Über das Buch

Die Freunde Brock und Zed fiebern der großen Zeremonie entgegen, die über das Schicksal aller 12-Jährigen von Freestone entscheidet. Sie träumen davon, in die Ränge der ehrwürdigsten Gilden aufgenommen zu werden. Doch ihr Traum zerplatzt, als sie durch den berüchtigten Lehrlingsraub bei den Schattenläufern landen. Freiwillig ist dort fast niemand, denn sie sind die Einzigen, die sich im Dienst der Stadt den Gefahren der Außenwelt stellen. Gleich in ihrer ersten Nacht werden die Neulinge auf die Probe gestellt und vor der Stadtmauer ausgesetzt. Ihre Aufgabe:

Überlebt die Nacht!

 

 

 

 

Für Mom, Dad und Matt – die alle keine Elfen sind.
Trotzdem habt ihr mein Leben mit Magie erfüllt.
ZLC

 

Für meine Eltern und für Jason und Lindsay –
meine ersten und liebsten Gildengefährten.
NE

Kapitel 1

Zed

Obwohl das Ende der Welt schon lange vor Zeds Geburt begonnen hatte, war dies der schlimmste Tag seines jungen Lebens.

Er stand auf dem Marktplatz von Freestone, einem bunten Wirrwarr aus Buden und Zelten, das zwischen dem wohlhabenden Zentrum der Stadt und den außen liegenden Armenvierteln eingezwängt lag. Viele der Verkaufsstände waren wie Bauklötzchen zu bunten Haufen aufeinandergestapelt und türmten sich so hoch, wie die Stadt es erlaubte.

Auf dem Markt selbst herrschte an diesem Morgen eine angespannte Stimmung. Sonst brummte es hier zu dieser frühen Stunde förmlich von den Rufen der Händler, die sich gegenseitig begrüßten, und dem geschäftigen Geplapper der Dienstboten, die mit Gemüseverkäufern feilschten.

Doch heute war es anders. Heute war der Markt ganz ruhig. Nur das dröhnende Klopfen von Hämmern in der Ferne hallte über den Platz.

Ganz Freestone bereitete sich auf die Feierlichkeiten zur jährlichen Gildenzeremonie vor.

Neben Zed stand sein bester Freund Brock. Die beiden betrachteten ein großes rotes Zelt mit einem Holzschild über dem Eingang. Darauf stand in sorgfältig eingravierten Buchstaben:

Makivas Talismane und Prophezeiungen

Die alte Makiva bezeichnete sich selbst als Seherin, auch wenn sie von einigen Leuten als Hexe beschimpft wurde. Sie verkaufte Talismane für alle Lebenslagen. Es gab Amulette für Hochzeiten, gegen Hundebisse oder als Schutz vor schlechten Vorzeichen. Es gab sogar Amulette für eine sauberere Wäsche.

Die Hälfte von Freestones einfacher Bevölkerung trug stets einen ihrer Talismane in der Tasche oder unter dem Hemd mit sich. Und viele Adlige angeblich auch, obwohl keiner es offen zugeben mochte.

Einer von Makivas beliebtesten Artikeln war ein Amulett für die Gildenzeremonie – ein Glücksbringer, der den Träger auf den Weg zu seiner richtigen Bestimmung führen sollte. Gleichzeitig zählte er zu den teuersten Talismanen, die sie im Angebot hatte.

»Ich wette, sie ist eigentlich gar nicht so furchterregend«, flüsterte Brock. »Jett sagt, sie sei sowieso nur eine Scharlatanin. Seine Mutter hat mal einen Frische-Luft-Talisman gekauft, damit sein Vater nachts nicht mehr so furzt, und jetzt stinkt es doppelt so schlimm. Und überhaupt – wenn die alte Makiva wirklich zaubern könnte, wäre sie doch in der Gilde der Silberlichter.«

Auf Zeds Blick hin verstummte Brock.

