Über das Buch

Christine ist sechzehn Jahre alt, hat eine schwarze Mutter und einen jüdischen weißen Vater und wächst auf in Philadelphia, verspottet als »Oreo« (wie der Keks) – eine doppelte Außenseiterin. Der Vater hat sich früh aus dem Staub gemacht und ihr ein Geheimnis hinterlassen, für dessen Lösung sie ihn finden muss. Auf nach New York!

Unterwegs trifft sie unglaubliche Leute: einen schwulen »Reisehenker«, der anonym Manager feuert, einen Radio-Macher, der nicht spricht, einen grotesk tumben Zuhälter und endlich auch ihren Vater. Nicht jeder ist ihr wohlgesinnt. Aber Oreo überlebt alle und alles dank ihres selbsterdachten Kampfsports WITZ, getreu ihrem Motto: »Niemand reizt mich ungestraft.«

 

 

 

 

Zur Erinnerung an meinen Vater Gerald Ross
und an meine Großtante Izetta Bass Grayson (Auntie)

 

 

 

 

Oreo, Definition: Jemand, der/die außen schwarz und innen weiß ist.

 

Oreo, ce n’est pas moi. F.D.R.

 

Eine stimmige Geschichte. Flaubert

 

Rülps!* Wittgenstein

 

Motti haben nie mit dem jeweiligen Buch zu tun.

* Alles, was dieser tiefsinnige Denker je gesagt hat, verdient wiederholt zu werden. D. Hrsg.

Teil eins: Troizen

1
Mischpoke

Die schlechte Nachricht zuerst

Als Frieda Schwartz von ihrem Schmuel erfuhr, dass er (a) ein schwarzes Mädchen heiraten werde, hatte sie spontan ein chiaroscuro aus dem weißen Satin einer chuppa und der Hautfarbe einer schwartze vor dem inneren Auge, und das Blut rauschte und stockte ihr in sämtlichen Kanälen; als er ihr mitteilte, er werde (b) die Schule abbrechen und mithin nie und nimmer amtlich zugelassener Buchprüfer werden – rebojne-shelojlem! –, stieß sie ein geschrei sondergleichen aus und erlag einem rassistischen/mein-Sohn-ein-Gammler-Herzinfarkt.

Die schlechten Nachrichten (Forts.)

Als James Clark aus dem süßen Mund von Helen (Honeychile) Clark erfuhr, dass sie einen Judenjungen heiraten und demnächst Helen (Honeychile) Schwartz heißen werde, brachte er eben noch ein gekrächztes »Goldberg!« hervor, bevor er auf der Stelle, nämlich in seinem Stuhl mit der geraden Rückenlehne, zu einem steifen halben Hakenkreuz:

versteinerte, abzüglich Kopf, Händen und Füßen natürlich.

Haupt- und Nebenfiguren in Teil eins, nach Geburtsdaten sortiert

Jacob Schwartz, Großvater väterlicherseits der Heldin

Frieda Schwartz, seine Frau (im ersten Absatz verstorben, aber auf ihre stille Art weiterhin macht- und kraftvoll präsent)

James Clark, Großvater mütterlicherseits der Heldin (im zweiten Absatz stillgelegt)

Louise Butler Clark, Großmutter mütterlicherseits der Heldin (zwei Wochen jünger als ihr Mann)

Samuel Schwartz, Vater der Heldin

Helen Clark Schwartz, Mutter der Heldin

Christine (Oreo), die Heldin

Moische (Jimmie C.), Bruder der Heldin

Betr. einige Figuren; ein, zwei Aperçus

Jacob: Baut Kisten aller Art (»Jake the Box Man – Ein Boxele für jedes tschotschkele«). Wie er zu sagen pflegt: »Man kann davon leben. Ich mutsch mich so durch.« Übersetzung: »Ich bin, kejn ajnore, ein sehr reicher Mann.«

James und Louise: Beim DNA-Knobeln fällt mit dem Würfel auch die Entscheidung über die Hautfarbe. Im Fall von James kam dabei fast exakt die Farbe der Augen raus (in der Tabelle auf der nächsten Seite ist er eine 10), bei seiner Frau die Farbe des Würfels. Louise ist hell, sehr hell, ein Albino manqué (nicht mehr auf der Skala, –1). James ist ein gewiefter Kaufmann, Louise eine der größten Köchinnen unserer Zeit.

Samuel Schwartz: einfach ein hübsches Gesicht.

Helen Clark: Sängerin, Pianistin, Mimikerin, Mathefreak (eine 4 auf der Farbskala).

Farbklassen von Schwarzen

weiß

hellgelb

gelb

hellhäutig

1

2

3

4

hellbraun

braun

dunkelbraun

5

6

7

dunkelhäutig

sehr dunkelhäutig

schwarz

8

9

10

ANMERKUNG: »Sehr schwarz« gibt es nicht. Diese Formulierung benutzen nur Weiße. Für Schwarze ist »schwarz« schwarz genug (und in den meisten Fällen zu schwarz, denn Schwarze sind mehrheitlich nicht annähernd so schwarz wie Ihr schwarzes Portemonnaie). Wenn ein Schwarzer sagt: »John ist sehr schwarz«, meint er nicht die Hautfarbe, sondern die politische Einstellung.

Ein Wort zum Wetter

Wetter an sich kommt in diesem Buch nicht vor. An einigen Stellen tauchen flüchtige wettermäßige Hinweise auf. Ansonsten denken Sie einfach an eine Ihnen sympathische Jahreszeit. Sommer ist die sinnvollste für ein Buch dieser Länge. Auf die Weise muss auch niemand die Seiten auf die Beschreibung von Leuten verplempern, die sich den Mantel aus- und anziehen.

