Über das Buch

Eigentlich ist Alfred Dutertre der Chauffeur des Pariser Bankiers Albert Kahn. Doch jetzt soll er für ihn zum Fotografen werden: Kahn plant ein Archiv der Welt in Bildern, ein Projekt für den Frieden, das die Völker der Erde einander näherbringen soll. Dutertre und Kahn brechen auf, nach Japan, Hawaii und in die Mongolei, zu einer Reise, die aus den beiden Männern Freunde macht. Als Kahn sein Vermögen in der Weltwirtschaftskrise verliert und sich schwer krank in seine Villa zurückzieht, bleibt Dutertre an seiner Seite, und in über siebzigtausend Fotos blicken sie gemeinsam zurück auf ihre Reisen und in die Gesichter der Welt.

Nach einer wahren Begebenheit erzählt ›Der Archivar der Welt‹ die Geschichte eines großen humanistischen Abenteuers und von der Freundschaft zweier ungleicher Männer.

 

 

 

 

Für Roël, an den ich unendlich glaube

Boulogne, Paris

In der Nacht weckt mich ein Geräusch, das ich nicht einordnen kann. Im Haus ist es still, es gibt keine Besucher mehr, in den Betten keine schlafenden Gäste – seit alle fort sind, passiert hier kaum noch etwas. Unbewohnt, so wirkt es, das einzige Geräusch ist das vertraute Knarren der Archivschränke – doch was ich jetzt höre, klingt nach einem Sturm, es ist ein fernes, anhaltendes Rauschen, und doch sehe ich bei einem Blick aus dem Fenster, dass sich in den Platanen nichts rührt, auch die Bäume an der Zufahrt stehen reglos. Der Mond zeigt sich kaum, aber ich brauche nicht viel Licht, um die Zweige im Halbdunkel unterscheiden zu können; ich kenne dieses Haus und die Gärten ringsum, die Nebengebäude und natürlich die Garage, ich finde mich überall blind zurecht. Es geht auf Mitternacht zu, vermute ich, und während ich am Fenster stehe, beginnt die Kirchenglocke auf der anderen Seite der Seine zu läuten.

Barfuß tappe ich in die Küche, die Nächte werden frischer, im Vestibül riecht es nach dem Kaminfeuer vom frühen Abend; ich tue mein Bestes, um unser normales Leben irgendwie in Gang zu halten. Ich schalte das kleine Radio ein und höre im Stehen einen Bericht über Tausende Pariser, die auf die Straße gegangen sind. Autos werden einfach so auf dem Boulevard Saint-Germain abgestellt, Busse blockieren Kreuzungen, Männer und Frauen ziehen in Scharen über die Rue de Rivoli, sie haben sich versammelt, um ihrer Wut Luft zu machen. Die Nachrichten jagen mir eine Heidenangst ein. Nach einer Weile drehe ich den Hahn auf und halte meine Hände unter das fließende Wasser. Es geht wieder los, Kahn und ich verschanzen uns hier, aber ich weiß verdammt gut, was uns erwartet, und ich habe Angst, dass ich es nicht schaffe.

Kahn liegt nur noch im Bett, tagsüber halb aufgerichtet, einen Schal um den Hals geschlungen. Eine Raupe spinnt mit einem einzigen Faden einen Kokon, der Körper wird samt Augen und Herz eingewickelt – voilà –; angesichts eines neuen heraufziehenden Krieges bewegt sich Kahn, als hätte er sich verkapselt, so schwerfällig, dass man es kaum wahrnimmt. In diesen letzten Augusttagen fröstelt er die ganze Zeit und lässt, mit den Kissen im Rücken, den Blick über den Garten schweifen hin zu den Lärchen und Tannen, die er am liebsten mag. Ich sitze bei ihm an dem kleinen Sekretär und vertreibe die Stille mit Geschichten. Das kostet mich keine Mühe, schließlich gibt es genug zu erzählen; jahrelang habe ich die Bücher geordnet, stundenlang habe ich in dem kleinen Raum neben dem Salon gesessen und darauf gewartet, dass meine Dienste benötigt wurden, und obwohl ich wusste, dass ich nicht lauschen sollte, habe ich die Gespräche zwischen den Besuchern verfolgt: Regierungschefs, Wissenschaftlern und Schriftstellern. Kahn war nie ein großer Schwätzer, mehr als einmal habe ich ihn sogar heimlich die Gesellschaft verlassen sehen, aber ich hörte Bergson, Kipling und all den anderen weiter zu, und so erfuhr ich immer mehr über ihn.