»Ich will damit nur sagen«, fuhr er vorsichtig fort, »dass sie dich sicher nicht verfluchen wird. Glaube ich.«

»Denkst du, ich verschwende die Münze?«, fragte Zed und zog ein kleines Silberstück aus der Tasche. Bei dem Gedanken, was seine Mutter mit diesem zusätzlichen Geld alles kaufen könnte, wurden seine Ohren ganz rot.

Brock schaute von dem Silberstück zu Zed. »Wenn es dich beruhigt, ist es nicht verschwendet.«

Zed lächelte matt. Brock machte sich nie Sorgen. Aber bei ihm ging auch nie wirklich etwas schief. Seine Eltern gehörten zur Händlergilde, die zu den vier großen Gilden der Stadt zählte. Sie waren nicht wirklich adlig, aber ziemlich nahe dran. Und Brock hatte seine Stelle bei den Händlern praktisch schon in der Tasche.

Zed kannte aber auch niemanden, der so großzügig war wie Brock. Er hatte Zed die Silbermünze beschafft, indem er sich wochenlang bei seinem Vater darüber beschwerte, er würde neue Schuhe für die Gildenzeremonie benötigen. Als Ausrede wollte Brock seinen Eltern später weismachen, ihm sei die Münze gestohlen worden.

Seit Zed denken konnte, wartete er mit ebenso viel Hoffnung wie Furcht auf den Tag, an dem Freestones Kinder, die das richtige Alter erreicht hatten, in eine der vielen Handwerksgilden der Stadt einberufen wurden. Für die meisten von Zeds Freunden war die Zeremonie nur eine Formalität, ein Übergangsritual. Sie hatten, wie Brock, schon von klein auf den Beruf ihrer Eltern erlernt und würden nun auch offiziell zu Lehrlingen der familiären Gilden ernannt werden.

Aber es gab auch immer Überraschungen. Vor allem, was die Hohen Gilden betraf.

»Bald werden die ersten Leute kommen«, meinte Brock und sah sich auf dem stillen Platz um. In der Ferne ragte Freestones Mauer hinter den Häusern auf: Sie war riesig und von jedem Punkt der Stadt aus gut zu sehen. »Ich hätte gedacht, dass schon mehr da sind.«

Zed nickte und steckte die Münze wieder ein. »Mit anderen Worten, ich soll mich beeilen.« Er holte tief Luft, lächelte seinem Freund noch einmal zu, schob die Zeltklappe mit den Händen auf und trat ein.

Er war überrascht, wie dunkel es im Inneren war. Das Zelt bestand aus einem dunkelroten Stoff – eine etwas auffällige Farbe für eine Nicht-Adlige –, dennoch hätte er erwartet, dass mehr Licht hineindringen würde. Die meisten Händler achteten darauf, dass ihre Stände aufgeräumt und hell waren, damit die Waren besser zur Geltung kamen. Dieses Zelt aber schien dafür gemacht zu sein, eine düstere Atmosphäre zu erzeugen.

Nachdem Zeds Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, stellte er fest, dass er von allerlei seltsamen und unglaublichen Dingen umgeben war, die in den Schatten besonders unheimlich wirkten. So gab es einen Korb, randvoll mit großen und kleinen Uhren, die allesamt kaputt waren. Funktionierende Zeitmesser waren nun mal so rar, dass nur Adlige sie sich leisten konnten. Einige waren aus Metall und Holz gefertigt, doch ein paar besonders merkwürdige Exemplare schienen in hohle Knochen eingefügt worden zu sein.

In den vier Ecken glühten Schüsseln mit Weihrauch. Von den Blättern und dem Pulver, die darin glimmten, stieg eine Wolke aus faulig-süßem Rauch in das Zeltdach auf. An den Rändern des Baldachins waren die Skelette kleiner Lebewesen aufgereiht – die meisten stammten von Tieren, die Zed noch nie gesehen hatte.

Den Großteil des Zelts nahmen allerdings die Amulette ein. Wo Zed auch hinsah, überall hingen winzige Holzanhänger an dünnen Schnüren, baumelten von Haken an den Wänden oder lagen als wirre Knäuel auf den Tischen.