Die Lebensgeschichte von James und Louise bis zur Heirat von Helen und Samuel

1919 zogen Klein-James und Klein-Louise, beide fünf, mit ihren Eltern, den Clarks und den Butlers, die eng befreundet waren, aus einem Weiler am Rand eines Dorfs im County Prince Edward, Virginia, nach Philadelphia. James und Louise heirateten gleich mit achtzehn und bekamen noch im selben Jahr ihr erstes und einziges Kind, Helen.

Während des Zweiten Weltkriegs schuftete James als Schweißer auf der Sun-Werft in Chester, Pennsylvania. Drei Jahre lang hielt er jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit bei Feinkost Zipstein und kaufte eine Gurke für seine Lunchbox. Er verlangte eine saure. Zipstein gab ihm jedes Mal eine Salzgurke. Seit der Zeit hasste James Juden.

Nach dem Krieg hatte er genug Geld beisammen, um einen Versandhandel aufzuziehen. Er umwarb gezielt fast ausschließlich jüdische Kundschaft, die er dann unglaublich schröpfte. Dazu betrieb er rege Marktforschung: Er studierte Tora und Talmud, sammelte midraschim, zitierte Rabbi Akiba – Wurzel und Würze für die schmonzes, mit denen er die jüdischen Viertel überzog, in einem Orkan aus Reklamezetteln, scharf wie chrejn. Sein erster Artikel ging weg wie warme latkes. Es war ein Satz Tafeln für Wurfpfeile mit Porträts von (laut Werbetext) »allen Männern, die Sie am liebsten hassen, von Haman bis Hitler«. Kein Jude aus der philadelphischen Mittelschicht hätte sich im Kellergemeinschaftsraum blicken lassen können, wenn die Wurftafeln da nicht hingen.

Nach so viel Gründerglück zog James ein Verbundsystem mit anderen Versandfirmen auf. Er erweiterte sein Angebot um Quark-Blintzes für Schawuot, Taschentücher für Tischa Be’Aw (»Sie werden viele Tränen vergießen.«), dreidel für Chanukka, gragers und Hamantaschen für Purim, Becher für den Pessachwein, Honig für Rosch Haschana, Zweige für Sukkot (»Gestalten Sie die schönste Laubhütte Ihres Häuserblocks.«) und eine Schallplatte mit dem Kol Nidre für Jom Kippur (»gesungen von Tony Martin«). Neben jedem Artikel standen historisch-religiöse Erläuterungen für Kunden, die nicht wussten, was die Fest- und Feiertage zu bedeuten hatten. »Diesen apikorsim muss man alles beibringen«, erklärte er Louise. Sie erwiderte: »Sach nochma?« Als Dauerbrenner erwiesen sich die Malbücher zur Jüdischen Geschichte, unter anderem »die allseits beliebten Themen Königin Esther, Ruth und Noemi, Judas und die Makkabäer (mit Plastikhämmerchen 50 Cent Aufschlag), der Sanhedrin (das erste Oberste Gericht) sowie weitere Allzeitlieblinge des Auserwählten Volkes«. Endlich war James alle Geldsorgen los. Er konnte Helen aufs College schicken und Louise ihren Traum erfüllen: Er schenkte ihr einen kompletten Satz Tupperware (5.481 Teile).

Temple-Universität, Chorprobe

Der Chor sang den Choral Jesus bleibet meine Freude, und wie üblich stellte Helen beim Mitsingen im Kopf Gleichungen auf. Sie beruhten jeweils sowohl auf den musikalischen Gegebenheiten wie auf ihrer eigenen Befindlichkeit, diesmal:

 

3 x 108

BZH = m/sec

√ε/ε°

Erklärung:B = Bach
Z = Zeit
H = Harnsäuremenge in ml

Zugegeben, gemessen an den Kopfgleichungen bei Thema-Antwort-Kontrasubjekt-Fugen, die Helen am liebsten hatte, war der Choral simpel – durchaus elegant, aber nicht spannend genug, um sie von der Tatsache abzulenken, dass sie verschwitzt war und dringend pinkeln musste.

Samuel, der gerade durch den Probenraum kam und flüchtig in Helens Gesicht sah, meinte irrtümlich, darin einen kaum zu bändigenden Schmerz aus religiöser Inbrunst zu erkennen, und wurde seinerseits von dem Gefühl erfasst, das Mystiker oft ebenso irrtümlich als Ekstase-cum-Epiphanie interpretieren (vgl. Saulus auf dem Weg nach Damaskus oder Teresa von Avila, kaum guckt man mal nicht hin): Geilheit. Seine Buchhaltungsmappen gingen zu Boden.

Entscheidungen, Entscheidungen

Nach einiger wechselseitiger Seelen- und neschome-Erforschung beschlossen Helen und Samuel, zu heiraten und in seiner Heimatstadt New York zu leben. Samuel wollte Schauspieler werden. Darüber hinaus wollte er, da Helen matheversessen und offensichtlich hochbegabt war, ein Kind von ihr – genauer gesagt, sollte sie ihr(er beider) Kind bekommen. Helen hatte nichts dagegen. Eine Schwangerschaft, fand sie, verschaffte ihr Zeit für Klavierspielen und Kopfgleichungen, während Samuel an der Schauspielschule Mediatorisches Gehen und Reden studierte.

