du wirst bestimmt deinen Spaß haben«, sagt Holly und sieht mir geradewegs in die Augen. »Ich werde an dich denken.«

»Wirklich?« Ich krümme mich innerlich zusammen, als mir mein flehentlicher Ton bewusst wird. Manchmal kommt sie mir wirklich real vor – wie eine echte Freundin, meine einzige Verbündete. Aus Angst, sie könnte gehen, würde ich mich am liebsten an sie klammern.

»Natürlich. Das … das ist doch ein wichtiger Tag für uns alle«, stammelt sie. »Meinst du, irgendjemand wird nicht daran denken, wie es dir ergeht?«

»Schon klar. Du hast recht«, seufze ich.

2

EVE

Jetzt sitzen wir schon mindestens eine Stunde an derselben Stelle, wie sonst auch, und unterhalten uns über alles und nichts. Manchmal lässt sie mich über eine der Mütter quasseln, über meine Verwirrung über eine mathematische Theorie oder meine Schwierigkeit, Mandarin zu erlernen. Manchmal schweigen wir auch nur. Und auch das ist in Ordnung. Zwischen uns ist alles entspannt. Mühelos.

Mein Herz krampft sich zusammen bei dem Gedanken an morgen, die Mühe, die es mich kosten wird. Wie verlegen, steif und ungeschickt ich mich vielleicht anstellen werde, und das ohne eigene Schuld, sondern nur aufgrund der Situation.

Ohne nachzudenken, greife ich in meine Tasche und ziehe den bunten Zauberwürfel heraus – wie meine Garderobe eine Verbindung zu einem vergangenen Zeitalter, in dem das Leben so viel einfacher gewesen sein muss. Deshalb hat er mich immer so fasziniert – es beruhigt mich, wie meine Finger über den Würfel streichen und wie er quietscht, wenn die Plastikteile aneinanderreiben.

Ich fasse ihn mit beiden Händen und verdrehe die farbigen Flächen gegeneinander, sodass die bunten Vierecke ihre Positionen wechseln. Ich habe dieses Geduldsspiel immer gemocht. Am Anfang fand ich es wirklich schwierig. Damals war ich noch klein, habe den Würfel stundenlang angestarrt und mit wachsender Wut wahllos daran herumgedreht. Sogar geträumt habe ich davon! Ich weiß noch gut, wie mich Holly geneckt hat: »Zieh doch einfach die Aufkleber ab, und klebe sie an den richtigen Stellen wieder dran.« Dabei wusste sie genau, dass ich auf keinen Fall schummeln würde. Jetzt ist es ganz leicht, die Farben wieder richtig auf die Seiten zu verteilen – ich muss dabei kaum nachdenken. Früher hat das meine Gedanken beruhigt; jetzt stellt sich die Entspannung dadurch ein, dass meine Hände etwas zu tun haben.

»Was willst du denn jetzt damit?«, stöhnt Holly, ihre Stimme eine Oktave höher. Sie reagiert fast panisch, kaum dass sie das Retro-Spielzeug in meiner Hand sieht, und äugt nach hinten zur Glastür.

»Ich hatte den wohl noch in der Tasche; muss ich vergessen haben«, lüge ich beiläufig. Dabei wusste ich genau, dass ich ihn dabeihabe, aber ihre heftige Reaktion lässt mich wünschen, ich könnte alles dreißig Sekunden zurückspulen und das Ding dort lassen, wo es war.

»Du weißt, du hättest das nicht mit rausbringen dürfen. Das ist nicht gestattet!«, zischt sie und zieht die Augenbrauen zusammen.

»Holly, entspann dich!«, lache ich. Ich werfe den Würfel etwas in die Höhe und fange ihn mit beiden Händen wieder auf. Das ist natürlich riskant, und mir sackt der Magen kurz durch, aber Hollys Gesichtsausdruck ist das allemal wert. Sie kann es nicht fassen, dass ich auch nur ein so belangloses Verbot übertreten würde. Sonst bin ich doch so gehorsam. Hier oben gibt es nicht viele Gelegenheiten zum Rebellieren, und ich genieße, wie mir das Blut durch die Adern rauscht.