Noch mehr hingen oben unter dem Dach, zwischen den lavendelfarbenen Rauchwolken und gerade noch in Reichweite einer ausgestreckten Hand. Der Anblick erinnerte Zed an Spinnen, die ihre Beute mit klebrigen Fäden umsponnen und als bedauernswerte Mahlzeiten in versteckte Baue zerrten.

Die Talismane waren alle aus Holz geschnitzt und stellten kleine Figuren dar. Die meisten hatten die Gestalt von Tieren, doch es stachen auch ein paar abstraktere Motive aus der Masse heraus: ein Haken, ein grinsender Totenkopf, eine Hand mit einem Auge in der Handfläche.

Und hinter einem schmalen Wahrsagertisch in der Mitte des Raums saß die Verkäuferin dieser Amulette.

Vor diesem Tag hatte Zed die Seherin nur ab und zu mal kurz gesehen. Als kleiner Junge hatte er mit seinen Freunden einmal einen ganzen Nachmittag lang ihr Zelt aus der Ferne beobachtet – in der Hoffnung, die alte Makiva genauer betrachten zu können, wenn sie nach Feierabend den Markt verließ.

Zeds Freunde waren abends einer nach dem anderen nach Hause gerufen worden, bis nur noch Brock und er übrig waren. Und als die Lampen in den Buden erloschen waren und sich ein müdes Dämmerlicht über den Platz legte, hatten sie ihre Wache schließlich auch aufgegeben.

Soweit Zed es mitbekommen hatte, hatte die Seherin ihr Zelt damals nicht verlassen.

Sie sah jünger aus, als er von einer Frau erwartet hätte, die von allen nur die »alte Makiva« genannt wurde. Ihre dunkelbraune Haut war glatt und makellos.

Vor Hunderten von Jahren war Freestone eine bedeutende Handelsstadt gewesen, in der sich Pilger, Kaufleute und Würdenträger aus der ganzen Welt tummelten. Solche Reisen waren schon lange nicht mehr möglich, aber die Stadt hatte sich ihre Vielfalt dennoch bewahrt. Zeds Freunde waren alle von unterschiedlicher Abstammung: eine wilde Mischung verschiedener Hautfarben und Körperformen. Seine rehbraune Haut und die feinen Gesichtszüge besaßen beispielsweise keinerlei Ähnlichkeit mit Brocks blassem Gesicht und seinem breiten Lächeln.

Aber Zeds Herkunft war noch ungewöhnlicher als die der anderen.

Die Talismanverkäuferin hob den Kopf und musterte ihn schweigend. Zed öffnete den Mund, um etwas zu sagen, musste aber feststellen, dass ihn sein Mut verlassen hatte, zusammen mit seiner Stimme.

Er wollte sich schon zurückziehen – die Zeltklappe aufstoßen und wegrennen –, da huschten die Augen der Frau zu dem hölzernen Stuhl vor ihrem Tisch. »Du bist der Erste heute Morgen«, sagte sie mit einer warmen und kein bisschen Furcht einflößenden Stimme. »Das ist gut. Gewissenhaftigkeit ist für sich genommen auch schon eine Art Glücksbringer.«

Zed schluckte, aber der Kloß in seinem Hals wollte nicht verschwinden. Er trat zum Tisch und setzte sich zögernd.

Dabei bemerkte er, dass die alte Makiva gerade ein neues Amulett aus einem Stück Holz schnitzte. Das Messer, das sie dafür verwendete, war klein und gebogen, seine Klinge schimmerte rätselhaft grün in der Dunkelheit.

»Du bist hier, weil du ein Amulett für die Gildenzeremonie brauchst«, sagte sie.

Das war keine Frage, aber Zed nickte trotzdem.

