ADAM

»Nie chcesz kiełbasy?«

Tomek setzt sich an den kleinen Küchentisch und zündet sich eine Zigarette an. Adam mag den Klang der polnischen Sprache nicht. In seinen Ohren hat er etwas Dreckiges, jedes Wort erinnert an eine Beleidigung. Wann hat sich das eingeschlichen, dass sein bester Freund Polnisch mit ihm spricht und er auf Deutsch antwortet?

»Du weißt doch, dass ich Vegetarier bin.«

Ein Grinsen, das ihn nicht für voll nimmt. Ein Grinsen, das ihn an seinen Vater erinnert.

»Co słychać nowego w pracy?«

Tomeks Tochter Agnieszka kommt in die Küche gerannt und klettert auf Adams Schoß. Er ist stolz, dass seine Patentochter für ihre acht Jahre schon so groß ist. Sie nimmt das Buch in die Hand, das vor ihm auf dem Küchentisch liegt. Betrachtet den Umschlag der Biografie, reibt mit dem Daumen über die Glatze von Amazon-Gründer Jeff Bezos, als wolle sie etwas Verstecktes zutage treten lassen. Dann wendet sie sich Adams Smartphone zu, tippt die PIN ein und öffnet ein Spiel, das er nur für sie installiert hat.

»Bei Strindholm ist alles wie immer. Stress. Zwei neue Projekte allein in der letzten Woche. Und der alte Strindholm hat eine Beförderung in Aussicht gestellt«, sagt Adam.

Tomek schüttelt den Kopf, lehnt sich im Klappstuhl zurück. Niemand durchschaut Adams Lügen so schnell. Er wischt etwas Zigarettenasche von der kleinen Tischplatte, auf der die Morgensonne träge Schattenspiele mit den letzten Blättern eines Baumes treibt, und wechselt ins Deutsche.

»Keine Ahnung, was ihr im Glaskasten treibt. Aber wenn du Probleme hast, bin ich da. Du kannst mit allem kommen.«

Tomek meint es gut, das weiß Adam. Aber der starke slawische Akzent gibt seinem Angebot einen unseriösen Anstrich. Lange vorbei sind die Zeiten, in denen er Adams Probleme wie ein großer Bruder gelöst hat. In denen er ihn vor den arabischen Jungs in der Siedlung beschützte. In denen er den Wodka besorgte, weil er zwei Jahre älter war. Die Zeiten, in denen er mehr von der Welt verstand als Adam.

»Danke. Aber wie gesagt: alles bestens.«

Kasia betritt verschlafen die Küche. Zwar hat sie noch ihren Schlafanzug an, aber ihre Haare sind bereits gemacht. Sie setzt sich zu ihnen an den Tisch und beginnt, Brote für ihren Mann und ihre Tochter zu schmieren.

»Wie ist es bei euch? Habt ihr alles im Griff?«, fragt Adam sie.

»Haben wir, Wujek!«, ruft seine Patentochter.

Aga spielt irgendeinen Shooter und lehnt sich dabei müde gegen seine Schulter. Adam gibt ihr einen Kuss auf den Kopf und öffnet das Fenster. Er hasst es, wenn Tomek in ihrer Gegenwart raucht.

»Wszystko w porządku«, sagt Kasia.

Als Tomek den Blickkontakt zwischen ihnen bemerkt, atmet er tief durch und streckt sich.

»Ich mach mich fertig. Soll ich dich gleich im Auto mitnehmen?«

Adam überlegt, auf welche Baustelle die Zeitarbeitsfirma Tomek zurzeit scheucht. Er will nicht nachfragen. Tomek soll nicht denken, er würde ihn nicht ernst nehmen. Letzte Woche erst hat er ihm von seinem neuen Job erzählt, dem dritten in diesem Jahr. Genauso schlecht bezahlt wie alle zuvor.

»Nee, falsche Richtung. Ich nehm ’n Taxi«, antwortet Adam.

Während Tomek schulterzuckend ins Bad verschwindet, öffnet Adam den Kühlschrank, an dem kleine Kärtchen mit Magneten festgemacht sind. Bilder von Päpsten, Johannes Paul II. goldumrahmt. Er nimmt eine Packung Scheiblettenkäse heraus, legt eine Scheibe auf sein Brot. Hungrig ist er nicht, aber er möchte nicht unhöflich sein. Kasia nicht den Eindruck vermitteln, er hielte sich für etwas Besseres. Das Smartphone in Agnieszkas Händen vibriert. Das muss die Firma sein, hofft er. Endlich eine positive Nachricht von Gustaf oder Kasper.

   Leichter Eisenmangel festgestellt. Empfehlung:
Fleischkonsum steigern.

Nicht zum ersten Mal ist Adam von der sensorischen Leistung des Ting beeindruckt. Während der vergangenen Wochen hat das Gerät eine Handvoll körperlicher Mängel aufgedeckt. Oder ihn an wichtige Termine erinnert, wie beispielsweise an den Augenarzttermin am heutigen Nachmittag, den Adam vor einer Ewigkeit wegen einer langsamen, aber konstanten Verschlechterung seiner Sehkraft ausgemacht und seitdem unzählige Male verschoben hat. Wenn er sich um seine körperliche Verfassung scheren würde, hätte das »Navigationssystem« ihm einige nützliche Lösungsansätze angeboten. Auf der anderen Seite müsste es erkennen, dass Adam überhaupt gar kein Fleisch zu sich nimmt und folglich Vegetarier ist. Er öffnet seine Notiz-App und ergänzt sein Feedback für Linus um diesen Punkt. Währenddessen folgt auf die erste Empfehlung die nächste.

   Sackgasse voraus. Empfehlung: Alternativkurs einschlagen.

Diese Nachricht schickt ihm das Ting regelmäßig, seit Linus es Adam vor drei Wochen geliehen hat. Sie macht genauso wenig Sinn wie beim ersten Mal. Vielleicht sollte er Linus bitten, das Ting zu deinstallieren. Die Empfehlungen helfen Adam nicht, seine akuten Probleme bei Strindholm zu lösen, sondern lenken ihn nur vom Wesentlichen ab.

»Aga, zieh dich an«, sagt Kasia. »Du musst in die Schule. Wujek kann dir helfen, deinen Rucksack zu packen.«

Adams Patentochter springt von seinem Schoß und rennt aus der Küche. Jetzt ist er mit Kasia allein. Er steckt sein Smartphone wieder weg und beißt in sein Käsebrot. Dann öffnet er die Biografie über Bezos, blättert, bis er die richtige Stelle findet. Mehrere grüne Geldscheine stecken zwischen zwei Seiten. Die 500 Euro, die er auf den Plastiktisch neben den vollen Aschenbecher legt, wirken völlig deplatziert. Kasia hält inne und starrt auf das Geld, schüttelt den Kopf. Er würde ihr gerne mehr geben, aber er hat im vergangenen Quartal keine Prämie bekommen. Dabei erhalten selbst Praktikanten bei Strindholm eine Prämie. Es ist eine Geste der Wertschätzung, hat ihm der alte Gustaf Strindholm anfangs erklärt. Seine Uhr zeigt halb acht. Nach dem heutigen Jour fixe wird er den Alten abfangen und zur Rede stellen. Gustaf kann nicht ewig wütend sein.

»Das brauchst du nicht – «

»Steck das Scheißgeld ein, bevor Tomek es sieht.«

Sie deponiert die Scheine in einer Schublade unter dem Besteckkasten, genau wie in den Monaten zuvor.

