Über das Buch

Ein Indizienprozess erschüttert Jütland. Der für sein Mitgefühl und seine Güte bekannte und hochgeschätzte Pastor Sören Qvist steht vor Gericht: Er soll seinen Knecht Niels in einem Anfall von Jähzorn ermordet und in seinem Garten verscharrt haben. Niemand kann sich vorstellen, dass dieser freundliche Mann zu einer solchen Tat fähig wäre, obwohl alle Indizien gegen ihn sprechen. Und tatsächlich lässt Sören Qvist sich für ein Verbrechen verurteilen, das er nicht begangen hat. Freunde bemühen sich um entlastende Aussagen, seine Kinder eröffnen ihm in der Nacht vor der Hinrichtung eine Fluchtmöglichkeit aus dem Gefängnis. Doch Sören Qvist bleibt standhaft. Was bewegt einen Menschen dazu, seine moralische Integrität über sein Leben zu stellen?

Über Janet Lewis / Susanne Höbel

Janet Lewis (1899–1998) stammte aus Chicago und lebte zumeist in Kalifornien. Sie lehrte sowohl in Berkeley als auch in Stanford und gründete gemeinsam mit ihrem Mann, dem Dichter Yvor Winters, eine Literaturzeitschrift. Zunächst war sie vor allem als Lyrikerin bekannt, bevor ihre Romane um berühmte strittige Justizfälle Furore machten.

Susanne Höbel, geboren 1953, lebt in Südengland und arbeitet seit fast dreißig Jahren als Übersetzerin englischer und amerikanischer Literatur. Sie wurde vielfach ausgezeichnet. Zu den von ihr übersetzten Autoren gehören Graham Swift, John Updike, Margaret Forster und William Faulkner.

1

Das Wirtshaus lag in einer Mulde, dahinter erhob sich der niedrige, sanft geschwungene und mit winterlich kahlen Buchen bestandene Hügelzug, der gerade hoch genug war, dass die darüber steigenden Fallwinde den Rauch, der an diesem kalten Tag aus den Schornsteinen des Wirtshauses aufstieg, zu Boden drückten. Die Luft war klamm. Es war ein Spätnachmittag Ende November, im Westen schien keine Sonne, und nach Osten hin verdichtete sich der Nebel über der Küste Jütlands zu einer dichten Wolkenbank. Selbst hier, einige Meilen von der Küste entfernt, roch die Luft nach Meer, aber der Wanderer, der jetzt vor sich das Wirtshaus erblickte, war schon seit so vielen Tagen in Meeresnähe unterwegs, dass er das Salzaroma nicht mehr wahrnahm.

Er kannte das Wirtshaus und glaubte sich an das zu erinnern, was hinter der Biegung der Straße lag, die um den bewaldeten Hügel herumführte und in den Schatten verschwand. Doch etwas erschien ihm an dem Anblick auch unvertraut, als er hinunterblickte auf das Haus, das von seinen eigenen Dünsten eingehüllt war. Das Schild mit der Aufschrift »Zum goldenen Löwen« hing noch über der Tür, aber ein guter Teil der leuchtend gelben Farbe war abgeblättert. Die letzten verblassten Farbplacken hatten denselben Ton wie die wenigen verbliebenen Blätter an den Buchenschösslingen am Waldrand. Als er das Haus das letzte Mal gesehen hatte, war die Farbe so leuchtend wie die von Butterblumen gewesen. Damals, in der Hochzeit der Liebschaften des Königs, hatte man das Wirtshaus zu Ehren der Bastardkinder des Königs so benannt – alles Goldene Löwen und edler als die ehelichen Kinder der meisten anderen Menschen. Jetzt, da der König alt und Dänemark unter seiner Herrschaft geschrumpft und verarmt war, hatten sich einige der Goldenen Löwen als wahrhaftig edel erwiesen. Andere hingegen waren untereinander zerstritten. Aber selbst hier in Jütland, das am meisten unter den Kriegen des Königs gelitten hatte, galt die Regentschaft von Christian IV. noch immer als ruhmreich. Auch der Wanderer, der auf das Schild des Goldenen Löwen hinuntersah, dachte an den König – wenn er denn an ihn dachte – als glorreichen Herrscher. Obwohl die Gesundheit des Königs inzwischen nachgelassen hatte, man schrieb das Jahr 1646, und er seit der großen Seeschlacht auf der Kolberger Heide auf einem Auge blind war, genoss Christian im Alter von neunundsechzig Jahren beim Volk noch größeres Ansehen als damals in seiner ungezügelten, ausschweifenden Jugend.

Aber es war nicht nur die fehlende Farbe auf dem Schild, die das Äußere des Wirtshauses verändert hatte. Der Wanderer hatte Bilder im Kopf von einer offen stehenden Tür, von Licht, das hell zur Straße hinausströmte, von Menschen, die kamen und gingen. An diesem Abend waren die Tür und sämtliche Fensterläden geschlossen. Kein Mensch war zu sehen. Auch an der Form des Hauses hatte sich etwas verändert, aber nachdem der Wanderer sein Gedächtnis gründlich durchforscht hatte, kam er zu dem Schluss, dass es nicht am Haus lag, sondern dass in seiner Umgebung etwas fehlte. Ganz bestimmt erinnerte er sich an ein kleines Holzhaus am anderen Ende des Hofes und an ein zweites auf der gegenüberliegenden Straßenseite, aber beide waren verschwunden. Das Wirtshaus stand allein.

