Über das Buch

Als Marilyn und David Sorenson sich in den 1970ern ineinander verliebten, ahnten sie nicht, was nach vierzig – glücklichen! – Ehejahren auf sie zukommen würde. Jede ihrer vier radikal unterschiedlichen Töchter befindet sich in ihrem Leben an einem Wendepunkt. Wendy, früh verwitwet, tröstet sich mit Alkohol und jungen Männern. Violet mutiert von der Prozessanwältin zur Vollzeitmutter. Liza, eine der jüngsten Professorinnen des Landes, bekommt ein Kind, von dem sie nicht weiß, ob sie es will, mit einem Mann, den sie nicht liebt. Und Grace, das Nesthäkchen, bei dem alle immerzu Rat suchen, lebt eine Lüge, die niemand ahnt. Was sie vereint, ist die Angst, niemals so glücklich zu werden wie ihre Eltern. Dann platzt Jonah in ihre Mitte, vor fünfzehn Jahren von Violet zur Adoption freigegeben. Und Glück ist auf einmal das geringste Problem.

 

 

 

 

Für Sally und Tony Lombardo,
meine Mutter und meinen Vater

Der größte Spaß, den wir je hatten

4

Als Wendy Violets Namen auf dem Display ihres Handys sah, wusste sie sofort, warum ihre Schwester anrief. Sie kannte sie gut, früher sogar mal besser als jeder andere, und ahnte, was sie als Nächstes vorhatte.

»Du hast also die Danforths besucht.« Es sollte beiläufig klingen, orakelhaft. Ich kenn dich immer noch ziemlich gut, egal wie sehr du dich ins Zeug legst, um mich vom Gegenteil zu überzeugen.

»Glaub bloß nicht, ich hätte nicht trotzdem eine Riesenwut auf dich, Wendy. Aber ich – was soll ich sagen. Du hast mir das alles eingebrockt, und jetzt muss ich wohl oder übel gute Miene zum bösen Spiel machen. Du hast mich in eine unmögliche Lage gebracht, und ich – das alles ist einfach nicht –« Violet versagte die Stimme. »Er muss wieder zurück ins Heim, wenn nicht jemand – es ist ihm gegenüber einfach so unfair – aber bei mir geht es einfach nicht, Wendy. Matt und ich können ihn nicht …«

Während sie eine Pause machte, schien ihr zu dämmern, dass das eigentlich nicht stimmte, immerhin verfügten sie und Matt in ihrem Haus über drei freie Extrazimmer, und Matt stellte wahrscheinlich ohne mit der Wimper zu zucken einen Stundensatz von mindestens tausend Dollar in Rechnung. Aber Wendy wusste nur zu gut, dass Geld nicht alle Probleme löste. Sie zündete sich einen Joint an, ließ den Kopf zurückfallen und ihren Blick über die weite weiße Zimmerdecke schweifen.

»Ich kann meine Kinder nicht einfach dieser Art von Chaos aussetzen, Wendy. Ich weiß manchmal schon jetzt nicht mehr, wo mir der Kopf steht.«

Wendy hörte heraus, dass ihre Schwester sich diese Entschuldigung zurechtgelegt hatte, vielleicht las sie sie sogar gerade von einem Zettel ab. Es überraschte sie überhaupt nicht, dass Violet, eine Egoistin wie aus dem Bilderbuch, es nicht zuließ, dass irgendetwas ihr wunderbares Leben durcheinanderbrachte. Sie überraschte lediglich die Tatsache, dass Violet sich überhaupt die Mühe machte, nach einer Entschuldigung zu suchen.

»Schon gut«, sagte Wendy. »Wie fandest du ihn?«

»Na ja, er ist fünfzehn. Was soll ich sonst dazu sagen?«

»Von Akne entstellt? Unbeholfen? Blöd?«

Violet lachte schwach. »Na ja, irgendwie schon.«

»Findest du nicht, dass er dir ähnlich sieht?«

Durch die Leitung hörte sie buchstäblich, wie Violet erstarrte. »Könntest du dir derlei Kommentare vielleicht verkneifen? Meinst du, das geht?« Könntest du bitte aufhören, offensichtliche Tatsachen herauszuposaunen, dachte Wendy.

»Ich wollte nur sagen – keine Ahnung. Er ist ein Hübscher, findest du nicht? Mal ganz objektiv gesehen.«

»Ich schau mir Teenager nicht mit diesen Augen an, Wendy.« Violet seufzte. »Aber doch, schon. Er wächst ja noch, aber er sieht doch – er erinnert mich ein bisschen an Dad. Doch, er ist hübsch.«

»Du hast kein Problem damit, Dad hübsch zu nennen, aber bei deinem eigenen Kind ist das was anderes?«

»Er ist nicht mein …« Violet unterbrach sich. »Ich kann das gerne mit dir ausdiskutieren, wenn du willst, aber das hier ist so was wie ein Notfall, und ich habe – ich habe nicht …«

»Du hast bis jetzt noch keinen einzigen Satz beendet«, merkte sie an, und dann hörte sie Violet weinen. »Oh, mein Gott, Viol. Alles gut. Es wird alles gut.«

»Du bist schuld«, sagte Violet. »Ich verstehe immer noch nicht, warum du das gemacht hast.«

»Ich habe überhaupt nichts gemacht, das ist einfach alles so passiert.« Das war natürlich gelogen. »Wenn du willst, kann ich ihn zu mir nehmen«, sagte sie. Der Joint hatte sie mutig gemacht, und außerdem war das Leben einfach nicht fair. Gegenüber diesem Jungen mit dem langweiligen Namen eines Klempners. Der durch alle Netze gefallen war. Und auf diese Weise – na, so war’s doch, gewann sie gegenüber Violet endlich mal die Oberhand. Sie nahm noch einen Zug und hielt ihn, bis ihre Schwester antwortete. Und Violet, das musste man ihr zugutehalten, lachte nicht oder sagte, Bist du eigentlich bescheuert?, oder beendete einfach das Gespräch.