»Weißt du, Tomek gibt sich Mühe. Letzte Woche ist er nachts aus dem Bett und raus. Er dachte, ich schlafe. Nach einer halben Stunde kam er zurück, ich habe auf die Uhr geschaut. Muss es sich wohl unterwegs anders überlegt haben. – Wir haben angefangen, Lotto zu spielen. Das hilft ihm.«

Kasia beginnt, das Geschirr abzuspülen. Die Situation ist ihr peinlich. Doch daran trägt nicht er die Schuld, sondern Tomek. Anstatt mit dem wenigen Geld, das er und Kasia verdienen, eine größere Wohnung in einer besseren Gegend zu mieten, vielleicht den Kredit für ein kleines Haus abzubezahlen, hängt er abends vor Spielautomaten und am Wochenende in Wettlokalen ab. Adam ist nicht sicher, ob sie ohne sein Geld überhaupt etwas zu essen hätten.

»Wujek!«, ruft Aga aus ihrem Zimmer.

»Ich schau mal, was da los ist.«

Agnieszka hat sich angezogen und packt ihren Rucksack. Das Kind inspiziert die Vorder- und Rückseite jedes seiner mit Aufklebern verzierten Ordner eingehend, dann trifft es eine Entscheidung. Die Szene rührt etwas in Adam, Zuneigung und Stolz, und er verspürt den diffusen Wunsch, das Mädchen zu beschützen.

»Was hast du heute als Erstes?«

»Deutsch.«

Tomek und Kasia sprechen Polnisch mit ihrer Tochter. Sie soll beide Sprachen beherrschen. Einen ganzen Abend lang hat Adam im Internet recherchiert, ob es ihrem Deutsch schaden könnte, wenn sie zweisprachig aufwächst. Am Ende musste er einsehen, dass es keine Belege für seine Befürchtung gibt. Er setzt sich aufs Bett und legt seinen Arm um sie. Steckt ihr einen 5-Euro-Schein zu.

»Aber erzähl’s deinen Eltern nicht.«

Aga lacht und schüttelt schnell den Kopf. Sie springt vom Bett und steckt das Geld in ein Sparschwein. Dann zieht ein Buch Agas Aufmerksamkeit auf sich. Als habe sie alles andere um sich herum vergessen, schlägt sie es auf und beginnt zu lesen. Adam genießt die Stille, die Anwesenheit seiner Patentochter. Für sie ist er der Größte, ohne etwas dafür leisten zu müssen. Durch das Fenster kann er den Hof der Sozialsiedlung sehen. Er fragt sich, warum Aga im gleichen Drecksloch aufwachsen muss wie er. Warum kann Tomek sich nicht zusammenreißen und woanders eine Wohnung suchen? Alles ist besser als das hier. Adam wiegt die Bezos-Biografie in seiner Hand. Es gibt viele Beispiele großer Menschen, die in Armut aufgewachsen sind und es zu Geld und Anerkennung gebracht haben. Die Chance auf Erfolg steigt mit guter Ausbildung, Vorbildern und einem motivierenden Umfeld. Wie viel leichter hätte er es gehabt, wenn seine Mutter nicht kurz nach ihrer Ausreise gestorben wäre. Wenn sein Vater ihm bei den Hausaufgaben geholfen hätte. Sich überhaupt darum geschert hätte, wie Adam in der Schule abschneidet. Oder wenn seine Schulfreunde keine Kleinkriminellen gewesen wären, sondern später einmal zu hilfreichen Kontakten herangewachsen wären. Er wird dafür sorgen, dass Agnieszka es leichter hat als er.

»Aga! Chodź, jedziemy!«, ruft Tomek. Er wartet, bis seine Tochter das Buch weglegt und ihren Ranzen schultert. Dann wendet er sich an Adam: »Sicher, dass ich dich nicht bringen soll? Kommst du nächste Woche wieder zum Frühstück vorbei?«

Adam verabschiedet sich von Agnieszka, Tomek und Kasia, und verlässt als Erster die Wohnung. So sehr, wie er sich freut, die drei zu sehen – so sehr freut er sich auch, die Siedlung wieder hinter sich zu lassen.

Sein Smartphone benachrichtigt ihn, dass das bestellte Taxi bereits an der Straße wartet. Aus dem Küchenfenster im ersten Stock schaut Agnieszka ihm nach. Mit den Händen formt Adam ein Herz, knüllt es zu einem imaginären Ball und wirft es zu ihr hoch. Während er seiner lachenden Patentochter winkt, prallt er beinahe mit zwei alten Frauen zusammen, die volle Plastiktüten tragen. Auf seine Entschuldigung bekommt er keine Antwort. Im Hof spielen einige Jungs im Schatten der hohen Wohnhäuser Fußball. Sie haben Schulranzen auf dem Rücken, rufen durcheinander und lachen. Früher war er einer von ihnen. Nicht viel hat sich seitdem hier verändert: Die Fassaden sind grauer, die Graffitis zahlreicher, die Menschen noch schlechter gelaunt.

Am Aufgang mit der Nummer 172 bleibt er stehen und betrachtet das vertraute Bild. Den Türrahmen, in dem er jeden Fleck und Kratzer kennt. Auch hier hat sich kaum etwas verändert, abgesehen von dem Namensschild ganz oben rechts. Wo statt Strzela jetzt Cem steht. Auch deshalb versucht er, diesen Ort zu meiden. Weil bei dem Anblick die Erinnerungen kommen. Keine ganzen Szenen, eher einzelne Bilder und Emotionen: die Aufregung, als er als fünfjähriger Junge mit seinen Eltern von Polen nach Deutschland kam, aus einem kleinen Dorf in Oberschlesien mitten rein in die Metropole Berlin. Ihre Sachen hatten in den Kombi seines Onkels gepasst, alles andere ließen sie in Polen zurück. Wie bunt, wie laut, wie überfordernd Berlin für ihn als Kind anfangs war. Dann die alles verschlingende Trauer, als drei Jahre später seine Mutter starb. Wie verlassen und einsam er sich fühlte, wie sehr er sie vermisste. Niemand tröstete ihn mehr, wenn die deutschen Kinder ihn wegen seiner falschen Grammatik ärgerten. Niemand machte ihm mehr Schulbrote und bereitete abends etwas Warmes zu. Niemand hielt ihn nachts mehr so lange im Arm, bis er trotz seiner Furcht vor dem nächsten Schultag einschlief. Also schlief er nicht. Die Trauer und die Scham waren so heftig, dass sie drohten, ihn zu zerreißen. Mit zehn Jahren fasste er den Entschluss, nie wieder in seinem Leben so stark fühlen zu müssen. Stattdessen setzte er sich zum Ziel, erfolgreich und berühmt zu werden, sodass ihm kein Verlust, keine Verletzung und keine Angst jemals wieder etwas anhaben konnten.

Der Trauer um seine Mutter folgte die Wut auf seinen Vater. Der sich morgens ans Fließband stellte und abends an einen Spielautomaten. Der nur aus Pflichtgefühl seiner verstorbenen Frau gegenüber seinen Sohn miternährte. Der keine Fragen beantwortete und nie welche stellte. Adam fragt sich, ob sein Vater seinen Namen manchmal in eine Suchmaschine tippt. Um herausfinden, was aus seinem Sohn geworden ist, herauszufinden, ob er einen Grund hat, stolz auf ihn zu sein. Die wenigen Male, als Adam nach seinem Vater suchte, fand er nicht mal einen Wohnort. In welcher Stadt oder welchem Land sein Vater sich aufhält, weiß Adam nicht. Weiß nicht, wie es ihm geht oder ob er überhaupt noch am Leben ist.

