Tu mir nix!

Wir Menschen sind von Haus aus schon einmal rein körperlich ziemlich verletzlich. Die meisten von uns werden ohne Panzer geboren (ja, alle, – das war ein Scherz!), sind also recht anfällig für dies und das und müssen zuallererst davor beschützt werden, sich in irgendeiner Weise zu verletzen, um groß und stark werden zu können.

Man kann uns auch vergiften, verprügeln, vergewaltigen. Ersticken geht (ohne Luft), erstechen (oder nur piksen), auch verbrennen kann vorkommen, ertrinken (viel Wasser!) ist möglich.

Denn für Verletzungen gibt es im Leben mannigfaltige Möglichkeiten: Wir können die Treppe herunterfallen und uns etwas brechen oder auf dem unbehelmten Kopf aufkommen und eine Gehirnerschütterung kriegen, wir können uns verbrühen (zum Beispiel in der Küche beim Kürbissuppe oder irgendetwas anderes kochen) oder schneiden (ebenda); nicht nur im Wilden Westen (auch beim Duell) können wir angeschossen oder gar erschossen werden und im ganz normalen Straßenverkehr an- oder überfahren werden.

Eine Operation kann fehlschlagen (sorry!), Gliedmaßen können uns abfaulen (Zehen, Ohren, Nase etc.), wir können sie uns quetschen und einklemmen (Finger und Autotür! Aua!), und wir können erfrieren (oder nur Teile von uns, etwa Zehen, Ohren, Nase etc.). Eine Schlange kann uns beißen (oder ein tollwütiger Hund) oder eine Mücke stechen (oder eine Wespe! Biene! Hornisse!), unsere Speiseröhre kann von zu scharfer Speise reißen (Chili!), wir können mit Krankheitserregern (haben Salmonellen irgendetwas mit Lachs zu tun?) infiziert werden und einen Schnupfen bekommen oder gefressen werden (nein, nicht von Salmonellen – von waschechten Kannibalen), traumatische Erlebnisse können uns krankmachen, wir können einen Stromschlag bekommen oder explodieren. Vielleicht.

Gelenke und Organe nutzen sich ab (je älter wir werden) oder sind schon genetisch bedingt nicht völlig in Ordnung. Wir können verhungern und verdursten, zu wenig Licht (Goethe: »Mehr Licht!« Zack – tot) und zu wenig Sauerstoff können uns krank machen. Wir können uns die Haut aufschürfen, uns überfressen (siehe Attila, der Hunnenkönig), das Falsche essen, zu viel trinken, das Falsche (immer aufs Etikett achten!) trinken. Einen Hitzschlag bekommen können wir auch oder vom Blitz getroffen werden (Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du auch nicht aufsuchen). Es kann etwas auf uns fallen, und wir können uns überanstrengen und dann mindestens Muskelkater kriegen. Wir können die falschen Drogen nehmen. Wir können eine Allergie entwickeln. Erblinden (aber nur vom Masturbieren). Stolpern und uns etwas ausrenken/auskugeln. Uns auf die Zunge beißen (selbst Vegetarier!).

Wenn man sich das so durchliest, merkt man: Wir Menschen sind wirklich ziemlich verletzliche Wesen. Außer, wir sind Superman. Aber das sind ja bekanntlich nur wenige von uns.

Und dann gibt es das alles noch in den verschiedensten Kombinationen. Also mit ausgekugelter Schulter vom Baum fallen, wo man einen vergifteten Apfel gegessen hatte, und dann unten mit Schürfwunden auf der Straße liegen und von einem Auto angefahren werden, das – mit einem selbst darunterliegend – explodiert. Jetzt mal nur als Beispiel.

Wir denken aber selten an all die Missgeschicke, die uns widerfahren könnten. An manche haben wir uns auch gewöhnt (Mückenstiche! Schnupfen!), und bei manchen ist die Wahrscheinlichkeit so gering, dass wir davon ausgehen können, dass wir niemals damit behelligt werden (Schlangenbiss nur im Sommer im Süden ohne Schuhe im hohen Gras; in eine Schießerei geraten genauso selten, aber auch mit Schuhen und ohne Gras). Vielleicht orientieren wir uns an Statistiken, um Gefahren zu umgehen, oder wir schützen uns entsprechend mit passender Kleidung (Kondome, Helme, Schutzanzüge, Schutzbrillen, Taucherausrüstung, kugelsichere Westen) oder mit entsprechenden Maßnahmen (Impfungen, weiträumiges Umschiffen von potenziell gefährlichen Situationen, nur mit Schuhen im hohen Gras im Süden. Im Sommer. Regelmäßige Kontrollen beim Arzt, gesunder Lebensstil, nirgendwo hinaufklettern, von wo man hinunterfallen könnte).

BODY AND SOUL

Und wir sind aber ja nicht nur körperlich verletzlich, nein, wir sind auch sensibel, kränkbar, unsere Seele ist verletzlich, aus körperlichen Verletzungen können seelische entstehen und auch andersherum.

Aber die meiste Zeit leben wir einfach fröhlich vor uns hin und denken an nichts. Also an nichts, was uns passieren könnte. Und das ist auch genau richtig so, sonst würde man ganz verrückt werden, wenn man immerzu daran denken würde, dass man ertrinken, erfrieren, ersticken – na, du weißt schon.

Vor allem im zwischenmenschlichen Umgang ist unsere Seele sehr verletzlich. Denn wir brauchen unsere Mitmenschen, Freundschaften, Beziehungen und ein respektvolles Miteinander. Wir sind auf das Wohlwollen anderer angewiesen, damit es uns gutgeht und wir seelisch intakt bleiben. Und wir haben Angst, dass sie uns meiden, wenn wir ihnen unsere vermeintlichen Schwächen zeigen, und schämen uns deshalb für alles Mögliche und behalten unsere Macken für uns.

Ein Dankeschön an Dr. Michael Zorawski. Er ist approbierter Psychologischer Psychotherapeut mit Schwerpunkt Kognitive Verhaltenstherapie in Hamburg und Norderstedt und hat mir auf meine Fragen kluge Expertenantworten gegeben.

Wie wir besser mit dieser ganzen Verletzlichkeit umgehen können, ohne ständig verletzt zu sein, darum geht es in diesem Buch. Aber Vorsicht: Alles, was du hier liest, entspringt meinen eigenen Erfahrungen und Überlegungen als verletzlichem Wesen. Und denen bekannter (und deshalb nicht weniger verletzlicher!) Menschen und Verletzlichkeits-Profis wie Dr. Zorawski.

Ich wünsche mir sehr, dass du dich nach der Lektüre weniger oft schämst und deine »Schwächen« als wertvollen Teil deiner Persönlichkeit anerkennen kannst.