Vor verrammelten Türen und geschlossenen Fenstern zu stehen, war für ihn, seit er die Randbezirke Jütlands erreicht hatte, nichts Neues. Er hatte ungastliches Land mit halb verlassenen Dörfern durchwandert. Er war an schlecht bewirtschafteten Höfen vorbeigekommen und an Bauernhäusern ohne Dächer, wo das robuste Gras Jütlands verkohlte und eingestürzte Balken überwucherte. Aber in seinem Stumpfsinn hatte er fest daran geglaubt, dass in seiner Heimatregion und seiner eigenen Gemeinde alles so sein würde wie früher, die Türen offen und die Menschen freundlich.

Er stieg den kleinen Hügel hinunter, humpelnd, da an einem Stiefel der Absatz fehlte und sich an dem anderen die Sohle löste, sodass Sand und lauter Steinchen hineindrangen. Er kam zum Wirtshaus und klopfte an die Tür. Das Schild des Goldenen Löwen hing reglos und ohne zu quietschen über ihm in der unbewegten, feuchten Luft. Ein hellbrauner Hund mit einem Schwanz so lang wie eine Peitsche kam um die Ecke und sah ihn misstrauisch aus gelben Augen an, und als er die Tür aufgehen hörte, machte er kehrt und rannte davon, den langen Schwanz unter dem Bauch zusammengerollt. Eine junge Frau, hochgewachsen und von ansehnlicher Erscheinung, mit fester Brust und geraden Schultern, trat aus dem Haus und zog die Tür hinter sich zu, ließ aber eine Hand auf dem Riegel liegen.

Sie brachte den Wirtshausgeruch mit sich. Er hing in ihrer Kleidung aus grober Baumwolle, und sie stand, umgeben von sinnlicher Wärme, vor dem Fremden. Bier und Holzfeuer, Fleisch und Fisch vom Grill, Wolle und Leder, vollgesogen mit Fett und Schweiß – dieses Gemisch aus Gerüchen, das von Geselligkeit und guten Speisen zeugte, bewirkte, dass der Magen des Fremden sich schmerzhaft zusammenzog. Sie stand in der Tür, die Arme wegen der Kälte vor dem Körper verschränkt, und wartete, dass er etwas sagte.

Der Fremde nahm seinen breitkrempigen Filzhut ab, steckte ihn sich unter den rechten Arm und fragte die Frau unterwürfig, ob sie die neue Wirtin des Goldenen Löwen sei. Ihr Blick ging kurz zu dem Schild über ihren Köpfen, dann hinunter zu seinem Aufzug, zu seinen abgetragenen Stiefeln, und sie antwortete, ja, sie sei die neue Wirtin.

»Dann könntest du mir Essen und einen Schlafplatz für die Nacht geben?«, fragte er.

Ihr Blick wanderte immer noch prüfend über ihn, und obwohl sie Wärme und Gastlichkeit ausstrahlte, blieb der Ausdruck in ihren Augen abweisend und kalt. Ein Mundwinkel zog sich kaum merklich in die Höhe, als sie sagte:

»Als Gast oder als Bettler?«

»Ja, heute Abend«, sagte er, sah hinunter zu seinen abgewetzten Stiefeln und hob den Blick verlegen zu ihren kalten, hellen Augen, »heute Abend bin ich mittellos. Aber das könnte sich ändern«, fügte er schnell hinzu. »Und ich bin fast am Verhungern.«

»Aber heute Abend«, sagte sie, »habe ich Gäste, eine Hochzeitsgesellschaft, und das Haus ist voll belegt. Ich habe keinen Platz für Bettler.«

»Ich war Soldat«, sagte er.

»Soldaten sind bei uns nicht sonderlich beliebt«, gab sie zur Antwort.

»Du solltest den Hungrigen Nahrung geben, dann wirst du einen Schatz im Himmel haben«, sagte er, aber es klang nicht so, als glaubte er wirklich an solche Schätze. »Wenn gefeiert wird, fällt manches vom Tisch ab«, sagte er mit größerer Überzeugung.

Sie musterte ihn weiter, vielleicht hoffte sie, doch noch etwas zu finden, das ihre ablehnende Haltung ändern würde. Dass der Mann erschöpft war, sah sie deutlich an seiner grauen Haut und dem erschlafften Gesicht. Er war nicht rasiert, die untere Gesichtshälfte war schwarz von Bartstoppeln, und das strähnige schwarze Haar, in das sich etwas Grau mischte, fiel auf den Kragen seines Wamses. Er trug kein Leinen, aber dem Wams sah man an, dass es einst ein gutes Stück gewesen war, es bestand aus rotem gefüttertem Satin, die Steppnähte waren mit goldenem Faden in einem Rautenmuster genäht, und es hatte Volants im französischen Stil. Jetzt war es schmutzig und am rechten Ellbogen gerissen. Sehr gut möglich, dass er Soldat gewesen war. Über diesem feinen französischen Wams trug er eine schwere Lederweste, und darüber war ein Lederband diagonal über eine Schulter geschlungen, in dem er eine Pistole oder ein Messer bei sich hätte tragen können. Der linke Ärmel seines Wamses war ab dem Ellbogen leer und steckte hochgeklappt im Armloch der Lederweste. Seine zerschlissenen derben Stiefelhosen wollten nicht recht zu dem purpurnen Wams passen. Der Hut, den der Mann unter seinem rechten Arm hielt, war mit den Jahren grün geworden und hatte weder Feder noch Schnalle. Die kleinen grünen Augen in dem erschöpften Gesicht des Mannes waren auf die Wirtin geheftet und bar jeden Ausdrucks, außer dem von Hunger. Unterwürfigkeit und Furcht waren daraus verschwunden. Sein Flehen war so stark, dass sie sich wünschte, er möge verschwinden.

