1

Wir haben zu Hause ein Schwein. Ich meine damit nicht meine kleine Schwester, sondern ein richtiges Schwein, das auf den Namen Rudi Rüssel hört. Wie wir zu dem Schwein gekommen sind? Das ist eine lange Geschichte.

Zwei Jahre ist das her, da fuhren wir an einem Sonntag aufs Land. Wir, das sind meine Mutter, mein Vater, meine Schwester Betti, die nur ein Jahr jünger ist als ich, und Zuppi, meine kleine Schwester. Wir fuhren in die Lüneburger Heide und dann begann das, was wir Kinder überhaupt nicht mögen – es wurde gewandert.

Fürchterlich. Wir latschten durch die Gegend und Vater und Mutter sagten alle naslang: »Guckt mal da, wie schön.« Sie blieben dann jedes Mal stehen und zeigten auf irgendeinen Hügel oder einen Baum. Sie erwarteten, dass wir staunten. Aber was soll man schon zu einem Hügel sagen? Und weil wir dann immer sagten, wir wollen eine Limo, wurde Mutter langsam böse und meinte, wir sollten gefälligst erst mal etwas laufen. Dabei taten uns schon die Beine weh und Zuppi quengelte, sie könne nicht mehr laufen. Daraufhin nahm Vater sie auf die Schultern und stapfte durch die sandigen Wege, schwitzte und redete nicht mehr von der Schönheit der Landschaft.

Endlich kamen wir nach Hörpel, einem kleinen Dorf. In einem Gasthof wurde gerade ein Fest gefeiert. Die Dorffeuerwehr hatte ihr 50-jähriges Jubiläum. Unter den Kastanienbäumen saßen die Leute an langen Holztischen, tranken Bier und aßen Bratwürstchen. Auf einem Podium spielte eine Blaskapelle. Wir konnten uns endlich hinsetzen und bekamen unsere Limo.

Irgendwann hörte die Kapelle auf zu spielen und ein Mann in Feuerwehruniform ging zum Mikrofon und sagte: »Jetzt beginnt unsere Tombola. Jeder, der ein Los kauft, hilft damit, dass wir uns einen neuen Hochdruckschlauch kaufen können. Es gibt viele kleine und einen sehr nahrhaften Hauptpreis.«

Dann kam ein Mann an unseren Tisch mit einem kleinen Eimer in der Hand und darin waren die Lose. Jeder von uns durfte sich eins kaufen. Mein Los war eine Niete. Betti bekam einen Trostpreis, einen Fahrradwimpel mit der Aufschrift: Freiwillige Feuerwehr Hörpel.

Zuppi zog eine rote Nummer. Als die Lose verkauft waren, rannte sie damit nach vorn, zum Podium.

Der Feuerwehrmann ließ sich das Los zeigen und rief: »Die Nummer 33! Hier ist die Gewinnerin des Hauptpreises! Wie alt bist du?«

»Sechs.«

»Gehst du schon zur Schule?«

»Nein. Ich bin erst vor zwei Wochen sechs geworden.«

»Weißt du, was du gewonnen hast?«

»Nein.«

»Du hast Schwein. Du hast nämlich ein kleines Schwein gewonnen.«

Und dann hob der Mann ein Ferkel aus einer Kiste und drückte es Zuppi in die Arme. Die Leute klatschten und lachten. Zuppi schleppte breit grinsend das Ferkel zu unserem Tisch und setzte es Mutter auf den Schoß. Es war ein sauberes rosiges Tier, mit einer dicken Schnauze, kleinen flinken Äuglein und großen Schlappohren.

Es sah wirklich niedlich aus, trotzdem machte Vater ein finsteres Gesicht. Als ein Bauer, der an unserem Tisch saß, uns zu dem Ferkel gratulierte, lächelte Vater gequält. Man muss wissen, Vater mag keine Haustiere. Tiere gehören nicht ins Haus, sagt er immer. Und jetzt hatte Mutter dieses Ferkel auf dem Schoß und kraulte ihm das eine Schlappohr.