»Nicht«, fleht sie und schlägt die Hände vors Gesicht, als könne sie so etwas nicht mit ansehen und müsse mich beschwören, damit aufzuhören.

»Du bist mir ja vielleicht ein Weichei!«

»Eve, hinein. Sofort!«, dröhnt eine Stimme, und wir erschrecken beide.

»Was? Das ist doch nur …« Ich wende den Kopf nach hinten zur Tür.

Dort steht Vivian Silva, eine Hand an der Hüfte; mit der anderen zeigt sie, wo ich hingehen soll. Ihre Statur hat mich von jeher eingeschüchtert. Ihre Größe, ihre Stärke – keine der Mütter ist wie sie. An ihr ist kein Gramm Weiblichkeit oder Weichheit, mit ihren wie gemeißelten Zügen, ihren grauen Hosenanzügen, passend zum grauen, akkurat getrimmten Haar, das vorn bis an die Wangenknochen reicht, hinten fast vollständig ausrasiert ist.

Ihr strenges Gesicht, das auch sonst unfreundlich, jetzt aber geradezu bedrohlich wirkt, bringt mich zum Schweigen. Jeder Versuch ist zwecklos. Sie lässt nicht mit sich reden.

Mein Wagemut fällt in sich zusammen. Ich bin wie gelähmt und natürlich gedemütigt.

»Sofort, sage ich!«, bellt sie und durchbohrt mich mit ihren braunen Augen.

»Wir unterhalten uns doch nur über morgen«, erkläre ich mit ruhiger, fester Stimme in der Hoffnung, ihre Wut zu lindern und die bedeutsame Aufgabe, die bevorsteht, in den Mittelpunkt zu rücken. Ein zum Abgrund mitgenommenes Spielzeug nimmt sich dagegen belanglos aus.

»Vivian, sie wollte nicht …«

»Holly, ab!«, befiehlt sie, ohne mich aus den Augen zu lassen.

Der Mund bleibt mir offen stehen, während meine Freundin buchstäblich verschwindet, als hätte sie sich in Luft aufgelöst.

Das haben sie noch nie getan. Sonst verschwindet Holly immer durch eine offene Tür, um die Illusion, die sie für mich erschaffen haben, aufrechtzuerhalten.

Das ist schlimm.

Ziemlich schlimm.

Fast schnürt es mir die Kehle zu, während ich mich aufrappele und über den Betonsteg auf Vivian zugehe. Ich strecke ihr die Hand mit dem Zauberwürfel hin und hoffe, dass sie ihn nimmt und das Ganze vergisst. Das tut sie nicht. Stattdessen schlägt sie mein Friedensangebot aus und dreht den Kopf weg.

»Hinein«, sagte sie leise in dem kalten, gebieterischen und gemessenen Ton, den ich so oft zu hören bekomme.

»Tut mir leid«, murmele ich. Beschämt folge ich ihr nach innen in den oberen Gartenbereich – ein Gewirr grüner Laubbäume, Pflanzen und Sträucher. Die Kuppel beherbergt unendlich viele Arten. Alles meinetwegen. Ein Gewächshaus im Himmel, nur für mich, damit ich das Leben und Wachsen beobachten kann. So umsichtig sind sie … Fürsorglich.

Mich beschleicht ein schlechtes Gewissen.

Vivian folgt einem Plattenweg, der sich durch den Garten schlängelt, und führt mich eine Treppe hinunter in den Arbeitsbereich. Vor ihrer geschlossenen Bürotür bleibt sie stehen und dreht sich um; sie wirkt gefasst – offenbar hat der kurze Spaziergang sie ein wenig beruhigt.

»Begreifst du, wie gefährlich so etwas ist?« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

»Ich wusste nicht, dass ich ihn noch in der Tasche hatte«, lüge ich. Noch immer dringt kaum ein Ton aus meiner Kehle. Mit Tadel habe ich noch nie gut umgehen können und gebe auch selten Anlass dazu. Nicht ernsthaft.

»Eine falsche Handbewegung, und unten wäre jemand zu Tode gekommen. Hast du vergessen, wie hoch oben wir uns hier befinden?« Im Licht ihrer Frage komme ich mir kindisch und dumm vor.

