King, Danny Amy X rennt allen davon

Bücher für coole Mädchen.
www.piper.de/youandivi

 

Übersetzung aus dem Englischen von Oliver Latsch

 

© Danny King
Titel des englischen Originalmanuskripts:
»Amy X and the Great Race«
© you&ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: zero-media.net, München
Coverabbildung: FinePic®, München

 

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Kapitel 1

Die Insel Pompolonia

Die Insel Pompolonia ist zwar klein, aber ganz groß, wenn es um Traditionen geht.

Fernab im opalblauen Südlichen Ozean, eine halbe Weltreise entfernt von ihren nächsten Nachbarn, haben die Pompolonier keinen Fernsehempfang, keine Internetverbindung, keine Satellitenschüsseln und erst recht kein Wi-Fi. Deswegen ist ihre Weltsicht auch ungefähr so weit wie ihre Aussicht oder wie man es auch ausdrücken könnte – etwa fünf Quadratkilometer groß.

Pompolonias einzige Verbindung zu anderen Kulturen ist ein Containerschiff, die SS Aquarius, die jedes Jahr Tausende von Kilometern zurücklegt, um Pompolonias einzigen Naturschatz abzuholen – Wasser.

Pompolonisches Wasser wird hochgeschätzt und in den besten Restaurants der Welt angeboten. Es sammelt sich als Regenwasser in den vulkanischen Kratern des Berges Pomp und rinnt in Gestalt von Flüssen, Strömen und Wasserfällen an seinen schroffen Flanken hinab. Dann geht die tropische Sonne wieder an die Arbeit und hebt es aus der See, womit der ganze Prozess von vorn beginnt. Als wäre die Insel ein allmächtiger Wasserhahn.

 

Auf ihrem Weg sammelt das Wasser alle möglichen Arten von Mineralien auf, denen nachgesagt wird, dass sie gut für das Wohlsein, wenn auch nicht den Wohlstand der Menschen sind. Mit hundert Euro pro Flasche ist pompolonisches Wasser ein Luxus, den sich nur die reichsten Restaurantgäste der Welt leisten können.

Und? Wie schmeckt es?

Wie Wasser natürlich.

Wie anders kann Wasser schon schmecken?

Der durchschnittliche Pompolonier hat gewöhnlich wenig Anteil an diesem Reichtum. Die meisten erledigen einfach ihre Arbeit in der gewaltigen Abfüllanlage der Insel, wo das Wasser gefiltert, abgefüllt und verpackt wird, immer auf den Tag hin, an dem die SS Aquarius am Horizont gesichtet wird, in die Oktopus-Bucht tuckert und das Leergut vom letzten Jahr zurückbringt.

Und was für ein Tag das ist! Alle Arbeiten kommen zum Erliegen. Die Straßen werden mit Girlanden geschmückt, und der König von Pompolonia schmeißt eine wilde Party in seinem Luftschloss, der königlichen Residenz ganz am Rand des Schiefergrats. Die Party ist ein prachtvolles Ereignis mit feinsten Speisen, feinsten Getränken und der feinsten Unterhaltung von ganz Pompolonia.

Jeder, der wer ist, nimmt mit Riesenspaß daran teil.

Jeder, der nichts ist, hängt die Girlanden auf.

Zusätzlich wird jedes Jahr zur Feier der Wasserernte ein großes Wettrennen veranstaltet. Es beginnt am Strand der Oktopus-Bucht, führt hinauf ins Hochland und über die Bergpfade zu den Ufern des Pompolosees. Alle, die im letzten Jahr zwölf wurden, müssen teilnehmen. Noch nie gab es eine Ausnahme. Euan Pinemore, ältester Sohn von Lord Pinemore, war der Titelverteidiger, etwas, um das ihn ganz Pompolonia beneidete (zumindest ging er davon aus). Aber das diesjährige Rennen würde Euan nicht gewinnen. Er würde teilnehmen, aber er würde nicht gewinnen. Diese Ehre gebührte Prinzessin Honor, der geliebten Tochter der Königs, welche im März zwölf geworden war und somit per Gesetz zum Rennen verpflichtet war.

Darüber war sie alles andere als glücklich.