Die Stimmen mehrerer junger Männer ziehen ihn aus seinen Gedanken. Verschlafen kommen sie ihm entgegen, rauchen, tippen auf ihren Telefonen. Adam mustert die Gesichter, aber erkennt zum Glück niemanden wieder. Im Vorbeigehen bleiben ihre feindseligen Blicke an seinem Anzug und den Lackschuhen hängen. Der Letzte von ihnen spuckt vor Adam auf den Boden und dreht sich einige Schritte später noch einmal zu ihm um. Adam wird ihm nicht den Gefallen tun. Bei dem Gedanken muss er fast lachen: Für sie ist er der Außenseiter.

Als die Tür des Taxis hinter ihm zufällt, ist er erleichtert. Genau wegen diesen Leuten haben Einwanderer einen schlechten Ruf, denkt er. Anstatt alles dafür zu geben, besser und erfolgreicher zu werden, bestätigen sie Vorurteile. Aus Faulheit und Angst und nichts weiter.

»A dokąd prosze?«

Der Taxifahrer dreht sich zu ihm um, lächelt verschwörerisch. Adam will antworten, als ihm auffällt, dass der Mann die Frage auf Polnisch gestellt hat.

»Sprechen Sie gefälligst Deutsch mit mir.«

Das Lächeln des Mannes fällt in sich zusammen. Es ist nicht das erste Mal, dass ihn Fremde einfach auf Polnisch oder Russisch ansprechen. Man muss ihm seine Herkunft am Gesicht ansehen. Eine Begegnung mit Enni Strindholm fällt ihm ein. Sie haben sich ein paarmal getroffen und miteinander geschlafen. Adam mochte sie und erhoffte sich exklusive Gerüchte aus der Führungsetage. Einmal beugte sich Enni nach dem Sex über ihn und strich mit der Hand über sein Gesicht. Dass sie die schön fände, sagte sie, seine slawischen Gesichtszüge. Es war das letzte Mal, dass sie sich privat trafen.

Der Taxifahrer beginnt, sich auf Deutsch zu entschuldigen. Adam atmet tief durch und winkt ab.

»Nein, nein, mir tut es leid. Ich hab Stress, das ist alles. Fahren Sie einfach los.«

Im stockenden Verkehr verlassen sie den Berliner Süden Richtung Mitte. Der Innenraum des in die Jahre gekommenen Mercedes riecht nach altem Mann. Wahrscheinlich schwitzt der Fahrer schon seit Jahrzehnten in den Wagen. Adam blättert in der Biografie über Bezos, doch er findet sein Lesezeichen nicht. Er muss den 10-Euro-Schein zusammen mit dem restlichen Geld Kasia gegeben haben.

Mit seinem Smartphone öffnet er die Seite von Tech-Blogger Dave Jackson, der von einem Start-up-Kongress in San Francisco berichtet. Die englischen Begriffe ermüden ihn schnell und er schließt die Augen. Gleitet allmählich in einen Halbschlaf. Und schreckt auf, als es kurze Zeit später in seiner Hand vibriert.

   Schlafmangel festgestellt. Geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Empfehlung: Nachtruhe von vier auf acht Stunden ausdehnen.

Wahrscheinlich hat das Ting recht. Acht Stunden Schlaf hat Adam seit seiner Schulzeit nicht mehr gehabt. Doch selbst wenn er der Empfehlung nachkommen wollte, er wüsste nicht, wie. Wie soll er vor drei Uhr nachts einschlafen, wenn ihn die Gedanken an Strindholm Consulting wach halten? Wenn er jede Nacht von Neuem daran denken muss, wie er in den vergangenen drei Wochen aus allen Projekten abgezogen wurde. Dass man ihn ohne Angabe von Gründen von der Berater-Tagung auslud, für die er einen halbstündigen Vortrag über die Seed-Phase von Start-ups vorbereitet hatte. Dass seine Kollegen sich schlechte Ausreden einfallen ließen, wenn er sie zum Mittagessen einlud.

Beinahe lässt er sein Telefon fallen, als es erneut vibriert.

   Sackgasse voraus. Empfehlung: Alternativkurs einschlagen.

Adam beugt sich zum Fahrer. Das Taxi hält an einer Ampel, keine Sackgasse in Sicht. Diese unnützen Empfehlungen müssen aufhören und zwar schnell, denkt er. Er tippt eine kurze Nachricht an Linus.

Wir müssen uns treffen. So bald wie möglich.

Adam zieht den Reißverschluss seiner Jacke hoch und lässt sich tief ins Leder sinken, schließt die Augen. Ein wenig ärgert es ihn, dass Linus das Ting in den Sand gesetzt hat. Denn wenn man es genau nimmt, ist das »Navigationssystem« Adams Idee. Im vorletzten Semester seines Studiums setzte er sich mit dem Geschäftsmodell von Google auseinander. Die Suchmaschine wollte die Fragen von Usern beantworten, bevor sie gestellt werden. Adam gefiel dieser Ansatz nicht. Ein Unternehmen sollte nicht das Ziel haben, die Zukunft vorherzusagen, sondern sie zu formen. Erstrebenswert wäre ein Programm, das Usern Entscheidungen abnahm, die sie aus Dummheit oder Angst nicht treffen konnten. Er erzählte seinem Mitbewohner von der Idee. Linus war begeistert und schrieb einen ersten Programmentwurf. Adam studierte den Markt und verfasste einen Businessplan. Nachts tranken sie billigen Weißwein und malten sich aus, ein Start-up zu gründen und bedeutend wie Steve Jobs und Steve Wozniak zu werden. Eine Mischung aus Träumerei und Übung, mehr nicht. Als McKinsey in London ihm kurzfristig eine Trainee-Stelle anbot, für die er einen Masterabschluss brauchte, schusterte Adam den Businessplan mit dem Programmentwurf von Linus zu einer Abschlussarbeit zusammen. In London vergaß er das alles schnell.

Erst als der Motor verstummt, erwacht Adam aus leichtem Schlaf. Er gibt dem Fahrer großzügig Trinkgeld und verlässt den Wagen. Der gläserne Turm von Strindholm Consulting nimmt in der Herbstsonne die Farbe von Metall an. Adam liebt die Architektur seiner Zeit. Oberflächen, glatt und kühl, die Transparenz behaupten und umso mehr verschleiern. Einfachheit, die das Hochkomplexe, das Verworrene verbirgt. Er fühlt sich verwandt mit dem Gebäude, wesensähnlich, als sei es ein architektonisches Spin-off seiner selbst.

Wieder vibriert sein Telefon, diesmal insistierend. Er erwartet einen Anruf von Linus. Die Frage, was los sei, einen Vorschlag, wann sie sich treffen können, um das Ting zu deinstallieren. Deshalb ist er überrascht, Nius Namen auf dem Display zu sehen. Kurz bevor sein Daumen den grünen Button berührt, hält er inne. Nein, eigentlich möchte er mit der Hackerin nicht sprechen, die mitverantwortlich ist für seine beschissene Lage bei Strindholm. Weil Niu bei ihrer Arbeit einen Fehler gemacht hat, wurde Adam in der Nacht von Linus’ Assessment aus dem Rollenspiel geholt und von Gustaf in der obersten Etage zusammengestaucht. Der Anfang allen Übels. Er wartet, bis die Vibration verstummt, anschließend löscht er Nius Nummer aus den Kontakten. Sie mag talentiert sein, aber sie ist nicht geschaffen für diese Art von Aufgaben.