Die Geburt der Heldin

Ein Geheimnis lag über Christines Geburt wie eine Glückshaube. Dies ist ihre Geschichte – und sie wird es lüften. Den Namen Christine hatte ihr Helen verpasst, in einem Augenblick des Grolls nach einem Streit mit Samuel im Krankenhaus. Bevor die Tinte auf der Geburtsurkunde trocken war, hatten sie sich wieder versöhnt. Samuel war kein praktizierender Jude; dass seine Tochter nach Christus benannt wurde, war ihm völlig wurscht, trotzdem nahm er Helen im Scherz das Versprechen ab, den Namen des nächsten Kindes bestimmen zu dürfen.

Helen und Samuel

Im selben Jahr, etwas später, tätschelte Samuel Helens Schenkel und schäkerte: »Und jetzt probieren wir mal einen Messias.«

Helen und Samuel (Forts.)

Sie stritten ohn’ Unterlass. Schließlich sagte Samuel: »Wenn Christine alt genug ist, die Kritzel hier zu entziffern, schick sie zu mir, dann verrate ich ihr das Geheimnis ihrer Geburt.« Er gab Helen einen Zettel, gefolgt von einem Schwall farchadetene Anweisungen, auf die hier nicht näher eingegangen werden muss.

»Ich hoffe, ich sehe dich trotzdem hin und wieder«, sagte er.

»Wiedersehen, schmendrik«, sagte Helen.

Und Samuel ging in seine Schauspielschule, zur Arbeit an einer Szene, in der er Aigeus spielte.

Helen kehrt heim

Getrennt, aber noch nicht geschieden zog Helen zurück nach Philadelphia. Sie war wieder in Umständen. Zu gegebener Zeit kam ein Sohn zur Welt, und die Umstände waren weder mehr noch weniger ungewöhnlich als die im Zusammenhang mit Christines Ankunft. Samuel schickte Helen ein Telegramm mit einem einzigen Wort: »MOISCHE«. Er fand es witzig, einen schwarzen Jungen so zu nennen. Der Name Moische stand auch korrekt auf der Geburtsurkunde, aber alle nannten ihn Jimmie C., nach seinem Großvater mütterlicherseits und damit auch, ungewollt, seinem Großvater väterlicherseits (James = Jacob).

Kurzer Blick auf Jacob

Jacob wohnte in New York auf der Upper West Side. Als Erstes fielen einem seine oberen Schneidezähne auf, sie waren nicht korrekt mittig ausgerichtet. Zöge man eine Linie durch die Lücke zwischen den beiden Zähnen, verliefe auch die nicht exakt mittig durch das Septum, sondern durch den linken Nasenflügel. So entstand der Eindruck, dass entweder sein Gesicht verrutscht oder seine Prothese nicht richtig eingesetzt war. Aber es waren seine echten Zähne. Ein Gebiss hätte er sich besser anpassen lassen. Zeit seines Lebens machte alle Welt, sein Bruder eingeschlossen, ihn meschugge, weil alle Welt, sobald sie mit ihm redete, ständig den Kopf zur einen oder zur anderen Seite neigte. Wirklich alle, das heißt außer seiner Frieda, sie ruhe in Frieden, denn ihr Hals saß im schiefen Winkel auf der Schulter und folglich auch der Kopf. Als Frieda sechs Monate alt war, hatte ihr Onkel Yussel, der klotz, Hoppereiter mit ihr gespielt und danebengegriffen.

»Schon wieder eine jurzejt«, seufzte er. »Zwei Jahre sind jetzt vergangen, und ich kann mich noch immer nicht durchringen, ins Zimmer meiner Frieda zu gehen. Da sind alle ihre Pflanzen drin. Sie hat Pflanzen geliebt«, erklärte er Pinsky, dem Nachbarn aus Apartment 5-E, und rang die Hände. »Sie hat mit ihnen geredet, Pinsky, was soll man sagen, als säße sie beim schmuesen mit ihren Freundinnen.« Er musste immer weinen, wenn er an seine Frau und ihre Hingabe an ihr Grünzeug dachte.

Eine Stunde später kam Bessie, die Putzfrau, zum täglichen Einsatz. Sie wollte noch schnell die Pflanzen der toten Lady versorgen, bevor ihre Hühneraugen mit dem Getrommel anfangen würden (»Setz dich hin – bäm! – eh du – Doppelwomm! – hinfällst – bumm! Würd ich – bumm-bumm! – so mit dir umgehen? – womm-bumm-bäm?«). »Herr erbarm dich, die Lady hat aber ’n paar Pflanzen«, sagte sie, schnappte ihren Federwedel und öffnete die Tür zu einer der größten Plastikpflanzensammlungen in Amerika.

2
Würfel und Auge

Essen

Louise Clarks Südstaatenakzent war zäh wie Maisgrütze. Niemand im gesamten philadelphischen Zweig der Familie hatte einen derartigen Akzent. Ihre Mutter und ihr Vater hatten ihren abgelegt, sobald sie die Grenze nach Pennsylvania passiert hatten. Und ihr Mann hätte Radiosprecher werden können, wenn der WCAU damals, als er hergezogen war, Schwarze der Farbklasse 10 eingestellt hätte. Alle um sie herum klangen neutral ostküstig, also warum musste sie partout klingen wie ein Breimaul? Ein Grund: Sie hatte tatsächlich die meiste Zeit den Mund voll Brei oder sonstigen seltenen oder der Menschheit vertrauten Nahrungsmitteln.

