Brandhorst, Andreas Das Flüstern

Mehr über unsere Autoren und Bücher:
www.piper.de

 

Wenn Ihnen dieser Thriller gefallen hat, schreiben Sie uns unter Nennung des Titels »Das Flüstern« an empfehlungen@piper.de, und wir empfehlen Ihnen gerne vergleichbare Bücher.

 

© Piper Verlag GmbH, München 2019
Covergestaltung: zero-media.net, München
Covermotiv: FinePic, München

 

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

Eins

Ich bin immer bei dir.

Wie es begann

1 Plötzlich war das Licht da, ein schmerzhaft grelles Licht, das direkt vor ihnen aus der Nacht gleißte.

»Was macht er da?«, fragte Mutter. »Er kommt direkt auf uns zu.«

»Ich sehe nichts«, sagte Vater. »Ich kann überhaupt nichts mehr sehen.« Er löste eine Hand vom Steuer und hob sie zu den Augen.

Es geschah, was schon mehrmals geschehen war – Deutlichkeit kam, eine langsame Präzision, die anderen Menschen fehlte, wie Nikolas bereits wusste. Er fand sie interessant, diese Deutlichkeit, die ihm jedes noch so kleine Detail zeigte, mit genug Zeit, um alle Einzelheiten zu betrachten. Innere Augen schienen sich zu öffnen, mit denen man viel mehr sehen konnte, und da waren auch innere Ohren, die mehr hörten. Das grelle Scheinwerferlicht des Fahrzeugs, das ihnen auf der schmalen Straße entgegenkam, verlor etwas von seiner schmerzhaften Intensität, und Nikolas sah den Schrecken im Gesicht seiner Mutter auf dem Beifahrersitz, ihren Mund, zu einem Schrei geöffnet, der erst in einigen langen Sekunden erklingen würde. Sie streckte beide Hände nach vorn, dem Armaturenbrett entgegen, sie neigte den Kopf, was das lange braune Haar in Bewegung brachte. Nikolas beobachtete, wie ihr eine Strähne in die Stirn fiel, über die Wimper strich, und er stellte sich vor, wie es kitzelte. Der Schrei war noch immer nicht erklungen, es dauerte noch ein oder zwei gedehnte Sekunden, Zeit genug, die Beobachtungen fortzusetzen.

Sein Vater: die eine Hand über den Augen, die andere fest ums Lenkrad geschlossen, das Gesicht seltsam starr, wie eine der Keramikmasken, die Nikolas einmal gesehen hatte. Sein Vater nahm den Fuß vom Gas, hob ihn so langsam, als kostete es ihn Mühe, setzte ihn aufs Bremspedal und trat zu. Etwas quietschte, aber die Reifen konnten es nicht sein, denn die Straße war nass vom Regen. Es quietschte und knallte, und mehrere Löcher bildeten sich in der Windschutzscheibe. Vaters Hand fiel von den Augen, und Nikolas sah das Blut auf seiner Stirn, eine kleine spritzende Fontäne. Das Lenkrad drehte sich ohne steuernde Hand, der Fuß rutschte von der Bremse …

Und da war der Schrei, in die Länge gezogen, ein dumpfes Brummen, das zu einem Röcheln wurde, denn eine der Kugeln, die Löcher in die Windschutzscheibe geschlagen hatten, traf Mutters Mund, eine zweite ihren Hals.

Vater?, dachte Nikolas, der mit den inneren Augen sah und mit den inneren Ohren lauschte. Was geschieht mit euch?

Etwas zischte und pfiff dicht an ihm vorbei, ohne ihn zu treffen, und der Wagen drehte sich, es knallte erneut. Die Windschutzscheibe zersprang, und Nikolas saß geduckt im Splitterregen, die kleinen Hände über den Kopf gehoben, vom Kindersitz auf der Rückbank gehalten, als der Wagen ins Schleudern geriet und sich überschlug.

Chaos verwischte die Einzelheiten selbst für die anderen Augen, und verschiedene Geräusche verschmolzen zu einem donnernden Getöse. Als die Welt aufhörte, sich zu drehen, und als das Krachen der Stille wich, befand sich Nikolas nicht mehr im Auto, sondern zwischen Bäumen – er lag auf einem Polster aus Moos und welken Blättern, der zerbrochene Kindersitz an seiner Seite. Arme und Beine taten ihm weh, vielleicht auch der Bauch. Ein Rest von Deutlichkeit existierte noch und zeigte ihm zwei Gestalten, offenbar Große, beim Wrack des Wagens ein Dutzend Meter entfernt, gestreift vom Scheinwerferlicht eines auf der Straße stehenden Fahrzeugs. Die beiden Silhouetten traten von einer Seite des Wagens zur anderen, zwei Schemen in der Nacht, zwei Schatten, die etwas mehr Substanz gewannen, wenn ihre Schritte sie zum Licht brachten. Nikolas versuchte mehr zu erkennen, aber die Deutlichkeit verließ ihn, die inneren Augen wurden blind, die inneren Ohren taub.

Die Dunkelheit der Nacht schloss sich um ihn.

Zeit verging. Nikolas schloss die Augen, die richtigen Augen, die weniger sahen als die anderen, und vielleicht schlief er. Stimmen weckten ihn, aufgeregte Stimmen, die beim verbeulten, durchlöcherten Autowrack erklangen. Mehrere Wagen standen auf der Straße, einige von ihnen mit laufendem Motor. Ihr Scheinwerferlicht reichte bis zum Waldrand.

Jemand näherte sich. Ein Großer, eine Frau, glaubte Nikolas.

»Mutter?«, fragte er. Er hatte nie Mama gesagt, immer nur Mutter. Oder Vater. Auch das unterschied ihn von den anderen Kindern.

»Mein Gott, hier liegt jemand.« Sie drehte den Kopf und rief: »Hier liegt ein Kind!«

Nein, nicht Mutter, eine andere Frau. Nikolas blieb liegen, ohne Schmerzen in den Gliedmaßen, aber müde. Er blickte zu der Frau hoch, die sich über ihn beugte.

»Er lebt!«, rief sie. »Der Junge lebt!«

Weitere Große eilten herbei, unter ihnen ein Mann, der ihn berührte und vorsichtig betastete.

»Er ist voller Blut, aber unverletzt«, sagte der Mann, der vielleicht ein Arzt war. »Er muss einen Schutzengel gehabt haben.«

Abschied

Als Nikolas schlief, träumte er wieder von der Tür. Mal war sie groß und rund, bei anderen Gelegenheiten klein und quadratisch, wie eine Katzenklappe in leerer Luft. Oft verbarg sich die Tür im Schatten, und er musste aufmerksam Ausschau halten, um sie zu bemerken. Einmal hatte er sie auch im hellen Sonnenschein gesehen, bei einem Blinzeln am richtigen Ort und zur richtigen Zeit. Wenn er sich der Tür zu nähern versuchte, wurden die Beine schwer, oder sie steckten plötzlich in unsichtbarem Morast, in dem sie kaum mehr vorankamen.

Er hätte gern herausgefunden, was sich hinter ihr verbarg, doch bisher war es ihm noch nie gelungen, sie zu erreichen. Er schaffte es auch diesmal nicht – eine Hand weckte ihn.

Sie legte sich ihm auf die Schulter, die Hand eines Großen, und Nikolas fühlte das Zögern in ihr, als fürchtete der Große, er könnte sich anstecken. So waren die Großen manchmal. Sie hielten ihn für krank, und etwas in ihnen, ein tief verwurzelter Instinkt, glaubte an die Möglichkeit einer Infektion.