»Nein, natürlich nicht.« Innerlich winde ich mich.

»Wir gewähren dir hier so viele Freiheiten, Eve. Möchtest du etwa, dass sie dir genommen werden?«, fragt sie und streicht sich das Haar aus dem Gesicht.

»Nein«, flehe ich. Vielleicht müssen mich die Mütter künftig vor dem Hinausgehen durchsuchen. Schon ärgere ich mich über meine Gedankenlosigkeit.

»Vielleicht sollten wir die Türen ab jetzt geschlossen halten«, sagt sie, wie um das Ausmaß meiner Bestrafung zu erwägen. Sie spielt mit mir, mit ihrer Macht. Ich durchschaue sie, lasse mich aber dennoch einschüchtern.

»Bitte nicht«, sage ich so nüchtern, erwachsen und vernünftig wie möglich.

»Wir könnten den Abgrund auch ganz abschaffen«, schlägt sie vor.

»Das könnt ihr doch nicht tun …«, stöhne ich

»Wenn du dich nicht an einfache Regeln halten kannst, Eve …« Sie zieht den Mundwinkel eine Winzigkeit hoch. Jetzt hat sie mich, wo sie mich haben will, und sie weiß es. Jetzt kann ich nur noch das gebotene Maß an Zerknirschung und Bedauern äußern und hoffen, dass sie nicht allzu streng mit mir ist.

»Ich tu’s nie wieder. Versprochen«, sage ich und senke den Kopf.

Als ich wieder aufblicke, sieht sie mich so eindringlich an, dass ich unwillkürlich wieder auf meine braunen Schnürstiefel hinunterstarren muss.

»Du bist ein Rädchen im Getriebe«, schnarrt sie tief und leise und schiebt sich näher heran. »Ein wichtiges, zugegeben, aber trotzdem nur ein Rädchen. Ohne unseren Schutz bist du gar nichts.«

Ich nicke. Meine Wangen glühen. Zwar lastet auf mir die Verantwortung für den Fortgang des menschlichen Lebens auf diesem Planeten, aber sie muss dafür sorgen, dass ich den mir auferlegten Pflichten auch nachkomme. Körperliche Schmerzen darf sie mir natürlich nicht zufügen, aber sie kann mir die Dinge nehmen, die mir wichtig sind, damit ich die in mich gelegten Erwartungen erfülle. Der Abgrund ist meine einzige Möglichkeit, täglich mit der Welt dort draußen in Verbindung zu treten. Wenn sie mir das nehmen, wäre ich niedergeschmettert und ich würde alles daransetzen, das zu verhindern. Das weiß sie.

»Ich verspreche dir, nicht noch einmal ungehorsam zu sein«, krächze ich.

»Gut.« Sie lässt mich einen Moment in meinem Elend baden und bläht angewidert die Nasenflügel. »Jetzt geh auf dein Zimmer und bereite dich auf die erste Begegnung vor. Enttäusche mich nicht zwei Tage in Folge«, setzt sie nach. »Die Öffentlichkeit zählt auf dich.«

»Ja, Vivian.« Ich mache beinahe einen Knicks, drehe mich um und laufe hinüber zu meinem Schlafbereich.

3

BRAM

Hartman wird von den Sirenen geweckt. Er ist mein bester Freund. Mein Partner. Mein Kopilot. Es ist zwei Uhr nachts. Ich schlafe nicht.

»Sturm?«, kräht er und kratzt sich an den Stoppeln, die die untere Hälfte seines runden Gesichts bedecken. Es war Sturm vorhergesagt, aber das hastige Getrappel von Stiefeln vor unserem Schlaftrakt kündigt noch etwas anderes an.

»Protestler«, antworte ich.

»Verdammte Libertisten. Geht nach Hause!«, brummte er.

Schlafen.

Ich komme so wenig dazu, dass ich schon fast nicht mehr weiß, wie sich das anfühlt. Hartman hatte damit noch nie ein Problem. Schon als wir noch klein waren auf der Akademie und ich noch Angst im Dunkeln hatte, konnte er abschalten, kaum dass »Licht aus!« gerufen wurde, während es in meinem Kopf weitersummte, um mir auf all das einen Reim zu machen. In diesem ganzen Durcheinander meinen Platz zu finden. Irgendwie tröstlich, dass sich manches nie ändert.