Wäre es nur genauso einfach, sein Standing in der Firma wiederherzustellen, wie Niu aus seinem Leben zu löschen, denkt er. Nach dem wöchentlichen Montags-Jour fixe aller Berater und der Geschäftsführung wird er mit Gustaf reden. Dieses Mal muss der Alte ihm zuhören, muss ihm endlich verzeihen. Muss einsehen, dass die Firma Adam genauso braucht wie er die Firma.

In der Lobby ist die Luft trocken und steril. Hinter der gläsernen Rückwand erstrahlt der Garten in den typischen Herbstfarben. Als er noch in Gustafs Gunst stand, sind sie gelegentlich über die Schotterwege flaniert. Der Fürst und einer seiner Protegés. Mit einer lässigen Armbewegung deutete der Alte auf die Pflanzen: Kontrollierte, aber unaufhaltsame Wucherung. Das Ideal unserer Zeit.

Am Empfang sitzt Wilpe. Die Schultern des Empfangsassistenten scheinen übers Wochenende ein wenig breiter geworden zu sein. Der Mann wirkt bedrohlich, wie ein Türsteher oder Rausschmeißer. Adam geht am Tresen vorbei und klopft zweimal.

»Herr Strzela. Einen kleinen Moment.«

Wilpe überspielt seine Unsicherheit mit aggressiven Gesten. Er schaut auf seinen Bildschirm, hackt sinnlos auf seiner Tastatur herum.

»Sie werden in Ihrem Büro erwartet.«

»Von wem?«

»Keine Ahnung. Ich soll ausrichten, dass Sie nach Ihrer Ankunft unverzüglich Ihr Büro aufsuchen sollen. Das ist alles.«

Adam hat an diesem Morgen kein Meeting. Genau genommen hat er die ganze Woche über keinen Termin. Abgesehen vom wöchentlichen Jour fixe und seinem Augenarzttermin am heutigen Nachmittag.

»Der Jour fixe findet gleich statt. Mein Gast wird sich etwas gedulden müssen.«

»Das heutige Treffen wurde abgesagt.«

»Warum? Warum hat man mich nicht unterrichtet?«

Der Empfangsassistent zuckt mit den Schultern, senkt den Blick auf seinen Bildschirm. Der Sound schwungvoll klackender Absätze füllt das Foyer.

»Guten Morgen, Wilpe.«

Enni Strindholm geht an ihnen vorbei in Richtung der Fahrstühle. Adam folgt ihr. Während sie warten, betrachtet Gustafs Tochter schweigend ihre Schuhe, erwidert Adams Blick nicht. Nach dem heiteren Pling betreten sie zusammen die Kabine. Enni lehnt sich an die hintere Wand, Adam stellt sich vor sie. Frontal und nah, achtet aber darauf, sie nicht zu berühren.

»Hallo, Enni.«

Ihr Gesicht ist ausdruckslos, sie antwortet nicht. Blickt durch ihn hindurch, als sei er nicht da. Ihr Parfum steigt ihm in die Nase, herb und klar. Seit ihrer Affäre hat sie es nicht gewechselt.

»Ich habe nachgedacht. Ich möchte mit dir reden«, sagt er.

Enni schaut in seine Augen, zum ersten Mal seit langer Zeit. Bemüht uninteressiert, aber ihre Neugier kann sie nicht verbergen. Mit einem Mal würde Adam sich gern bei ihr entschuldigen. Entschuldigen dafür, ihren Dates ohne Erklärung ein Ende gesetzt zu haben. Seitdem kein einziges privates Wort mehr mit ihr gewechselt zu haben. Vor allem dafür, Ennis Gefühle verletzt zu haben. Wenn er ehrlich zu sich ist, gab es nur einen einzigen Grund für sein Verhalten: Er begann, mehr für sie zu empfinden. Romantische Gefühle oder gar Liebe können einem am Arbeitsplatz zum Verhängnis werden, das hatte Adam schon öfter mit angesehen. Also beendete er die Sache wieder. Vielleicht ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, sich zu entschuldigen und ihr alles zu erklären.

Stattdessen sagt Adam: »Die Prüfung von Linus Landmann vor drei Wochen, erinnerst du dich? Ich verstehe jetzt, warum du unbedingt mich als Statisten wolltest.«

Ennis Schultern spannen sich, aber sie hält seinem Blick stand. Ihr Gesicht hat an Farbe verloren in den vergangenen Monaten und ist ein wenig aufgedunsen. Wahrscheinlich gehört sie nicht zu den wenigen Frauen, die anständig altern, denkt Adam.

»Die kleine Enni hört von Papa, dass ein gewisser Adam Strzela Mist gebaut hat und vielleicht seinen Job verliert. Da sie Adam nicht leiden kann, seit er nicht mehr mit ihr ins Bett steigt, nutzt sie die Gelegenheit. Sie zitiert ihn in ein Rollenspiel des Assessment-Centers, um die Kündigung vorwegzunehmen. Nicht real, nur im Spiel. Aber genug, um ihr eine sadistische Befriedigung zu verschaffen.«

Enni versucht, ihn beiseitezudrücken, er hält dagegen.

»Es ist anders gekommen, nicht wahr. Ich bin noch hier. Keine Kündigung, nur eine Verwarnung. Ist das nicht enttäuschend?«

Hinter ihm öffnet sich die Fahrstuhltür. Enni schubst ihn leicht und Adam tritt beiseite, die Hände erhoben. Draußen dreht sie sich noch einmal um.

»Tut mir leid, aber ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden. Arbeiten Sie hier?«

Die Tür schließt und der Lift setzt seine Fahrt fort.

Die Kollegen auf der Gegenwart-Etage grüßen ihn nicht. Hier und da hebt sich eine Augenbraue, wenn er einen guten Morgen wünscht. Was diese Arschlöcher in der Mittagspause am liebsten machen: über Kollegen lästern und so ihr verkümmertes Selbstwertgefühl aufblähen. Die Gerüchte über sein Gespräch mit Gustaf haben schnell die Runde gemacht. Adam ist machtlos. Nur ein Vertrauensbeweis aus der Führungsetage kann sein Ansehen wiederherstellen.

Vor seiner Bürotür hält er inne. Etwas stimmt nicht. Es dauert einige Sekunden, bis er das Wort auf seinem Türschild zusammensetzt. Ferbenlaare. Er versteht nicht und tritt ein. Schreibtisch und Stühle scheinen dieselben zu sein wie am Freitag, als er das Büro abends verlassen hat. Hässlicher Efeu wuchert wie gewohnt an der Außenseite der Glaswand. Aber nichts liegt auf dem Boden herum. Keine Businesspläne, keine Kopien der Buchhaltung von Start-ups, keine aus dem Internet ausgedruckten Artikel. Ein aufgeräumtes und ordentliches Büro. Ein Zeichen von Tatenlosigkeit. Seine Aktenordner fehlen im Regal, sein Computer ist durch einen anderen ersetzt worden. Wo zuvor das Bild des Mädchens auf dem Fahrrad hing, das ihn immer an seine Patentochter erinnerte, ist jetzt eine Leinwand, gefüllt mit kleinen bunten Quadraten. Darunter, an Adams Schreibtisch, sitzt der Mitarbeiter mit den Dreadlocks, der vor drei Wochen eingestellt worden ist.