Kapitel 2

Die Prinzessin von Pompolonia

Im Scheinwerferlicht

Name: Prinzessin Honor

Alter: Zwölf

Familie: Goldwyn-Glory

Zuhause: Luftschloss Schiefergrat

Familienfarbe: Gold

Beschreibung: Knochig, kratzbürstig und eitel

Mag: Kleider aus Seide, gläserne Schuhe, wunderschöne Juwelen, sich selbst

Mag nicht: So ziemlich alles und jeden

Typisches Merkmal: Schrecklich verwöhnt

Wünsche: Königin sein und von ihren Untertanen bewundert werden (von Weitem, denn die meisten riechen ziemlich schlecht)

 

»Das mache ich nicht. Ist mir egal, was du sagst. Ich muss nicht rennen. Mama hat gesagt, dass ich nicht muss, also ha!«, rief Prinzessin Honor und streckte ihrem Vater die Zunge heraus. Der König hatte sie gefragt, warum sie ihre juwelenbesetzten Laufschuhe noch nicht anprobiert hatte, die er extra für den Anlass aus London hatte kommen lassen.

»Ja nun, deine Mutter, die Königin«, antwortete der König, um seiner Frau den richtigen Titel zu geben, »macht hier nicht die Gesetze. Die mache ich.« Zumindest stand das so im Gesetzbuch, auch wenn er es nicht wirklich darauf ankommen lassen wollte, wäre die Königin mit im Zimmer gewesen. Sie war eine fabelhafte Frau, die Königin. Hart, aber gerecht – solange man auf ihrer Seite stand. Wenn man sie enttäuschte, war der Vulkan Pomp aber nicht mehr das Einzige, was auf der Insel explodieren konnte.

»Dann sag du es!«, verlangte die Prinzessin. »Sag ihnen, dass ich nicht renne. Sag ihnen, dass ich nicht rennen muss. Sag ihnen, ich bin Prinzessin und nicht wie alle anderen. Prinzessinnen sind wunderschöne Schneeflocken, einzigartig und zart. Wir stehen über solchen Dingen.« Dabei stampfte sie so fest mit dem Fuß auf, dass ihr gläserner Schuh in der Mitte durchbrach. Zum Glück waren ihre Füße noch bandagiert vom letzten Paar gläserner Schuhe, die sie in einem Wutanfall zerbrochen hatte.

Die Prinzessin zerbrach eine Menge gläserner Schuhe.

»Wir müssen alle rennen, mein Engel. Ich musste rennen, deine Mutter musste rennen, so wie alle Goldwyn-Glorys vor uns«, erklärte der König.

»Ich nicht. Ich mache das nicht. Nein. Nein. ICH NICHT!«, schrie sie. Beim bloßen Gedanken, mit verschwitzten Tiefländern den Berg Pomp hochzulaufen (oder sogar hochzurennen!), wurde ihre blasse Haut beerenrot. Die Prinzessin kam nicht gut mit armen Leuten klar, obwohl man gerechterweise sagen muss, dass sie auch mit reichen Leuten nicht gut klarkam. Sie war eine empfindsame Seele, und andere Menschen ekelten sie einfach an. Der König sagte sich immer, dass es nicht ihre Schuld war. Sie hatte einfach unmöglich hohe Ansprüche, was für Prinzessinnen doch eigentlich etwas Gutes war, oder?

Der König versuchte, ihr etwas den Druck zu nehmen. »Meine Zuckererbse, du musst nicht gewinnen, wenn du nicht willst. Du musst nur teilnehmen. Das ist nun mal Tradition«, sprach er, während er ihr durch ihr riesiges Schlafzimmer im Luftschloss folgte.

»Was soll das heißen, ich muss nicht gewinnen? Natürlich gewinne ich. Ich bin Prinzessin Honor, das großartigste Mädchen in ganz Pompolonia. Ich gewinne immer.« Das tat sie wirklich. Ganz egal, was sie anfing. Mensch ärgere dich nicht, Vier gewinnt, Tischtennis oder Wer ist es? – Prinzessin Honor gewann immer. Und der König und seine Bediensteten arbeiteten sehr hart daran, dass es auch so blieb.

»Natürlich gewinnst du, mein Schatz. Das versteht sich doch von selbst. Aber wenn du nicht teilnimmst, könnte es mit dem Gewinnen etwas schwierig werden«, sagte der König so behutsam wie möglich.