»Es ist schon viele Jahre her, seit ich ein Kind mit Elfenblut bei der Zeremonie gesehen habe.«

Bei diesen Worten begannen Zeds Ohren zu kribbeln, ein sicheres Zeichen dafür, dass sie knallrot anliefen. Er war von Geburt an von seiner Mutter allein großgezogen worden und hatte auch einen Großteil seines Aussehens von ihr geerbt, sodass er fast menschlich wirkte. Nur die langen, spitzen Ohren verrieten, dass Elfenblut in ihm floss – als einzigem Menschen in Freestone, soweit er wusste. Die meisten Kinder hatten es schon vor Jahren aufgegeben, ihn wegen seiner Ohren zu hänseln, doch Zed bemerkte nach wie vor die überraschten Blicke der Erwachsenen, die sie zum ersten Mal sahen.

»Sag mir, Elfenkind«, fuhr Makiva fort. »Welche Gilde wünschst du dir?«

»Meine Mutter ist in der Dienergilde«, krächzte Zed und räusperte sich. »Sie ist stolz auf ihre Arbeit, aber sie sagt auch, wenn ich ein angenehmes Leben haben möchte, sollte ich in eine der besseren Gilden kommen. Deshalb hat sie jeden Groschen, den sie erübrigen konnte, dafür ausgegeben, dass ich Lesen und Schreiben lerne.«

Die Frau nickte, auch wenn sie Zed nicht ansah. Ihre Augen ruhten wieder auf dem Talisman, an dem sie arbeitete, und ihr Messer glitt in fließenden Bewegungen geschickt darüber. »Dann hofft deine Mutter also, dass die Schreiber dich nehmen. Aber ich habe noch nie einen Jungen in deinem Alter getroffen, der nicht davon geträumt hätte, von einer der Hohen Gilden auserwählt zu werden.« Sie bedachte Zed mit einem kurzen Lächeln und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Arbeit. »Also, welche Gilde wünschst du dir, Zed?«

Zed erschrak. Er erinnerte sich nicht daran, der Seherin seinen Namen genannt zu haben. Er leckte sich die Lippen und flüsterte verlegen: »Die Silberlichter. Ich besitze schon ein bisschen Mana, glaube ich. Und ich habe gehört, die meisten Zauberer brauchen recht lange, um ihres zu entwickeln. Das liegt bestimmt daran, dass ich ein … Na ja, ich denke, ich habe das von meinem Vater geerbt. Das habe ich der Gilde auch geschrieben, aber ich konnte niemanden finden, der mich unterstützt oder für mich bürgt. Sie haben mir nie geantwortet.«

Zed holte tief Luft und schüttelte langsam den Kopf. »Ich weiß, es ist naiv von mir. Wenn die Schreiber mich berufen, wäre das schon das Beste, was mir passieren könnte. Aber wenn ich in die Zauberergilde käme, könnte meine Mutter ein ganz anderes Leben führen. Mit dem Geld könnte ich ihr ein richtiges Zuhause bieten und der Titel …« Zed rutschte auf dem Stuhl herum. »Na ja, vielleicht würden die Leute nicht mehr so auf uns herabsehen, wenn ich Magus Zed Kagari wäre.«

Makiva brummte mitfühlend. »Ich fürchte, die Leute sind schon immer erfinderisch gewesen, wenn es darum geht, auf andere herabzusehen, egal, welchen Rangs. Aber ich finde es keineswegs naiv zu träumen. Die Zauberergilde –«

In diesem Moment drang ein lautes, schrilles Wiehern in das Zelt.

»Oh, entschuldigt, Messere«, war Brocks Stimme von draußen zu hören. »Aber da ist schon jemand drin –«

»Aus dem Weg«, sagte eine junge Stimme, die vor Verachtung triefte. »Und das sage ich nur einmal

Zed drehte sich auf seinem Stuhl herum. Einen kurzen Moment lang herrschte Stille, gefolgt vom zögernden Tipp-Tapp von Brocks Schritten, der beiseitetrat.

Die Zeltklappe flog auf und im gleißenden Licht der Morgensonne konnte Zed nur eine schimmernde Rüstung erkennen.

Die Rüstung eines Adligen.

Er sprang auf und wich zur Zeltwand zurück, worauf er die Talismane leise zum Klappern brachte. Der Adlige trat herein und Zed stellte überrascht fest, dass es sich um einen Jungen in seinem Alter handelte. Er schien auch ein Amulett für die Gildenzeremonie erwerben zu wollen. Aber warum nur? Er brauchte kein Glück dafür. Die Adligen schafften es immer in die besten Gilden.