»Das würdest du tun?«, sagte Violet mit tränenerstickter Stimme, voller Ungläubigkeit. »Wirklich, Wendy?«

Als sie hörte, wie dankbar ihre Schwester war, traten auch Wendy Tränen in die Augen. »Meine Güte, manchmal spinnst du wirklich«, sagte sie und stieß eine weißliche Rauchwolke aus. »Na klar.«

Als Violet unter vier Augen mit ihnen sprechen wollte, wurde Marilyn sofort hellhörig, vielleicht war sie ja wieder schwanger, oder Matt und sie hatten Eheprobleme. Aber sie lag gründlich daneben, und zwar so gründlich, dass sie sich danach noch monatelang innerlich dafür ohrfeigte. Wie hatte ihr mütterlicher Instinkt, über den sie angeblich verfügte, sie in einer kritischen Situation so furchtbar im Stich lassen können.

Sie hatte Tee gekocht, und dann setzten sie sich alle auf die Sonnenterrasse hinterm Haus, sie und David eng nebeneinander auf das kleine Sofa und Violet ihnen gegenüber in einen Armsessel aus Rohr, die Beine krampfhaft übereinandergeschlagen.

»Das ist – nicht einfach für mich«, sagte Violet, und Marilyn war beunruhigt, die sonst so gefasste Tochter derart aus dem Häuschen zu sehen. »Aber es gibt da was, das – aufgetaucht ist, und ich finde – ich finde, ihr habt ein Recht, davon zu erfahren, obwohl – na ja, es ist schwierig.«

»Um was geht es, Süße?«, fragte sie und versuchte, sanft zu klingen und nicht erschrocken. David hatte seinen Arm hinter ihr auf der Sofalehne und drückte ihr leicht die Schulter.

»Dieses Jahr, in dem ich – erinnert ihr euch, als ich das Jahr in Paris war?«

»Klar erinnern wir uns daran«, sagte David verwirrt.

Wenn sie unsicher wurde, machte Marilyns Fantasie mitunter die wildesten Sprünge, und sie erinnerte sich plötzlich an die Pressemeldungen über eine amerikanische Studentin mit ausdruckslosem Blick, die in Italien ihre Mitbewohnerin ermordet hatte. »Süße, wenn du in Schwierigkeiten –«

»Ich war nicht in Paris«, sagte Violet, als läse sie einen Text ab. »Ich war hier, und ich war schwanger, habe das Kind geboren und zur Adoption freigegeben.«

Sie unterdrückte den Impuls, hysterisch aufzuschreien, und obwohl das kantige Gesicht ihrer Tochter ernst blieb – Violet hatte von all ihren Kindern schon immer am wenigsten Sinn für Humor gehabt –, musste das hier ein misslungener Scherz sein, eine Nebelkerze, der Anfang von einer absurden Geschichte, und die Wahrheit, das dicke Ende, kam erst noch.

»Was zum Teufel redest du da, Violet?«, fragte David, und sein ruhiger, ernsthafter Tonfall versetzte sie wieder in die Realität.

»Ich habe bei Wendy gewohnt«, sagte Violet tonlos. Sie starrte zu Boden. »Nach dem College-Abschluss bin ich bei Wendy und Miles eingezogen, und im Januar habe ich das Kind zur Welt gebracht.«

Marilyn erinnerte sich, wie sie sich damals um ihre Tochter, so ganz allein im Ausland, Sorgen gemacht hatte. Sie erinnerte sich sogar an ein bestimmtes Gespräch, bei dem sie vorgeschlagen hatte, sie in Paris zu besuchen. Violet hatte allerlei Einwände erhoben und gesagt, sie müsse zu sich selbst finden. Im Rückblick klang das in der Tat alles derart aufgesetzt und gespielt, dass sie sich nur noch wunderte, wie sie ihr das damals hatten abnehmen können.

Aber genau das hatten sie getan. Um Violet hatten sie sich nie Sorgen machen müssen. Wendy hatte von Kindesbeinen an ein labiles Gemüt gehabt, und das Leben hatte sie nicht verschont. Liza besaß einen unerschütterlichen Eigensinn – vielleicht rührte dieser Charakterzug daher, überlegte Marilyn oft besorgt, dass sie innerhalb der Familie aus ihrem toten Winkel nicht herauskam, sie wurde übergangen und rücksichtslos verdrängt. Und Grace, Grace war die Kleine; sie meldete sich nach wie vor mehrmals wöchentlich, bat um Rat oder ein bisschen Geld, und erst eine Woche zuvor hatte David ihr Schritt für Schritt am Telefon erklärt, wie man einen Staubsaugerbeutel wechselte. Um diese drei machte Marilyn sich Sorgen, aber doch nicht um Violet. Ein grober Fehler, wie sich nun herausstellte.