Einmal hatte Louise ein Gericht nennen sollen, das sie nicht mochte. Sie hatte sich eine Denkpause erbeten. Die Pause ging inzwischen ins fünfzehnte Jahr. Währenddessen redete Louise über alles mögliche andere, lebte ihr Leben, registrierte aufmerksam, was vor sich ging, zumindest allem Anschein nach. Gleichzeitig war sie unablässig – man könnte sagen: nebenher auf Sparflamme simmernd – damit zugange, eine Antwort auf die Frage ins Bewusstsein hochzukochen, zu welcher Kategorie das Gericht zählte, das sie einst vor langer Zeit gekostet hatte, und zwar bei der Totenwache für den Cousin des Mannes von Ida Ledbetters zweitem Kind, nachdem die Mutter des Cousins des Mannes von Ida Ledbetters zweitem Kind kollabiert war, kaum dass sie den Kartoffelsalat aufgetragen hatte. Die war zu Gott heimgekehrt, ohne den Namen des Gerichts preiszugeben, das gar kein Gericht war, sondern eine Pfanne voll Oxydol. Wie das Waschpulver überhaupt in die Pfanne gekommen war, würde den Rahmen dieses Buches sprengen, jedenfalls war Louise am Herd vorbeigegangen, hatte in die Pfanne gelangt und probiert. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass bei dem, was immer das war, jemand einen Tick zu tief ins Salzfass gegriffen hatte. Nun war dies nicht ihre erste nahrungsmittelkritische Ansicht, wohl aber ihr erstes (und einziges) gewürzkritisches Verdikt, und Würzen ist eine bedeutende Subkategorie.

Mit völligem Unverständnis betrachtete Louise Suppenkasper, die herummäkelten, bei der und der Köchin sei die Spaghettisauce zu pikant, das Gemüse zu fad, die Süßkartoffeln zu faserig. Ihr war nichts Essbares je zu sauer, zu salzig, zu süß oder zu bitter, zu durch oder zu roh, zu heiß oder zu kalt. Was sich unter die allgemeine Klassifizierung »Essen« subsumieren ließ, war gegen Kritik gefeit und mit allen Insignien des Genusses versehen. Folglich verglich Louise auch alles, was sie sonst mochte, auf die eine oder andere Weise mit Essen. Ihr Kommentar in der Hochzeitsnacht, nachdem James seinen Einsatz geleistet hatte, lautet frei übersetzt: »Je dunkler die Beer’, desto süßer der Saft.«

Randbemerkung zu Louises Sprechweise

Hier und da werden Louises Dialogbeiträge in normalem Englisch wiedergegeben. Das spricht sie zwar nicht, aber ihrer Sprechweise gerecht zu werden, würde laufmaschenweise Fußnoten und Kommentare erfordern, außerdem krampfanfallweise Apostrophe (Aphäresen, Hyphäresen, Apokopen) sowie ein Louiseisch-Englisch-Wörterbuch mit phonetischer Umschrift. Ein Kompromiss musste her. Louise vollbringt wahre Komprimierungswunder allein durch Synkopen, und ein bisschen von ihrer Verdichtungskunst sollte der Leser fairerweise schon mitbekommen. Aber ein Apostroph anstelle jedes weggelassenen g, fehlenden r oder verschwundenen t würde zum wandernden tic douloureux geraten. Um den zu vermeiden, wurden manche Louiseischen Sätze so maskiert, dass sie kaum von englischen zu unterscheiden sind. In anderen Fällen stehen Aussprachehilfen und/oder abweichende Schreibweisen überall da in Klammern, wo es absolut notwendig ist, um die Würze des Louiseischen unversehrt zu erhalten, oder es werden, antithetisch, Übersetzungen für solche relikten englischen Wörter, Sätze oder Sprüche mitgeliefert, die Louises orale Heißmangel überleben.

Zurück zum Essen

Zum Glück für ihre Familie, von denen niemand Louises Universalgaumen hatte, war sie eine Köchin von ewigen Gnaden und Adeptin unzähliger ethnischer und internationaler cuisines. Ihr raffiniertes saucisson-en-croûte überlebte sogar ihre Versuche, den Namen auszusprechen, bevor es seinen gebührenden Platz auf der Tafel bekam, neben in Butter geschwenkten pommes de terre Savoyard, Louises stattlichem Maispudding, unerreichtem Beef-Curry und mitreißendem Hoppin’ John, ihrer auto-da-fé paella, dem opernhaften vitello tonnato und den seelenschweren Schweinemägen.

Zu Helens frühesten Erinnerungen gehört, wie sie bei Louise auf dem Schoß saß und genötigt wurde, »’bier ma diier, Tornado Bernice« (probier mal die hier, tournedos Béarnaise), ihr dabei über die Schulter sah und das erstaunlich weiße Gesicht ihrer Mutter mit dem von deren Vater verglich, dem absoluten Farbtyp 1, wenn es je einen solchen gab. Sein Porträt hing in einem ovalen Rahmen im Esszimmer. Helens Großvater war der Sprössling einer unternehmungslustigen Afrikanerin, die 1869 nach New York eingewandert war und die Finger bei zwei irgendwie schiefgelaufenen Eroberungsversuchen im Spiel gehabt hatte. Sie betrafen den Goldmarkt (der Schwarze Freitag ist nach ihr benannt) sowie einen Trompeter aus Richmond, der im Bürgerkrieg die Seiten gewechselt hatte und sich durch die Bronx improvisierte, bis er fand, er könnte jetzt gefahrlos zurück nach Virginia tröten. Ihre Großmutter war angeblich halb Cherokee, halb Französin – daher der Einfluss der französischen Küche. Das älteste von Generation zu Generation weitergereichte Familienrezept war ein Glücksgericht namens Kaninchen auf der Flucht suprême, zur Erinnerung an die Schlachten zwischen Franzosen und Indianern im Siebenjährigen Krieg. Das Letzte, was James Clark kurz vor seiner Stilllegung noch hörte, war der lahme Witz seiner Tochter: »Überleg doch mal, Papa, jetzt kann ich mich Hélène Sonne-sieht-Silberstreif Schwartz nennen.«