»Soldaten und Bettler sind hier nicht sonderlich beliebt«, sagte sie wieder. »Geh am besten deines Weges.«

Sie wandte sich um und hätte den Schnappriegel gedrückt, wäre da nicht sein bitterer Ausruf gewesen.

»Meines Weges! Als wäre ich nicht schon seit Wochen, ach, Monaten, meines Weges gegangen. Und wenn ich in meine eigene Gemeinde komme, wo ich eines Tages wieder reich sein könnte – ja, reich und ehrenwert –, da sagt man mir, ich soll meines Weges gehen.« Dann, als hätte er sich von den Veränderungen in der Landschaft täuschen lassen, fragte er: »Dies ist doch die Gemeinde Aalsö, oder?«

»Doch, schon«, sagte sie, »und ein paar Meilen weiter liegt das Dorf Aalsö, immer die Straße entlang.«

»Dann sag mir noch eines«, sagte er, »bevor du die Tür zuschlägst – nur noch eines.«

»Und was soll das sein?«

»Kennst du einen Morten Bruus?«

»Schon, warum?«, antwortete sie knapp.

»Ja, und lebt er oder ist er tot?«

»Tot«, sagte sie. »Tot, seit vor dem Johannistag.«

Der Bettler hob jetzt die Hand, in der er immer noch den Hut hielt, und fuhr sich mit dem Handrücken mehrmals über den Mund, fuhr hin und her, fast als wollte er das Lächeln verbergen, das auf seinen Lippen lag, oder als wollte er seine Zufriedenheit über diese Mitteilung ausdrücken, und diese Zufriedenheit war offensichtlich und entsetzlich. Sie leuchtete in den kleinen grünen Augen, die jetzt hell in dem dumpfen Gesicht standen. Dann sagte er:

»Tot, seit fast einem halben Jahr, das versprichst du mir?«

»Gewiss tot, tot wie ein Stein«, sagte sie.

»Warte noch«, sagte der Bettler. »Es ist mir ein Trost, das zu hören.«

»Und vielen anderen auch«, sagte sie. »Dann gute Nacht.«

Diesmal drückte sie den Riegel, und er hörte das Klicken.

»Warte«, rief er. »Wenn du mich heute Abend nicht einlässt, wo soll ich Rast finden? Du wirst doch nicht so hartherzig sein, gute Wirtin, und einen armen Soldaten ins Nasse und Kalte hinausschicken. Du merkst ja selbst, wie kalt es heute Nacht wird. Gibt es in Jütland keine Barmherzigkeit mehr?«

Die Wirtin des Goldenen Löwen zuckte die Schultern. »Du kannst den Pastor fragen«, sagte sie.

»Den Pastor?«, fragte der Bettler. Dann, als müsste er den Namen aus dem tiefen Schlamm seines Gedächtnisses hervorholen, sagte er: »Das ist der Pastor Peder Korf.«

»Nein«, sagte sie knapp. »Peder Korf ist tot, Friede seiner Seele. Der neue Pastor ist Juste Pedersen, und das ist ein sehr guter Mensch.«

»Pastor Juste«, wiederholte der Bettler. »Ist er ein gütiger und gastfreundlicher Mann?«

»So gütig wie Sören Qvist«, sagte sie und öffnete die Tür wieder einen Spalt.

»Ah!«, rief der Bettler plötzlich. »Kanntest du Pastor Sören denn?«

»Wie soll ich ihn gekannt haben?«, sagte die Frau. »Als er lebte, lag ich noch in der Wiege. Die Leute sagen das so in dieser Gegend. So gütig wie Sören Qvist. So großzügig wie Sören Qvist – das sagt man so. So reden die Menschen.«

»Und sagen sie nie: So zornig wie Sören Qvist?«, fragte der Bettler mit dem Anflug eines verschlagenen Grinsens.

Die Frau sah ihn einigermaßen überrascht an, gab aber keine Antwort, als verdiente die Frage keine. Einen Moment lang schien der Bettler sie weiter ausfragen zu wollen. Doch dann setzte er sich seinen alten Hut auf und sagte listig unter der Krempe hervor, in einem Ton, der einem Bettler angemessen war:

»Ich bin in diesen Landen ein Fremder – vielmehr, ich war so lange fort, dass ich jetzt als Fremder gelte. Aber steht das Pfarrhaus noch da, wo es früher war?«

»Warum sollte sich das geändert haben?«, sagte sie.

Darauf gab er keine Antwort, sondern warf ihr unter der Krempe seines Huts hervor noch einmal einen merkwürdigen Blick zu und machte sich auf den Weg. Trotz der Kälte blieb die Wirtin stehen und sah ihm nach, die Hand weiterhin auf dem Riegel, bis die humpelnde Gestalt um die Biegung der Straße aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Während sie noch dastand, wurde die Tür hinter ihr aufgezogen, und ein Mann trat neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Was verweilst du so lange, mein Mädchen?«, fragte er. Er war ein stattlicher Mann von Mitte vierzig, nur wenige Falten durchzogen sein wettergebräuntes Gesicht, und das volle blonde Haar fiel auf einen sauberen weißen Leinenkragen. Die Wirtin drehte sich lächelnd zu ihm um und sah ihn eindringlich an, als müsste sie ein unangenehmes Bild vor ihrem inneren Auge tilgen.