»Warum hast du uns nicht …« Der Klang ihrer eigenen Stimme ließ sie innerlich aufhorchen. »Warum um Himmels willen hast du – du hättest doch mit uns reden können, Violet, meine Güte. Ich weiß nicht einmal … das ergibt alles keinen Sinn.«

»Er wurde adoptiert. Wir haben – Wendy und ich haben uns angesichts der Umstände eigentlich ziemlich gut um alles gekümmert. Er wurde von einer netten Familie adoptiert, und einige Jahre lang lief auch alles gut – bis, na ja –, bis die Eltern umgekommen sind. Bei einem Autounfall. Ich weiß, das klingt völlig absurd. Aber seitdem war er bei Pflegeeltern. An der Oak Park. Südlicher Teil.«

»Mein Gott, Violet«, sagte David sanft und massierte sich die Stirn.

»Das ist alles ein einziges Durcheinander, ich weiß«, sagte Violet. »Und es klingt völlig, vollkommen absurd.«

»Ich begreife einfach nicht, warum du uns nichts davon gesagt hast«, sagte sie. »Das ergibt alles keinen Sinn.«

»Du kannst diesen Satz noch hundert Mal wiederholen – dadurch wirst du es auch nicht besser verstehen.« Violet sah zu ihnen auf, als wäre sie über sich selbst überrascht. »Tut mir leid. Ich weiß nicht, was ich euch noch sagen soll. Ich habe keine Antworten parat. Ich war damals sehr jung, und das alles war nicht leicht für mich. Ich weiß nicht, was ihr von mir noch hören wollt.«

Ihre beiden Kleinen hatten also zusammen unter einem Dach gelebt und diesen verrückten Plan ausgetüftelt, von dem sie keinen Schimmer hatte. Was hatte sie in jenem Jahr eigentlich gemacht? Ihre Eisenwarenhandlung hatte sie damals schon gekauft. Grace ging in die Grundschule, und das Leben lief wie immer, vielleicht ein bisschen chaotischer als sonst, aber immer noch innerhalb erträglicher Grenzen. Sie war an Chaos gewöhnt.

»Woher weißt du das alles?«, fragte David. »Wie hast du ihn gefunden?«

Wieder wich Violet ihren Blicken aus. »Ich war das nicht, sondern Wendy. Eigentlich sollte es ein Scherz sein, sagt sie – sie hat ein bisschen in unserem Stammbaum nachgeforscht.«

»Aber wie hat sie ihn –«

»Ich habe wirklich keine Ahnung«, sagte Violet. »Ich weigere mich mittlerweile, weiter darüber nachzudenken. Jetzt ist er nun mal da, und daran ist nichts zu ändern.«

Typisch Wendy. Ihre Älteste stand bei jedem Familiendrama genau im Epizentrum.

»Aber es ist …«, sagte Violet und nagte an der Innenseite ihrer Wange. »Es ist alles noch komplizierter.«

»Das darf nicht wahr sein«, stöhnte sie leise, und David griff nach ihrer Hand.

»Die Pflegeeltern ziehen nach Ecuador um«, sagte Violet, und Marilyn war schon wieder nach Lachen zumute. Absurder ging es wirklich nicht. »Normalerweise müsste er wieder zurück ins Heim – dort hat er damals seine Pflegemutter Hanna kennengelernt, sie hilft dort ehrenamtlich aus –, aber Hanna hat gesagt, dass es gut für ihn wäre, wenn er in einer anderen Umgebung aufwachsen würde …« An dieser Stelle brach ihre Tochter in Tränen aus, endlich zeigte sie Gefühle, die der Situation angemessen waren, und Marilyn merkte, dass auch ihr die Augen feucht wurden. »Er ist durchs Netz gefallen. Er war in einigen Pflegefamilien, es ist alles ganz gut gelaufen, nehme ich an, aber es war eben immer nur für kurze Zeit, und dann ist er – er ist wirklich ein netter, intelligenter Kerl. Und laut Hanna hat er – einfach gigantische Fortschritte gemacht, seit er bei ihnen lebt. Die Chancen stehen gut, dass es so weitergeht, wenn er jetzt wieder in einen stabilen Familienkontext kommt. Das Problem ist nur – Matt und ich glauben nicht – unsere Jungen, sie sind beide noch so klein, und wir wollen nicht – sie würden in ihrer Entwicklung gestört, wenn unsere Familienstruktur sich derart dramatisch verändert.«

»Das kannst du glauben«, sagte ihr Mann.

Violet errötete. »Deshalb habe ich gedacht –«

»Selbstverständlich nehmen wir ihn auf«, brach es aus Marilyn heraus, und sie ignorierte Davids protestierende Blicke, konzentrierte sich ganz auf ihre Tochter und setzte ihre entschlossene Ich-bin-hier-die-Mutter-Miene auf. Für David war das gewiss eine Horrorvorstellung: In seinen Augen trug er die Hauptlast, wenn jetzt ein Teenager bei ihnen einzog, wo er sich doch endlich von den Sorgen um Patienten und den Nachwuchs befreit hatte. Aber natürlich würde sie es sein, die sich um elementare Dinge wie Kleidung und Hausaufgaben kümmerte und dafür sorgte, dass der Junge nichts vergaß. Sie würde nachts wachliegen und sich über seine Klassenarbeit in Chemie Sorgen machen und über seine College-Aussichten. Ihr würde auffallen, dass er aus seinem Parka herausgewachsen war, und sie würde ihn zum nächsten Einkaufszentrum schleppen und einen neuen kaufen, dessen Ärmel lang genug waren. David würde sich durch seine Anwesenheit nur gestört fühlen – seine Schulsachen, die auf dem Küchentisch herumflogen; seine Schuhe, die auf dem Weg in den Vorraum eine Dreckspur hinterließen, obwohl der Vorraum dafür da war; seine jugendliche Unbekümmertheit, die dafür sorgte, dass das Bad stundenlang belegt war. Aber er würde niemals wirklich mitbekommen, was es hieß, einen männlichen Teenager großzuziehen, wie er das auch bei den weiblichen schon nicht mitbekommen hatte.