Mittlerweile kann ich frei über das Fotoarchiv verfügen. Wir leben hier zwischen Tausenden und Abertausenden Fotoplatten, Hunderte davon habe ich selbst gemacht. Bald wird mit der Evakuierung der Kinder begonnen, und ich habe das Gefühl, dass ich auch das Archiv in Sicherheit bringen sollte. Die Glasplatten sind in Kisten gelagert, sie sind schwer wie Blei, es ist unmöglich, sie alle fortzuschaffen. Und wo sollte ich sie auch hinbringen – sie verstecken, wäre der bessere Ausdruck –, sie, die Stück für Stück Kahns ganze Hoffnung sind?

Seit vierunddreißig Jahren bin ich bei ihm, und mein Herz zieht sich bei dem Gedanken zusammen, dass ich ihn im letzten Moment doch noch im Stich lassen könnte. Zu meinem vierundzwanzigsten Geburtstag drückte er mir eine Kamera in die Hand und wies mich an, so viel wie möglich damit zu fotografieren. Wie gut kann ich mich noch an die Tage erinnern, als ich mit dem Richard-Vérascope herumzog, obwohl ich doch nur Kahns Chauffeur war. Wenn ich ehrlich bin, muss ich gestehen, dass es in meinem Leben Momente gegeben hat, in denen ich viel mehr zu sein glaubte; wenn ich jetzt zurückblicke, wage ich zu behaupten, dass ich immer sein Chauffeur geblieben bin. Ich bin fest davon überzeugt, dass ein Mann wie ich mehr tut als nur fahren; ein wirklich guter Chauffeur führt seinen Dienstherrn in die richtige Richtung. Kahn ist inzwischen so gebrechlich, dass seine Sturheit fast verschwunden ist, und ich kann endlich das tun, wofür ich eingestellt wurde. Es ist meine Aufgabe, ihn sicher an sein Ziel zu bringen.

Kahn wollte die ganze Welt fotografieren. Die Idee war ihm während unserer großen Reise 1908 gekommen, und ich habe mich darüber schier ausgeschüttet vor Lachen. Er hatte mir mit erhobenem Zeigefinger erklärt, dass dank der Erfindung der Farbfotografie nun sein Herzenswunsch in Erfüllung gehen konnte: den Menschen so zu zeigen, wie er tatsächlich ist.

»Hass schlägt keine Wurzeln«, dozierte Kahn mit viel Aplomb, »wenn wir in der Lage sind, dem Fremden ins Gesicht zu sehen. Wie ungewohnt dieses Gesicht auch sein mag, wir werden immer etwas von uns selbst darin erkennen. Wenn der Andere erst einmal in Farbe fixiert ist, kümmern wir uns um ihn.«

Voilà, was also mit mir begonnen hatte, dem betreten dreinschauenden Chauffeur mit seiner Metallkamera, wuchs sich zu einem gut durchdachten Plan aus. Er sollte Fotografen die Möglichkeit eröffnen, mit modernster Ausrüstung über den ganzen Erdball zu ziehen und alles festzuhalten, zu lernen und zu ordnen, was schließlich in seinem Archiv des Planeten Platz finden sollte.

Im Lauf der Jahre füllten sich die Schränke mit dem greifbaren Ergebnis seines Wunschtraums, einer unglaublichen Anzahl an farbigen Fotoplatten von Menschen aus allen Ländern, aufgenommen bei ihren täglichen Verrichtungen: Steinmetze in China bei der Pause, Fischer in Irland und Vietnam, Jäger in der Mongolei, in Belgien und Frankreich; einfache Männer und Frauen bei der Arbeit oder beim Essen. Unser Leben veränderte sich schneller als je zuvor, aber das Archiv des Planeten sollte uns immer wieder daran erinnern, was es bedeutet, ein Mensch zu sein, zu arbeiten und zu essen wie alle anderen. Hier, in dieser Villa eingelagert, liegt der Kern unseres Daseins. Als Kahn seine Lebensaufgabe in Angriff nahm, war er noch ein junger Bankier, eigensinnig und in sich gekehrt (ich bin mir des scheinbaren Widerspruchs zu seinen weltumspannenden Plänen bewusst), und so fasste er, was er erreichen wollte, in Worte, immer mit leiser Stimme und unerwarteten, ungelenken Gebärden.