»Ein Bettler, nichts weiter«, sagte sie schließlich, »aber ein verdreckter Hund, ein Teufelssohn. Er hat nach Morten Bruus gefragt. Und jetzt kommt es mir so vor, als hätte er eine seltsame Ähnlichkeit mit Morten. Hatte Morten einen Bruder?«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nur den, von dem du schon gehört hast. Und das waren zwei zu viel von einem Wurf«, sagte er.

»Er war erfreut, von Mortens Tod zu hören.«

»Selbst die Bettler auf der Straße«, sagte der Mann.

In dem Saal hinter ihnen fing jemand mit tiefer, wohlklingender Stimme zu singen an, und bald stimmten die anderen Festgäste ein. Die Wirtin und ihr Gefährte standen noch draußen, das Licht strömte aus der offenen Tür um sie herum und verschwamm in der nebelfeuchten Luft. Dann beugte sich der Mann zum Ohr der Frau und sagte, ohne die Stimme zu heben:

»Morten Bruus, möge Gott ihm, obwohl er tot ist, für alle Zeiten einen fühlenden Körper geben, dass er sämtliche Qualen des Fleisches in alle Ewigkeit erleiden muss. Möge ihm die Haut in kleinen Fetzen, nicht größer als ein Fingernagel, abgezogen werden. Mögen Würmer seine Eingeweide durchwühlen, möge sein Magen mit Glasscherben gefüllt und sein Gaumen versengt werden, mögen ihm seine Augenlider weggeschnitten werden und seine Augen schutzlos auf das Feuer um ihn herum gerichtet sein, für alle Zeiten. Möge Gott ihm nie erlauben, für sein Leben Buße zu tun, damit er für seine begangenen Taten nie Vergebung erlangen kann. Amen.«

Dieser Redefluss, Ausdruck eines stillen, unpersönlichen und wohl abgewogenen Hasses, wurde Satz für Satz in aller Ruhe vorgetragen und von dem fröhlichen Gesang im Saal begleitet. »Amen«, sagte die Wirtin, und dann war nur noch die Musik zu hören.

5

Der Mann, der das Schild für das Wirtshaus Zum Roten Pferd in Vejlby gemalt hatte, war mehr Realist als Theoretiker. Er malte, was er sah – wie ein Künstler –, und nicht das, was er kannte, wie es ein Kind oder ein Bauer tun würde. Bei diesem Pferd waren die Vorderbeine so dicht zusammen, dass ein Bein das andere verdeckte, während die Hinterbeine normal standen – genau wie beim Modell. Das Schild gab in der Gegend Anlass zu einigem Spott, aber der Schildermaler war längst seines Weges gezogen, und selbst wenn er noch da gewesen wäre, als kritische Stimmen laut wurden, hätte der Wirt wohl kaum noch einmal Geld dafür ausgeben wollen, dass dem Pferd ein viertes Bein hinzugefügt würde.

»Ihr könnt es ja das Dreibeinige Pferd nennen«, sagte er zu den Gästen, die sich über die Arbeit des Schildermalers mokierten. »Es ist trotzdem ein gutes Schild, und das Bier ist unter einem dreibeinigen Pferd so gut wie unter einem roten.«

Am Vorabend des 1. Mai im Jahr 1625 gab er diese Erklärung noch einmal ganz geduldig dem jungen Niels Bruus, der in Bauernhemd und kurzen Lederhosen beim offenen Fenster im Schankraum saß. Niels hatte zwar eine spitze, füchsische Nase, aber mit seinem breiten Mund wirkte er dümmlich und harmlos. Es war ein ganzes Jahr her, dass Niels den Witz über das dreibeinige Pferd aufgeschnappt hatte, und seitdem kam er immer wieder darauf zurück. Der Wirt wusste, dass Niels langsam im Kopf war, und ließ Nachsicht walten.

»Stimmt, das Bier ist gut«, sagte Niels. »Gib mir ruhig noch eins. Das Geld kannst du jederzeit von Morten bekommen, wenn schon nicht von mir.«

»Von wegen, ich kann das Geld von Morten bekommen«, sagte der Wirt. »Und du kriegst höchstens eine Kopfnuss von ihm, wenn du dich jetzt nicht trollst. Er wartet schon seit einer Viertelstunde, dass du ihm sein Pferd bringst.«