»Ganz klar, selbstverständlich«, ließ er jetzt neben ihr verlauten, und die Realität präsentierte sich sofort und übergangslos anders, denn natürlich hatte er ihre gemeinsamen Töchter mit großgezogen, natürlich war er der Grund, dass Wendy überhaupt noch mit ihnen sprach und Violet ihre Kinder zu tierfreundlichen Menschen erzog, dass Liz erfolgreich ihren Doktor gemacht hatte und Gracie alles stehen und liegen ließ, um einem älteren Mitbürger mit seinen schweren Einkaufstaschen zu helfen. Sie drückte seine Hand, und er drückte ihre, wenn auch inniger, und sie waren sich einig, sie würden noch einmal Eltern spielen, und zwar in der unerfreulichsten Phase der Erziehung – kein niedliches Baby, dann süßes Kleinkind, sondern gleich rein in die zähe Teenager-Misere. Natürlich würden David und sie das übernehmen, und natürlich gemeinsam, so wie immer, auch wenn sie sich letztendlich um alles kümmern musste.

Violet blickte betreten. »Mein Gott, ihr Lieben, ich – das ist wirklich nett von euch, aber ich …«

»Wir haben Platz«, sagte David, gleich mit praktischen Argumenten zur Hand. »Und wir sind – ich habe ziemlich viel Freizeit, Viol, ich habe nur dies und das zu tun, weißt du.« Ihr brach fast das Herz bei der Formulierung, dies und das. »Wir können uns auf jeden Fall um ihn kümmern, was auch immer er …«

»Wendy nimmt ihn zu sich«, sagte Violet.

David lockerte kurz seinen Griff, dann packte er wieder fester zu. »Was willst du damit sagen, Wendy nimmt ihn …«

»Wieso zieht er denn bei Wendy ein«, unterbrach sie ihn, und das Herz klopfte ihr buchstäblich bis zum Hals.

»Sie hat Platz«, sagte Violet, »und – na ja – auch Zeit.«

»Dad arbeitet nicht mehr«, sagte sie grob und scherte sich für einen Moment nicht um das Selbstwertgefühl ihres Gatten. »Als ich heute nach Hause kam, hat er gerade die Bilderrahmen abgestaubt.«

»Das stimmt nicht«, sagte David. »Ich habe den Putz hinter dem Bild von –«

»Wir haben beides, Platz und Zeit. Und vor allem viel mehr Erfahrung als Wendy.«

»Mach mal langsam, Kleine«, flüsterte David Marylin zu. Sie entzog ihm ihre Hand.

»Wendy ist also deine erste Wahl?«, sagte sie. »Noch vor – das darf nicht wahr sein, Violet – ich bin mit euch zu Hause geblieben, bis Grace in den Kindergarten kam – meinst du nicht, dass wir …«

»Reine Rücksicht«, sagte Violet, tief errötend. »Ich dachte, ihr hättet mit all dem abgeschlossen. Wolltet euch entspannen. Genießen …«

»Ich arbeite Vollzeit, nur damit du’s weißt«, sagte sie und widersprach sich damit selbst. Hatte sie als Mutter eigentlich immer schon dermaßen auf ganzer Linie versagt? Konnte es sein, dass diese angebliche innere Verbindung zu ihren Töchtern nichts als Einbildung war? Dass diese strahlenden, unabhängigen jungen Frauen in Wahrheit keine Ahnung hatten, wer sie eigentlich war, und sie als eine Frau wahrnahmen, die ihr Leben lebte und der die Sorgen ihrer Töchter schnuppe waren?

»Ich dachte, es wäre vielleicht ganz schön für ihn, ein bisschen in der Stadt zu leben«, sagte Violet.

»Na ja, River North ist wirklich nicht gerade Stadt, oder?«, sagte David, und sie hätte ihn dafür küssen können. »Ganz normal in der Stadt leben ist für mich wirklich was anderes, als von Wendys Fahrer von einem eleganten Stadtviertel zu einem der wohlhabendsten Vororte kutschiert zu werden, die …«

»Dad meint, sollte er nicht besser irgendwo wohnen, wo er zu Fuß zur Schule gehen kann? Mit Leuten, die schon – Leute, die wissen wie – du weißt schon, die begreifen, dass –«

»Sie hat es angeboten«, sagte Violet hilflos, und Marilyn verspürte eine Welle von Mitgefühl für ihre Tochter. Auch sie war schon bei Wendy eingeknickt, hatte nicht standgehalten, wenn ihre Älteste auf ihre ganz besondere Art die Augenbrauen hoch- oder die Mundwinkel runterzog. »Sie ist wirklich, Mom – es ist unübersehbar, dass Wendy sich mit dem Leben schwertut, seit … Ich glaube, wenn sie mit jemandem zusammenleben würde, dann könnte sie die Welt wieder mit anderen Augen sehen.« Violet verkniff die Lippen zu einem entschlossenen Strich, genau wie David manchmal. »Ich glaube, wir sind uns alle darin einig, dass Kinder unsere Sicht aufs Leben verändern.«

Ein kleiner Trumpf, diese hübsche Binsenweisheit, so von Mutter zu Mutter gesprochen – und ausgerechnet von der Tochter, die ihr als Teenager in den Ohren gelegen hatte, dass ihre soziale Entwicklung behindert werde, weil sie keine Gap-Jeans besaß, ihre Tochter, die sie einst als Baby in einem Tuch vor der Brust getragen hatte, während sie Wendy, die gerade das Laufen lernte, an der Hand hielt.