»Niedlich, nicht?«, sagte Zuppi begeistert. »Guck mal, dieser kleine Ringelschwanz.«

Vater nahm die Pfeife aus dem Mund. »Ganz nett«, sagte er, »aber wenn wir gehen, dann gibst du das Tier zurück!«

»Nein«, rief Zuppi, »ich hab das gewonnen. Das gehört mir.«

»Wir können das Tier doch nicht mitnehmen.«

Da begann Zuppi zu weinen, und wenn sie weint, dann tut sie das ziemlich laut. Von den anderen Tischen sahen sie herüber. Warum weinte das kleine Mädchen, das doch eben ein Glücksschwein gewonnen hatte?

Vater, der schon die Hand ausgestreckt hatte, um das Ferkel auf den Boden zu setzen, zog die Hand wieder zurück. Die Leute am Nachbartisch sahen ihn finster an. Es hatte aber auch so ausgesehen, als habe er dem Ferkel einen Klaps geben wollen.

»Gut, gut«, sagte Vater, »dann behalt das Vieh erst mal.«

Vater zahlte und wir gingen zum Auto zurück. Wir mussten ziemlich lange laufen, obwohl wir den kürzesten Weg nahmen. Das Ferkel mussten wir tragen. Denn wenn wir es laufen ließen, wollte es uns einfach nicht folgen, sondern rannte mal hierhin und mal dahin. Es ist erstaunlich, wie schwer Ferkel sind, viel schwerer als gleich große Hunde.

Schließlich konnten wir nicht mehr, obwohl wir drei Kinder uns beim Tragen immer wieder abwechselten. Mutter schleppte es eine lange Strecke. Sie trug das Ferkel wie eine Sofarolle unter dem Arm. Als sie nicht mehr konnte, wollte sie es Vater zum Tragen geben.

Aber der sagte: »Wenn ihr das Tier mitnehmen wollt, dann müsst ihr es auch allein tragen.«

Wir fanden das ziemlich gemein, sagten aber vorsichtshalber nichts.

Als wir endlich zum Auto kamen, waren wir fix und fertig. Mutter nahm das Ferkel auf den Schoß, damit es nicht die Polster schmutzig machte. Dabei war es ganz sauber.

»Schweine sind immer dreckig«, sagte Vater, »sie lieben den Dreck. Was meint ihr wohl, woher das kommt, wenn man sagt, jemand isst wie ein Schwein oder das Zimmer ist ein richtiger Schweinestall?«

Es war natürlich klar, was er damit meinte, unser Kinderzimmer natürlich.

Wir waren noch nicht weit gefahren, da schrie Mutter auf. Das Ferkel hatte ihr auf die Hose gepinkelt.

»Jetzt reicht’s«, sagte Vater. Beim nächsten Bauernhof hielt er an.

»So«, sagte er, »jetzt schenken wir das Ferkel einem Bauern. Schweine gehören aufs Land und nicht in eine Stadtwohnung.«

Zuppi begann zu schreien. Sie kann so laut schreien, dass man sich die Ohren zuhalten muss.

»Ruhe«, brüllte Vater. »Schweine werden traurig, wenn sie nur Häuser und keine Felder und Wiesen sehen.«

Zuppi schrie weiter.

»Lass ihr wenigstens ein paar Tage das Ferkel«, sagte Mutter, »sie hat es nun mal gewonnen. Wir können es ja immer noch weggeben.«

»Also gut, drei Tage darfst du es behalten, dann muss es weg. Was sollen die Leute im Haus denken.«

Über das Buch

Alles beginnt damit, dass Zuppi bei einer Tombola den Hauptpreis gewinnt: ein Ferkel. Rudi Rüssel verändert den Familienalltag gründlich. Aber der Hausbesitzer Buselmeier hat keinen Sinn für diese Art Haustiere. So zieht die Familie an den Rand eines großen Fußballfeldes. Hier kann der Vater Platzwart werden und Rudi in Ruhe Schwein sein. Doch dann entdeckt Rudi seine wahre Größe als Rennschwein …

Neu mit vielen farbigen Illustrationen von Axel Scheffler

Über Uwe Timm / Axel Scheffler

Uwe Timm, 1940 in Hamburg geboren, gehört zu den erfolgreichsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart und machte sich mit ›Rennschwein Rudi Rüssel‹, für das er 1990 den Deutschen Jugendliteraturpreis erhielt, auch als Kinderbuchautor einen Namen. Timm studierte Philosophie und Germanistik in München und Paris. Nach längeren Aufenthalten in Rom, Lateinamerika und Afrika lebt er heute in München und Berlin.
Weitere Titel von Uwe Timm bei dtv junior: siehe Seite 4

Axel Scheffler wurde 1957 in Hamburg geboren. Seit seinem Studium an der Bath Academy of Art lebt er in London. Seine mit unverwechselbarem humorvollem Strich gezeichneten Bücher werden in der ganzen Welt geliebt – mit dem ›Grüffelo‹, den er mit Julia Donaldson als Autorin veröffentlicht, hat er eine Figur geschaffen, die als moderner Kinderklassiker gilt.