»Er behandelt mich wie einen Knecht, bloß weil ich sein Bruder bin«, sagte Niels, aber er folgte der Ermahnung des Wirts und trat aus der hinteren Tür in den Hof. Dort stand Mortens Pferd, eine große braune Stute, mit der Niels im besten Einvernehmen war. Es ärgerte ihn, dass sie Morten gehörte und er selbst fast nie Gelegenheit hatte, sie zu reiten. Das Pferd senkte den Kopf und berührte ihn mit den Lippen an der Schulter, während Niels das Zaumzeug richtete. Er prüfte den Gurt und zog die Schnalle über einem Steigbügel fest, dann führte er die Stute durch den Hof auf die Marktstraße, wo sein Bruder Morten vor dem Wirtshaus auf ihn wartete. Morten Bruus war von schlankerer Gestalt und dunkler als Niels, auch älter und besser angezogen, aber er ähnelte seinem Bruder dennoch so sehr, dass selbst der flüchtigste Beobachter die Verwandtschaft erahnt hätte. Seine Stirn war schmal und hoch, die Nase spitz mit seltsam langgezogenen Nasenlöchern, aber sein Mund mit den feinen, sinnlich geschwungenen Lippen unterschied sich von dem seines Bruders, und sein Blick war ungleich scharfsichtiger. Da schien es nur natürlich, dass Niels derjenige war, der das Zaumzeug hielt, und Morten derjenige, der aufsaß. Aber als Morten den Fuß in den Steigbügel setzte und von Niels die Zügel nahm, trat Niels einen Schritt zurück und schlug der Stute kräftig auf die Flanke; die machte einen Satz zur Seite, worauf Morten, in einem Steigbügel stehend und sich mit beiden Händen an die Mähne klammernd, ums Gleichgewicht rang. Unbeholfener hatte sich noch kein Mann in den Sattel gehievt. Niels lachte lauthals, und als Morten sein Bein über den Rücken der Stute schwang und sich in den Sattel setzte, fand das schallende Gelächter ein Echo in einem Lachen, das so klar und hell war wie der Klang einer dünnen Eisscheibe, die im ersten Sonnenlicht von einem abschüssigen Dach herabgleitet und zerspringt. Morten drehte sich im Sattel, um zu sehen, woher dieses frühlingsgleiche, kristallklare Lachen kam.

Aus dem Haus gegenüber dem Wirtshaus war ein Mädchen getreten, das jetzt auf der Schwelle stand, die geschlossene Tür im Rücken. Vor dem Hintergrund der schwarz gebeizten Eichentür und im Licht der Nachmittagssonne war ihre Gestalt von einem solchen Leuchten umgeben, wie Morten es nie zuvor gesehen hatte. Anders als die Bauernmädchen war sie klein und zierlich, und sie hatte ihr hellgrünes wollenes Überkleid um die Hüften hochgenommen, sodass der Rock aus gelbem Kamelott, den sie darunter trug, von den Knien an zu sehen war. Das rostrote Mieder war über der Brust eng geschnürt, und darunter war die grüne Leinenbluse mit weißen Puffärmeln sichtbar. Ihr lachendes Gesicht, dessen weiße Haut die Sonne nicht bräunen, sondern bestenfalls mit einem goldenen Hauch überziehen konnte, leuchtete über dem gestärkten weißen Kragen, und der Kopf mit der weißen Haube war eingerahmt von einem Kranz rotgoldener Haare. Morten war ihr in der engen Straße so nah, dass er das Goldbraun ihrer Augen ebenso deutlich wie die Farben ihrer Kleidung erkennen konnte. Unverblümt ließ er den Blick über das Mädchen schweifen, von der Haube bis zu ihren bloßen Fußgelenken über den schmalen Lederschuhen mit stumpfer Kappe.

Das Mädchen biss sich auf die Lippen, Röte überzog ihr Gesicht. Sie hätte nicht lachen sollen, aber alles war so schnell gegangen, dass sie keine Zeit zum Nachdenken gehabt hatte. Außerdem war sie fröhlich, und das Lachen war einfach aus ihr herausgesprudelt. Nur ein Clown, dachte sie, machte beim Aufsitzen solche Verrenkungen, und ein Clown hätte sich an ihrem Lachen nicht gestört. Aber dieser Mann, der wohl wie ein wohlhabender Bauer gekleidet war, kannte keine Höflichkeit. Er lächelte nicht, er zog keine Augenbraue hoch, er sprach kein Wort. Unter seinem Blick, der so anmaßend über sie hinwegwanderte, kam sie sich trotz der schweren Röcke und der gestärkten Leinenwäsche so nackt vor wie ihre Fußgelenke. Sie trat von der Stufe hinunter auf den festgestampften Lehm der Straße, hielt einen Moment inne, für den Fall, dass ihre Bewegungen hastig ausgesehen haben sollten, drehte sich von ihm weg und ging davon. Morten sah ihr nach, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden war. Dann sagte er zu Niels: »Wer war das Mädchen?«

Niels antwortete halb spöttisch, halb überrascht: »Weißt du das nicht?«

»Wer war das?«, wiederholte Morten ohne einen Anflug von Liebenswürdigkeit.

»Na, Anna Sörensdatter«, sagte Niels.

»Des Pastors Tochter?«

»Na, wer sonst«, sagte Niels.

»Der Pastor und ich sind alte Bekannte«, sagte Morten in schneidendem Ton, »aber seine Tochter hatte ich bisher nicht kennengelernt.« Er versetzte seinem Pferd einen Tritt in die Flanke und schlug die dem Mädchen entgegengesetzte Richtung ein. Im nächsten Moment rief er über seine Schulter: »Kommst du nicht nach Hause?«

»Noch nicht«, sagte Niels. »Ich will zu den Maifeuern bleiben.« Und während die Entfernung zwischen ihm und seinem Bruder wuchs und ihm wohler zumute wurde, zupfte er sich in einer spöttischen Geste an der Stirnlocke, machte auf dem Absatz kehrt und schlüpfte wieder in den Hof des Wirtshauses.