David schaltete sich ein, bevor Marilyn auffahren konnte. »Das tun sie wirklich«, sagte er. Seine Hand lag auf ihrem Schenkel. »Und du glaubst, dass das für ihn im Augenblick das Beste ist?« David: offen, gutgläubig und respektvoll. Sie hätte ihn erwürgen können.

»Ich habe, ehrlich gesagt, keine Ahnung. Aber sie ist dazu bereit, und für ihn ist das eine schwierige Situation, für mich ist das eine schwierige Situation. Also wenn sie meint, sie kann das, dann möchte ich ihr diese Chance –«

»Warum entspannen wir uns nicht alle?«, sagte David und stellte die Frage, die eigentlich ihr sofort hätte einfallen müssen und die von ihrer Empörung immer weiter in den Hintergrund gedrängt worden war. »Erzähl uns doch mal, wie er aussieht.«

Sie hatte sich nicht einmal nach seiner Augenfarbe erkundigt.

Einer ihrer unzähligen Patzer als Mutter. Sie wünschte mit jedem Jahr, sie könnte noch mal bei null anfangen.

»Wir haben sie im Stich gelassen«, sagte Marilyn. Violet war gegangen, und sie und David saßen auf der Treppe hinterm Haus, teilten sich eine Flasche Wein und schauten in den Sonnenuntergang, während Loomis sich von einem Eichhörnchen in einem Baum necken ließ.

»Das stimmt nicht.«

»Über alles Mögliche haben wir uns Sorgen gemacht, und das ist uns nicht einmal – ich fass es nicht.«

Er legte ihr einen Arm um die Schultern, obwohl er nicht den Eindruck hatte, sie gerade besonders gut trösten zu können. Bruchstückhaft erinnerte er sich an ein Gespräch mit Wendy auf Violets Hochzeit. Vor einem Jahrzehnt hatte seine Tochter etwas völlig Absurdes erwähnt, was er damals natürlich nicht ernst genommen hatte. Weil Wendy immer irgendwas Neues einfiel. Weil sie damals betrunken gewesen war und in Trauer und schon den ganzen Tag über nichts ausgelassen hatte, um sich auf der Hochzeit ihrer Schwester in Szene zu setzen. Weil er von dem eisernen Bündnis zwischen seinen beiden ältesten Töchtern – im selben Kalenderjahr geboren, fast Zwillinge – nur begriffen hatte, dass es zu gleichen Teilen aus Liebe und Neid geschmiedet war und ihr Verhalten einander gegenüber schwer einschätzbar machte. Eines der typischen Geheimnisse des Frauseins und damit für ihn naturgemäß unverständlich.

»Ich verstehe das einfach nicht«, sagte sie. »Wie konnte sie – ich meine, wirklich, warum hat sie nicht …«

Ausnahmsweise wusste seine Frau auch mal nicht weiter, und er stand mit seiner Ahnungslosigkeit nicht allein da, angenehm, fand er.

»Das Wichtigste ist doch, dass er gesund und wohlauf ist, finde ich«, sagte er. »Trotz – na, du weißt schon. Und Violet, die wird schon klarkommen, oder? Sie hat doch immer ihren Weg gefunden.«

»Vielleicht ist genau das ein Teil des Problems«, sagte sie. »Resilienz ist nicht immer positiv.«

»Na, ich glaube nicht –«

»Wir haben einen Enkel, den wir noch nie zu Gesicht bekommen haben!«

Loomis kam herangetrottet, als wollte er sie daran erinnern, dass sie aber einen Hund hatten, den sie tagtäglich sahen. Marilyn kraulte ihn hinter den Ohren, David an den Flanken.

»Findest du nicht, dass wir das hätten wissen müssen?«, sagte sie. »Wir sind ihre Eltern, hätten wir nicht was ahnen müssen?«

»Wir haben unsere Pflicht getan«, sagte er sanft. »Wir haben unser Leben gelebt, unsere Arbeit getan und vier Kinder großgezogen.«

Sie schwieg eine Weile. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass wir ihnen vielleicht nicht genug Aufmerksamkeit geschenkt haben?« Ihre Schultern unter seinem Arm waren alles andere als entspannt. »Uns mehr auf uns beide konzentriert haben?«

»Nein«, sagte er.

»Und was sollen wir jetzt machen?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Einfach weitermachen, nehme ich an.«

Sie lächelte verzagt. »Du und dein bäuerlicher Sturkopf.«

»Den haben die Mädchen auch.«

»Tja.« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Genau das ist meine Befürchtung.«

Über Claire Lombardo / Sylvia Spatz

Claire Lombardo, 1989 geboren in Oak Park, Illinois, war Sozialarbeiterin und PR-Agentin für ein kleines Unternehmen, das Holzblasinstrumente herstellt. Sie hat in Zeitschriften veröffentlicht und wurde mehrfach ausgezeichnet. Heute lebt sie in Philadelphia. ›Der größte Spaß, den wir je hatten‹ ist ihr erster Roman.