Mehr über Louise

Mit zweiunddreißig hatte Louise graue Haare von der ständigen Anstrengung, etwas zu verstehen, wenn Mann und Kind die albernen Dialoge führten, die sie manchmal führten. (»Du fardrejst mir so den kop mit dem Geklimper, Honeychile«, sagte der Vater. »Kwetsch, kwetsch«, flüsterte die Tochter.) Sie ließ sich ihre »guten« Haare rotbraun färben und genoss, wie wohltuend sie sich in Farbe und Struktur vom stumpfen schwarzen Gekrissel der Nachbarinnen unterschieden, während sie wartete, dass sie an die Reihe kam, und zusah, wie die Schönheitskünstlerinnen die Krausköpfe der anderen mit dem heißen Glätteisen traktierten. »Ich danke dir, Vater«, betete sie dann, »für die Grauhaare, wo du mir gegeb’m has’, und ers’ rech’ für dass an’re Leute wiss’n, wie ich die nich ha’m muss. ’ch würd ja blöd mit zwei ö aussehn, wenn ich mit Graukopf ’ier rumlaufe, bei mei’m Alter.«

Louise sprach nur in groben Zügen, das Wer, Was, Wo, Wann, Wie und Warum mussten die Angesprochenen jeweils selbst einfügen. Namen merkte sie sich nur selten (»Da gehn Miss Hießdienoch und ihre Tochter.«), oder sie nahm erst zwei-, dreimal Anlauf, bevor sie den tödlichen Sprung auf die Beute schaffte (»Juuhuu, Jenkins … ich meine Mabel … ach nee, George!«), oder griff zu ähnlich klingenden Ersatzwörtern (das »Kiel« in »Geh in’ Laden ’ne Flasche Kiel holn« stand für Pril). Auch im Umgang mit Zeit blieb sie vage. Stunden oder Minuten gab sie grundsätzlich nicht an. Immer nur »halb«, »vittelvó« oder »vittelná«. Entsprechend war alles zwischen 3 Uhr 1 und 3 Uhr 25 bei ihr schlicht »vittelná«. Woher sie die Südstaatensprüche hatte, die ihrer Sprache die Würze gaben, wusste niemand. Als Helen heranwuchs, sagte Louise oft, solange sie zwei Löcher in der Nase habe, wolle sie »verdammich« sein, wenn sie je begreifen würde, wie diese ihre Tochter derart »schlurich« (schluderig) sein könne, und dass ihre Haare aussähen »wie ’n Heuhauf’m« und ihr Zimmer »wie ’m Teufel sein Hühnerstall« und sie bloß »Stroh im Kopp« habe und sich manchmal benehme wie ein »Straßenköter« und ein »Heidenkind« sei, weil sie sich weigerte, in die Golgatha-Baptistenkirche zu gehen, und was ihr tägliches Treiben angehe, naja, man wisse ja, »Gott mach’ hässlich nich’«.

In ihren späteren, korpulenteren Jahren saß Louise gern auf der Vorderveranda im Schaukelstuhl oder dem schwingenden Sessel. Und saß und schaukelte und schwang und fällte ihre Urteile. Über eine vorbeigehende Frau in einem kreischbunten Blumenmusterkleid: »Nu kuck dir die an. Die da. Sieht aus wie Dolly Wahn [Varden]. Hat doch bestimmt ’n Braten inner Röhre.« Über einen gut betuchten Zahnarzt: »Dem’s Geld is’ ja ’nor’nung, aber hässlich isser für zwei!« Dabei schlug sie die Hände vors Gesicht. Ab und zu schob sie die Finger auf, starrte Dr. Bruce an, schauderte, schob sie wieder zu und schwang weiter im Sessel.

Louise war ein Glückspilz. So unwahrscheinlich es war, bei Lotterien die richtigen Zahlen zu erwischen – sie schüttelte sie praktisch aus dem Ärmel. Zwei Ziffernkombinationen spielte sie regelmäßig, die 595 (alte Gefälligkeit ihres Bruders Herbert) und die 830 (Geschenk von Helen, die als Baby alles, was ihr in den Kopf kam, vor sich hin brabbelte), und beide Dreiersätze schienen jeden August dran zu sein.

James’ Stilllegung

Wenn Louise, nachdem es James erwischt hatte, seinen Rat für eine Zahl brauchte, zupfte sie erst mal den Stinkasant-Beutel zurecht, den sie ihm um den Hals gehängt hatte. (Stinkasant stand an oberster Stelle ihrer Wundermittelliste. Die anderen Mittel klangen wie Ingredienzien einer Du-bist-was-du-isst-Kur für ein Kind, das neben Verstopfung auch noch an Rachitis und Bronchitis litt: Senfpflaster, Glaubersalz, Dorschlebertran, Rizinusöl, Kindertee.) Dann zeigte sie auf die Zahlen, die sie morgens nach der Konsultation ihres Traumbuchs aufgeschrieben hatte. Wenn ihr Mann grinste wie die »Grinnekatz« (Grinsekatze), setzte sie sie, aber sicherheitshalber nur im Boxplay-Lotto, wo es nicht auf die Reihenfolge ankam. An dem Tag, an dem es James erwischt hatte, hatte sie die 421 gespielt, die Zahl für Lähmung, und dreihundert Dollar gemacht.