Die Sirenen heulen immer noch. Ich schätze, das wird noch eine Weile so gehen. Ich versuche mir vorzustellen, welche Art von Chaos sich wohl unten an der Hochwasserlinie abspielt.

Tausende, die bei dem beschissenen Wetter bis zu den Knien in der eiskalten Flut stehen, in der vor Jahren ihre Stadt versank. Alle hatten sie damals nach innen gemusst, hatten immer höher in die Sturmwolken bauen müssen, um es warm und sicher zu haben. Und was hatte dieses Pack getan? Diese verblendeten Rebellen haben ihre Wolkenkratzer in Central verlassen, sind draußen vor unseren Mauern gestrandet und können sich jetzt nur noch am Feuer ihrer eigenen Wut wärmen.

Und warum?

Ihretwegen, natürlich. Wegen ihrer Retterin. Der Zukunft der Menschheit.

Eve.

Demonstranten sind hier nichts Neues. Millionen glühender Gesichter sind an dem Turm vorübergezogen, Millionen von Stimmen haben zum Himmel hinaufgeschrien, Millionen alberner durchgeweichter, an nasse Holzlatten genagelter Pappschilder sind vor den mit Stacheldraht gesicherten Mauern auf und ab getragen worden, alles nur mit einem Ziel: Eve zu befreien.

»Ich hasse Libertisten …«, grunzt Hartman in sein Kissen. Ich glaube, er spricht im Schlaf.

Die Demonstration wird sich zur Randale auswachsen. Wie immer. Und sie werden nichts erreichen. Ein schnell gelöschtes Feuer. Rasch vergessen.

Ein, zwei Mal in all den Jahren ist es knapp gewesen, aber wen wundert das? Sie ist der wichtigste Mensch der Geschichte. Schon in ihrer Kindheit gab es mehrmals Pläne, Eve zu entführen. Religiöse Fanatiker wollten sie ermorden, und gleich zu Anfang waren ihre öffentlichen Auftritte immer von Terrordrohungen begleitet gewesen. Aber das ist lange her. Damals ist sie noch nach draußen gegangen. In die wirkliche Welt. Ein kleines Mädchen, das man herumgezeigt hat, um den Verzweifelten Hoffnung zu geben, die Schwachen zu stärken und die Ungläubigen zu überzeugen.

Von alldem weiß sie natürlich nichts mehr, und wir erinnern sie auch nicht daran. Das war noch ein anderes Leben. Aber dann straffte die Abteilung für den Fortbestand der Menschheit die Zügel und beherbergt sie seither in der Kuppel.

Die Kuppel.

Meine Gedanken wandern vom Flutniveau, neunhundert Stockwerke unter mir, hinauf zu Eve, fünf Stockwerke über mir. Die Kuppel ist ihre Welt. Autark in jeder Hinsicht. Wäre der Turm ein Staat, dann wäre die Kuppel seine Hauptstadt.

Einwohnerzahl: 1.

Eve.

Was tut sie wohl gerade? Die Sirenen kann sie natürlich nicht hören, nicht dort oben, aber ich kenne Eve. Schlafen wird sie nicht. Sie wird an morgen denken, an nichts anderes. Genau wie ich.

Der Schlaftrakt erzittert.

Eine Explosion weiter unten.

Die Randale hat begonnen.

Hartman schnarcht. Den Aufruhr nimmt er ebenso wenig wahr wie Eve; allerdings werden seine Träume nicht behütet von Stoß- und Schwingungsdämpfern und der je erdachten aufwendigsten Gebäudelagerung.

Das Wasser in meiner durchsichtigen Trinkflasche kräuselt sich beim nächsten tiefen Donnern, das den Turm durchschüttelt. Eve hat bestimmt rein gar nichts gespürt. Die Kuppel ist unerschütterlich; dort herrscht ewige, vollkommene Ruhe. Dabei ist sie ständig in Bewegung, wippt und schwingt wie ein Boot auf dem Ozean, sodass Stürme oder, wie in diesem Fall, durch Sprengstoff erzeugte Stoßwellen einfach um sie herumlaufen, während ihre kostbare Bewohnerin nicht das Geringste bemerkt.