»Man klopft an, bevor man fremde Büros betritt«, sagt der Mann.

»Was meinst du damit? Das ist mein Büro.«

Sein Gegenüber lehnt sich verwundert im Stuhl zurück.

»Nun, nein, wie du siehst. Ich bin vor einer Stunde hier eingezogen.«

Adam geht zur hinteren Wand und öffnet den Schrank. Seine Bücher und Unterlagen fehlen, er ist leer.

»Wo sind meine Sachen? Wo ist mein Scheißrechner?«

Der Mann zieht sein Haargummi straff, erhebt sich vom Stuhl und baut sich vor Adam auf.

»Ich habe keine Ahnung, wo deine Sachen sind. Wilpe hat mir heute Morgen gesagt, dass mir ein größeres Büro zugeteilt wird. Als ich ankam, wartete mein Kram hier schon auf mich.«

Die beiden Männer stehen sich einige Momente gegenüber, ohne dass etwas geschieht. Stummes, bewegungsloses Duellieren. Dann nickt Adam. Geht zur Tür und hinaus auf den Korridor.

Er kommt nur einige Schritte weit, als jemand seinen Namen ruft. Ein junger Mann, das Gesicht rot und voller Aknenarben. Das Jackett viel zu weit für seine schmalen Schultern. Adam hat ihn noch nie bei Strindholm gesehen.

»Adam Strzela?«

Der Junge versucht, seiner Stimme Autorität zu verleihen, aber er ist ungeübt. Vielleicht kann er erklären, in welchem Raum Adams Sachen sind. Vielleicht überbringt er eine Nachricht von Gustaf.

»Ich soll Ihnen das hier geben.«

Der Junge hält ihm ein Buch hin. Adam nimmt es und liest mehrmals verständnislos den Titel. Strafgesetzbuch, 56. Auflage.

»Was soll ich damit?«

Der Junge blinzelt irritiert und lächelt, als habe Adam etwas Wesentliches nicht verstanden.

»Na, kopieren. Was denn sonst?«

Eine lange Pause folgt.

»Entschuldige bitte meine Unkenntnis. Aber wer zum Teufel bist du, verdammt?«

Adams Stimme ist laut, ohne dass er es beabsichtigt hat. Am Ende des Korridors schauen zwei Kollegen zu ihnen herüber.

»Der neue Praktikant. Ich wurde losgeschickt, um Adam Strzela dieses Buch zu bringen. Zum Kopieren.«

Adam antwortet nicht. Steht starr vor dem Jungen. Dieser nickt, als sei die Angelegenheit damit geklärt. Und wendet sich von ihm ab.

Der Korridor der Gegenwart-Etage. Hinter einer Glastür ertönt das gedämpfte Gelächter mehrerer Leute. Adam schleudert das Strafgesetzbuch gegen die Tür, die Biografie über Bezos hinterher. Ein Kollege schaut heraus, schüttelt den Kopf und verschwindet, als er Adam erkennt. Man hat ihm sein Büro genommen. Kollegen schicken Praktikanten, um ihm Aufträge zu erteilen und ihn so zu verhöhnen. Was ihm widerfährt, ist mehr als eine Verwarnung von Gustaf Strindholm. Es ist eine Demütigung. Selbst wenn der Alte beschließen würde, ihn zu rehabilitieren, sein Renommee ist irreparabel beschädigt. Nie wieder wird man ihn bei Strindholm, vielleicht sogar in der ganzen Branche ernst nehmen.

Adam versucht, gegen die ansteigende Panik anzuarbeiten. Weder Jeff Bezos, Bill Gates noch ein Steve Jobs würden sich von solchen Episoden aus der Ruhe bringen lassen. Sie würden einen Schlachtplan entwickeln, die Situation zu ihren Gunsten wenden und gestärkt aus ihr hervorgehen. Adam holt das Smartphone aus seiner Hosentasche. Der junge Bill Gates hatte sich einst in einer vergleichbaren Situation befunden und sein Ansehen wiedergewonnen, indem er jeden Kollegen im Umkreis in Grund und Boden schrie. Die Passage aus der Biografie hat Adam einst in seine Notiz-App kopiert. Als er sein Telefon aus dem Ruhemodus weckt, erscheinen zwei Empfehlungen des Ting.

   Ehöhte Transpiration festgestellt. Empfehlung:
Duschen.

   Sackgasse voraus. Empfehlung: Alternativkurs einschlagen.

Wut und Panik verdrängen alle anderen Gedanken. Vorbei an Büros, Kaffeeküchen und Kollegen wandelt er durch die Korridore. Er braucht einen Raum, in dem er nachdenken kann. Aber wo ist das, wo ist sein neues Büro? Er entscheidet sich für eine Toilette.

Ein leerer, neutraler Raum. Künstlicher Citrusgeruch liegt in der Luft. Irgendwo tropft etwas. Adam stürzt in eine Kabine und schließt hinter sich ab. Als Kind hat er sich oft ins Badezimmer geflüchtet, wenn sein Vater seine Fragen nur mit einem desinteressierten »Nie« oder »Tak« beantwortete, ohne den Blick vom Fernseher zu wenden. Die Knie an den Körper gezogen, lag er stundenlang auf der flauschigen Badematte, die seine Mutter vor ihrem Tod gekauft hatte, und weinte. Das Badezimmer war der einzige abschließbare Raum der kleinen 2-Zimmer-Wohnung. Der einzige Raum, wo die alles schwarz färbende Aura des Vaters nicht hinreichte.

Das Telefon in seiner Hand vibriert. Unbekannte Nummer. In Ermangelung an Alternativen nimmt er den Call entgegen.

»Ja?«

Seine Stimme verflüchtigt sich zwischen Plastikwänden und Fliesen.

»Hier ist Niu.«

Noch ein Fauxpas. Zwar hat er Nius Nummer aus seinen Kontakten gelöscht, sie aber nicht blockiert.

»Unsere letzte Zusammenarbeit ist aufgeflogen, oder?«, fragt die junge Frau mit schroffer Stimme.

»Woher weißt du das?«

»Ich habe mir einige Mails der Strindholm-Geschäftsführung angeschaut. Wollte nur sichergehen, dass wir safe sind.«

Ihre Stimme gerät ins Straucheln. Sie macht eine Pause.

»In einer drei Wochen alten Mail steht, dass du wegen Industriespionage fristlos entlassen bist. Warum hast du mir nichts davon erzählt?«

Sackgasse voraus. Adam ist zu keiner Antwort fähig. Nach einer langen Pause spricht Niu weiter.

»Was auch immer schiefgelaufen ist, war nicht mein Fehler. Du musst Mist gebaut haben. Ich habe deinen Auftrag ausgeführt, ohne Spuren zu hinterlassen. Also versuch nicht, mich da hineinzuziehen. Es wäre reine Zeitverschwendung, glaub mir. Du wirst keinen Beweis für meine Beteiligung finden. Am besten, wir haben nie wieder Kontakt.«

Dann ist alles still.