3

Nachmittags, als wir aus der Schule kamen, bauten wir eine Schweine-Hütte. Ich hatte bei unserem Gemüsehändler drei Kisten besorgt. Die Kisten zerlegte ich in Bretter und die nagelte ich dann wieder neu zusammen: drei Seitenwände und ein richtiges Satteldach. Betti hatte in einem Blumengeschäft Torfmull gekauft, den wollten wir auf den Boden der Hütte schütten, damit Rudi auch warm lag. Betti und ich stritten uns gerade, wer den Torfmull in die Hütte schütten dürfe, sie, nur weil sie den Torfmull gekauft und hergetragen hatte, oder ich, weil ich die Kisten besorgt hatte. Da kam Rudi aus der Verandatür geschossen und rannte in den Garten. Er war Zuppi, als sie im Bad nach ihm sehen wollte, entwischt. Rudi lief sogleich zu einer Pfütze, legte sich hinein, wühlte in dem Schlamm und quiekte begeistert.

Er war über und über mit Schlamm beschmiert, rannte fröhlich durch den Garten und – o Schreck – in die Wohnung zurück! Wir liefen hinterher, um ihn wieder rauszutreiben, aber Rudi war schon in Vaters Arbeitszimmer gelaufen, über das Sofa gesprungen, hatte die Tischlampe umgerissen, hatte sich auf dem hellgrauen Teppich, den wir Kinder nur mit Socken betreten durften, gewälzt und war dann unter das Sofa gekrochen.

Deutlich sah man die dreckigen Abdrücke seiner Pfoten auf dem Teppich. Vater lag am Boden vor dem Sofa und versuchte, mit einem langen Lineal Rudi unter dem Sofa hervorzutreiben. »Dieses kleine Dreckschwein«, schrie er.

Da schoss Rudi, als er Zuppi sah, unter dem Sofa hervor. Vater bekam einen Schreck, stieß sich an der Sofakante den Kopf, wollte das Ferkel greifen, griff daneben, denn Rudi machte einen kleinen Satz zur Seite, streifte dabei die weiße Wand und hinterließ darauf einen langen Schmutzstreifen, rannte über das auf dem Boden ausgebreitete Pergamentpapier, mit dem Vater einige Hieroglyphen von einem Stein abgepaust hatte, raste in Mutters Zimmer, warf einen Kasten mit Zetteln um, auf denen Mutter sich die Noten ihrer Schüler notiert hatte, galoppierte ins Kinderzimmer und von da wieder raus in den Garten, wo er sich abermals im Schlamm suhlte. Wir machten schnell die Verandatür zu, damit er nicht wieder in die Wohnung laufen konnte.

Sonderbarerweise war es in Vaters Zimmer ganz still.

»Vielleicht ist er in Ohnmacht gefallen«, sagte Betti. Leise gingen wir in Vaters Zimmer. Er stand da und starrte auf das am Boden liegende Pergamentpapier, über das Rudi gelaufen war und auf dem seine dreckigen Klauen ihre Spuren hinterlassen hatten. Wie kleine Keile und Balken standen sie zwischen den anderen Schriftzeichen.

»Papa«, sagte Zuppi ganz leise, »ist dir nicht gut?« Und dann sagte sie noch: »Schweine sind doch sehr lustige Tiere, nicht?«

Aber Vater stand und schwieg, als sei er plötzlich taub geworden, und starrte auf seine Hieroglyphen mit Rudis Abdrücken.

»Interessant«, sagte Vater endlich. »Wenn man Rudis Zehenabdrücke mitliest, kommt ein ganz neuer Sinn aus der Inschrift. Da steht nämlich jetzt: Den Vater ließ alles kalt, was er nicht ändern konnte.«

»Wir haben ihn ausgesperrt«, sagte Betti.