Ja, die Fotos wurden gemacht, das Archiv ist zustande gekommen, das kann niemand bestreiten. Anfang der Zwanzigerjahre erlebten wir kurz eine bewegte Zeit, in der die halbe Welt nach Boulogne kam, angelockt von Kahns Ideal, seiner inzwischen legendären Sammlung, seinem immer weiter wachsenden Vermögen. Es scheint noch nicht so lange her zu sein, dass Kahn dank seiner Investitionen zum reichsten Mann in Europa geworden war, und am liebsten hätte ich mich nach dem weltweiten Kampf in meine Garage zurückgezogen, stattdessen musste ich immer Besucher hin und her kutschieren. Jetzt, da wieder ein Krieg vor der Tür steht, kommt niemand mehr, die letzten Monate ist einer nach dem anderen abgereist, das Geld ist weg, die Villa in schlechtem Zustand. Das Haus verliert seinen Glanz, und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das alles Hand in Hand geht; ein wurmstichiger Apfel mit verfaultem Kerngehäuse.

»Das Archiv des Planeten«, beharrt Kahn trotz allem mit unermüdlicher Hartnäckigkeit von seinem Bett aus, »ist niemals vollständig. Es ist unendlich, denn es müssen immer neue Bilder hinzugefügt werden.«

Aber von wem? Wer sollte es ausgerechnet jetzt noch auffüllen wollen? Und nicht zuletzt: warum überhaupt?

Wenn ich nicht schlafen kann, schleiche ich mich oft in den Lagerraum. In Pantoffeln klettere ich die Leiter hinauf, öffne ein paar Kisten und schaue mir die Fotos an, die ich ausgesucht habe: eine Fernsicht oder einen Markt, aber meist sind es Kinder, und während ich in ihre Frätzchen starre, frage ich mich, ob sie wohl unbeschadet durchs Leben kommen. Ich knipse die Lampe an und betrachte das Haus, vor dem sie posieren, während ich leise den Namen des Landes vor mich hinsage, in dem sie leben. Ich hole die Glasplatten behutsam aus dem Dunkel hervor, wie ich auch meine Erinnerungen heraufhole und gegen das Licht halte.

»Dutertre, was geisterst du da nachts herum?«, fragt Kahn, und dann sage ich, der Fensterladen habe sich losgerissen. »Das Geklapper«, könnte ich behaupten, »hat mich wach gehalten.«

Draußen ist es dunkel, der Mond versteckt sich wieder hinter den Wolken, und ich blättere, unter die Lampe gebeugt, in den Reiseberichten und Dokumenten. Mit leichter Hand führe ich Kahn noch einmal durch sein Lebenswerk, lotse ihn über Flüsse, an Stechginster entlang und vorbei an dem irischen Mädchen, vorbei an allem, was ihm wichtig ist. Behutsam folge ich einer Fährte nach links oder biege nach rechts ab und wähle die sichere Route. Am Ende seines Lebens werde ich die ganze Wegstrecke noch einmal zurücklegen und unterwegs Stolperstellen und Mulden meiden. Ich wähle meine Worte sorgfältig. Ich blättere durch meine Tagebücher und Hefte, und wenn ich die Seiten lese, fällt mir auf, wie jung ich damals war, wie unsicher und schüchtern, während ich mich doch vor allem an die Aufregung erinnere, die ich kaum bezähmen konnte.

Ich war einundzwanzig, als ich am 1. November 1905 bei Monsieur Kahn in den Dienst trat. In einem schicken schwarzen Mantel und mit einer schwarzen Mütze auf dem Kopf fuhr ich ihn täglich von Boulogne-sur-Seine in sein Bankkontor an der Rue de Richelieu nach Paris und zurück. Auf der ersten Seite meines Tagebuchs habe ich ordentlich, wenn auch in noch etwas zittriger Handschrift aufgeschrieben, welche Autos ich zu warten hatte:

1 Panhard & Levassor (acht PS)

1 Daimler (achtundzwanzig PS)

1 Mercedes (vierzig PS)

1 Mercedes (sechzig PS)

Den Panhard und den Daimler nahmen wir für Fahrten in die Stadt, die beiden Mercedes waren für die großen Sommerreisen durch Frankreich, Luxemburg und Holland gedacht. Ich pries mich glücklich wegen meiner Stellung, Kahn entlohnte mich großzügig. Mein Arbeitgeber handelte mit Gold und Diamanten, er finanzierte Industrievorhaben und gewährte internationale Kredite, er schien eine Nase für gewinnträchtige Investitionen zu haben, und heimlich beobachtete ich ihn, den meist schweigsamen Mann da auf meiner Rückbank. Ich fragte mich, wie er mit diesem etwas plumpen Äußeren und der übertriebenen Tierliebe seine Geschäfte betreiben konnte; ich habe nie auch nur einen Anflug von Gerissenheit bei ihm bemerkt. Sobald er am frühen Abend in der geschäftigen Stadt bei mir eingestiegen war, schloss er die Augen und öffnete sie erst wieder in Boulogne.

Dann, im Juli 1908, rief er mich zu sich in die Villa und drückte mir unversehens eine Kamera in die Hand, er glaubte wohl, dass ich mich mit Gerätschaften welcher Art auch immer auskannte. Ich bin nur ein einfacher Chauffeur und Mechaniker. Bis zu jenem Tag war ich noch nie in seinem Arbeitszimmer gewesen, und ich erinnere mich an den matten Lichtstreifen, der über den glänzenden Boden von der Tür bis zu seinem Schreibtisch lief, ich sah das Skelett in der Ecke stehen, die Bücher, Ausschnitte und Stapel von Zeitungen. Das übrige Haus war pieksauber, aber dieser Raum war brechend voll mit staubigem Nippes, Federn und Tintenfässern, es war ein kleiner Raum, und ich musste lächeln, vielleicht, weil er mich an meinen eigenen Arbeitsschuppen erinnerte, wo es genauso chaotisch aussah, aber trotzdem alles ganz zuverlässig seinen Platz hatte. Das Ding, das er mir gegeben hatte, war nicht groß und wog nicht viel, ein metallischer Geruch ging davon aus.

»Ich bin sehr zufrieden mit dir«, sagte Kahn, »und jetzt möchte ich, dass du Paris fotografierst. Dann gehst du zur École normale supérieure, wo ein Spezialist dir beibringen wird, wie man Fotos entwickelt, schwarz-weiß und in Farbe.«

»In Farbe, Monsieur?«

Er hatte es eher beiläufig gesagt, und er sprach leise, wie es immer noch seine Gewohnheit ist, nickte und schob mit beiden Händen ein Buch zu mir herüber. Ich sah, dass seine Finger auf dem Einband zitterten.

»Ist das nicht großartig, Dutertre? Ein Geschenk, ein herrliches Geschenk. So viel habe ich immerhin begriffen, dass es nicht schwierig ist«, fügte er hinzu und zeigte auf den Titel. »Nicht so schwierig.«

Es war ein dünnes Büchlein: Autochrome stand auf dem Umschlag und darüber in feinen Buchstaben die Namen der Brüder Lumière. Sonnenlicht fiel durch das offene Fenster auf den Papierkram auf seinem Schreibtisch, und in dem herumtanzenden Staub versuchte ich, die scheinbar kleinen Dinge zu begreifen, die mir gerade präsentiert worden waren.

»Bist du zufrieden, Dutertre?«, unterbrach er meine Gedanken. Er schaute von seinem Stuhl hoch.

Auch das überraschte mich, denn ich hatte es wirklich gut getroffen. Und war Frankreich nicht, wie ich selbst, mit Zittern und Zagen in das neue Jahrhundert hinübergewechselt? Er aber wandte sich wieder ab und sah vor sich hin. Erschrocken fragte ich mich, ob ich ihn vielleicht enttäuscht hatte, in der plötzlichen Stille wurde mir die Spannung im Raum bewusst, ich hob die Kamera an und roch das Eisen, den Geruch von Werkzeugen. Gott bewahre, ich wusste absolut nichts über Fotografie, aber wenn er darauf bestand, würde ich es lernen.