Wieder eine Explosion. Die Libertisten legen sich heute mächtig ins Zeug.

Jetzt will ich mir das doch einmal ansehen. Ich steige aus dem unteren Stockbett. Der kalte Boden leuchtet schwach orange auf, kaum dass ich den Fuß darauf setze; ich sehe also, wo ich hingehe, ohne Hartman aufzuwecken. Das Holo-Display an meinem Schreibtisch geht an, als ich daran vorbeigehe, und versucht, mich mit dem von mir am häufigsten betrachteten Bild an die Arbeit zu locken – einem Baum.

Ich achte nicht darauf, und der Bildschirm geht wieder in den Schlafmodus. Das Fenster des Schlaftrakts erkennt an meiner Körperwärme, dass ich mich nähere, und springt an. Seltsam, dass wir immer noch Fenster dazu sagen. Keine einzige Glasscheibe ist auf der Außenseite des Turms verbaut. Er ist eine Festung. Die Fenster sind RealiTV-Monitore, die man für die Verwendung im Turm angepasst hat, damit sie wie die altvertrauten Fenster von früher aussehen und denselben Eindruck vermitteln – auch eines von den Dingen, die mein genialer Vater erfunden hat. Dr. Isaac Wells. Eindeutig eher ein Genie als ein Vater.

Der Blick durchs Fenster zeigt mir dichte, dunkle Gewitterwolken. Standardeinstellung: Realität. Ich wische mit der Hand übers Glas und werde augenblicklich von rotem Licht geblendet.

»Mann, Bram!«, stöhnt Hartman und dreht sich vom Licht weg.

»’tschuldige!«, flüstere ich, drehe die Hand in der Luft und regle so die Helligkeit herunter.

Das Bild passt sich an, die Wolken sind verschwunden, und ich sehe, was von unserer Stadt Central übrig ist; die dunkelroten Flecke sind kältere, stärker überflutete Bereiche. Erstaunlich, dass immer noch Menschen dort leben. Ich trete näher und sehe hinunter. Noch immer dreht es mir dabei jedes Mal den Magen um. Mit großen Höhen konnte ich noch nie gut umgehen, und das hier ist jenseits aller Vorstellung.

Direkt unter meinem Fenster sieht man an der Basis des Turms leuchtendes Glühen – die Körperwärme Tausender Libertisten brodelt wie Lava. Ich hebe die Hand vors Gesicht und spreize die Finger. Das Fenster gehorcht und vergrößert den Bildausschnitt. Die Lava verwandelt sich in schwärmende Feuerameisen, die versuchen, in unser Nest einzudringen und sich ihre Königin zurückzuholen.

Sie werden scheitern.

Ich wiederhole die Geste. Jetzt kann ich ihre Gesichter erkennen. Die Rotglut ihrer Wut. Manche weinen. Es sind natürlich alles Männer. Die meisten haben vermutlich nie eine leibhaftige Frau gesehen. Ein paar Frauen gibt es dort draußen, in bewachten Frauenhäusern und abgeschiedenen Schutzbereichen. Die Jüngsten, mit Ausnahme von Eve, sind jetzt sechsundsechzig – die Letztgeborenen vor der fünfzigjährigen Dürre. Keine ist mir je im Freien begegnet, als ich noch dort draußen lebte. Außer meiner Mutter natürlich. Auch bei den Demonstrationen sehe ich heutzutage kaum eine – die meisten sind entweder zu alt oder fürchten sich zu sehr. Vor uns. Den Männern. Vor der Welt, in der wir leben. Wir Menschen sind jetzt eine bedrohte Art, aber Frauen sind unschätzbar selten.

Das Fenster flammt glühend weiß auf. Der Schlaftrakt bebt. Das ist keine von ihren Explosionen, sondern unsere. Nicht tödlich natürlich: Wir sind ja eine bedrohte Art. Normalerweise treibt Angstgas auch die entschlossensten Libertisten in die Flucht; es erfüllt sie mit den schlimmsten Ängsten, die sie sich vorstellen können, und wir können zusehen, wie sie weinend davonlaufen.