Die Kollegen in den Fluren mustern Adam abschätzig, als er in Richtung der Fahrstühle läuft, beinahe rennt. Ihre Blicke erinnern an die der jungen Männer aus der Sozialsiedlung: Für sie ist er der Außenseiter. Der Fahrstuhl hält in der Realismus-Etage. Ohne anzuklopfen, betritt Adam das Büro von Gustaf Strindholm. Ein weiter Raum ohne Stühle, nur Arbeitsplatten und Stehpulte, darauf sind Papiere, Aktenordner, Zeitungen verteilt. Die gesenkten Außenjalousien fächern das Sonnenlicht in dünne Streifen, durch die man den Staub rieseln sieht. Gustaf steht an der Glasfront, blickt zwischen zwei Lamellen hinaus in die Stadt. Die Hände in den Taschen seiner Anzughose, das Gesicht abgewandt. Sein Sohn in einem babyblauen Anzug ist über einen offenen Aktenordner und einen Laptop gebeugt. Als er Adam bemerkt, verzieht Kasper das Gesicht.

»Guten Morgen. Was machst du hier oben? Solltest du nicht dein Büro ausräumen?«

Adam hasst es, sich von dem Versager verhöhnen zu lassen. Kasper hat das Glück, den richtigen Nachnamen zu besitzen, das ist alles. Nichts hat er aus seiner privilegierten Stellung gemacht, keinen Zentimeter hat er sich bewegt. Er ist genau dort, wo seine Mutter ihn vor über 30 Jahren hingeboren hat: am Hosenaufschlag seines Vaters.

»Ich hab Mist gebaut, das weiß ich. Aber war das alles wirklich nötig?«, sagt Adam in Gustafs Richtung. Der Alte lässt sich Zeit mit seinen Worten, seine raue Stimme schleift jedes von ihnen rund.

»Seit diese Firma 1952 mitten im Wirtschaftswunder von meinem Vater Emil gegründet wurde, hat sich jedes einzelne Mitglied der Familie Strindholm für ihren Erfolg und guten Ruf aufgeopfert.«

In den Hosentaschen des Alten ballen sich Hände zu Fäusten.

»In den vergangenen Jahrzehnten habe ich viele Angestellte gesehen. Irgendwann gleicht einer, der kommt, einem, der schon mal hier war. Im Stillen fängt man an, ihre Namen und Gesichter zu verwechseln. Unterscheidet nur noch Typen. – Und wie ich das sehe, gibt es drei Arten von Angestellten. Die Feiglinge. Die loyal und gewissenhaft ihrer Arbeit nachgehen, weil sie dankbar sind. Man kann von ihnen keine großen Würfe erwarten. Sie sind zu feige, um Innovationen einzubringen. Jede Form von Risiko könnte ihre Anstellung gefährden, also gehen sie altvertraute Wege.«

Sein Blick zuckt bei diesen Worten kurz zu seinem Sohn und rastet anschließend wieder zwischen den Lamellen ein.

»Wenn sie ihre Arbeit gut machen, ist das zu verkraften. Dann gibt es die Eifrigen. Die jeden Tag auf einem Sprungbrett stehen und versuchen, in einem Büro auf dieser Etage zu landen. Oder in einer besseren Position bei einer anderen Firma. Um das zu erreichen, erfinden sie sich und das Unternehmen immer wieder neu. Man muss sie zügeln, steuern und zur richtigen Zeit mit Beförderungen und Prämien füttern.«

Gustaf Strindholm wendet sich Adam zu. Das Gesicht zerfurcht von Falten, die Brauen buschig und grau, das rechte Lid halb über dem Auge hängend. Adam würde gerne eine zynische Bemerkung machen, würde dem Alten gern sagen, dass er endlich zum Punkt kommen soll. Aber er hat keine Worte, keine lässige Geste, überhaupt gar kein Verhaltensrepertoire für diese Art von Situation. Er spürt, dass Gustaf Strindholm in genau diesem Moment seine Karriere zerstört. Weit mehr als das: jede Selbstsicherheit, die er sich aufgebaut hat in den vergangenen Jahren, vielleicht sogar seit dem Tod seiner Mutter.

»Zu guter Letzt gibt es die Arschlöcher. Arschlöcher tarnen sich als Feiglinge oder Eifrige, aber halten sich für was Besseres. Für missverstandene Genies, zu Unrecht kleingehalten. Jede Abkürzung ist ihnen recht, um sich an den Platz zu kämpfen, den das Schicksal für sie vorgesehen hat. Du, Adam, bist ein riesengroßes Arschloch.«

An der hinteren Wand hängt das Gemälde, das dem Büro seinen Namen gibt: Le Désespéré. Ein junger Mann, der sich seine langen Haare mit beiden Händen aus dem Gesicht hält, den Mund leicht geöffnet, die dunklen Augen weit aufgerissen.

»Ich habe vor drei Wochen schon erklärt, ich wollte nur dem Kunden helfen.« Adam hat die flehende Färbung in seiner eigenen Stimme seit der Kindheit nicht mehr gehört. Als würde er mit seinem Vater sprechen. »Ich habe nur einen kleinen Blick in die Datenbanken der Konkurrenz geworfen, mehr nicht. Selbst schuld, wenn die ihre Server so schlecht schützen. Der Marktanteil unseres Kunden ist innerhalb weniger Monate um 10 Prozentpunkte gestiegen.«

Gustaf entfernt sich langsam von der Glaswand. Das Sonnenlicht verschiebt sich streifenweise auf seinem Körper. Unter einer Arbeitsplatte zieht er einen Schemel hervor und stellt einen Fuß darauf ab.

»Mir ist völlig egal, welche Methoden Angestellte von Strindholm Consulting anwenden, um Kunden glücklich zu machen. Aber wenn eine dieser Methoden an die Öffentlichkeit kommt und dort ›Industriespionage‹ daraus wird, dann ist unser Ruf, das Vermächtnis meiner Familie in Gefahr. Verstehst du, was das bedeutet, Strzela?«

Adam öffnet den Mund, um etwas zu sagen. Doch er weiß, dass es zu spät ist. Er steht in einem Trümmerhaufen, der seine Karriere ist. Nichts kann den Einsturz rückgängig machen. Gustaf wischt sich über die narbigen Wülste seines Gesichts.

»Ich konnte die betreffenden Parteien überreden, keine Anzeige zu erstatten. Das hätte nicht nur Strindholm ruiniert, sondern auch Fragen zu deren Sicherheitsvorkehrungen aufgeworfen. Eine außergerichtliche Einigung wird die Angelegenheit aus der Welt schaffen. Aber du ziehst deinen aufgeblasenen Kopf nicht so einfach aus der Schlinge. Beinahe hättest du die Arbeit von mehreren Generationen zunichte gemacht.«

Wie auf ein Stichwort geht Kasper um einen Tisch herum und reicht Adam einen Umschlag. Anders als erwartet, wirkt er nicht schadenfroh. Nicht zufrieden, einen Mitarbeiter loszuwerden, mit dem er sich nie gut verstanden hat. Vielmehr scheint er Mitleid mit Adam zu haben und genervt zu sein. Als würde er die ganze Szene für Zeitverschwendung halten.

»Also, das hier ist die offizielle Kündigung. Inoffiziell arbeitest du seit drei Wochen nicht mehr hier. Niemand weiß, was du getan hast. Aber deine Kollegen haben so ihre Theorien, eine abenteuerlicher als die andere. Sie werden der Spekulationen nicht müde. Du bist nicht der Erste, der auf diese Art und Weise entlassen wurde. Aber keiner tappte so lange im Dunkeln.«

Adam hat das Gefühl, in einem fremden Land zu sein, dessen Grenze er unbemerkt passierte, ohne Sprache und Verbündete. Im Hintergrund steht der Alte im schummrigen Licht und betrachtet seine von Altersflecken übersäten Hände. Er hebt ein letztes Mal seine Stimme.