Zed spähte kurz durch die Zeltöffnung, bevor der Stoff wieder darüberfiel. Brock warf ihm einen panischen Blick zu, dann versank das Zelt erneut in Dunkelheit.

Der adlige Junge sah sich angewidert um. Seine Augen streiften Zed ebenso flüchtig wie die Kuriositäten um sie herum. Er hatte olivfarbene Haut, ein hübsches Gesicht und einen muskulösen Körper und sah genauso aus, wie es die Mädchen in Zeds Viertel von einem Adligen erwarteten. Er hatte aber auch einen bösartigen Zug um die Augen – und das war genau das, was Zed von einem wie ihm erwartete.

Makiva ergriff als Erste das Wort. »Hallo, junger Messere«, sagte sie. »Ich fürchte, ich bin gerade noch mit einem anderen Kunden beschäftigt. Würde es Euch etwas ausmachen, draußen zu warten?«

Das höhnische Grinsen des Jungen wurde breiter und er bedachte Zed mit einem feindseligen Blick. Zed neigte sogleich den Kopf, wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte. »Das macht doch nichts, Messere! Ich lasse Euch gern den Vortritt.«

»Wieso hast du so komische Ohren?«, fragte der junge Adlige betont desinteressiert.

Erst wurden Zeds Ohren heiß, dann sein Gesicht. Als sich das Schweigen in die Länge zog, wurde ihm klar, dass der Adlige tatsächlich eine Antwort von ihm erwartete.

»Ich bin … äh, elfen…« Zed war zu nervös, um mehr zu sagen. Brock hätte an seiner Stelle sicher eine bissige Erwiderung auf Lager gehabt. Aber als Sohn einer Dienerin konnte er sich keine bissigen Antworten erlauben.

»Der Junge hat Euch freundlicherweise seinen Platz angeboten, Messere«, sagte Makiva und deutete mit der Hand auf den Stuhl. »Zed, möchtest du solange draußen warten?«

»Es dauert nicht lange«, sagte der Adlige genervt. »Ich bin längst wieder weg, bevor er den Mund aufbekommt.« Er schaute auf den Stuhl, der ihm angeboten worden war, und stieß ihn mit dem Fuß beiseite. Offenbar zog er es vor zu stehen.

Makiva lehnte sich zurück. Sie legte den Talisman, an dem sie geschnitzt hatte, auf den Tisch, behielt das Messer aber in der Hand. »Nun denn«, sagte sie. »Welche Gilde wünscht Ihr Euch, werter Lord?«

Der Adlige sah sie einen Moment lang mit hochgezogener Augenbraue an. Dann strich er mit der Hand über die prächtige Rüstung, die er trug. »Die Bäcker natürlich. Was denn sonst?«

»Zu den Rittern also«, seufzte Makiva und erhob sich mit einem leisen Stöhnen von ihrem Stuhl. Sie streckte die Hand aus und suchte zwischen den Talismanen, die von der Decke hingen. Die Amulette stießen mit einem leisen Klimpern zusammen, das an einen abendlichen Regenschauer erinnerte. »Ich wüsste nicht, weshalb Ihr dazu einen Zauber von mir bräuchtet. So, wie Ihr diese Rüstung tragt, junger Lord Micah Guerra« – Makiva sprach den Namen des Jungen fast abwesend aus – »hätte ich erwartet, dass Ihr ein offensichtlicher Kandidat für die Steinsöhne wärt.«

Verlegen trat Zed von einem Fuß auf den anderen. Er hatte natürlich schon von den Guerras gehört, wusste aber kaum etwas über sie. Die Adelsfamilien lebten im Zentrum der Stadt, in Freestones herrschaftlichem innerem Bezirk. Ein Viertel, in dem die Leute vornehmlich mit riesigen Stammbäumen und dem Vererben von Titeln beschäftigt waren.