Dass James gar nicht gelähmt war, wusste Louise nicht. Als Honeychile ihrem Vater die Sache mit Samuel verkündet und sich in Hélène Sonne-sieht-Silberstreif Schwartz umbenannt hatte, war ein Blutgefäß in seinem Hirn geplatzt. Was James wirklich erwischt hatte, war ein böser Fall von retrograder Amnesie. Louise würde sagen, er erinnerte sich an jeden Fliegenschiss in der Vergangenheit, aber das, was gerade geschah, blieb höchstens ein paar Sekunden in seinem Gedächtnis haften. Dass er zum Beispiel aufstehen wollte, hatte er vergessen, bevor er eine erkennbare Regung unternommen hatte. Sprechen konnte er noch, hatte es aber nie wieder versucht.

Louise hatte jahrelang Passanten, Nachbarn, Verwandte und Freunde mit Beschlag belegt, damit sie ihr halfen, James zum Turnen oder Abduschen in den Garten zu bugsieren. Turnen hieß, dass sie ihm den Kopf in Richtung Knie bog und die Beine lang und nach vorn zog, aber James flutschte jedes Mal wieder zurück in seine halbe Hakenkreuz-Haltung. Nach ein paar Monaten fing seine Kleidung an zu schimmeln, außerdem bestand die Gefahr, dass er sich erkältete, wenn sie ihn mit dem Schlauch abgespritzt hatte. Louise löste das Problem mit einem Satz selbstgemachter schicker Ponchos (verschiedene Stoffe, Muster und Farben zum Wechseln je nach Jahreszeit), die sie ihm vor der Dusche rasch abnehmen und danach wieder überwerfen konnte. Ihr Bruder Herbert hatte eine Topf-Eimer-Apparatur für James’ Ausscheidungen fabriziert, sie selbst fütterte ihren Mann mit ihren neuesten Kreationen. Bei James’ Lieblingsgerichten lag, soweit Louise den Zuckungen in seinem Gesicht entnehmen konnte, das mit Schinkenfarce gefüllte Kalbfleisch knapp vor dem Lamm bobotie.

Ein Jamesianisches Grinsen bedeutete »Ja«, und Louise konsultierte ihren Gatten in allen Haushaltsangelegenheiten. Sie war immer in seiner Nähe, denn James grinste nur, wenn er sich gerade an etwas besonders Erfreuliches aus der Vergangenheit erinnerte oder ihm eine neue Gehässigkeit gegen Juden einfiel. Natürlich merkte er nicht, dass es immer nur dieselben alten Hütchenspielereien waren, und auch die hatte er wieder vergessen, bevor er ans Aufstehen denken konnte, um die nächsten Hütchen zu präparieren. Eine seiner Schurkereien tauchte jedes Mal wieder auf, wenn Louise einen Zahlentipp wollte: Er hatte Traumbücher umgeschrieben und sie ignoranten Juden als Gematrie untergejubelt. »Du hast von einem Besuch deiner Cousine Sarah geträumt?«, stand da jetzt. »Such SARAH in der Namensliste hinten in diesem Numerologiebuch. Die Zahl neben dem Namen ist G-18–6, das bedeutet Genesis 18,6. Der Vers aus den Fünf Büchern Mose weist die Richtung: ›Eile und menge drei Maß Feinmehl, knete und backe Kuchen.‹ Wenn du dich daran hältst, hast du masel, dass du’s nicht glaubst! Wenn du das aus irgendeinem Grund nicht kannst, such im Buch andere Stellen mit 18–6 oder 1–86. Finde verborgene Hinweise, die dir sagen, wie Sarahs Besuch wird. Guck auch unter BESUCH

Danach sprang sein Hirn meistens um auf Möglichkeiten, jüdische Kinder über den Tisch zu ziehen. Warum nur die Eltern? Die Jeschiwas in der Nachbarschaft fielen ihm ein. Konnte man die, überlegte er, irgendwie überzeugen, dass sie dringend eine Lerneinheit »Kenne deinen Gegner« mit Jesus als historischer Gestalt brauchten, zu der er selbstverständlich das Material liefern würde? Wie wär’s mit ein paar bobe-maißes, wie Jesus so täglich lebte, dazu vielleicht ein paar schlockene Spielsachen und Spiele? Was den pädagogischen Wert anging – hollahi! Er würde eine ganze Quiz-Serie zum Abschluss jeder Lerneinheit basteln. Wenn die kleinen ganefs aus der Jeschiwa damit durch waren, konnten sie selbst gojim so einiges über den Nazarener beibringen. »Weißt du, in welchem Vers im Neuen Testament Jesus Wortspiele macht?«, würden die kleinen Schlaumeier fragen. »Ich schenk dir einen Tipp – der Name Petrus bedeutet ›Felsen‹. Gibst du auf? Hä-hä, Matthäus 16,18!« Oder sie pirschen sich an einen Nichtjuden ran und flüstern ihm zu: »Kein Mensch weiß, was Jesus an dem Mittwoch vor seinem Tod gemacht hat.« Zwanzig Jahre später würde dann irgendein Kunsthistoriker James Dank für die folgende Enthüllung schulden: »Byzantinische Mosaike, die frühesten Jesus-Darstellungen, werden sich eines Tages nicht nur als Kunsttechnik erweisen, sondern als akkurate Wiedergabe der Schrunden in [Christus’] Antlitz.« Es war jeden Tag dasselbe Quiz, das James ersann, aber das wusste er natürlich nicht mehr:

JESUS DER ZIMMERMANN

Mit diesem Quiz sollst du herausfinden, was du über Jesus als einfachen Arbeitsmann weißt. Hat er gute Arbeit geleistet? [Für die Lehrerausgabe plante James, seinen Lieblingswitz anzufügen: »Wusste Jesus, wo der Hammer hängt?«] Stell dir vor, du bist ein Bürger des alten Galiläa, und beantworte folgende Fragen:

1.Wie würdest du Jesus’ Handwerkerqualität generell bewerten?

(   ) ist ein bal-meloche (   ) gut (   ) ordentlich (   ) hat zwei linke Hände

2.Muss man den ganzen Tag auf ihn warten?

(   ) ja (   ) nein (   ) manchmal

3.Sein Stundenlohn ist

(   ) hoch (   ) mittel (   ) ein Schnäppchen?

4.Hat er eine gute Arbeitsauffassung?

(   ) ja (   ) nein (   ) weiß nicht

5.Kann er seine Zulieferer gut runterjüdeln [Notiz für James’ Hinterkopf: »in der Schlussfassung umformulieren«] und lässt dir die Ersparnis zukommen?

(   ) ja (   ) nein

6.Wo rangiert er beim Saubermachen nach getaner Arbeit auf einer Skala von 1 = man kann vom Fußboden essen bis 10 = sehr schlampig?
Bei ___________ [hier Zahl einsetzen]

7.Stellt er Rechnungen sofort?

(   ) ja (   ) nein

8.Würdest du ihn wieder nehmen?

(   ) ja (   ) nein.

James, eine Erinnerung

James grinste. Er war jetzt in Gedanken in seiner Kindheit angelangt. Seine früheste Erinnerung betraf den Tag, an dem seine Familie und die Butlers aus dem Weiler Gladstone fort nach Norden gezogen waren. Der Dorftrottel hatte gewinkt und ihnen sein liebes, aber tumbes Lächeln hinterhergeschickt. Seitdem wurden Klein-James’ Eltern nicht müde, von ihren Gladstoner Erlebnissen zu erzählen.

Gladstone war nicht nur mit einem Dorftrottel gesegnet, sondern auch mit einem Dorfdeppen und einem Dorfblödel. Die drei waren Brüder. Sie gingen jeden Tag zusammen zur Arbeit auf dem Dorfanger. Die Gladstoner fanden es gut, dass die Jungs im Freien arbeiteten. So kamen sie an die frische Luft. Wenn es regnete, trieb der intelligentere (IQ 53) Dorfdepp seine nicht ganz so gut weggekommenen Brüder und Mitarbeiter wie Schäfchen zu einem Unterstand, den das Dorf mit den Einnahmen aus dem dreivierteljährlichen Backfisch- und Volkszählungsball gebaut hatte.

Die Gladstoner behielten genau im Auge, was – oder besser: wer – etwa alle neun Monate neu dazukam. Der Backfischball war ein wesentlicher Bestandteil der Zählung und diente als Versuchsgelände für die Ermittlung der Sorte Fisch, die der Fruchtbarkeitskurve von Gladstone proportional den größten Schub geben würde. Manche Gladstoner hielten die Frage für längst geklärt, die 3:1-Relation von Brasse und Stint habe sich bereits im Sommer 1906 ausreichend stabilisiert. Andere votierten für ein 5:4:3½-Verhältnis von Makrele, Dorsch und Felsenbarsch oder – Jacke wie Hose, gehupft wie gesprungen – einen 8:7-Verschnitt von Stint und Seewolf und verwiesen darauf, dass die Zahlen im Jahr 1906 nach dem Pi-mal-Daumen-Prinzip erhoben worden waren und dass 1907 und 1908, die Jahre ihrer eigenen Mischverhältnisse, jeweils knapp unterhalb der Hochwassermarke gelegen hatten. Letztere Fraktionen, konterte der Brasse-Stint-Block, sollten ruhig reden, so viel sie wollten, gegen die Dorfchronik kamen sie argumentativ nicht an. Es war kindisch, die Bedeutung ihrer Formel für den Babyboom von 1906 zu bestreiten.

1919 belief sich die Gesamtbevölkerung von Gladstone – ohne die Butlers und Clarks, die weggezogen waren und streng genommen außerhalb des säuberlich segregierten Dorfs gewohnt hatten, aber inklusive der drei Dorfhunde – auf zwölf. Zu den neun Zweibeinern gehörten Josh und Lettie Jones, die Eltern und direkten Nachbarn von Jed Jones und seiner Frau-Schwester Maybelle, den Eltern und direkten Nachbarn von Jody Jones und dessen Frau-Schwester Lulu, welche sowohl für den Babyboom von 1906 wie auch die beiden Mini-Booms von 1907 und 1908 verantwortlich zeichneten. Jody und Lulu hatten 1906 Zwillinge bekommen, nämlich Clyde und Claude, den Dorfdeppen und den Dorftrottel. 1907 wurde Clarence I. geboren, verstarb aber mit drei Monaten an Pseudokrupp. 1908 kam Clarence II. zur Welt, Stolz und Freude der ganzen Familie. Er war der Jüngste und sollte sich bald als Naturtalent entpuppen. Der Dorfblödel war schon mit neun in allem, von Schnürsenkel-Zubinden bis Ins-Leere-Stieren, geschickter, als Clyde und Claude je werden würden.