»Ich nehme an, du verzichtest auf ein Arbeitszeugnis. Ich habe dir trotzdem eines ausgestellt. Kein schriftliches. Ein inoffizielles. Seit drei Wochen macht es die Runde. Du wirst es schwer haben da draußen.«

Die Glastüren rechts und links des Korridors scheinen bei jedem seiner Schritte zu vibrieren. Sie drohen in tausend kleine Splitter zu zerbersten. Der Boden schwankt gefährlich, wie das Deck eines Schiffes im Sturm. Er geht in die Knie und kotzt auf den weißen Marmor, mitten in den Gang. Als er wieder stehen kann, zieht er sein Jackett aus und überdeckt das Erbrochene. Ein Hund, der seine Exkremente verscharren will, denkt er. Zerrt sich seine Krawatte vom Hals, um sich den Mund abzuwischen, und legt sie oben drauf. Am Fahrstuhl angekommen, weiß er nicht weiter. Nach oben kann er nicht mehr. Die Nähe zum Dach ist immer mit einem Gefühl von Freiheit verbunden gewesen. Jetzt ist sie eine Bedrohung. Er wird nicht hinauffahren und sich an den Rand des Towers stellen. Auf Berlin hinunterblicken, wie er es sonst tut, wenn er eine Auszeit braucht, von Hunderten Erwartungen, die alle gleichzeitig auf ihn eindreschen, vom Taktieren, Adam gegen die Kunden, Adam gegen die Kollegen, Adam gegen Kasper und Gustaf. Vorbei das. Man hat ihn rausgeschmissen. Genau wie Steve Jobs bei Apple damals, 1985.

Im Fahrstuhl haut er auf den Knopf mit dem Aufdruck Gegenwart. Gegenwart, Gegenwart, immer wieder. Er widersteht dem Bedürfnis, sein altes Büro zu betreten und mitten im Raum stehen zu bleiben. Sich nicht zu rühren und nicht zu sprechen, ein stiller Protest. Bis der Sicherheitsdienst kommt und ihn rausschleift an Händen und Füßen vor den belustigten Blicken der Kollegen. Etwas Jämmerlicheres hätte der Strindholm-Tower noch nie gesehen. Wenn man schon eine beschissene Rolle hat, dann sollte man sie so gut wie möglich spielen.

Wieder auf den öden Korridoren, links und rechts Büros. Produktivitätstanks, mit Gehirnen darin. Ein großes Aquarium voller Gehirne ist das, die in Nährflüssigkeit treiben und Probleme lösen. Irgendwo müssen seine Arbeitsunterlagen sein. Er muss sie sortieren und an jemanden übergeben. Das würde seinem Abgang ein Minimum an Würde verleihen. Eine Wertschätzung seiner Arbeit. Der Alte wird seine Entscheidung bereuen. Einen besseren Analysten als Adam wird er nicht finden. Niemand gewinnt mehr Neukunden als er. Niemand bekommt bessere Bewertungen beim Feedback. Niemand vertritt Strindholm besser auf Konferenzen und Tagungen, erst recht nicht sein unfähiger Sohn.

Warum ist er in die Gegenwart-Etage gefahren? Er öffnet eine metallene Tür. Muffig und warm ist es im Treppenhaus, keine Fenster, kein Belüftungssystem. Seine Augen muss er zukneifen, denn das Licht ist grell. Der Höhenabstand zwischen den Stufen kommt ihm uneinheitlich vor und er überspringt das letzte Drittel jeder neuen Treppe, um nicht zu fallen. Seine Knöchel schmerzen bei jedem Aufprall mehr. Als er doch fällt, sich aufrappelt und den Riss am Knie seiner Anzughose untersucht, verspürt er das Bedürfnis, Enni aufzusuchen. Sie um Verzeihung zu bitten. Sich von ihr zu verabschieden. Ihr Parfum zu inhalieren. Von ihr in den Arm genommen und getröstet zu werden.

Es geht jetzt schneller mit den Treppen. Er hat sich an den Abstand gewöhnt. Erdgeschoss. Die Lobby ist leer, wie immer nur Durchgangsstation, der Empfangsassistent zählt nicht. Doch dieses Mal ist selbst der nicht da. Hinter der gläsernen Rückwand liegt der Garten. Während einer Dürre wird ein Vollidiot mal seine Kippe fallen lassen und das akkurat beschnittene Gestrüpp wird in Flammen stehen. Waldbrand im Strindholm-Tower. Das Aquarium mit all den Gehirnen darin wird köcheln. Wird langsam von innen schmelzen. Zurückbleiben wird nur ein schwelender, dreckiger Kristallklumpen in Berlin Mitte.

Die Herbstsonne schafft es nicht, seinen schweißnassen Körper aufzuwärmen. Ohne zurückzublicken, steht er am Straßenrand und winkt, bis ein Taxi hält. Er steigt vorne ein, das erste Mal in seinem Leben. Wundert sich kaum, als er den Fahrer erkennt. Derselbe, der ihn herbrachte.

»Niech pan rusza! Wszystko jedno dokąd«, hört Adam sich sagen.

Der Mann mustert ihn. Das verschwitzte Gesicht. Das aufgeknöpfte Hemd. Die dreckige, zerrissene Hose.

»Tut mir leid. Aber ich verstehe Sie nicht«, antwortet der Fahrer.

Adam könnte schwören, im selben Auto wie heute Morgen zu sitzen.

»Egal, fahren Sie los. Egal wohin. Bitte.«

Es ist einer der letzten warmen Herbsttage. Die goldenen und roten Blätter auf den Wegen und Straßen sind mehr Schmutz als Schmuck. Bald wird die Stadt ihr anderes Gesicht zeigen, das raue, wahre. Die Menschen kommen Adam vor wie zusammengesetzt aus zielgerichteten Bewegungen und selbstsicheren Gesten. Doch das ist nur oberflächliches Gehabe. Sie sind bloß Fleischsäcke voller Angst und Scheiße, denkt er. Er würde gerne aussteigen und das jeder einzelnen Person ins Gesicht schreien, sie schütteln, bis sie es endlich kapieren.

In Wirklichkeit ist er aber nur wütend auf Gustaf Strindholm und sich selbst. Sein Blick schwankt und am liebsten würde er das Fenster herablassen und sich bei voller Fahrt nochmals übergeben. Und doch kann er zum ersten Mal seit Wochen klar sehen. Als hätten sich die Realität und das, was er für Realität hielt, endlich synchronisiert. Und die Realität ist, dass er am Tiefpunkt angelangt ist. Völlig allein, unbedeutend und ausgeliefert. Nur einmal in seinem Leben hat Adam sich so macht- und schutzlos gefühlt – kurz nach dem Tod seiner Mutter.

Zweimal fährt das Taxi rechts ran. Der Fahrer macht den Motor aus und nennt einen Geldbetrag. Er will ihm die Möglichkeit geben auszusteigen, doch Adam reagiert nicht. Also fahren sie weiter. Bis sein Telefon vibriert. Die alte Routine des Angestellten, der immer mit dem Call eines Kunden oder Vorgesetzten rechnet, lässt ihn nachschauen. Das Smartphone zeigt zwei verpasste Anrufe von Linus Landmann. Und eine Nachricht des Ting.

   Rapider Anstieg an Adrenalin. Empfehlung: Laden an der nächsten Ecke aufsuchen.

Ihm fällt kein Grund ein, nicht Folge zu leisten.