»Wen?«

»Rudi.«

»Ach so. Habt ihr die Hütte schon fertig gebaut?«

»Noch nicht ganz.«

Wir gingen raus und Zuppi musste Rudi davon abhalten, an Vater hochzuspringen. Rudi hatte Vater irgendwie ins Herz geschlossen, obwohl der ihn doch gerade aus dem Haus haben wollte. Vielleicht spürte Rudi aber auch, dass Vater ihn nicht mochte, und er wollte sich bei Vater einschmeicheln. Vater besah sich die Hütte.

»Na ja«, sagte er, »die sieht doch etwas sehr klapprig aus. Man muss sie noch mit Dachpappe benageln, sonst regnet es ja rein.«

Plötzlich kläffte am Gartenzaun der Bullterrier von Herrn Buselmeier. Herr Buselmeier ist der Besitzer unseres Hauses und er wohnt zwei Wohnungen über uns. Ein ziemlich unfreundlicher Mann, der seinem Bullterrier ähnlich sieht. Der Köter kläffte und kläffte. Er bellte Rudi aus.

»Los«, sagte Vater, »bringt schnell das Schwein rein, bevor es der Buselmeier sieht. Halt die Klappe, du Töle«, fauchte Vater den Bullterrier an.

Als wir in der Wohnung waren und Rudi ins Bad gesperrt hatten, sagte Vater: »Das Schwein muss unbedingt aus dem Haus, sonst schmeißt uns Herr Buselmeier womöglich noch mit dem Schwein raus.«

4

Und dann kam der Mittwoch, an dem wir Rudi Rüssel aus dem Haus schaffen sollten. Mutter versuchte, uns darauf vorzubereiten. Sie sagte: »Ihr müsst vernünftig sein, ein Schwein hat nun einmal in einer Stadtwohnung keinen Platz. Es ist auch für Rudi das Beste, wenn er zu einem Bauern kommt.« Dabei hatte Vater noch am Abend zuvor an Rudis Stall gebaut. Er hatte zunächst missmutig hier und dort einen Nagel eingeschlagen, dann hatte er die Kisten auseinandergenommen und sie, Brett für Brett, wieder neu zusammengenagelt.

Er sagte: »So eine einfache, mit Dachpappe benagelte Kiste sieht doch fürchterlich aus. Wir sollten Rudi einen Stall bauen, der wie ein kleines Bauernhaus aussieht.«

Wir dachten, wenn er an dem Stall mitbaut, wird er Rudi Rüssel auch nicht so leicht aus dem Haus geben. Vater hatte bis spät in den Abend hinein gearbeitet und sogar damit angefangen, zwei hölzerne Pferdeköpfe zu schnitzen, wie man sie auf den Dächern der niedersächsischen Bauernhäuser sehen kann. Wir lagen schon in den Betten, als wir einen tierischen Schrei hörten. Wir stürzten raus. Vater stand in der Küche und hielt den linken Zeigefinger hoch. Er blutete. Wir bekamen einen enormen Schreck, weil wir dachten, dass Rudi ihn gebissen hätte. Aber dann zeigte sich, dass er sich beim Schnitzen in den Finger geschnitten hatte. Ein ziemlich tiefer Schnitt. Mutter legte ihm einen dicken weißen Verband um den Finger. »Jetzt kann ich nicht mal mehr tippen, und alles wegen dieses Schweins.« Er sagte nicht Rudi, sondern Schwein. Natürlich kann man ein Schwein viel leichter aus dem Haus schaffen als einen Rudi, der ein Schwein ist.

Wir konnten in der Nacht vor Aufregung kaum schlafen und überlegten, was wir tun könnten, um Rudi im Haus zu behalten. Im Keller verstecken? Das wäre bald aufgefallen, denn Schweine sind ja nicht stumm. Außerdem war es da unten ja sehr dunkel und feucht. Im Garten verstecken? Da gab es keine Verstecke, dazu war der Garten viel zu klein. Schließlich hatte Zuppi eine Idee.

»Wir machen Rudi zu einem Hieroglyphenschwein. Das hat er bestimmt noch nicht gesehen.«

»Und wie willst du das machen?«

»Wir beschriften ihn.«

»Und was willst du draufschreiben? Papas Liebling?«