»Nikolas?«

Er öffnete die Augen.

Die Hand wich von seiner Schulter.

»Er sieht mich an«, stellte der neben dem Bett stehende Mann fest. »Sie haben doch gesagt …«

»Es liegt eine Beeinträchtigung beim Empfangen und Senden nicht sprachlicher Signale vor«, erwiderte jemand, die Stimme einer Frau. »Aber es ist kein klassisches Asperger-Syndrom. Wir wissen noch nicht genau, wie wir ihn klassifizieren sollen.«

»Empfangen und Senden«, wiederholte der Mann. »Das klingt nach einem Apparat. Du bist kein Apparat, oder?«

Nikolas starrte stumm. Er wusste nicht, was er von diesem Mann halten sollte. Sein Gesicht war weich und freundlich, aber die grauen Augen passten nicht dazu; ihr Blick war so scharf wie die Klingen von Messern.

»Geht er zur Schule?«, fragte der Mann.

»Er ist älter, als er aussieht«, sagte die Frau. »Im Januar ist er acht geworden. Er besucht eine Sonderschule.« Sie trug einen weißen Kittel. Eine Krankenschwester oder Ärztin, dachte Nikolas. Offenbar hatte man ihn in ein Krankenhaus gebracht. Wieso befand er sich in einem Krankenhaus, wenn er unverletzt war, wie der Große in der Nacht gesagt hatte? Arme und Beine taten nicht mehr weh, und auch der Bauch fühlte sich normal an. Nur hinter seiner Stirn klopfte ein kleiner Hammer auf einen geistigen Amboss. Das Bild gefiel ihm. Er stellte sich einen kleinen Mann vor, gerade groß genug, um in seinen Kopf zu passen. Er stellte sich vor, wie der kleine Mann mit seinem kleinen Hammer ausholte und ihn auf einen Amboss schlug, der aus Gedanken bestand.

Nikolas lächelte.

»Er lächelt«, sagte der Mann. »Warum lächelt er?«

»Vielleicht gefallen Sie ihm.«

Nikolas hörte in der Stimme etwas, das den Worten widersprach. Die Krankenschwester oder Ärztin scherzte. Er hatte gelernt, so etwas zu erkennen.

Der Mann brummte. »Kann er mich verstehen? Ich meine …«

Die Frau seufzte. »Ich weiß, was Sie meinen. Ja, er kann Sie verstehen.«

»Die Angehörigen sind verständigt?«

»Ich habe vor zehn Minuten mit ihnen telefoniert. Sie sind unterwegs.«

»Der Bruder des Opfers und seine Frau«, sagte der Mann.

»Nicks Onkel und Tante, ja.«

»Nick«, sagte der Mann. »Das ist sein Spitzname?«

»So nennen ihn seine Freunde.«

Ein Name fiel Nikolas ein. Anna Gentile. Doktor Anna. Natürlich. Namen bereiteten ihm manchmal Probleme, aber diesen Namen hätte er sofort mit der Stimme in Verbindung bringen müssen. Anna, deren italienischer Nachname »Freundlich« bedeutete. Sie kannten sich seit den ersten Arztbesuchen vor langer, langer Zeit.

»Wann sind Onkel und Tante hier?«, fragte der Mann mit den Messern in den Augen.

»In einer halben Stunde.«

»Das sollte genügen«, sagte der Mann. »Lassen Sie mich mit dem Jungen allein.«

»Ich kenne ihn«, erwiderte die freundliche Anna. »Vielleicht sollte ich besser hierbleiben und …«

»Nein.« Etwas von der Schärfe in den Augen sprang in die Stimme des Mannes. »Ich möchte mit ihm allein sein. Keine Sorge, ich stelle ihm nur einige Fragen, das ist alles. Fragen können ihm doch nicht schaden, oder?«

Doktor Annas Kopf erschien kurz in Nikolas’ Blickfeld. Er sah ihr schmales Gesicht mit den großen Augen, von langem dunklem Haar umrahmt. Sie lächelte. »Bis später, Nick!«

Bis später, dachte er, aber der Mann fesselte den größten Teil seiner Aufmerksamkeit, und deshalb schwieg er, als Doktor Anna das Zimmer verließ.

»Ich bin Roberto Lerotto«, sagte der Mann. Er zog sich einen Stuhl heran und nahm Platz. »Meine Freunde nennen mich Bob.«

Er war noch kein Freund – er würde vielleicht nie einer werden –, und für jemanden, der kein Freund war, saß er zu nahe. Die geringe Distanz bereitete Nikolas Unbehagen. Er rutschte im Bett ein wenig zur Seite.

»Ich ermittle in dem Mordfall, der deine Eltern betrifft«, sagte Lerotto. Es folgte Stille. Der Mann schien auf eine Antwort zu warten.

»Verstehst du?«

Nikolas schwieg. Sein Blick, unterstützt von ein bisschen Deutlichkeit, untersuchte die Messer in den Augen des Mannes.

»Es war kein gewöhnlicher Unfall«, sagte Roberto Lerotto. »Deine Eltern sind ermordet worden.«

»Sind sie tot?«, fragte Nikolas.

Der Mann – Bob – zuckte leicht zusammen, als Nikolas die ersten Worte sprach, doch er fing sich schnell und sagte:

»Sonst hätte ich wohl kaum von einem Mord gesprochen, Junge.«

»Ich heiße Nikolas«, sagte Nikolas, für den Fall, dass der Mann seinen Namen vergessen hatte.

Lerotto lehnte sich zurück.

»Dies ist ein Krankenhaus«, sagte Nikolas. »Warum bin ich hier? Ich bin gesund.«

»Na ja, gesund … Aber du bist nicht verletzt, das stimmt. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Du warst voller Blut, du musstest untersucht werden. Und hier können wir dich besser schützen.« Lerotto deutete zur Tür. »Zwei Polizisten stehen im Flur und passen auf.«

»Auf was?«, fragte Nikolas neugierig.

»Darauf, dass niemand hereinkommt, der nicht hereinkommen darf.«

»Wer darf nicht herein?«, fragte Nikolas.

»Leute, die dir vielleicht schaden wollen.«

Dies war ein Krankenhaus, erinnerte sich Nikolas. Wer sollte in einem Krankenhaus anderen Leuten schaden wollen?

Offenbar hatte er die Frage laut ausgesprochen, ohne es zu merken – das geschah manchmal –, denn Roberto Lerotto, von seinen Freunden Bob genannt, sagte: »Die Leute, die deine Eltern umgebracht haben.«

Nikolas blickte zur Tür. Die freundliche Anna hatte sie einen Spaltbreit offen gelassen.

»Sind Sie Polizist?«, fragte er.

Der Mann hob die Brauen. »Habe ich das nicht gesagt?«

»Nein.«

»Ja, ich bin Polizist.« Es klang zufrieden. »Das bedeutet, du musst meine Fragen wahrheitsgemäß beantworten.« Er beugte sich vor und verkürzte damit die Distanz. »Dein Vater war ein böser Mann. Hast du das gewusst?«

Nein, das hatte Nikolas nicht gewusst. Er schüttelte den Kopf.