Zeds Mutter arbeitete zwar in einem dieser prunkvollen Herrenhäuser als Dienerin, wohnte aber mit ihrem Sohn in einem trubeligen Mietshaus in den Außenbezirken. Ebenso gut hätten sie in einer anderen Stadt leben können. Zed selbst hatte von den Adelshäusern bisher nur die Dächer gesehen, und das auch nur aus der Ferne.

Der junge Lord ließ die Schultern unter seiner Rüstung kreisen. »Ein Wunder, dass Ihr in diesem Schmuddellicht was sehen könnt.«

»Jedem erst- oder zweitgeborenen Adelskind ist ein Platz in einer der angeseheneren Gilden so gut wie sicher«, fuhr Makiva fort und kramte in ihren Talismanen, die wie eine Welle über ihren Köpfen hin und her schwangen. »Als Junge ist es Euch erlaubt, Euch um einen Platz bei den Rittern zu bewerben. Aber wenn Euch das nicht gelänge, würdet Ihr immer noch von der Beamtengilde aufgenommen werden, um unsere schöne Stadt zu regieren.«

Makiva legte eine Hand an ihren Hals und bog ihren Kopf mit einem Knacksen erst auf die eine, dann auf die andere Seite. »Aber das gilt nur für die ersten beiden Kinder, nicht wahr?«

Lord Micah Guerras Augen wurden schmal. »Lasst dieses Gerede!«

Makiva nickte brav. »Bitte entschuldigt, Messere.«

Zed begriff nun, worauf die Seherin anspielte. Bekam eine Familie in Freestone mehr als zwei Kinder, wurden das drittgeborene Kind und alle nachfolgenden automatisch in den Tempel des Goldenen Weges berufen – die Heilergilde. Der Goldene Weg gehörte zu den vier Hohen Gilden, zusammen mit den Zauberern, den Rittern und den Händlern. Die Heiler wurden in Freestone sehr verehrt, aber ihre Gilde war wie ein klösterlicher Orden. Ihre Mitglieder mussten einen heiligen Eid ablegen und wie Mönche oder Nonnen nach den Vorschriften des Goldenen Weges leben. Sie gaben Namen und Titel auf – und sie durften niemals eine eigene Familie gründen.

Das war eine der Maßnahmen, mit denen Freestone seine stetig wachsende Bevölkerung einzudämmen versuchte. Die Mauern konnten nun mal nur eine begrenzte Anzahl von Menschen beherbergen und sie vor den Schrecknissen, die außerhalb lauerten, schützen.

Wenn Micah Guerra tatsächlich zu jenen unglücklichen Drittgeborenen gehörte, würde er heute als Novize in den Tempel aufgenommen werden – es sei denn, die Ritter- oder die Zauberergilde beriefen ihn zuerst. Diese zwei besaßen ein Vorrecht bei der Gildenzeremonie.

»Ah!«, zwitscherte Makiva erfreut. »Da ist er ja.« Sie rupfte einen Faden von der Decke. Ein Amulett löste sich von den anderen und sie reichte es Guerra.

Der junge Lord musterte die Schnitzerei misstrauisch. »Das ist … Was ist das?«

»Das nennt man einen Dachs«, erklärte Makiva. »Früher haben diese Tiere außerhalb der Mauern gelebt. Vielleicht tun sie es immer noch. Überraschend garstige Geschöpfe, wenn man sie reizt, aber mit viel Familiensinn. Das macht dann drei Silbermünzen, bitte.«

Als Zed den Preis hörte, fing er an zu schwitzen. Brock hatte geschworen, es würde nur eine Silbermünze kosten.

Micah Guerra zog drei glänzende Münzen aus einer kleinen Tasche an seiner Taille und warf sie auf den Tisch der Wahrsagerin. Dann stürmte er ohne ein weiteres Wort aus dem Zelt, die Augen auf den hölzernen Talisman gerichtet.

Sobald die Zeltklappe hinter ihm zugefallen war, spürte Zed, wie sein angehaltener Atem aus ihm herausströmte, und seine Schultern entspannten sich.