»Warum?«, wollte Prinzessin Honor wissen. »Erklär mich einfach zur Siegerin und lass alle anderen um den zweiten Platz rennen.«

Der König wandte sich an Lord Pinemore, einen buckeligen kleinen Mann, der sein Chefberater war. »Können wir das machen?«

Lord Pinemore dachte eine Weile nach, schüttelte dann aber bedauernd den Kopf. Der König mochte zwar die Regeln schreiben, aber Lord Pinemore war es, der sie alle kannte – ob es ihm gefiel oder nicht.

Nun versuchte der König eine andere Strategie.

»Wie wäre es, wenn ich für dich eine Party organisiere? Die großartigste Party, die diese Insel je gesehen hat?«

Prinzessin Honor stöhnte. »Du schmeißt nach jedem Rennen eine Party. Was soll daran so besonders sein?« Beim bloßen Gedanken daran ließ sie sich vornüber auf ihr herzförmiges Bett fallen.

»Nun, wir könnten eine noch größere Party veranstalten, größer als alle Partys, die wir je hatten … die ganze Nacht … mit dir als Ehrengastgeberin!« Der König wedelte begeistert mit den Armen.

»Das ist alles?«, muffelte die Prinzessin in ihre seidenen Laken.

»Und ein neues Kleid. Eine Siegerin braucht ein neues Ballkleid«, sagte der König. Das war für ihn ein Leichtes. Der König besaß nicht nur die größte Abfüllanlage der Insel, sondern er beschäftigte auch die Schneider, die Pompolonias neueste Moden entwarfen. Leider mussten fast alle Materialien von der anderen Seite der Welt eingeführt werden, weswegen diese Kreationen auch zum Heulen teuer waren. Dem Beispiel der königlichen Familie konnten nur wenige folgen, aber die Kleider der Prinzessin waren ja auch nur besonders, weil sich nicht jede Grethe so etwas leisten konnte. Zum Glück für die meisten Pompolonier war das Klima heiß, und es gab Unmengen von Kokosnüssen, sodass sich die meisten Inselbewohner von Mutter Natur einkleiden ließen. Wer brauchte schon seidene Unterwäsche, wenn es überall Gras und Muscheln gab?

»Und Juwelen?«, fragte Prinzessin Honor, die nun mal nicht zu denen gehörte, die regelmäßig Meeresfrüchte oder Kokosnüsse trugen.

»Aber natürlich auch Juwelen«, stimmte der König sofort zu. »Eine Prinzessin braucht jede Menge Juwelen. Sonst wäre sie doch keine Prinzessin.«

»Und einen Titel?«, setzte die Prinzessin erwartungsvoll hinzu.

»Ähm … Du hast bereits einen Titel, mein Schwälbchen. Du bist Prinzessin, nicht wahr?«, erinnerte sie der König.

»Ja und? Prinzessin bin ich jetzt schon ewig lange. Ich will Königin sein«, schnauzte Prinzessin Honor. Um ihren Wunsch zu untermauern, fing sie wieder an zu schmollen.

Der König nahm seinen ganzen Mut zusammen, um es ihr zu erklären. »Aber meine Elfe, deine Mutter ist die Königin.«

»Sie ist schon seit Ewigkeiten Königin. Wann bin ich endlich dran?«

»Wenn deine Mutter nicht mehr Königin ist«, antwortete der König so taktvoll wie möglich.

»Dann sagst du ihr, dass sie, wenn ich dieses dumme Rennen gewinne, zurücktreten muss und mich Königin werden lässt. Sag ihr: JETZT BIN ICH AN DER REIHE!«, zischte Prinzessin Honor.

Ihr Gesicht war ganz zerknittert. Sie schien bereit zu sein, beim ersten Anzeichen einer Ablehnung in die Luft zu gehen.

Der König nahm seine Krone ab und kratzte sich den schmerzenden Kopf. Prinzessin Honor war sehr sensibel. Die letzten zwölf Jahre hatte er versucht, ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Er hatte ihr jeden Luxus ermöglicht, ihr jedes modische Zubehör beschafft, aber nichts hatte geholfen. Wäre dies vielleicht eine Möglichkeit, sie endlich glücklich zu machen? In diesem Fall hatte der König nur eine Bitte.

»Vielleicht, mein goldener Sonnenschein … wäre es besser, wenn die Bitte von dir käme.«

Bis heute heißt es, dass Prinzessin Honors Antwort bis in die entferntesten Winkel der Insel zu hören war, sogar über das endlose Klirren der Flaschen hinweg.