»Er war ein böser Mann, der gegen das Gesetz verstoßen hat.« Lerotto betonte jedes Wort, vielleicht um sicherzugehen, dass Nikolas verstand. »Andere böse Leute haben ihn und deine Mutter erschossen. Was ich von dir wissen möchte, Junge: Hast du etwas gesehen?«

Was war das für eine Frage? Natürlich hatte er etwas gesehen, auch mit der Deutlichkeit: das plötzliche grelle Licht, die Löcher in der Windschutzscheibe, das Loch in der Stirn seines Vaters, das Blut, das aus Mund und Hals seiner Mutter spritzte. Etwas davon hatte ihn getroffen; deshalb war er voller Blut gewesen.

»Ja«, sagte Nikolas, ohne etwas hinzuzufügen.

»Und?«, fragte Lerotto nach einer Weile. »Was hast du gesehen?«

Nikolas öffnete den Mund … und zögerte. Etwas in ihm hielt es für falsch, zu viel preiszugeben.

»Helles Licht von Scheinwerfern habe ich gesehen. Und dann die Löcher in der Windschutzscheibe. Und dann hat sich alles gedreht. Und dann hab ich im Wald gelegen.«

Roberto Lerotto musterte ihn eine Zeit lang. Die Messer in seinen Augen wichen ein wenig zurück, und er schüttelte den Kopf. »Dass dich nicht eine einzige Kugel getroffen hat … Es wurden einundvierzig Schüsse abgegeben, aus Schnellfeuergewehren, und der Wagen überschlug sich, nachdem er von der Straße abkam. Es ist mir ein Rätsel, wie du unversehrt bleiben konntest. Ich meine, völlig unversehrt. Nicht einmal eine Schramme, von gebrochenen Knochen ganz zu schweigen. Wie ist das möglich?«

Die Arme und Beine haben mir wehgetan, dachte Nikolas. Er sagte: »Ein Schutzengel.«

Roberto Lerotto von der Polizei wölbte erneut die Brauen. »Ein Schutzengel?«

»Das hat der Mann gesagt, der mich gefunden hat. Zuerst fand mich die Frau, und dann kam ein Mann und sagte: ›Er muss einen Schutzengel gehabt haben.‹«

»Daran erinnerst du dich? Doktor Gentile meint, dass es dir manchmal schwerfällt, dich zu erinnern. Offenbar ist dein Gedächtnis sehr lückenhaft, und bisweilen findest du auch nicht die richtigen Worte, um zu beschreiben, was du gesehen oder gehört hast. Hinzu kommt: Was du erlebt hast, muss ein schwerer Schock für dich gewesen sein.«

Ein Schock?, dachte Nikolas. Wie dumm von dem Mann. Oder nein, halt, nicht dumm, sondern unwissend. Bestimmt wusste er viel, wie alle Großen, aber hiervon wusste er nichts. Er hatte keine Ahnung, dass die Deutlichkeit alles dämpfte, bis auf die anderen Augen und Ohren. Die Deutlichkeit kannte keine Schocks.

»Streng dich an, Junge«, sagte Roberto Lerotto. Er beugte sich noch etwas weiter vor und kam so nahe, dass Nikolas den Wind seines Atems fühlte. Er versuchte zu entscheiden, welche Blume oder Pflanze dieser Mann von der Polizei war. Das machte er manchmal, Menschen mit Blumen oder anderen Pflanzen vergleichen. Roberto »Bob« Lerotto von der Polizei war … ein Kaktus? Nein, Pampasgras. Schön anzusehen und harmlos wirkend, bis man es berührte und feststellte, dass die Blätter, die Halme, scharfe Kanten hatten, so scharf, dass sie schneiden konnten.

»Pampasgras«, sagte Nikolas.

»Was?«

Nikolas lächelte. Er verstand, aber der Große verstand nicht. Das gefiel ihm.

»Machst du dich über mich lustig, Junge?« Lerotto schnaufte und wich zurück. »Streng dich an. Überleg genau. Nach dem Unfall, der dich aus dem Auto geschleudert hat … Hast du jemanden gesehen? Ich meine, bevor der Mann kam, der vom Schutzengel gesprochen hat. Hast du jemanden beim Wagen gesehen? Die Täter? Die Leute, die auf euch geschossen haben?«

Nikolas dachte an die beiden Silhouetten, an die Schatten in der Nacht.

»Nein.«

»Wirklich nicht? Wenn du jemanden gesehen hast, wenn du die Täter beschreiben kannst … Das würde uns sehr helfen.« Lerotto legte eine kurze Pause ein. »Deine Eltern würden sich freuen. Ich meine, es wäre bestimmt in ihrem Sinn, wenn du uns dabei hilfst, ihre Mörder zu finden.«

»Ich habe nichts gesehen.«

»Die Täter glauben vielleicht, dass du sie gesehen hast.« Lerotto stand auf. »Sie glauben vielleicht, dass du sie identifizieren kannst. Du solltest uns sagen, was du weißt. Dann können wir dich besser schützen.«

»Ich weiß nichts«, sagte Nikolas.

»Na schön.« Lerotto ging zur Tür. »Wenn dir etwas einfällt … Ruf einen der Polizisten im Flur. Oder bitte Doktor Gentile, mich zu verständigen«, sagte er, als die freundliche Anna hereinkam; sie schien direkt vor der Tür gewartet zu haben.

»Bis dann, Junge. Ich nehme an, wir sehen uns bei der Beerdigung.« Lerotto verließ das Zimmer.

Doktor Anna kam zum Bett und blieb einen Meter davor stehen. Sie kannte den richtigen Abstand.

»Pampasgras«, sagte Nikolas.

Sie lächelte ihr warmes, sanftes Lächeln. »Ja. Schlaf jetzt, Nick. Schlaf ist manchmal die beste Medizin.«

Ich bin unversehrt, dachte Nikolas. Ich brauche keine Medizin. Aber er war müde und schlief ein.

 

Nikolas beobachtete die Fliege, wie sie an der langen weißen Kerze emporkrabbelte, angelockt von der Flamme ganz oben; wie sie innehielt, als sie die Hitze des Feuers zu spüren begann; wie sie sich nach rechts und links wandte, auf der Suche nach einem Weg zum Feuer, zum Licht. Er überlegte, was sie sah, mit ihren Hunderten oder Tausenden von kleinen Augen, und was sie hörte. Hatten Fliegen Ohren, mit denen sie hören konnten? Hörten sie vielleicht mit den Beinen? Oder verwechselte er das mit Heuschrecken? Hörte die Fliege mit ihren Beinen, wie der Mann im dunklen Gewand vor dem Altar und den beiden Särgen »Dein Reiche komme …« sagte? Wie seltsam die Welt doch sein konnte, dachte Nikolas und kicherte.

»Was lachst du, Dussel?«, zischte Tante Adele leise. »Dies ist eine ernste Angelegenheit.«

Ihr Vorname begann ebenfalls mit einem A, wie der von Doktor Gentile, der freundlichen Anna, aber da hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Anna war eine Lilie, hübsch und weich, ohne scharfe Kanten – sie duftete sogar wie eine Lilie. Tante Adele hingegen war eine Distel, voller Dornen und Stacheln, oder vielleicht eine Brennnessel, bei der man Schmerzen bekam, wenn man sie berührte. Die Nase trug sie so hoch, als wollte sie damit den Himmel riechen.