Anna Sörensdatter nahm einen Umweg nach Hause. Die zarte Wärme des letzten Apriltags hielt sich kaum bis in den Abend hinein, da der Westwind in leichten Böen aufkam. Auf den bestellten Feldern zeigten sich erste grüne Triebe, fein und spitz, und in den Buchenwäldern hatten sich einige wenige Blätter entrollt. Die großen alten Eichen, jeweils eine in der Mitte der gepflügten Felder des Herrenguts, waren von zartestem Grün überzogen. Inmitten der lichten grünen Kronen der Linden warfen die hohen Reetdächer der Bauernhäuser ihre länger werdenden bläulichen Schatten nach Osten, so wie auch jeder Stein auf den sandigen Wegen einen langen Schatten warf. Die Luft, so kühl beinah wie das Wasser in den kleinen Bachläufen, umspielte die Fußknöchel des Mädchens und strich ihr angenehm über die nackten Arme und die Stirn, und sie empfand lebhafte Freude an dem Kontrast zwischen der kühlen Brise und dem hellen Abendlicht.

Schwärme von winzigen Fliegen tanzten in der Luft, kleine Vögel mit roten Häubchen flogen kreuz und quer über den Weg, der Gesang der Lerchen ertönte in großer Höhe – und die Luft war erfüllt von den Geräuschen des Lebens; als Anna sich einem kleinen Hügel unweit der Straße näherte, konnte sie das ferne Muhen der Kühe hören sowie die Klänge einer Geige und einer Tuba, die in Wellen, ähnlich wie der Abendwind, an ihr Ohr drangen. Beim Gehen kam ihr wieder ihr unpassendes Lachen beim Anblick der Unbeholfenheit des Mannes auf der braunen Stute in den Sinn, und sie schalt sich wegen ihrer Torheit. Sie erinnerte sich genau an seinen Gesichtsausdruck, den sie als böse deutete. Jetzt bewegte sie sich mit einer wunderbaren Leichtigkeit und spürte ihren Körper mit sämtlichen Sinnen; ihr war, als würde ihr Blut schneller fließen, als wäre ihr Gehör geschärft und ihr Blick klarer als sonst. Als wäre sie plötzlich erwacht, fühlte sie sich springlebendig, wie es auch nach einem Schreckmoment oder einer Zornesaufwallung geschehen kann. Und sie war ja, so seltsam das anmutete, nach einem Augenblick der Scham in einen Zustand beseligter Lebensfreude versetzt. Es war der Abend vor dem 1. Mai. Das war ihr ebenso bewusst wie die Vorstellung, dass sich vor Mitternacht seltsame Dinge zutragen konnten. Und so ging sie leichten Schrittes weiter, munter und in freudiger Erwartung.

Auf dem Hügel schichteten Männer Holz für das Feuer auf.

»Wann zündet ihr es an?«, rief sie ihnen zu.

»Sobald es dunkel wird, Fräulein«, antwortete einer.

Sie sah ihnen einen Moment zu und erkannte Hans von ihrem Hof, dem Pfarrhaus von Vejlby, dann den Stallknecht aus dem Herrenhaus und den Schusterlehrling aus dem Dorf. Als sie ihren Weg fortsetzte, kamen ihr drei Frauen entgegen, die sich untergehakt hatten. Die in der Mitte, eine Frau mit weichen Wangen und runden blauen Augen, brachte die anderen beiden zum Stehen.

»Du solltest zum Tanz bleiben, Anna«, sagte sie.

»Du bist zu früh, Vibeke«, antwortete das Mädchen. »Sie haben das Holz noch nicht fertig geschichtet.«

»Da werde ich ihnen mal ein bisschen auf die Sprünge helfen«, sagte Vibeke. »Mit guten Worten.«

»Hans ist schon da«, sagte das Mädchen. »Was ist mit den anderen?«

»Die werden gleich kommen«, sagte Vibeke. »Der Pastor lässt sie ein bisschen eher gehen.«

»Ich wünsche euch viel Freude«, sagte das Mädchen und ging an ihnen vorbei. »Vielleicht komme ich später noch dazu.«

Kurz darauf traf sie auf die Musiker. Sie tauschten Grüße, und nach etwa hundert Metern hörte sie, wie die Instrumente neu gestimmt wurden. Die Männer waren also am Hügel angekommen. Und noch jemandem begegnete das Mädchen auf dem Weg zum Pfarrhaus – es war Kirsten, die Magd, die in der Molkerei half. Ihr langes flachsblondes Haar war zu Zöpfen geflochten, sie trug einen neuen roten Rock und Holzschuhe, die vorn spitz zuliefen und mit Blumen bunt bemalt waren. Das Mädchen grüßte Anna scheu, und Anna klatschte in die Hände, als sie ihre Freundin so hübsch zurechtgemacht sah.

Das Pfarrhaus von Vejlby wirkte so verlassen wie an einem Sonntagmorgen, als Anna dort ankam. Und doch ging von ihm eine freundliche, anheimelnde Atmosphäre aus. Die Baumkronen überragten die spitzen Giebel, und die Mauern unter dem zarten Grün waren blitzweiß.