Eine dringende Sitzung des königlichen Rats wurde einberufen, und es wurde beschlossen, den vorläufigen Titel Ihre Magnifizenz, unsere Künftige Königin für Prinzessin Honor zu schaffen, welcher ihr nach dem Sieg beim diesjährigen Großen Rennen zu verleihen sei.

Dies schien genug, um die Teilnahme von Prinzessin Honor zu sichern. Fast. Denn sie hatte nur noch eine Forderung. Eine letzte, kleine, unwichtige Bedingung, die kein liebender Vater jemals seiner Prinzessin verweigern konnte.

»ICH WILL EIN PONY!«, schrie sie.

Kapitel 3

Amy X

Im Scheinwerferlicht

Name: Amy

Alter: Zwölf

Familie: X

Zuhause: Letzte undichte Hütte auf der rechten Seite, Kurzgras

Familienfarbe: Weiß (inoffiziell)

Beschreibung: Klein, drahtig, krauses Haar

Mag: Sich weit entlegene Länder vorstellen, ihre Familie

Mag nicht: Vom Leben und dem Meer gefangen zu sein

Typisches Merkmal: Träumerin

Wünsche: Aus Pompolonia wegkommen und die Welt sehen

 

Weit unterhalb, in einer grasgedeckten Hütte, die mit Hunderten anderer solcher Hütten am Fuß des Berges kauerte, hatten ein anderer Vater und seine Tochter eine ähnliche, wenn auch etwas leisere Unterhaltung.

»Aber warum muss ich rennen?«, fragte Amy X, während ihr Vater vorsichtig die Regenfänger durch die Hüttentür trug, um sie auf der Straße auszuschütten. Jedes Dach in der Tiefebene leckte bei Regen, und es regnete oft in Pompolonia. Es wurde sogar gesagt, dass man den Wohlstand einer Tieflandfamilie an der Anzahl ihrer Regenfänger abzählen konnte. Je weniger man brauchte, desto wohlhabender war man.

Familie X hatte mehr als die meisten – mehrheitlich Kokosnussschalen, die fast die gesamte Oberfläche ihrer Hütte bedeckten.

»Es ist nun einmal Gesetz, leider«, sagte Amys Vater. »Ich musste rennen, als ich zwölf war, so wie deine Mutter und deine Oma und Opa und so weiter. So ist es nun mal, und so war es schon immer.«

»Und was soll das, wenn wir sowieso nie gewinnen?«

Das entsprach der Wahrheit. In den achtundneunzig Jahren, in denen das Große Rennen stattgefunden hatte, hatte noch kein einziger Tiefländer auch nur annähernd gewonnen. Außer zweien war überhaupt noch keiner ans Ziel gelangt. Die Sieger kamen immer aus einem der sieben Großen Häuser, hauptsächlich den Pinemores, deren Familie fast doppelt so viele Rennen gewonnen hatte wie deren nächste Rivalen und die auf der Siegertabelle des Großen Rennens mit vierunddreißig Siegen weit vorn standen.

Familienname / Siege

Pinemore Vierunddreißig

Holt-Stamper Neunzehn

Goldwyn-Glory Achtzehn

Wonger Vierzehn

Lovejoy Neun

Fudge Drei

Knight Eins

 

 

Aber im Haushalt der Familie X standen keine Trophäen. Keine Schalen, keine Medaillen oder Rosetten für den zweiten Platz. Nur Regenfänger. Jede Menge Regenfänger.

»Für mich ist das ein arbeitsfreier Tag, und du hast schulfrei«, erklärte Amys Vater, und das war ja immerhin etwas. Amy mochte die Schule nicht. Sie war ein kluges Mädchen, und sie lernte liebend gern, aber in der Schule gab es nur zwei Fächer – die Geschichte Pompolonias (womit die Geschichte der sieben Großen Häuser gemeint war) und Flaschenziehen, was alle Pompolonier schon im frühen Alter lernen mussten. Es gab noch nicht einmal irgendwas zum Schreiben, weil Schreibmaterialien so teuer waren.

Genau wie die Seidenkleider der Prinzessin musste auch alles andere von der Außenwelt eingeschifft werden, also waren Importe ein Luxus, den sich nur wenige leisten konnten. Tatsächlich hatten die astronomischen Preise für Papier und Tinte sogar eine besondere Auswirkung auf die Menschen von Pompolonia. Auf jeden Fall zumindest auf die Tiefländer – dass sie nämlich bei der Anmeldung neugeborener Kinder per Buchstaben zahlen mussten. Deswegen wählten sie die kürzestmöglichen Namen.