»Dein Wille geschehe«, sagte vorn der Mann, der Priester, »wie im Himmel, so auf Erden …«

Das hatte Nikolas nie verstanden. Die Großen hielten sich für so vernünftig und wissend, doch sie glaubten an etwas Allmächtiges, das über alles wachte. Wenn das Allmächtige wirklich allmächtig war, warum gab es dann so viel Schlimmes auf der Welt? Er hatte mit Anna darüber gesprochen, und sie hatte gelächelt und es ihm zu erklären versucht, mit Worten, die für Nikolas ohne Sinn blieben. Was nützte Allmächtigkeit, wenn man die grenzenlose Macht nicht nutzte, um Schlimmes zu verhindern?

Er beobachtete erneut die Fliege an der Kerze. Eine schlaue Fliege, schlau genug, die gefährliche Hitze zu meiden, die sie verbrennen konnte, und gleichzeitig dumm, denn sie erkannte nicht, dass Gefahr von dem Feuer ausging, von dem Licht, das sie lockte.

»Amen«, sagte der Mann im dunklen Gewand und alle wiederholten: »Amen!«

»Sag Amen«, zischte Tante Adele. Sie gab ihm einen Stoß. »Sag es, na los!«

»Lass ihn, Adele«, sagte Onkel Carlo leise. »Es geht ihm nicht gut. Er steht noch unter Schock.«

Onkel Carlo war eine Palme, deren Blätter Schatten spendeten und zum Ausruhen einluden. Oder vielleicht ein Krokus. Krokusse waren viel kleiner als Palmen, aber aus irgendeinem Grund passten sie ebenfalls zu Onkel Carlo.

»Unter Schock? Er hat gelacht!«

»Er ist ein Kind.«

»Er ist ein Dussel«, sagte Tante Adele mit ihrer Distelstimme. Auch ihre Worte hatten Stachel. »Er versteht nichts. Er versteht nicht einmal, was hier vor sich geht.«

»Pscht!« Das kam von einer dicken, schwitzenden Frau in der Reihe hinter ihnen.

Tante Adele drehte den Kopf, und Nikolas stellte sich vor, wie sie der dicken Frau die Zunge herausstreckte; das hätte zu ihr gepasst. Er kicherte erneut.

»Sei still«, zischte Tante Adele. »Lach nicht. Hier gibt es nichts zu lachen.«

Auf der anderen Seite des Kirchenschiffs – das gar nicht wie ein Schiff aussah, es fehlten Masten und der ganze Rest – stand Roberto Lerotto, den seine Freunde Bob nannten. Im Gegensatz zu all den anderen Großen in der Kirche beobachtete er nicht den Priester und die Messdiener. Nikolas spürte seinen Blick, aufmerksam und wieder messerscharf.

Der Priester sprach weitere Worte, er ging zu den Särgen und bewegte dort die Hände auf die besondere Weise, wie nur Priester sie bewegten. Für einen Moment sah Nikolas die Fliege wieder. Sie schwirrte dicht über dem Kopf des Mannes im schwarzen Gewand, als suchte sie nach einem geeigneten Landeplatz. Schlaue Fliege, dachte Nikolas. Sie hatte begriffen, dass die Flamme Gefahr bedeutete, und die Kerze deshalb verlassen.

Männer traten aus einem Seiteneingang, große, kräftig gebaute Männer, wie die meisten anderen Großen in dunkle Anzüge gekleidet. Stumm und mit ernsten Mienen gingen sie zu den Särgen, hoben sie hoch und trugen sie auf ihren breiten Schultern nach draußen.

»Es dauert jetzt nicht mehr lange«, sagte Onkel Carlo, als sie ebenfalls hinausgingen, zusammen mit allen anderen. »Du hast es bald überstanden.«

Draußen war es hell und heiß. Die dicke, schwitzende Frau schwitzte noch etwas mehr, und einige Männer lockerten ein wenig ihren Kragen, als sie zum nahen Friedhof schritten. Dahinter ragten Gebäude mit flachen Dächern auf. Eine Stadt. Nikolas versuchte, sich an ihren Namen zu erinnern. Etwas mit F. Florida? Nein, Florida war keine Stadt, sondern eine Region, vielleicht ein Land. Frankfurt. Nein, in Frankfurt waren sie nur kurz gewesen, bei einem besonderen Arzt, einem Spezialisten für Köpfe und Gehirne. F wie Florenz? Ja, Florenz klang richtig. Eine Stadt, heiß im Sommer, und es war erst Juni, die Sommerhitze hatte gerade begonnen. Nikolas sah zu Onkel Carlo hoch und stellte sich die breiten Blätter der Palme vor.

Er zeigte auf die Särge. »Sie haben es heiß dort drin«, sagte er. »Heiß und stickig. Wie können sie atmen, wenn es so heiß und stickig ist? Und so eng. Vielleicht sollte jemand die Deckel abnehmen.«

»Na bitte.« Tante Adele wandte sich wieder an Onkel Carlo. »Ich hab’s ja gesagt. Er versteht nicht.«

Sie erreichten das Grab beziehungsweise die Gräber: zwei rechteckige Löcher im Boden, tief und dunkel, im Schatten einer großen Zypresse.

»Sie sind tot«, sagte Tante Adele, als die beiden Särge in die Gräber hinabgelassen wurden. »Sie leben nicht mehr. Es ist ihnen gleich, ob es heiß und stickig ist. Davon merken sie nichts, weil sie tot sind.« Bei den letzten Worten wurde ihr leises Zischen zu einem zornigen Fauchen, das ihr einige strenge Blicke einbrachte.

»Tot«, wiederholte Nikolas. Er stand direkt vor den beiden Gräbern und blickte auf die Särge hinab. »Ich sehe Mutter und Vater nie wieder?«

»Nie«, sagte Tante Adele. »Sie sind tot, für immer und ewig.«

Der Mann im schwarzen Gewand, der Priester, sprach wieder seine besonderen Worte und wischte sich mehrmals verstohlen den Schweiß von der Stirn. Alle schwitzten in der Hitze, bis auf Nikolas. Blass und still stand er da, blinzelte gelegentlich im Sonnenschein und beobachtete, wie jemand damit begann, Erde auf die Särge zu streuen. Andere folgten seinem Beispiel, und Nikolas überlegte, wie es sich in den Särgen anhörte, das Rieseln der Erde und Klacken kleiner Steine.

Die Großen gingen an ihm vorbei, sahen ihn ernst an und sagten fast alle, dass es ihnen leidtat, was Nikolas seltsam fand, denn dies war nicht das Grab ihrer Eltern. Manche legten ihm die Hand auf den Kopf oder auf die Schulter, und Nikolas versuchte, nicht zurückzuweichen und sich nicht zu ducken, obwohl er es verabscheute, von Fremden berührt zu werden.

Ein Mann blieb vor ihm stehen.

»Ist dir etwas eingefallen?«, fragte er.

Nikolas erkannte die Stimme. Der Polizist, Roberto Lerotto.

Er hielt den Kopf gesenkt und sah nicht auf. »Nein.«

»Überhaupt nichts? Bist du ganz sicher?«

Nikolas schwieg und starrte erst ins linke Grab und dann ins rechte. Sie lagen dicht nebeneinander, seine Eltern, aber doch getrennt von einer hohen Wand aus Erde. Er fragte sich, ob sie ihnen gefallen hätte, diese Trennung, für »immer und ewig«, wie Tante Adele gesagt hatte.

»Falls er mit mir sprechen möchte …« Die Worte galten Tante Adele und Onkel Carlo. »Falls er sich an etwas erinnert … Sie wissen, wo Sie mich erreichen können.«

»Ja, Signor Commissario«, erwiderte Onkel Carlo.