»Also, das war mal … ungewöhnlich«, sagte Makiva. Sie setzte sich wieder auf den gepolsterten Stuhl hinter dem Tisch und deutete auf den Schemel, den Lord Guerra beiseitegestoßen hatte. »Wo waren wir?«, fragte sie und widmete sich wieder ihrem Schnitzwerk.

»Ich weiß schon gar nicht mehr, was war, bevor der Messere reingekommen ist«, erwiderte Zed mit einem nervösen Lachen und rückte mit brennenden Ohren den Schemel zurecht. Er zögerte und blieb unsicher vor dem Tisch stehen. »Es ist nur so«, fing er an, »ich glaube, ich sollte besser wieder gehen. Ich habe keine drei Silbermünzen.«

»Der junge Messere hat einen besonderen Adelstarif bezahlt«, erklärte die Seherin augenzwinkernd. »Ich bin mir sicher, dass wir beide uns schon einigen werden.« Erneut deutete sie auf den Schemel, ihr Blick gestattete keine Widerrede. Zed setzte sich mit einem dankbaren Lächeln. »Da du unterbrochen wurdest«, fuhr Makiva fort, »und noch dazu auf so unhöfliche Weise, wie ich hinzufügen möchte, will ich dir eine Wette anbieten, Zed.«

Zed schaute sie verwundert an. »Was für eine Wette?«

Makiva schwenkte ihren Dolch und zeigte mit großer Geste auf sämtliche Amulette im Zelt. »Wenn du den Talisman findest, der für dich gedacht ist, bekommst du ihn umsonst.«

Zed blieb der Mund offen stehen. Er hob den Kopf und ließ den Blick über das Meer der hölzernen, an dünnen Schnüren baumelnden Figuren wandern. Hunderte davon mussten in diesem düsteren Zelt hängen. Vielleicht noch mehr.

»Und wenn ich das nicht schaffe?«, fragte er nervös. In den Märchen musste man bei einer Wette mit einer Hexe immer einen grässlichen Preis bezahlen, wenn man verlor.

»Oh, das ist nicht schlimm. Ich verlange wirklich nur eine Kleinigkeit.« Makivas Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Du musst mir nur … einen Teil deiner Seele geben.«

Zed sah die Amulettverkäuferin erschrocken an.

Die Seherin fing an zu lachen und drückte die Hand mit dem Dolch gegen ihren Bauch – was, wie Zed fand, ein bisschen gefährlich aussah.

»Ihr einfachen Leute seid so leicht zu erschrecken«, sagte sie. »Nein, nein. Wenn du falsch rätst, zahlst du einfach den vollen Preis: eine Silbermünze. Aber du hast nur einen Versuch.«

Zed nickte und grinste nervös. Er schaute zur Decke hoch und dachte nach. In dem Zelt hingen so viele Talismane wie Sterne am Himmel. Einen ganz bestimmten unter ihnen ausfindig zu machen, war unmöglich. Schließlich richtete er den Blick wieder auf die alte Makiva.

»Ist es vielleicht dieser da?«, fragte er und deutete auf den Talisman in ihrer Hand – den, an dem sie gerade noch schnitzte.

Die Frau sah von ihrer Arbeit auf und ihr Mund verzog sich zu einem breiten Lächeln.

»Aber ja, genau das ist er«, sagte sie leise. Dann legte sie den Talisman auf den Tisch und schob ihn zu ihm rüber.

Zed konnte es nicht fassen. Er hatte doch einfach nur geraten! Er nahm den Talisman und hielt ihn hoch. Das Holzstück war zu einer kleinen Figur geschnitzt, mit einem buschigen Schwanz, der um den Körper geschlungen war. Ganz oben war ein kleiner Ring ausgehöhlt, durch den man ein oder zwei Schnüre ziehen konnte.