Clarence II. geleitete seine älteren Brüder jeden Morgen zum Anger, setzte sie auf ihren Platz mitten auf dem Rasen, sah nach, ob alle ihre Sachen dabeihatten, und ließ sich neben Clyde nieder. Die Brüder stellten Mokassins her, die Tagesquote lag bei einer Schuhhälfte, ausschließlich in einer Größe (40 Damen) und nur für den linken Fuß. Das Werk wurde allabendlich von ihrer Mutter-Tante Lulu wieder auseinandergepflückt, aber so waren die Jungs jedenfalls weg von der Straße. Anfangs bestand die Besorgnis, bei Teamarbeiten aller Art würde Claude, der Trottel, die anderen ausbremsen, weil er nur eins richtig gut konnte: sabbern. Aber genau das Sabbern erwies sich als wesentlich für die Mokassinproduktion. Während Clyde und Clarence II. mit stierem Blick ins Irgendwo abwarteten, dass die Produktion in Schwung kam, zerkaute und besabberte Claude den Lederlappen, den ihm Lulu beim allmorgendlichen Aufbruch zum Anger in den Mund geschoben hatte. Der Sabber-Kau-Prozess machte das Leder, das nach demselben Prozess vom Vortag getrocknet und hart und steif geworden war, wieder weich, sodass Claudes Zwillingsbruder es mühelos vierfach falten und kniffen und Clarence II. übergeben konnte, der sich daraufhin den von seiner Mutter-Tante vorgebohrten Löchern widmete und total aufging im Schieben und Ziehen eines Lederriemens an einem Stöckchen.

Wenn Clarence II. halb rum war mit Nähen, hätte die Uhr am Kirchturm drei geschlagen, wenn es denn eine Kirche mit einem Turm und einer Uhr gegeben hätte. Das einzige Erkennungszeichen für drei Uhr war, dass Jed Jones, der Dorfsaufaus und Großvater sowie -onkel der Jones-Jungs, auf den einzigen Baum auf dem Dorfanger zuwankte, ein paarmal desorientiert um den Setzling herumtorkelte und in der Annahme, er hätte sich im Wald verlaufen, hemmungslos zu schluchzen anfing. Woraufhin alle anderen Dorf-Jonese abbrachen, was immer sie gerade taten, hochsahen und seufzten: »Jed hat sich verlaufen. Muss gleich drei sein.« Und damit Zeit für Lulu, ihre drei Kinder-Neffen-Kunsthandwerker abzuholen.

James hatte die Geschichte von Gladstone und den Jones-Jungs mindestens anderthalb Mal gehört. Und mindestens ebenso oft hatte er überlegt, was aus dem Brasse-Stint-Block geworden war. Und wie war es wohl den Makrele-Dorsch-Felsenbarsch-Leuten – seinen Lieblingen – ergangen? Egal. Er würde nie vergessen, wie Claude geistesabwesend vor sich hin gewinkt und gelächelt hatte, als die Butlers und die Clarks weggezogen waren. Außenstehende ohne Gespür für Nuancen vermuteten hinter Claudes Lächeln eine höhere Intelligenz, als ihm die Stanford-Binet-Skala zubilligte. »Kuck mal, wie der Trottel grinst«, grölte einmal ein Haufen eugenisch auffälliger Bleichnasen, die über den Dorfanger marodierten. Dabei hatte dieser Spross aus Virginia’schem Adel unzweifelhaft das typische Familienlächeln. Es gab sogar das Gerücht, Claude und seine Brüder seien von beiden Seiten her – was bei ihnen ein und dieselbe ist – mit den Randolphs verwandt. Und James lächelte jeden Tag, wenn er an den kleinen Claude dachte, das Patrizierlächeln einer der Ersten Familien von Virginia.

Wie sich James’ Erkrankung auf Helen auswirkte

»Ich hab epeß keine Ahnung, wie ich meine Kinder durchbringen soll.« Helen saß am Tisch und überdachte ihre Lage nach der Trennung von Samuel. »Wie lange können wir noch von dem leben, was Papas Lagerbestand abwirft? Es wär doch eine awéjre, wenn ich meinen Allerwertesten nicht hochkriege und mir was einfallen lasse, um an richtiges gelt zu kommen.« Nach dem Monolog schrieb sie auf einen Zettel, welche Talente sie hatte:

1. Mimesis

2. Kopfgleichungen

3. Singen

4. Klavierspielen.

Soweit sie wusste, war die Nachfrage nach schwarzen Imitatorinnen nicht eben groß. (»Und jetzt mache ich James Cagney, wie er Mae West Steppen beibringt, und zwar Buck-and-Wing.« Cagney: Klicketi-klick, Klicketi-klick. Mae West: Umpfti-umpf, umpfti-umpf. Cagney : »Du, du, du miese Ratte – es heißt buck, mit b!«) Ihre Kopfgleichungskapazitäten kommerzialisieren wollte sie nicht. Und Nr. 3 und 4 waren die Klischee-Plusse und -Minusse. Trotzdem nahm sie die 4.

Sie fing an zu spielen, nach der Kopfgleichung:

 

88SW = ∞ G + Z.

Erklärung:S = schwarze Tasten (Helens Aberwitz), Warnakzidenzien

W = weiße Tasten (Samuels Kopf), Schläge

G = Geld, Dollars

Z = Zeit und Wege.