Männer und Frauen, sie kamen und gingen, und Nikolas ließ ihre Worte und Berührungen über sich ergehen. Schließlich waren sie allein, und der Priester sagte: »Signor Santina, Signora de Angelis … Wir kümmern uns um den Rest.«

»Danke«, sagte Onkel Carlo. »Ich danke Ihnen sehr.«

»Ich schicke Ihnen morgen die Rechnung, wenn Sie gestatten.«

Ein paar Minuten später, als sie im Wagen saßen und durch die Stadt fuhren, drehte sich Tante Adele halb auf dem Beifahrersitz um und sagte: »Fühlst du denn gar nichts? Du weinst nicht einmal!«

»Lass ihn in Ruhe«, sagte Onkel Carlo und warf einen Blick in den Rückspiegel. »Vielleicht weint er so, dass man seine Tränen nicht sehen kann.«

 

Der Abend brachte kaum Abkühlung. Nikolas lag in einem fremden Bett, umgeben von den Wänden eines fremden Zimmers. Das Fenster stand offen. Er hörte das Zirpen der Zikaden im großen Garten, und er hörte auch noch etwas anderes, die Stimmen von Tante Adele und Onkel Carlo. Sie saßen unten auf der Veranda, und wenn Nikolas genau hinhörte, mit etwas Deutlichkeit, vernahm er das Knacken der schmelzenden Eiswürfel in ihren Gläsern.

»Was sollen wir mit dem Jungen machen?«, fragte Tante Adele. »Er versteht nichts. Man kann nicht richtig mit ihm reden.«

»Er ist der Sohn meines Bruders«, erwiderte Onkel Carlo. Ein Krokus, ja, dachte Nikolas. Mit weichen Blütenblättern, die vielleicht begannen, sich für die Nacht zu schließen. »Ich habe versprochen, mich um ihn zu kümmern, falls …«

»Daran hat dein feiner Bruder gedacht, aber nicht an das Geld. Er hätte ein sicheres Konto einrichten sollen. Kinder kosten Geld, und Nikolas wird uns noch mehr kosten, weil er ein Dussel ist. Jemand muss sich um ihn kümmern. Du erwartest doch nicht von mir, dass ich mich dauernd um ihn kümmere, oder? Ich habe deinem Bruder nichts versprochen.«

»Wir finden bestimmt jemanden, der ihm helfen kann. Einen Spezialisten.«

Eis klirrte in einem Glas, ein kleines, silbernes Geräusch, trotz der Zikaden deutlich zu hören.

»Solche Leute kosten Geld, Carlo, viel Geld.«

Eine Zeit lang schwiegen Tante und Onkel. Nikolas wusste, dass es falsch war, ein Gespräch zu belauschen, aber er hätte das Fenster schließen müssen, um nichts zu hören.

»Was ist mit dem Geld?«, fragte Tante Adele. »Was ist mit dem Erbe?«

»Gestern hast du noch von schmutzigem Geld gesprochen.«

»Der Junge wird uns teuer zu stehen kommen.«

Onkel Carlo seufzte. »Die Konten sind blockiert. Ich habe heute Morgen nachgefragt. Sie haben das Antimafiagesetz angewendet.«

»Kannst du nichts tun? Was ist mit deinem Anwalt? Du bist rechtmäßiger Erbe. Wir, meine ich.«

»Ich spreche morgen mit ihm.«

Wieder folgte längeres Schweigen, so lange, dass Nikolas fast eingeschlafen war, als Tante Adele sagte: »Wenn kein Geld kommt, wenn alles an uns hängen bleibt … Dann sollten wir den Jungen in ein Heim geben.«

Nikolas erschrak. Er wusste, was ein Heim war. Boris hatte ihm in der Schule davon erzählt.

»Er ist der Sohn meines Bruders!«

»Ohne das Geld deines Bruders ist er eine teure Last«, sagte die Distel und zeigte ihre langen Stacheln.

»Er braucht Hilfe.«

»Warum unsere?«

»Weil wir seine nächsten Verwandten sind«, sagte Onkel Carlo. »Er hat sonst niemanden.«

»Sprich mit deinem Anwalt, morgen. Ohne das Erbe müssen wir den Dussel in Pflege geben, uns bleibt gar nichts anderes übrig.«

Ein Blitz flackerte in der Ferne – Nikolas sah seinen Widerschein an Decke und Wänden. Das Flackern erinnerte ihn an etwas.

Er schlief ein und träumte von der Fliege und der Kerzenflamme.

Hilf mir, Schutzengel

»Wie war es im Heim, Boris?«, fragte Nikolas. »Erzähl mir davon.«

Es ging Boris nicht gut an diesem Tag in der Schule. Flecken zeigten sich am Hals und an einer Wange, ein Auge war angeschwollen, und das Sprechen fiel ihm schwer. Es fiel ihm immer schwer, man musste genau hinhören, um ihn zu verstehen, aber an diesem Tag fiel es ihm noch schwerer als sonst. Er saß in einer Ecke des Pausensaals, zwischen zwei großen, mit Farbe beklecksten Malwänden, hatte die Beine angezogen und starrte auf seine Knie.

»Grmbrkr«, sagte Boris.

»Was? Ich verstehe dich nicht.« Nikolas setzte sich neben ihn. »Du bist in einem Heim gewesen, nicht wahr? Das hast du gesagt. Wie war es dort?«

»Schlimm war’s.« Boris hob den Kopf. Er war vier oder fünf Jahre älter als Nikolas, ging aber in dieselbe Klasse, weil ihm der Umgang mit Buchstaben und Zahlen noch immer große Mühe bereitete. »Schlimmer als zu Hause. Viel, viel schlimmer. Wenn sie dich jemals in ein Heim stecken wollen, Nick … Lauf rechtzeitig weg.«

»Was ist mit dir passiert?«

»Bin die Treppe runtergefallen«, nuschelte Boris. Speichel rann ihm aus dem rechten Mundwinkel.

Nikolas roch den türkisfarbenen Geruch von Lüge. »Ich könnte dir meinen Schutzengel schicken«, sagte er, ohne zu wissen, wie er das anstellen sollte. »Er würde dich davor bewahren, die Treppe hinunterzufallen.«

»Grbrmkr.«

»Was?«

»Mein Vater sagt, es gibt keine Engel«, erklärte Boris. »Er sagt, es gibt auch keinen Gott, nur den Teufel.«

»Das solltest du Schwester Raffaela besser nicht sagen. So etwas hört sie bestimmt nicht gern.«

Dort kam sie, Schwester Raffaela, mit steifen Schritten, geradem Rücken und einem Lächeln, das ebenfalls ein wenig türkis war, auch wenn es nicht ganz so streng roch wie Boris’ letzte Worte. Zwei Große in Anzügen begleiteten sie, so kräftig gebaut wie jene Männer, die die Särge von Vater und Mutter getragen hatten.

»Ist er das?«, fragte einer von ihnen.

»Ja«, sagte Schwester Raffaela. »Nikolas?«

Sie sagte Nikolas, nicht Nick wie sonst. Nikolas stand auf.

Boris sah zu ihm hoch. »Lauf weg«, nuschelte er. Die Zunge hing ihm halb aus dem Mund. »Wenn sie dich in ein Heim stecken wollen, lauf weg!«

»Hallo, Nikolas«, sagte der Mann, der mit Schwester Raffaela gesprochen hatte. »Kannst du mich verstehen?«

Die Frage ärgerte Nikolas. »Ich bin nicht blöd.«

Der zweite Mann lächelte kurz.