»Dieses Tier wird Fuchs genannt«, erklärte die Amulettverkäuferin. »Schlau und flink, mit leuchtend rotem Fell. Füchse sind nervöse, aber verspielte kleine Geschöpfe. Ein wenig wie du, denke ich. Früher glaubten die Menschen, sie hätten magische Fähigkeiten.«

Zed sah zu Makiva auf. »Er ist wunderschön«, sagte er. »Aber seid Ihr auch wirklich sicher?«

Die Amulettverkäuferin nickte. »Sagen wir einfach, der großzügige junge Lord Guerra hat für dich mitbezahlt.«

Zed steckte den Talisman in die Hose. Er spürte, wie er vor Freude dämlich grinste. »Vielen, vielen Dank«, sagte er.

»Ich habe noch was für dich«, fügte Makiva hinzu und suchte unter ihrem Tischtuch herum. »Eine Extrabelohnung, weil du so gut geraten hast.« Sie zog die Hand wieder hervor und streckte sie über den Tisch, die Finger fest geschlossen. Langsam öffnete sie ihre Faust.

Auf der Handfläche lag eine silberne Kette, die selbst in diesem düsteren Zelt so strahlte, als wäre sie aus Diamanten und nicht aus Metall. Jedes einzelne Glied war ein winziges Kunstwerk und fügte sich mit den anderen zu einem meisterhaften Schmuckstück zusammen.

»Sie ist …«, fing Zed an. Aber diese Kette »schön« zu nennen, würde ihr nicht gerecht werden. Fast meinte er, das Schmuckstück spräche zu ihm. Obwohl er noch nie etwas so fein Gearbeitetes gesehen hatte, erwachte bei dem Anblick ein vertrautes Gefühl der Sehnsucht in ihm.

Seine Augen wanderten von der schimmernden Kette zu Makiva. »Die muss doch ein Vermögen wert sein.«

»Sie ist tatsächlich unbezahlbar«, erklärte Makiva. »Auch wenn die Händler sicher alles versuchen würden, um sie für ein Vermögen zu verscherbeln. Du erinnerst mich an ihren letzten Besitzer, Zed. Wie lange ist es her, seit die Elfen ihre Waldläufer zu uns schickten?«

»Das war … vor zwölf Jahren«, antwortete Zed leise.

»Genau«, stimmte Makiva mit einem kleinen Lächeln zu.

Es gab keine Elfen in Freestone. Jedenfalls keine Vollblutelfen. Sie hatten ihre eigene Stadt – Llethanyl – mit eigenen Mauern und Sitten und Gilden. Oder wie derartige Dinge bei ihnen hießen.

Zed schaute noch einmal auf die Kette. Sie lag in der dunklen Hand der Talismanverkäuferin wie ein Mond, der sich in einem mitternächtlichen Teich spiegelte.

»Das kann ich nicht annehmen«, sagte er. »Sie ist zu kostbar.«

Makiva lächelte verschämt. »Nun, für mich bist du der einzige Mensch in dieser Stadt, der diese Kette haben sollte. Sie ist aus einem Metall gefertigt, das Mythril heißt und bei Elfen sehr beliebt ist. Es ist weniger zerbrechlich, als es den Anschein hat, das verspreche ich dir. Aber wenn du darauf bestehst, biete ich dir an, später noch eine Bezahlung anzunehmen. Wenn du am Ziel deiner Reise angekommen bist, können wir ja noch mal darüber reden.«

Zed dachte über dieses Angebot nach. »Danke«, sagte er schließlich und nahm die Kette von Makivas ausgestreckter Hand. Er schob das eine Ende durch den Ring an dem Fuchsamulett und freute sich darüber, wie schön der hölzerne Anhänger an der eleganten Kette aussah.

Draußen ertönte der erste Glockenschlag vom Tempel des Goldenen Weges und läutete damit den offiziellen Beginn des Morgens ein.

»Ich muss los«, sagte Zed. »Meine Mutter macht sich Sorgen, wenn sie mich auf dem Platz nicht sieht. Und es warten bestimmt noch andere Leute vor Eurem Zelt.«

Makiva seufzte in gespieltem Verdruss. »Davon bin ich überzeugt. Auf Wiedersehen, Zed. Und vergiss nicht, Kopf und Ohren heute immer schön hochzuhalten.«

Zed nickte lachend und schlüpfte aus dem Zelt, um seine Bestimmung zu finden.