Von seinem Arbeitszimmer aus rannte ich zurück in die Garage, die großen Türen standen offen, die Sonne war inzwischen fast untergegangen. Unschlüssig rieb ich die Scheinwerfer mit einem Tuch ab und setzte mich in den Panhard, ich hatte das Geräusch eines rundlaufenden Motors permanent im Ohr, ich hätte den Wagen nur zu starten brauchen, um zu hören, ob ihm etwas fehlte, selbst in der frühen Dämmerung hätte ich jedes einzelne Teil austauschen können. Mit meinem Gewicht auf dem Lenkrad beugte ich mich nach vorne und betrachtete die Platane, die vielen Tönungen eines Blatts in den letzten Sonnenstrahlen, die glänzende Stelle am Stamm, wo sich die Rinde abgeschält hatte. Und die ganze Zeit drückte die Kamera auf meinen Schoß, leicht zwar, aber nicht zu ignorieren.

Vor dem Schlafengehen studierte ich bei Kerzenlicht das Instruktionsbüchlein, das er mir gegeben hatte, und machte mir Notizen zu dem Raster aus orange, violett und grün gefärbten Kartoffelstärkekörnern. Draußen erklang Hufgetrappel, ein Mann brüllte sein Pferd an, und ich saß am Tisch, las Satz für Satz und stellte mir die Körner wie Sand vor, der sich einfach von der Glasplatte wegpusten ließ. Über dem Raster lag eine Schwarz-Weiß-Emulsion, die Zwischenräume zwischen den gefärbten Körnern waren mit Ruß gefüllt. Jede Glasplatte hatte ihre eigene Menge an Kartoffelstärkekörnchen, schwarz-weißer Emulsion und Ruß, und sobald die richtige Lichtmenge durch die Körner fiel, entstand ein Farbfoto. Über die Seiten gebeugt, wiederholte ich die unbekannten Begriffe und schrieb sie in mein Notizheft, sodass ich sie am nächsten Morgen, wenn ich an den Autos herumbastelte, aus meiner Schürzentasche holen konnte. Differenzial – Wechselsack. Bremssattel – Verschlusszeit.

Der Ruß, erfuhr ich beim Herumblättern im Buch, machte es unmöglich, dass das Licht ungehindert auf die Emulsion fiel, aus demselben Grund musste ich die vorbereitete Glasplatte, das Autochrom, immer verkehrt herum in die Kamera setzen. Täte ich das nicht, würde das Licht nicht durch die Kartoffelstärkekörner, sondern direkt auf die Schwarz-Weiß-Emulsion fallen, und ich bekäme ein ganz normales Foto. Ich legte meinen Stift hin und folgte mit dem Finger den gezeichneten Linien auf der Glasplatte, skizzierte den Rahmen, in den die Platte, eben das Autochrom, passte. Stativ, Geduld und ein regloses Motiv, las ich, seien die Voraussetzung für eine gelungene Farbaufnahme. Das Buch sprach von Aussichten und Strandszenen, und meine Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Als ich endlich aufblickte, stellte ich überrascht fest, dass ich mich noch immer in meinem Zimmer befand.

In den darauffolgenden Wochen spazierte ich jeden Morgen zu den großen Boulevards, nachdem ich Kahn zu seinem Büro in der Bank gefahren hatte. Ich ließ meine Chauffeursmütze hinten im Wagen, klemmte mir das Stativ unter den Arm und trug die Tasche mit der Kamera. Wie lärmig Paris um diese Zeit war! Ich schraubte das Richard-Vérascope auf den Dreifuß, fotografierte die Galeries Lafayette auf dem Boulevard Haussmann und hoffte, Kahn mit dem schönen Mosaik an dem Gebäude zu imponieren. Das Kaufhaus war leichter abzulichten als die Pariser Damen, Kellnerinnen und Verkäuferinnen, die selten stillstanden. Katzen schossen mit aufgestellten Schwänzen über das Trottoir und beobachteten mich aus sicherer Entfernung. Ich stellte das Stativ neben einen Kiosk und beugte mich zum Sucher hinunter. Kahn hatte mir versichert, dass das Motiv zunächst von untergeordneter Bedeutung wäre, Schritt für Schritt und Foto für Foto sollte ich lernen, mich freizuschwimmen. Insgeheim fragte ich mich, warum. Welchen Sinn hatte es, Kellnerinnen zu fotografieren, unbekannte Mädchen mit ihren weißen Schürzen? Angenommen, es würde mir nicht gelingen. In meinen Einstellungspapieren hatte nichts von einer Kamera gestanden. Mit Autos hingegen kannte ich mich aus, sogar mit dem Mercedes Simplex.