»Dein Onkel schickt uns«, sagte der erste Mann. »Wir sollen dich zu ihm bringen.«

Der zweite Mann streckte die Hand aus. Nikolas achtete nicht auf sie. »Onkel Carlo hat gesagt, dass ich mit niemandem mitgehen soll.«

»Dies ist eine Ausnahme. Schwester?«

Für einen Moment hatte Schwester Raffaela einen gequälten Gesichtsausdruck, als täte ihr etwas weh. »Geh nur, Nikolas.«

Der zweite Mann ergriff ihn am Arm und zog ihn mit sanftem Nachdruck zur Tür. Draußen überlegte Nikolas, ob er sich losreißen und weglaufen sollte. Vielleicht waren diese Männer beauftragt, ihn in ein Heim zu bringen.

Ein Wagen weiß wie Schnee stand mit laufendem Motor auf dem Parkplatz der Schule, vielleicht ein Lancia – mit Autos kannte sich Nikolas nicht besonders gut aus.

Der zweite Mann öffnete die Tür zum Fond des Wagens, schob Nikolas nicht sehr sanft auf den Rücksitz und setzte sich neben ihn. Der erste saß wenige Sekunden später auf dem Beifahrersitz und nickte dem Fahrer zu. Der weiße Wagen rollte los, bog aber nicht nach rechts ab, sondern nach links.

»Das ist die falsche Richtung«, sagte Nikolas.

Die Männer schwiegen. Der Beifahrer schaltete das Radio ein und summte zu der erklingenden Melodie.

»Sie kommen nicht von Onkel Carlo«, sagte Nikolas.

»Wir kommen von Luciano«, sagte der Mann neben ihm.

»Ich kenne keinen Luciano.«

»Dein Vater kannte ihn.«

 

»Was weißt du, Nikolas?«, fragte der Mann namens Luciano auf der anderen Seite des Tisches. »Was hast du gesehen?«

Es war ein freundlicher Mann, mit freundlicher Stimme und einem freundlichen Gesicht, aber der Blick seiner Augen war gefährlich scharf, wie die des Polizisten Roberto. Bei diesem Mann aber waren es keine Messer, sondern spitze Dolche, die schnell zustoßen konnten. Sein Lächeln tendierte zu Braun, und Braun war nie eine gute Farbe, oft kündigte sie Unheil an.

»Sind Sie Polizist?«, fragte Nikolas. »Wie Commissario Roberto?«

»Nein«, sagte Luciano. »Nein, ich bin nicht von der Polizei. Sag mir, was du weißt, Nikolas. Es ist ganz einfach, ein kleines Spiel. Wenn du meine Fragen beantwortest, bringen wir dich zur Schule zurück.«

»Ich weiß nicht viel«, sagte Nikolas. »Deshalb gehe ich noch zur Schule. Damit ich mehr lerne.«

Luciano wechselte einen Blick mit dem Mann, der neben der geschlossenen Tür stand. »Das meine ich nicht, Nikolas. Ich möchte wissen, was du beim Unfall gesehen hast.«

»Es war kein Unfall. Meine Eltern wurden erschossen.«

Luciano nickte langsam. »Das habe ich gehört. Hast du gesehen, wer geschossen hat?«

»Nein.«

»Dein Vater, Nikolas … Hat er dir irgendwann einmal eine Zahlenkombination genannt? Damit meine ich mehrere Zahlen hintereinander. Oder vielleicht ein Codewort? Weißt du, was ein Codewort ist?«

Nikolas nickte.

»Oder Notizbücher?«, fügte Luciano hinzu. »Dein Vater schrieb nicht alles in den Computer. Besonders wichtige Dinge notierte er in Notizbüchern, die er an einem sicheren Ort aufbewahrte. Kennst du diesen Ort?«

»War mein Vater ein böser Mann?«, fragte Nikolas. »Das hat Commissario Roberto gesagt.«

»Dein Vater war Geschäftsmann«, erwiderte Luciano. »Beantworte meine Frage. Weißt du, wo dein Vater seine Notizbücher aufbewahrt hat?«

Nikolas fühlte sich plötzlich sehr hilflos und allein. »Ich weiß nichts von Notizbüchern.«

Luciano sah ihn einige Sekunden lang an, die Dolche in seinen Augen zum Zustoßen bereit.

»Na schön.« Er nickte dem anderen Mann zu, der daraufhin die Tür öffnete und ging. Kurze Zeit später kehrte er mit einem Glas zurück, das er vor Nikolas auf den Tisch stellte.

»Trink«, sagte Luciano.

Nikolas betrachtete die gelbe Flüssigkeit im Glas. Sie sah nach Orangensaft aus und roch auch so, aber sie gefiel ihm trotzdem nicht. »Ich habe keinen Durst.«

»Sei ein braver Junge und trink«, sagte Luciano.

Nikolas nahm das Glas und trank.

Eine Minute später fielen ihm die Augen zu.

 

Nikolas erwachte auf einem schmalen Bett in einem Zimmer mit Backsteinwänden. Es gab nur ein kleines Fenster, dicht unter der hohen Decke, und etwas Licht fiel herein, nicht das helle des Tages, sondern das schwächere der Nacht, von Sternen und Mond. Unter der dünnen Decke fühlte sich sein Körper seltsam leicht an, als könnte er gleich aufsteigen wie eine vom Wind erfasste Feder und emporschweben zum kleinen Fenster. Der Kopf hingegen war schwer, belastet von einem pochenden Schmerz zwischen den Schläfen. Nikolas stellte sich vor, wie der leichte Körper aufstieg, der schwere Kopf jedoch auf dem Kissen liegen blieb. Er stellte sich vor, wie er mit dem Kopf nach unten, auf dem Bett, in der Luft hing, und wie seine Beine zappelten, weil sie das Fenster erreichen wollten. Er kicherte – und hörte sofort auf damit, weil es wehtat, weil die Kopfschmerzen dadurch stärker wurden.

Auf der anderen Seite, dem Fenster gegenüber, hatte eine Spinne ein kleines Netz gesponnen, genau in der Ecke. Mit ein wenig Deutlichkeit sah Nikolas den Staub an den Spinnweben; offenbar wartete die Spinne schon seit einer ganzen Weile auf ein unachtsames Insekt, das sich in ihrem Netz verfing. Nikolas fragte sich, wie es sein mochte, als Spinne zu leben, welche Gedanken Spinnen dachten und wie sie fühlten.

»Hallo, Spinne«, sagte er leise.

Er hatte gesprochen, erinnerte er sich. Er hob die Hände zum Kopf und drückte sie auf die Schläfen. Er hatte lange und viel geredet, wegen des Orangensafts, der kein richtiger Orangensaft gewesen war. Luciano und die anderen Männer, seine Freunde, sie hatten sich geärgert, weil sie ihn nicht verstanden, weil die Worte nicht in der Reihenfolge kamen, die sie erwarteten. Sie saßen in einem anderen Zimmer, das fühlte er, in einem Raum mit weiß gestrichenen Wänden und alten Möbeln. Nikolas fühlte, dass sie beim Essen saßen, und dabei knurrte ihm der Magen, obwohl ihm noch immer ein wenig übel war von dem seltsamen Orangensaft.