So war es auch bei Amy X. Ihre Eltern hießen Jay und Beh X, nur wurden sie nicht J-A-Y und B-E-H geschrieben. Auf Papier hießen sie einfach J und B.

J X und B X.

Amys Mutter und Vater hatten nie wirklich die Erniedrigung verarbeitet, dass sie nur zwei Buchstaben in ihren Namen hatten. Also arbeiteten sie ihr ganzes Leben sehr hart, um Amy und ihrem Bruder Tom ordentliche Namen zu kaufen. Das war das Wenigste (und unglücklicherweise das Einzige), was sie für sie tun konnten.

»Aber es ist ja gar kein echter freier Tag, weil ich rennen und du jubeln musst«, sagte Amy, während sie den letzten Regenfänger aus der Hüttentür schüttete. Dunkle Wolken türmten sich im Osten und sagten ihr voraus, dass er am Morgen schon wieder voll sein würde. Aber es brachte nichts, sich in Pompolonia über das Wetter zu beschweren. Je mehr es regnete, desto mehr Wasser gab es abzufüllen. Die Wirtschaft der Insel hing vom Regen ab.

»So ist es Tradition«, sagte ihr Vater, der gerade eine Kokosnuss ausschüttete und dabei gleich in die nächste trat. »So sind wir.«

Amy war sich nicht sicher, dass sie so sein wollte. Aber welche Wahl hatte sie denn? Sie konnte nicht über den Ozean schwimmen, um zu sehen, was es dort draußen noch gab, und die SS Aquarius nahm keine Passagiere an Bord, zumindest keine mit leeren Taschen. Welche Möglichkeiten hatte sie, je von dieser Insel wegzukommen, wenn sie sich nicht einmal einen ordentlichen Namen leisten konnte?

»Keine Sorge!« Ihr Vater legte ihr aufmunternd einen Arm um die Schultern. »Es ist gut, dass wir nie gewinnen. Das heißt, wir müssen es auch gar nicht versuchen.«

Kapitel 4

Zuckerstrand

Im Scheinwerferlicht

Namen: Sid +, Max @, Ivy #, Sue ~, Mia =, Leo *

Alter: Alle zwölf

Familie: Verschiedene

Zuhause: Verschiedene Hütten in Kurzgras, Dünewest und Blumenwies

Familienfarbe: Keine

Beschreibung: Bunt gemischt und doch ähnlich

Mögen: Spielen, schwimmen, erforschen, lachen

Mögen nicht: Schule

Typische Merkmale: Gehorsam, froh, sorglos

Ziele: Heute genießen. Morgen soll sich um sich selbst kümmern

 

Am Morgen des Großen Rennens holten sich die Läufer ihre Nummern und Schilder von den Organisatoren am Zuckerstrand ab.

Der Zuckerstrand hieß so wegen des reinen weißen Sands, der seine Bucht säumte. Allerdings hatte noch nie ein Tiefländer jemals echten Zucker gesehen, geschweige denn probiert. Es konnte sowieso keiner verstehen, wieso man sich so etwas in seinen Tee schütten konnte. Es war grobkörnig, rau und hatte einen stark fischigen Geschmack. Die Tiefländer waren überzeugt, dass die Menschen in zuckerliebenden Ländern schon etwas seltsam sein mussten.

Amy liebte das Gefühl von Sand unter den Füßen. Er war weich und warm, und bei jeder noch so leichten Drehung sank der Fuß bis zum Knöchel ein. Auf diesem Sand zu rennen, war wie durch Sirup laufen und mit viel Schnaufen, Stöhnen und wenig Bewegung verbunden. Aber zumindest würde es allen so ergehen.

Tiefländer, Hochländer, Arme, Reiche – auf dem Strand wären sie alle gleich.

Aber nach einhundert Metern verließ man schon den weichen weißen Sand und lief auf den Inselpfaden, durch die Straßen von Kurzgras, die Wiesen von Langgras und dann hoch durch Westkiesel, Schotterberg, Lavafall, Findlingsdorf, Hochfels, Schwarzglas und um den Schiefergrat herum, bevor es hinab in den Krater und zu den kühlen, kristallklaren Wassern des Pompolosees ging, wo das Rennen endlich zu Ende wäre.