Sylvia Spatz arbeitet als freie Lektorin und Übersetzerin aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Sie lebt mit ihrer Familie in München und in der Nähe von Parma.

Der Nachwuchs

15. April 2000

Sechzehn Jahre zuvor

Andere Menschen wurden ihr schnell zu viel. Vielleicht seltsam für eine Frau, die zwar widerstrebend, aber sehenden Auges das Universum um vier Geschöpfe bereichert hatte, aber so war es: Insgeheim war es Marilyn lästig, dass all diese Körper um sie waren, sie bereute deren unvertraute, unbeherrschbare Präsenz. Von ihrem Rückzugsort unter dem Ginkgo, wo sie sich vor ihren Gästen versteckte, waren sie ihr mittlerweile richtig lästig. Sie war eigentlich immer eine gute Gastgeberin gewesen, aber es laugte sie auch jedes Mal vollkommen aus; hinter ihr lagen Jahrzehnte in Gesellschaft erst von vermögenden Kunden ihres Vaters, dann von humorlosen Kollegen ihres Mannes, von den lebhaften Freunden ihrer Kinder, wechselnden Nachbarn und Kunden, die ständig neue Bedürfnisse hatten. Und trotzdem heute wieder das gleiche Spiel: um die hundert Körper in Bewegung, Menschen, die sie kaum kannte und die sich festlich gekleidet in ihrem Garten tummelten; leicht angeheitert feierten sie die Hochzeit ihrer ältesten Tochter Wendy. Und wieder war es ihre Aufgabe, sich um diese Leute zu kümmern, dabei hatte sie eigentlich genug um die Ohren (sie war nicht einmal dazu gekommen, eines der Häppchen aus marktfrischen Zutaten von einem der drei überlangen Kartentische zu greifen), vier Mädchen nämlich, die sie in die Welt gesetzt hatte und für die sie als Mutter verantwortlich war; wie Farbtupfer waren die vier in ihren pastellfarbenen Sommerkleidern über den Rasen verteilt. Früchte ihres Schoßes, gezeugt mit ihrem liebevollen Ehemann, der im Augenblick wie vom Erdboden verschluckt war. Sie war Mutter geworden, ohne es geplant zu haben, und hatte eine Serie von Töchtern mit unterschiedlich getöntem Haar und unterschiedlich getöntem Unbehagen hervorgebracht. Sie, Marilyn Sorenson, geborene Connolly – ein unverwüstliches Produkt aus Geld und Drama, von dubioser irisch-katholischer Abstammung, aber mittlerweile universell einsetzbar: Ihr eigenes Haar hatte immer noch ein bewundernswert natürliches Blond; sie konnte einigermaßen kompetent über Literaturkritik und das Leben ihrer Kinder plaudern, und heute steckte sie in einem maßgefertigten moosgrünen Etuikleid, das ihre trainierten Waden und die sommersprossigen Schultern freigab. Für die Leute, und sie machten alle ein großes Aufhebens darum, war sie die Mutter der Braut; sie wiederum gab sich alle Mühe, der Rolle zu genügen und nicht durchscheinen zu lassen, dass ihr einzig das Wohlergehen ihrer Töchter am Herzen lag. Auch wenn es an diesem Abend anscheinend außer der Braut keiner von ihnen besonders gut ging.

Vielleicht übersprang ja alles, was Normalität ausmachte, immer eine Generation. Violet, ihre Zweitgeborene, auffallend hübsch, brünett und in einem Kleid aus Seidenchiffon, hatte ganz gegen ihre Art seit dem Frühstück eine Fahne. Wendy, eigentlich immer ein Sorgenkind, schien es heute ausnahmsweise mal besser zu gehen, entweder weil sie soeben einen Mann mit einem Bankkonto auf den Cayman Islands geheiratet hatte oder weil er, in ihren eigenen Worten, »die Liebe ihres Lebens« war. Und dann waren da noch Grace und Liza, neun Jahre auseinander, aber gleichermaßen verhaltensauffällig, Erstere eine schüchterne, für ihr Alter zu kleine Drittklässlerin und Letztere bislang ohne Freunde und in Kürze in ihrem ersten Highschool-Jahr. Wie kam es, dass man Menschen in seinem eigenen Körper austrug, sie aus vorhandenem Gewebe hervorbrachte und dann plötzlich nicht mehr wiedererkannte?

Normalität: konnte gut einen zweiten Blick vertragen, rein soziologisch gesehen.

Gracie hatte sie unter dem Ginkgo entdeckt. Ihre Jüngste war fast sieben, ein unerträgliches Alter, und noch Lichtjahre von jenem Tag entfernt, an dem sie das Elternhaus verlassen würde; dabei war sie immer noch kindlich genug, um, wie in der vergangenen Nacht, ins elterliche Bett zu schlüpfen, eigentlich nicht schlimm, wären sie und David halbwegs bekleidet gewesen. Wann immer Marilyn ängstlich war, wie auch letzte Nacht, suchte sie instinktiv Schutz bei ihrem Mann.