Er schloss die Augen, und die Deutlichkeit zeigte ihm das Zimmer mit weißen Wänden, nicht in allen Einzelheiten, sondern halb verschleiert, wie bei einem Fisch, der durch die Wasseroberfläche eine Szene an Land betrachtete. Luciano saß dort, vor einem Teller mit dampfenden Nudeln, in Gesellschaft von zwei weiteren Männern.

»In seinem Kopf ist alles durcheinander«, sagte einer der Männer. »Deshalb redet er so wirr.«

»Er weiß nichts«, sagte der andere Mann, der neben der Tür gestanden hatte. »Überhaupt nichts.«

»Aber wir können ihn nicht zurückschicken«, sagte der erste Mann.

Luciano sah von den Nudeln auf, und Nikolas erschrak, weil er sich von seinem Blick berührt fühlte. Er hob die Lider, sah wieder nackte Backsteinwände und beobachtete, wie sich die Spinne aus ihrem Versteck wagte, einer kleinen Fuge zwischen den Backsteinen, wie sie damit begann, ihrem Netz einen neuen Faden hinzuzufügen.

Er schloss die Augen erneut, und das Zimmer mit den weißen Wänden kehrte zurück, noch verschwommener als vorher. Ein Fernseher lief, Nikolas hörte den Ton, ein Brummen im Hintergrund.

»Er hat uns gesehen«, sagte der erste Mann. »Er könnte als Zeuge aussagen.«

»Ach was.« Der zweite Mann winkte ab. »Er würde nur irgendein unverständliches Zeug brabbeln.«

Das Bild zerfranste an den Rändern, und die Stimmen wurden leiser, als die Deutlichkeit nachließ. Nikolas versuchte sie festzuhalten. Er spürte: Es war wichtig, was er hörte, es betraf ihn.

»Vielleicht«, sagte Luciano und spießte mit der Gabel eine dicke Nudel auf, »möchten Onkel und Tante vermeiden, dass ihm etwas zustößt. Vielleicht sind sie bereit, uns die Notizbücher zu geben, wenn wir ihnen versprechen, dass sie den Jungen unversehrt zurückbekommen.«

Unversehrt. Ein wichtiges Wort, erinnerte sich Nikolas.

Luciano steckt die Nudel in den Mund und kaute langsam und nachdenklich. »Später können wir mit dem Jungen zeigen, was passiert, wenn man sich uns widersetzt.«

»Ist das, was mit seinen Eltern passiert ist, nicht Botschaft genug?«, fragte der zweite Mann.

Luciano lächelte sein braunes Lächeln. »Zwei Fliegen mit einer Klappe, Francesco«, sagte er. »Zwei Fliegen mit einer Klappe. Wir bekommen, was wir wollen, und wir setzen ein Zeichen.«

Mehr hörte und sah Nikolas nicht. Die Übelkeit wurde zu stark und zerriss den dünnen Film der Deutlichkeit. Er würgte und spuckte, vielleicht eine Minute lang, legte dann wieder den Kopf aufs Kissen und beobachtete die Spinne, die halb in ihren Schlupfwinkel zurückgewichen war und auf ein Opfer wartete.

Unheil, dachte er. Das Braun in Lucianos Lächeln hatte es angekündigt.

»Schutzengel«, sagte Nikolas. »Ich brauche deine Hilfe.«

Er schlief ein.

 

Als Nikolas erwachte, fiel das Licht des frühen Morgens durchs kleine hohe Fenster, und er wusste, dass die Tür nicht mehr verschlossen war.

Eine Zeit lang blieb er liegen, lauschte der Stille und suchte nach der Spinne, die sich offenbar ganz in die Ritze zwischen den Backsteinen zurückgezogen hatte. Vielleicht fürchtete sie den Tag – Spinnen, so hatte er einmal gehört, waren Geschöpfe der Nacht.

Er versuchte die Deutlichkeit zu rufen, was ihm diesmal schwerfiel. Es half auch nichts, die Augen zu schließen, ganz ruhig zu atmen und alle Gedanken anzuhalten, soweit sie sich anhalten ließen – das war besonders schwer, an nichts zu denken. Die Deutlichkeit kam nicht, sie ließ ihn im Stich, aber er wusste, dass die Tür nicht mehr verriegelt war.

Schließlich stand er auf, öffnete die Tür und ging durch einen Flur, der an einer Treppe endete. Alles blieb still, nichts regte sich.

Auf Zehenspitzen trat er die Treppe hoch, streckte oben den Kopf durch die Tür und blickte in die Küche, in der es genug Licht gab, weil jemand die Jalousien nicht ganz geschlossen hatte. Francesco – er erinnerte sich genau an den Namen des Mannes – lag auf dem Boden, lang ausgestreckt, beide Hände am Hals, wie um etwas zu entfernen, das ihm die Luft abschnürte, das fratzenhafte Gesicht erstarrt, die weit aufgerissenen Augen ohne Blick. Mehrere zerbrochene Teller und Tassen lagen um ihn verstreut. Blut war aus Nase und Ohren getropft und bildete kleine Lachen.

Im nächsten Raum, einer Mischung aus Wohn- und Esszimmer, lagen Luciano und der andere Mann, der für Nikolas namenlos geblieben war. Hier gab es mehr Blut, denn der Mann war von einer Kugel getroffen worden, mitten in die Brust. Sie stammte aus dem Revolver, den Luciano gezogen und mit dem er offenbar wild um sich geschossen hatte, wie die Löcher in den Wänden und im Fernseher zeigten. Nikolas fragte sich, ob er versucht hatte, den Schutzengel zu erschießen.

Auf dem Tisch lag ein Handy neben den Tellern mit kalten Nudelresten.

Nikolas ging an den Toten vorbei, nahm das Telefon und wählte die Nummer, die er sich eingeprägt hatte.

Es klingelte mehrmals, dann: »Pronto?«

»Onkel Carlo?«

»Nick! Um Himmels willen, wo bist du?«

»Ich bin hier.«

»Ja, ich verstehe.« Onkel Carlo versuchte, ruhig zu sprechen. »Aber wo genau ist ›hier‹, Nick? Kannst du mir das sagen?«

»Hier ist hier«, sagte Nikolas.

»In Ordnung«, erwiderte Onkel Carlo. »In Ordnung. Wo auch immer du bist: Warte dort. Verstehst du? Rühr dich nicht von der Stelle. Und drück nicht die Auflegen-Taste des Telefons, hörst du? Wir versuchen, dich per Handy-Ortung zu finden.«

»Ja.« Nikolas legte das Handy auf den Tisch und achtete darauf, nicht die rot markierte Taste zu berühren. Eine Zeit lang stand er still und stumm, bis ihm dämmerte, dass »nicht von der Stelle rühren« im übertragenen Sinne gemeint war. Er hatte Hunger, so großen Hunger, als hätte er seit zwei Tagen nichts gegessen, und so ging er in die Küche. Francesco versperrte ihm zum Glück nicht den Weg zum Kühlschrank. Er fand Milch, Käse, Mortadella und einige Scheiben Salami, nicht mehr ganz frisch. In einem der Schränke entdeckte er Brot vom vergangenen Tag. Bevor er ins andere Zimmer mit dem Esstisch zurückkehrte, blickte er noch einmal in Francescos Gesicht, das im Tod zu einer Fratze geworden war – der Mann schien etwas Schreckliches gesehen zu haben, kurz bevor ihn das Leben verlassen hatte.