»Hier.«

Adam gibt dem Taxifahrer seine EC-Karte. Nachdem der Betrag abgebucht wurde, steigt er aus. Eine Kreuzung, wie es sie Hunderte in Berlin gibt. Die Straßennamen sagen ihm nichts. Unmöglich den Bezirk zu erkennen, nicht mal West oder Ost.

Der Laden an der Ecke entpuppt sich als Wettlokal. An den kleinen, runden Tischen sitzen Männer, denen man die Migrationsgeschichte ansehen kann. Ein Boxkampf zwischen zwei tätowierten Schlägern wird auf Dutzenden Bildschirmen ausgestrahlt. An Spielautomaten drücken Typen bunt blinkende Knöpfe, schauen gelangweilt zu den Bildschirmen oder auf ihre Telefone.

Adam bestellt eine Flasche Mineralwasser am Tresen, wo die Wettscheine abgegeben werden. Sein Vater könnte unter diesen Männern sein. Oder Tomek. Erst nachdem er jedes einzelne Gesicht geprüft  hat, setzt er sich an einen Tisch.

Die Männer nippen an Getränken, begutachten bekritzelte Papiere, Smartphones, Wände. Die meisten sind allein, aber sie teilen ein Schicksal. An den Anforderungen der Gesellschaft gescheitert, mit der verzweifelten Hoffnung, durch Glücksspiel aus ihrer beschissenen Situation herauszukommen. Nach Hause will niemand, denkt Adam. In viel zu kleine, schäbig eingerichtete Wohnungen, wo die Blicke von Frauen und Kindern warten. Blicke, die wie Spiegel sind. Nur hier können diese Typen Wissen, Expertise und Kontrolle heucheln. Nur in diesem Game haben sie eine vermeintliche Chance auf Erfolg.

Das ist jetzt also auch Adams Game. Gustaf Strindholm wird verhindern, dass er eine neue Anstellung findet, das hat er deutlich gemacht. Die Welt ist vielleicht global und bis ins Unüberblickbare verzweigt, aber Branchen und Betriebe sind gut vernetzt, denkt er. Selbst wenn er in einem kleinen Kaff eine schlecht bezahlte Anstellung ohne Karriereaussicht findet. Der Alte wird davon Wind bekommen und dafür sorgen, dass er keine Probezeit übersteht.

Erneut kommt die Panik. Er schließt die Augen und malt sich den realistischen Fortgang seiner Biografie aus. Er wird sich auf 40 Stellen im Consulting-Umfeld bewerben, wird aber zu keinem Gespräch eingeladen. Seine Verzweiflung wächst mit jeder Absage, sein Selbstbewusstsein schrumpft. Natürlich wird er alkoholabhängig, um sein zerstörtes Selbstwertgefühl zu ertragen. Oder spielsüchtig, wie Tomek, wie sein Vater. Nach einigen Monaten sind seine Ersparnisse aufgebraucht. Er zieht in eine kleinere Wohnung und versucht es mit Jobs, für die er hoffnungslos überqualifiziert ist. Kellner oder Taxifahrer. Aber er langweilt sich, schämt sich und schmeißt es wieder hin. Dann Jobcenter und Hartz IV. In der ersten Zeit werden Tomek, Kasia und Aga für ihn da sein, ihn trösten. Doch nach einer Weile wird er eine zu große Belastung für die Familie. Die kommenden Jahre bestehen aus Hart-Alk, Spielautomaten und Verfall. Bis etwas Entscheidendes passiert. Er lernt eine Frau kennen. Oder sein Vater taucht sterbenskrank wieder auf. Die große Erkenntnis: Adam schmeißt sein Leben weg. Er muss etwas ändern. Also wird er alles daransetzen, das Ruder herumzureißen. Vielleicht wird er trocken, bekommt einen mittelmäßigen Angestelltenjob in einem kleinen Büro, gründet eine Ein-Kind-Familie mit einer langweiligen Frau, kauft eine Doppelhaushälfte im Speckgürtel Berlins und redet sich Nacht für Nacht ein, was für ein Glück er doch hat. Vielleicht wird sie aber tragisch und realistisch enden und er scheitert erneut. Einsam säuft er die nächsten 20 Jahre vor sich hin und stirbt mit vollgeschissener Hose im Warteraum des Jobcenters.

Die Atmosphäre des Wettlokals schwappt in Schüben gegen sein Bewusstsein und Adam öffnet die Augen. Nein, denkt er, seine Biografie wird nicht aussehen wie ein Gescheiterten-Klischee. Ebenso wenig wird er sich Zeit geben für Schock, Trauer, Verarbeitung und zu guter Letzt allmähliche Rekonvaleszens. Adam Strzela wird aufstehen, bevor er überhaupt gestürzt ist. Seine Biografie wird verlaufen wie die von Steve Jobs. Der in Pixar investierte, als Apple ihn rausschmiss, und sich an der Produktion von Toystory beteiligte. Nachdem der Film ein riesiger Erfolg wurde, und nach dem Börsengang von Pixar, kam Steve Jobs als Milliardär zu Apple zurück. Adam wird nicht scheitern, sondern wird direkt einen neuen, erfolgreichen Weg einschlagen. Wie die Opernsängerin Judith Williams. Die nach einer Tumorbehandlung zwischenzeitlich ihre Stimme verlor, ihr Verkäufertalent entdeckte und bei einem Verkaufssender anheuerte. Heute hat sie 100 Angestellte und hat es in einer Nachtsendung sogar geschafft, dass Adam sich eine Gesichtscreme aus Goji-Beeren bestellte.

Mehrere Stimmen, die ihm vorher nicht aufgefallen sind. Die Männer reden über einen epischen Boxkampf aus den 90er-Jahren, Tyson gegen Holyfield. Sie müssen unterschiedliche Muttersprachen haben, denn sie sprechen verschieden akzentuiertes Deutsch, manche gebrochen, andere fließend. Sie beleidigen sich im Spaß und lachen miteinander. Einer beginnt von seinen Kindern zu erzählen, die er gleich von der Schule abholen müsse.

Gustaf Strindholm hat ihm einen Gefallen getan, denkt Adam. Der heutige Tag wird ein Wendepunkt in seiner Biografie. Er wird der Welt beweisen, dass er zu Größerem berufen ist, als seine Tage als Angestellter einer Unternehmensberatung zu fristen. Als Consultant hat es noch kein Mensch zu beachtlicher Größe geschafft. Der Rauswurf bei Strindholm ist eine Chance, die er nur nutzen muss.

Das Display des Smartphones erwacht aus dem Ruhemodus, zeigt zwei weitere Empfehlungen des Ting.

   Erhöhte Transpiration festgestellt. Empfehlung: Duschen.

Er will das Telefon ausschalten, um sich auf seine Gedanken zu konzentrieren, als ihn die zweite Nachricht innehalten lässt.

   Empfehlung: Für Alternativkurs alten Freund kontaktieren.

Eine leichte Erregung drückt in seiner Bauchgegend. Die Erregung einer neuen Idee. Er scrollt durch die Empfehlungen des Ting aus den vergangenen Wochen. Liest jede Nachricht mehrmals. Es dauert einige Zeit, bis er erkennt, wie sehr er sich im Ting getäuscht hat. »Sackgasse voraus, Alternativkurs einschlagen.« Hat das Ting die ganze Zeit über die Zeichen richtig gedeutet und versucht, ihn zu warnen? So lassen sich die kryptischen Empfehlungen zumindest deuten. Er hätte ihre Bedeutung verstehen können, sogar müssen. Doch er hat nicht verstehen wollen, hat alle Zeichen ignoriert.