Jetzt bin ich fast den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen, hin und wieder hatte ich das Vérascope einfach nur in der Hand, es war wirklich ein nettes Ding, und das Metall wurde warm in meinen Händen. Manchmal stellte ich das Stativ auf den Quai, auf eine Brücke oder unter einen Baum, je nach Sicht und Licht – das Julilicht war hell in Paris, ein plötzliches Aufglänzen der Seine konnte mich unvermittelt blenden, Karren wirbelten Staub auf, meine Schuhe wurden schmutzig, ich klopfte meine Jacke ab und spürte die Hitze auf meinem Rücken. Unsicher richtete ich die Kamera auf die Kellner, die vor dem Urinal auf der Rue Royale hin und her schlenderten, das Geschirrtuch noch hinter dem Schürzenband. Zuerst bemerkten mich die Kellner nicht, und es entstanden die ersten (unscharfen) Bilder, auf denen nicht jeder genau in die Linse starrt.

Manchmal verwendete ich auch einen ganzen Vormittag darauf, nur ein paar Farbfotos zu machen. Die Belichtungszeit war lang, viel länger als bei einer normalen Schwarz-Weiß-Platte; als ich später hörte, dass man Bilder mit einer Verschlusszeit von nur dem Bruchteil einer Sekunde machen konnte, traute ich meinen Ohren nicht. Ich übte so lange mit meinen Händen im Wechselsack, bis ich es auf sechs Autochrome im Magazin pro Minute brachte, und ich tat mein Bestes, um eine Näherin vor ihrem Atelier zu porträtieren. Das Mädchen wartete geduldig, bis ich die Belichtungszeit berechnet hatte, und bald stand eine Dreiergruppe da, tuschelnde, kichernde Frauen, und die Röcke raschelten dabei. Die kleine Näherin fingerte an ihrem Ärmel herum, da, wo sie die Nadeln hingesteckt hatte.

Im September rief er mich wieder zu sich. Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, obwohl ich Zweifel daran hatte, dass ich als Fotograf geeignet wäre; ehrlich gesagt fürchtete ich, entlassen zu werden. Als ich eintrat, stand mein Arbeitgeber mit verschränkten Armen neben seinem Stuhl, er wirkte, als wäre er irgendwie gerader und auch länger geworden, und zum ersten Mal sah ich den Bankier in ihm. Ich bin kein schlechter Chauffeur, sagte ich mir, er wird mir ein gutes Zeugnis ausstellen. Aber Kahn überraschte mich: Aus heiterem Himmel trug er mir auf, eine Thornton-Pickard-Balgenkamera, viertausend Autochromplatten, eine Filmkamera der Brüder Pathé und dreitausend Meter Film zu kaufen. Von meiner Verblüffung nahm er keine Notiz, sondern bedeutete mir, jetzt unverzüglich mit dem Unterricht an der École normale supérieure anzufangen, um nicht nur zu erfahren, wie man Autochrome entwickelt, sondern auch, um filmen zu lernen.

»Petit«, sagte er, als er sich auf seinen Stuhl sinken ließ, »ich nehme dich mit auf Geschäftsreise nach Japan. Über Amerika und Honolulu fahren wir nach Japan und China. Eine ausgezeichnete Gelegenheit, um unterwegs zu fotografieren, nicht wahr? In Amerika und Asien kannst du Traditionen und Handwerke festhalten, die zweifelsohne im Aussterben begriffen sind.«

Ich betrachtete sein Gesicht mit dem kleinen Bart, einer flauschigen Spitzbartvariante, er kniff seine Augen zusammen und räusperte sich. Es machte fast den Eindruck, als hätte er so seine Zweifel am Fortschritt. Ich wartete darauf, dass er seine Pläne weiter ausführte, aber er schlug nur auf den Schreibtisch, für mich ein Zeichen, dass unser Gespräch beendet war. Mit meiner in der Hand zusammengeknautschten Mütze ging ich zur Tür.

»Wir reisen weit«, fuhr er fort, als ich schon fast aus dem Zimmer war, »bis zur chinesisch-mongolischen Grenze. Besorge dir passende Kleidung und Schuhe für heißes und kaltes Klima. Nimm dir zwei Tage frei, fahr nach Hause und umarme deine Eltern.«