Die Gebäude standen um einen offenen Hof, Scheune und Stall nach Westen hin, nach Norden das Dörrhaus und die Molkerei. An der Südseite des Hofes erstreckte sich das langgezogene, nach Norden ausgerichtete Wohnhaus, unter dessen goldenem Reetdach zwei Türen zu sehen waren; eine führte in die Schlafkammer der Knechte und die andere, ungleich wichtigere, in die Küche. Ursprünglich hatte das Haus nur aus diesen beiden Räumen bestanden, aber als der Pastor seine Braut nach Hause brachte, wurde am westlichen Ende ein neuer Teil angebaut, der aus zwei Zimmern und einem Gang bestand; das neue Haus bildete mit dem alten ein L, sodass es den Garten begrenzte, der nach Osten und Süden hin offen war. Das morgendliche Sonnenlicht, so sagte der Pastor, sei gut für alles Wachstum, und die Südseite würde für die nötige Wärme in diesem unwirtlichen Klima sorgen. Der Garten war zudem vor westlichen Winden geschützt, die im Herbst oft sehr heftig wehten, sowie vor der Nachmittagssonne, die an Sommernachmittagen zuweilen erbarmungslos herniederbrannte. Der Pastor hatte den Garten mit Haselnusssträuchern und Buchsbaum umfriedet, und da er von seinem eigenen Zimmer im Anbau direkt in den Garten hinaustreten konnte, bestimmte er ihn zu seinem Bereich, in dem sich außer ihm nur selten jemand zu schaffen machte. In die beiden Zimmer des Neubaus gelangte man über einen Gang, der auf der Gartenseite an der Küche vorbeiführte. Die Küche war zum Gang hin offen, aber das Zimmer des Pastors und das Brautgemach konnten mit massiven Türen geschlossen werden. Alle Besucher des Pfarrhauses betraten zunächst die Küche, wo sie von Vibeke begutachtet wurden, während der Pastor, wenn er von seinen Studien oder vom Nachdenken müde war, in seinem geschützten Garten Zuflucht finden konnte.

Anna ging quer über den Hof und öffnete die Tür zur Küche. Die Tür war nicht verschlossen, das war sie nie. An keiner der Türen gab es Schlösser. Ein großer Hund mit breitem Kopf und zottigem braunem Fell erhob sich von seinem Platz neben der Stufe, wedelte mit dem Schwanz und legte sich wieder hin. Von der Schwelle aus warf Anna einen Blick in die Küche, sah und hörte aber niemanden. Auf der anderen Seite des Hofes, vor der Molkerei, putzten sich zwei Katzen, eine weiße und eine scheckige. Sie behielten das Mädchen im Blick, ohne sich in ihrem Tun stören zu lassen. Der Hof mitsamt dem Dunghaufen lag im Schatten des Stallgebäudes, sodass der breite Eingang zum Stall im Dunkeln war. Anna konnte im Innern nichts erkennen, vernahm aber die Stimme ihres Vaters.

Sie trat näher, hörte die Stimme deutlicher, aber ihr Vater war immer noch nicht zu sehen.

»Nur langsam, mein Mädchen«, sagte der Pastor, der in einer der Boxen war. »Die Zeit wird es richten, die Zeit und Gottes Freundlichkeit.«

Drei Hühner näherten sich mit wackelndem Gang der Öffnung, verharrten und reckten die Hälse.

»Sprichst du mit mir?«, rief das Mädchen in den langen Stall hinein.

Der Pastor antwortete mit einem Lachen, das von einem langgezogenen, muhenden Stöhnen unterbrochen wurde.

»Goldrose, die Schöne«, rief er, »schenkt uns gerade ein neues Kalb.«

»Oh«, sagte Anna. »Ich ziehe mir schnell andere Schuhe an und komme dir helfen.«

»Kein Grund zur Eile«, rief der Pastor mit ruhiger Stimme.

Während Anna im Brautgemach den breiten Kragen löste und vorsichtig in die Truhe legte, lächelte sie vor sich hin. Dann zog sie die Schuhe aus, wischte den Staub von ihnen ab und stellte sie ebenfalls in die Truhe. Anders als die Küche hatte das Brautgemach eine tiefgezogene Decke, und das Dach des Himmelbetts reichte bis fast an die Balken. Möbel gab es nur wenige in dem Zimmer, neben der geöffneten Truhe lediglich eine zweite, ganz ähnliche, sowie ein großes Bett; und die Truhen und Bettpfosten, Teile der Mitgift ihrer Mutter, waren mit feinen Schnitzarbeiten verziert. Ihre Mutter war gestorben, als Anna klein war. Jetzt schlief der Pastor auf einer Strohmatratze in seinem Studierzimmer, und Anna wohnte allein im Brautgemach.

Mit raschen kleinen Bewegungen nahm sie die leinene Flügelhaube ab und setzte sich eine blaue Haube auf, die eng anlag und Bänder hatte, die unter dem Kinn zu einer Schleife gebunden wurden. Sie legte eine Schürze an, um ihren Sonntagsrock zu schützen, und schlüpfte mit den nackten Füßen in Holzpantinen. Dann ging sie wieder in die Scheune. Der Hund folgte ihr bis zur Schwelle. Die weißen Hennen waren zu ihrem Korb geflogen, der zwischen den Boxen hing, und begaben sich mit viel Flügelschlagen und schläfrigem Glucksen zur Ruhe für die Nacht. In der hintersten Box hockte der Pastor auf einem Knie neben einem Geschöpf, das ganz aus Beinen zu bestehen schien.