Ich wische mit beiden Händen, und das Fenster zeigt wieder die Realität. Sturmwolken. Die ewigen Sturmwolken. Einen Moment lang betrachte ich, was wir diesem Planeten angetan haben. Wir Narren. Das passiert also, wenn die Welt fünfzig Jahre lang uns Männern überlassen wird – Generationen von Jungen ohne Hoffnung auf die Zukunft. Wir zerstören sie. Natürlich. Das ist, was drei Weltkriege von ihr übrig gelassen haben.

Das ist aber alles vor meiner Geburt geschehen.

Vor Eve.

Als Eve auftauchte, war das alles, was für unsere »Retterin« noch zu retten übrig war. Ich bin zu jung, um mich an irgendetwas v. E. zu erinnern, aber ich habe die Vor-Eve-Berichte gelesen. Ohne eine Generation, der man die Welt vererben konnte, haben wir sie jenseits aller Vorstellung ausgebeutet.

Mit unserem hemmungslosen Verbrauch fossiler Brennstoffe haben wir den Klimawandel selbst über die pessimistischsten Prognosen hinaus angeheizt. Dazu der Krieg. Die Gier. Was wir nicht selbst zerstört haben, dem hat das Wetter den Rest gegeben. Die schlimmsten Unwetter in der Geschichte unseres Planeten, heißt es.

Egoismus. Er liegt uns im Blut.

Auf unsere Retterin kommt einiges an Arbeit zu.

Eine dichte Wolke legt sich vors Fenster, und ich sehe mein Spiegelbild, eines meiner beiden Gesichter. Und es überrascht mich, denn es ist das, mit dem ich geboren wurde. Ich fahre mir mit der Hand übers kurz geschorene Haar. Mit einem Kribbeln der Kopfhaut lässt die Anspannung des Arbeitstags allmählich nach. Der fehlende Schlaf hat meinen Augen den Glanz genommen. Dieses Gesicht ist müde. Ihn bekomme ich in letzter Zeit kaum zu sehen, mein zweites Gesicht dafür umso mehr. Ihr Gesicht.

Holly.

Meine Arbeit hat sich durch die Vorbereitungen auf morgen praktisch verdreifacht, und ich verbringe die meiste Zeit im Studio – oder im Käfig, wie wir Piloten sagen. Dort lassen wir uns selbst hinter uns und werden zu Holly, der besten Freundin von Eve.

Holly haut mich immer noch um, auch nach all den Jahren. Sie ist wirklich Spitzentechnologie, stellt alles andere in den Schatten. Einer Organisation, der man die Verantwortung für das wichtigste menschliche Wesen des Planeten übertragen hat, stehen natürlich unerschöpfliche Ressourcen zur Verfügung, unbegrenzte Mittel, um alles Erdenkliche zu entwickeln, das Eves Leben positiv beeinflussen könnte. Meinen Vater und seine Erfindungen hatten sie ja jahrelang auf dem Schirm gehabt, aber ich glaube, selbst die große Vivian Silva hätte Holly und die Bedeutung, die sie erlangen sollte, nicht voraussagen können. Und wer hätte gedacht, dass gerade der Umgang mit einem Mädchen im gleichen Alter den Schlüssel dazu liefern würde, Eve wirklich zu verstehen?

Ihre Gedanken zu enträtseln.

Sie zu beeinflussen.

Sie zu kontrollieren.

Niemand beeinflusst einen so stark wie die beste Freundin.

Einfluss und Manipulation. Ein schmaler Grat, auf dem Holly balanciert. Auf dem ich balanciere. Tag für Tag.

Eve weiß natürlich, dass Holly nicht echt ist. Sie ist sich ihrer Einzigartigkeit bewusst. Dabei könnten die meisten von uns Holly nicht von einem echten Menschen unterscheiden; Eve hat es damals schon in der ersten Woche bemerkt, und da waren wir beide erst fünf Jahre alt.