»Süße, warum spielst du nicht …« Sie zögerte. Die einzigen anderen Kinder auf der Hochzeit waren noch klein, und sie wollte Grace, die wenig mit anderen Kindern anfing, nicht in ihrer ohnehin blühenden Liebe zu Hunden bestätigen, indem sie vorschlug, doch mit Goethe zu spielen. Aber sie brauchte die Verschnaufpause, nur ein paar Sekunden allein in der lauen Luft des Frühsommers. »Schau mal, wo Daddy steckt, Liebes.«

»Aber ich finde ihn nicht«, sagte Grace und klang jetzt selbst wie ein Kleinkind.

»Dann such ein bisschen besser.« Sie neigte sich nach unten und küsste ihre Tochter aufs Haar. »Ich brauch einen Moment für mich, Gracie.«

Grace trollte sich. Bei Wendy war sie schon gewesen. Sie hatte auch schon mit Liza auf der Terrassenschaukel gesessen, bis so ein Typ, Turnschuhe zum Anzug, die Aufmerksamkeit ihrer Schwester für sich beanspruchte; sie hatte Violet dazu überredet, ihr was von ihrem Champagner abzugeben. Sie hatte alle in ihrer Familie durch.

Es fühlte sich komisch an, ihre Eltern mit anderen Leuten teilen zu müssen und dafür ihre Schwestern wieder hier im Haus in der Fair Oaks zu haben. Ihr Vater nannte sie manchmal »das einzige Einzelkind auf der Welt mit drei Schwestern«. Es missfiel ihr, dass ihre Schwestern in ihren Hoheitsbereich eindrangen, und wie so oft tröstete sie sich mit der Gesellschaft von Goethe, kuschelte sich mit ihm unter die Büsche mit den gelben Blüten und fuhr mit der Hand durch sein Borstenfell, und zwar am Hintern, wo es gelockt war wie von einer Dauerwelle.

Liza hatte einen Anflug von schlechtem Gewissen, als sie bemerkte, dass ihre jüngere Schwester beim Familienhund Trost suchte; sie selbst bevorzugte gerade die Zunge eines Fremden. Der Trauzeuge verströmte ein muffiges Aroma von Whiskey und Rucola, und außerdem fingerte er an der Innenseite ihres Schenkels herum, worauf sie ihren Blick abwandte und beschloss, Grace müsse ohnehin lernen, sich um sich selbst zu kümmern, besser, sie lernte das von klein auf.

»Erzähl mir von dir«, sagte der Trauzeuge und fuhr mit seinen Knöcheln über die Spitze ihres Strings, den sie in eben der Hoffnung auf eine solche Begegnung übergestreift hatte.

»Was willst du wissen?«, fragte sie, es klang leicht feindselig, Flirten war nicht ihre Stärke.

»Ihr seid zu viert?«, fragte er. »Wie ist das so?«

»Eine gigantische hormonale Hölle. Ein Marathon aus Krisen und Haarkuren.«

Er lächelte verwirrt, und sie beugte sich kühn zu ihm und küsste ihn.

Violet, ein Häufchen Elend, saß allein und betrunken wie noch nie an einem der Tische, von dem sie die anderen Gäste vertrieben hatte, zumindest vermutete sie das. Von der vergangenen Nacht blitzten Erinnerungen wie zu grelle Sonnenstrahlen: diese Bar, eine ehemalige Bowlinghalle; ihr Begleiter mit blauen Augen und überaus gelenkigen Ellbogen; die athletische Kraft seiner Schenkel; der Rücksitz des Kombis, der seiner Mutter gehörte; ihre Bitte, sie nicht direkt vor dem Elternhaus abzusetzen, falls Wendy noch wach sein sollte; wie sie die Laute aus ihrer Kehle anfangs nicht einmal als die eigenen erkannt hatte, hier stöhnte ein Pornostar, das waren Urlaute. Er war zuerst gekommen – bald darauf, als sie wieder auf die Vordersitze krabbelten, fühlte sie, wie alles aus ihr herauslief –, und dann sorgte er mit Detailkenntnis und Fingerfertigkeit auch bei ihr für einen Orgasmus, den ersten in ihrem Leben.

Jetzt schaute sie Wendy zu, die in ihrem Gucci-Kleid mit dem herzförmigen Dekolleté auf einer Gartenhochzeit einen Akademiker aus dem Geldadel geheiratet hatte; gerade wurde sie von ihrem Angetrauten zu den Klängen von Can’t Hurry Love im Kreis gewirbelt. Zum ersten Mal hatte ihre Schwester sie, was Erfolg anging, überholt. Wendy war fröhlich, schön und drehte sich im Kreis, während Violet schon beim Zuschauen übel wurde. Sie kaute an einem großen Stück Focaccia und wischte sich die fettigen Finger an der Unterseite ihres Rocks ab. Aber Wendy entlockte ihr doch unwillkürlich ein leichtes Lächeln, sie scherte sich nicht darum, dass ihre Satinschleppe gerade Grasflecken bekam. Sie stellte sich vor, wie sie zu ihrer Schwester ging und ihr ins Ohr flüsterte: Du würdest auf der Stelle tot umfallen, wenn du wüsstest, mit wem ich letzte Nacht unterwegs war.

Wendy sah zu, wie Miles von der kleinen Cousine, die die Eheringe hatte tragen dürfen, weggezogen wurde, weil er sie zum Kuchentisch begleiten sollte, worauf er Wendy über die Schulter einen entschuldigenden Blick zuwarf.