»Wieder ein rotes«, sagte er. »Der Apfel fällt auch diesmal nicht weit vom Stamm. Hol mir ein Binsenlicht, mein Kind, damit wir sehen können, ob es den weißen Stern hat.«

Der Stern war da, und der Pastor nickte zufrieden. Auch Goldrose schien zufrieden, wenn auch müde. Das Binsenlicht flackerte unstet über dem seidig glänzenden Fell und in den neugierigen Augen des Neugeborenen, es fing sich auch in dem wachsamen Blick der Mutter, deren runde Augen im Dunkeln wie Edelsteine funkelten. Der Pastor drückte die Flamme mit Daumen und Zeigefinger aus, legte seiner Tochter die Hand auf die Schulter und sagte: »Das Fell des Kleinen hat dieselbe Farbe wie dein Haar. Aber es wird nachdunkeln. Na, ich habe dich gar nicht so früh erwartet. Ich dachte, du würdest bis in den späten Abend tanzen.«

»Tryg ist so steif«, sagte sie. »Er findet, Tanzen ist nur etwas für die Bauern. Ich konnte ihn nicht zum Bleiben überreden. Er ist nach Rosmus zurückgekehrt. Und Vibeke hat gesagt, dass hier niemand ist. Deshalb bin ich nach Hause gekommen.«

»Du bist ein liebes Kind«, sagte er zärtlich, als sie auf das Haus zugingen. »Das Tanzen wird ihnen gut tun. Die Armen, sie arbeiten schwer. Was macht es schon, wenn sie so lange tanzen, bis sie umfallen und von der Tanzfläche getragen werden müssen? Es tut ihnen gut, genau wie das Biertrinken bis zum Umfallen gut tut. Die Ärzte des Königs empfehlen es für das körperliche Wohl. Tanzen reinigt den Geist, so wie Trinken den Körper reinigt.«

»Vibeke tanzt bestimmt bis zum Umfallen«, sagte das Mädchen.

Sie gingen in die Küche. Der Pastor sagte: »Du hast Glück, dass ich gemolken habe, bevor du gekommen bist. Hol uns ein bisschen Brot, dann essen wir zusammen etwas – es sei denn, du hast so viele Leckereien gegessen, dass du nicht hungrig bist.«

»Ich würde gern einen Becher Milch trinken«, sagte Anna.

Sie holte einen Weidenkorb mit braunen Brötchen, ein jedes mit drei kleinen Zipfeln, und zwei in Silber eingefasste Buchenbecher mit silbernen Henkeln. Der Pastor brachte einen roten Steingutkrug mit der frischen Milch, die noch lauwarm war und süßlich roch.

»Wollen wir uns auf die Stufe setzen?«, fragte er. »Drinnen ist es ein bisschen kühl, außerdem riecht es so stark nach Geißraute.«

»Den Geruch mag ich auch nicht«, sagte Anna, »den von Geißraute. Und wir haben nicht genug Rosmarin, um ihn zu überdecken. Vibeke wäre nicht glücklich, wenn sie das Kraut am Vorabend zum Maitag nicht in der Küche verteilen dürfte. Es vertreibt die Hexen, sagt sie. Glaubst du das?«

Der Pastor goss erst die Milch in die Becher und antwortete dann. Der Hund hatte seinen Kopf an den Fuß des Pastors gelegt. »Buchenholz ist das Beste«, begann der Pastor. »Es gibt keinen Geschmack an die Milch ab. Und Geißraute brauchen wir nicht gegen Hexen, glaube ich, aber sie hilft gegen Flöhe.«

Der Pastor nahm einen großen Schluck Milch aus seinem Becher, dann wischte er sich den Schnurrbart ab und strich ihn mit den Fingern zu beiden Seiten. Sein dichtes weißes Haar und der volle Bart waren einst von einem ähnlich goldenen Rotton gewesen wie das Haar seiner Tochter, aber mit der Zeit hatte sich die Farbe gewandelt, bis kaum mehr eine Spur von Rot blieb. Das Haar war störrisch und drehte sich zu dichten Locken. Der Pastor war von stattlichem Wuchs, er maß sicherlich über einen Meter achtzig und war von kräftiger Statur. Er trug die bei Bauern übliche Kleidung: Lederhosen, ein loses Hemd, gelbe gewirkte Strümpfe und Holzpantinen. Die Hand, in der er den Becher aus Buchenholz hielt, war schwielig und voller Flecken, sie war kräftig und geschickt, und es gab keine Arbeit auf dem Hof, bei der sie nicht zupacken konnte.

»Vibeke macht vieles, was andere nicht tun«, sagte Anna. Sie hielt ihren Becher mit beiden Händen, wie ein Kind. »Sie wäscht sich jeden Morgen die Hände. Sie sagt, sie tut das, weil Hexen faul sind und Sauberkeit scheuen, und dass Händewaschen ein guter Schutz gegen sie ist.«

»Na, das ist auf jeden Fall lobenswert«, sagte der Pastor.

»Wusstest du, dass sie ein bisschen Wachs von der Osterkerze genommen hat? Daraus hat sie ein kleines Kreuz geformt und es in das Reet über dem Tor gesetzt, durch das die Kühe und die Pferde reinkommen.«

Der Pastor lächelte. »Ja, das weiß ich«, sagte er.

»Und sie sagt, die Hexen würden heute Nacht zu einem großen Hexensabbat nach Schonen fliegen, und auf der Heide würden Trolle aus den Erdhügeln kriechen. Deswegen hat sie in der Küche auch Rosmarin und Geißraute verstreut. Sie hat furchtbare Angst vor Hexen.«

»Bestimmt hat sie ihre Gründe«, sagte der Pastor. »Ja, sie hat ihre Gründe.«

»Aber findest du auch, dass man solche Angst vor Hexen haben muss?«

»Ich glaube, ihnen wird mehr Böses nachgesagt, als sie tatsächlich anstellen können«, sagte der Pastor.

»Ja, aber glaubst du«, beharrte seine Tochter, »dass sie heute Nacht über uns hinweg nach Schonen fliegen werden? Und gibt es in Schweden mehr Hexen als in Dänemark?«