»Das liegt an ihren Augen«, hatte sie damals gesagt, ich weiß es noch gut. »Sie sind immer wieder anders.«

Das ist wirklich die einzige Schwäche; ansonsten ist das Programm perfekt. Neun von zehn fällt es nicht auf, aber Eve hat eine besonders feine Wahrnehmung. Hollys Augen müssen direkt mit der Person verschaltet sein, die sie kontrolliert: mit dem Piloten – also mit mir. So hat es mein Vater eingerichtet, und nur deshalb wirkt sie so lebensecht. Nur so kann man ihr vertrauen. Aber die Augen der Piloten sind natürlich nicht genau gleich. Wir sind drei, die Holly abwechselnd steuern, und Eve kann uns unterscheiden.

Darüber sprechen wir natürlich nicht. Das ist verboten. Wir würden das Protokoll niemals übertreten. Wer Holly steuert, ist Holly. Er ist nicht mehr er selbst. Dafür trainieren wir.

Manchmal vergesse ich, wo Bram aufhört und Holly anfängt. Vielleicht mag mich Eve deshalb am liebsten. Vielleicht öffnet sie sich deshalb nur mir gegenüber. Deshalb bekomme ich wahrscheinlich auch die schwierigen Aufgaben – vielleicht aber auch, weil ich der Sohn vom Chef bin. Keine Ahnung.

Wieder fahre ich mir mit der Hand über den Kopf und lasse die Gedanken schweifen. Als Holly von Dad entwickelt wurde, war ich noch klein – die Hardware hat er praktisch um mich herum entworfen. Da ich fast gleich alt war wie Eve, war ich das perfekte Versuchskaninchen für seine neueste Erfindung. Die AFM war gleich völlig aus dem Häuschen. Holly veränderte die Lage grundlegend. Sie war sein Meisterstück. Mit ihr machte er sich in der Wissenschaft einen Namen. Man behandelt ihn hier wie Hochadel. Macht mich das zu einem Prinzen? Wohl kaum. Wir sind alle Ritter, und Eve ist unsere Königin.

In der Ferne blitzt es. Der bläuliche Schimmer der Wolken verrät, dass es unten am Wasser eingeschlagen hat und Central für einen Moment erhellt. Was Eve wohl von alldem halten würde, wenn sie es sehen könnte?

Wie muss das für sie sein, wo sie das alles doch gar nicht kennt, jetzt dort oben in der Kuppel unter dem vollkommenen Sternenhimmel? Schon bald wird einer von tausend vorprogrammierten Sonnenaufgängen sie wecken, und sie wird über einen duftig weißen Wolkenteppich hinausblicken. Sie wird weiter daran glauben, dass die Welt friedlich und wundervoll ist; ihr Glaube an die Menschheit, die sie erretten soll, wird für einen weiteren Tag am Leben erhalten werden. Das ist der Zweck der Kuppel. Sie ist Eves Wirklichkeit. Die Wirklichkeit ist wohl nichts anderes als die Welt, die man uns zeigt.

Die Sirenen verstummen.

Es ist vorbei.

Ich lege mich wieder ins Bett, knipse die Leselampe an und lese Connors Akte noch einmal. Morgen wird für uns alle ein wichtiger Tag werden. Der erste Kandidat.

Ich überfliege das wissenschaftliche Kauderwelsch über seine genetische Disposition, die ihn zum perfekten Fortpflanzungspartner für Eve macht. Mir kommt das alles furchtbar steril und kalt vor – fast als wäre sie eine Art Zootier in einem Brutprogramm. Bin ich damit einverstanden? Nein. Ist das alles nötig? Ja. Spielt meine Meinung irgendeine Rolle? Zum Teufel, nein.

Dabei sehe ich die Angelegenheit gar nicht so schwarz-weiß. Die menschliche Natur. Gefühle. Anziehungskraft. Liebe. Dafür gibt es keine wissenschaftliche Formel, und Eve ist, nun, sie ist eben Eve. Sie ist nicht berechenbar.

Eve.

Ich muss unwillkürlich lächeln, und mein Kissen trägt mich in diese ungewohnten Gefilde, die man Schlaf nennt.

Viel Glück, Connor. Der morgige Tag könnte die Welt verändern.