Onkel Carlo und die Polizei fanden ihn eine Stunde später am Tisch, neben dem toten Mann ohne Namen. Zu den Polizisten, die Onkel Carlo begleiteten, gehörte auch Commissario Roberto Lerotto.

»So sieht man sich wieder«, sagte der Commissario und lächelte. Sein Lächeln war nicht braun, aber es gefiel Nikolas trotzdem nicht.

 

»Was ist geschehen, nachdem dich die Männer von der Schule abgeholt haben?«, fragte Roberto Lerotto später, als sie zu Hause waren, bei Tante Adele und Onkel Carlo. Sie saßen in Onkel Carlos Arbeitszimmer, umgeben von Möbeln, die alt aussahen und neu rochen.

Nikolas erzählte von dem freundlichen Mann mit dem braunen Lächeln. Er versuchte, die Worte in die richtige Reihenfolge zu bringen, damit ihn die Großen verstanden. Sie war ihnen wichtig, die richtige Reihenfolge. »Eins nach dem anderen«, so nannten sie es.

»Wie war das mit dem Orangensaft?«, fragte Commissario Roberto.

»Er hat bitter geschmeckt, wie Medizin.«

»Und die Männer haben dich gezwungen, ihn zu trinken?«

»Luciano hat gesagt, dass ich ein braver Junge sein soll.«

Roberto Lerotto notierte sich etwas auf seinem Tablet. Ein zweiter Polizist saß am Fenster, ebenso ein stummer Beobachter wie Onkel Carlo, der die Ellenbogen auf seinen Schreibtisch stützte und alles genau verfolgte. Der Arzt, der Nikolas untersucht hatte – unter anderem mit einem Stethoskop auf Brust und Rücken, als ob es dort etwas Interessantes zu hören gäbe –, war bereits gegangen.

»Und dann?«, fragte der Commissario. »Was ist dann passiert?«

»Dann haben wir geredet«, sagte Nikolas. »Vor allem ich, aber Luciano und die anderen konnten nichts damit anfangen, sie wurden ärgerlich und brachten mich in ein anderes Zimmer, und dann habe ich noch eine Zeit lang die Spinne beobachtet und bin eingeschlafen …«

Commissario Roberto hob die Hand. »Langsam, langsam, Junge. Sprich langsam, damit man die Worte auseinanderhalten kann. Wie war das mit der Spinne?«

Nikolas erzählte von der Spinne und ihrem Netz, von dem kleinen Achtbeiner, der den Tag fürchtete und sich in seiner Ritze versteckte, wenn es hell wurde.

»Und das ist alles?«, fragte Commissario Roberto. »Mehr ist nicht passiert?«

Nikolas senkte verlegen den Kopf.

»Nick?«, fragte Onkel Carlo, nachdem es einige Sekunden still geblieben war. »Hast du uns etwas verschwiegen?«

»Nichts Wichtiges«, sagte Nikolas kleinlaut.

»Alles ist wichtig, Junge«, brummte Roberto Lerotto und hielt den Stift über dem Tablet bereit. »Also?«

Nikolas überlegte, ob er die Deutlichkeit erwähnen sollte, die anderen Ohren und Augen, mit denen er mehr hörte und sah. Er entschied sich dagegen. Früher einmal, vor einem Jahr oder vielleicht vor hundert, hatte er den Kopf-Ärzten in Frankfurt zu erklären versucht, was es damit auf sich hatte, aber sie hatten es nicht verstanden. Große schienen so etwas nicht verstehen zu können. Offenbar waren sie nicht imstande, ihre Gedanken um etwas zu biegen, für das es in ihrer Welt keinen Platz gab.

Nikolas lächelte. Einen Gedanken biegen. Das klang gut, und es stimmte: Manchmal musste man seine Gedanken biegen, damit sie imstande waren, etwas Neues von allen Seiten zu betrachten.

Commissario Roberto zog die Stirn kraus. »Warum lächelst du, Junge?«

»Mein Schutzengel«, sagte Nikolas. »Ich habe meinen Schutzengel um Hilfe gebeten.«

In den Augen des Polizisten erschienen wieder die Messer, als er einen durchdringenden Blick auf Nikolas richtete. »Glaubst du an so etwas?« Er wandte sich an Onkel Carlo. »Glaubt er an so etwas?«

»Er hat zweimal überlebt«, erwiderte Onkel Carlo ruhig. »Er besucht eine katholische Schule …«

»Eine Sonderschule.«

»… und wir sind eine katholische Familie.«

»Und dann, Junge?«, fragte der Commissario ein wenig unwirsch. »Was ist dann passiert?«

»Ich bin eingeschlafen.«

»Und dann?«

»Dann bin ich erwacht.«

»Meine Güte, lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen, Junge! Als du erwacht bist … Was hast du da gesehen und gehört?«

»Ich habe nichts gehört, weil alles still war«, sagte Nikolas.

»Einer der Männer hat wild um sich geschossen, bevor er starb«, sagte Commissario Roberto. »Hast du die Schüsse nicht gehört?«

»Nein.«

»Der Raum, in dem er eingesperrt war, befand sich im Keller«, sagte der andere Polizist. »Bei geschlossenen Türen hört man nicht, was im Rest des Hauses geschieht.«

»Der Revolver muss ziemlich laut gewesen sein.«

»Und der Junge war betäubt«, fügte der andere Polizist hinzu. Auch er hatte etwas von einer ruhigen, Schatten spendenden Palme, fand Nikolas, wie Onkel Carlo.

»Wie hast du den Raum verlassen, in dem du gefangen gewesen bist?«, fragte Roberto Lerotto.

»Durch die Tür.«

Lerotto holte tief Luft und ließ den Atem langsam entweichen. »Ja, durch die Tür, natürlich. Ich frage mich allerdings: Warum war sie nicht abgeschlossen, die Tür?«

»Vielleicht hat der Schutzengel sie aufgeschlossen«, sagte Nikolas trotzig.

»O ja, der Schutzengel«, brummte Commissario Lerotto. »Was ich von dir wissen will, Junge: Wer hat die Männer im Erdgeschoss des Hauses umgebracht? Beziehungsweise zwei von ihnen. Den einen hat der Mann mit dem Revolver erschossen.«

»Luciano.«

»Ja, Luciano. Aber die beiden anderen sind erstickt, und sie scheinen etwas Schreckliches gesehen zu haben, bevor sie starben. Weißt du etwas darüber?«

»Nein«, sagte Nikolas.

»Ich glaube, das reicht jetzt.« Onkel Carlo stand auf. »Er hat viel hinter sich. Ein zweiter Schock nach der Sache mit seinen Eltern. Und verzeihen Sie, wenn ich das so deutlich sage, Commissario, aber Sie machen es nicht leichter für ihn.«

»Ich bin nicht hier, um es für jemanden leichter zu machen«, erwiderte Roberto Lerotto. »Fünf Menschen sind umgebracht worden, unter ihnen die Eltern des Jungen, und ich versuche, den oder die Mörder zu finden.«

Onkel Carlo kam hinter seinem Schreibtisch hervor und öffnete die Tür. »Geh nur, Nick. Ruh dich aus. Schlaf, wenn du möchtest.«

»Komme ich noch rechtzeitig zur Schule?«

»Heute bleibst du hier, Nick. Heute bleibst du zu Hause.«

Nikolas trat in den Flur, Onkel Carlos Hand kurz auf seiner Schultern, und hinter ihm schloss sich die Tür.

 

10