»Ein gutes Training für spätere Väter«, sagte jemand und nahm sie am Ellbogen. Sie gehörte zu Miles’ Gästen, wahrscheinlich die Immobilienmaklerin von irgendwem, eine Silikon-Zwergin. Die Leute, die sich da auf dem Rasen tummelten, hatten alle Geld wie Heu. »Schön, dass du noch so jung bist, da hast du viel Zeit, um für Familiennachwuchs zu sorgen.«

Starker Tobak, und zwar aus verschiedenen Gründen, und so gab Wendy schlagfertig zurück: »Wer sagt denn, dass ich meinen Anteil des Erbes mal mit ein paar Kindern teilen will?«

Die Frau sah sie entsetzt an, Wendy und Miles genossen Witze dieser Art, es war ihnen egal, wenn Wendy in den Augen der anderen nur hinterm Geld her war. Sie liebte Miles Eisenberg, wie sie nie jemanden zuvor geliebt hatte, und allein diese Wahrheit zählte für sie beide, und er liebte sie ebenfalls, was einem kosmischen Wunder glich.

»Ich habe geplant, länger zu leben als alle anderen in der Familie und mich für den Rest meiner Tage im Reichtum zu suhlen«, sagte sie. Und damit stand sie auf und ging zu ihrem Mann, um ihm die Krawatte zurechtzurücken.

Die Bäume, bemerkte David, standen an diesem Tag in voller Pracht, ihre großen wunderbaren Blätter warfen tänzelnde Schatten auf den Rasen. Einen Monat lang hatten sie den Hund davon abhalten müssen, ihn zu betreten, waren jeden Morgen aufgestanden und noch im Schlafanzug in ihre Regenmäntel geschlüpft, um ihn auszuführen, anstatt einfach nur wie sonst die Tür zum Garten zu öffnen. David sah entgeistert, wie die gemieteten Tische und Stühle tiefe Furchen im makellosen Grün hinterließen, dass ihre Beine tiefe Löcher in die gedüngten Grassoden gruben. Goethe streifte durch den Garten wie aus der Haft entlassen und inspizierte das Grün mit dem Besitzerstolz eines Gärtners. David atmete die feuchte Luft tief ein – roch es nach Regen? Vielleicht würden sich die Gäste dann früher verabschieden – er wunderte sich über die schiere Anzahl an Leuten, die man in einem Leben ansammelt, und über die vielen Gesichter, die ihm nichts sagten. Er dachte an Wendy als Kleinkind, damals in Iowa, wie sie sich zu ihnen auf die Veranda gestohlen hatte, wo er und Marilyn zusammen auf der klapprigen Hollywoodschaukel aus Zedernholz saßen, wie sie sich zwischen sie klemmte und schläfrig murmelte: Ihr seid meine Freunde. Die Erinnerung daran überwältigte ihn, als er jetzt so dastand und sich genauso fehl am Platz fühlte wie fünfundzwanzig Jahre zuvor, noch vor der Hochzeit, als Marilyn an einem kalten Dezemberabend unter dem Ginkgo an seiner Brust gelegen hatte. Er ließ seinen Blick über ein Meer von frühlingshaften Pastelltönen schweifen, bis er endlich seine Frau fand, ein kleiner moosgrüner Anker: Er drückte sich am Zaun entlang, bis er bei ihr war, und legte ihr sehnsüchtig eine Hand auf den Rücken. Instinktiv lehnte sie sich dagegen.

»Komm mit«, sagte er und führte sie um den Ginkgo, dorthin, wo es schattig war, dann zog er sie an sich und vergrub sein Gesicht in ihrem Haar.

»Liebling, was ist los?«, fragte sie besorgt.

Er presste sein Gesicht in ihre Halsbeuge und atmete die trockene Wärme ihres leichten Dufts ein, Veilchen und Irischer Frühling. »Ich habe dich vermisst«, sagte er, die Lippen an ihrem Schlüsselbein.

»Oh, Liebster.« Sie umarmte ihn inniger und hob das Gesicht, bis ihre Blicke sich trafen. Er küsste sie auf den Mund, die Wange, die Stirn und die Stelle hinterm Ohr, wo er ihren Puls fühlen konnte, und dann wieder auf den Mund. Sie lächelte. Ihm würde das immer mehr bedeuten als alles sonst: die goldene Wärme seiner Frau, die geteilte leidenschaftliche Verzweiflung, zwei Körper, die auf die einzige Art, die sie kannten, Trost suchten, in der Sprache ihrer Lippen, seine Hände über ihren Rücken wandernd, die Ruhe, die eintrat, wenn sie einander gefunden hatten. Dann löste sich Marylin von ihm und sagte: »Die Mädchen dürfen uns nicht so sehen.«.

Aber natürlich hatten die Mädchen alles gesehen. Die vier hatten ihre Eltern aus unterschiedlichen Richtungen über den Rasen hinweg beobachtet. Jede von ihnen war von ihrer Abwesenheit aufgeschreckt worden, ein übrig gebliebener Reflex aus der Kindheit, und sie wollten sich vergewissern, wo die zwei steckten, die sie in die Welt gesetzt hatten; sie wollten sie in der Nähe wissen. Jede von ihnen unterbrach, was sie gerade tat, um zu beobachten, wie ihre Eltern auf ihrem eigenen unergründlichen Planeten weilten, zwei Menschen, die mehr Liebe verströmten, als das Universum es möglicherweise zuließ.

Erster Teil

Frühling