Brandhorst, Andreas Das Netz der Sterne

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Motto

»Wie auch immer der Wind weht, wir lassen uns nicht beirren.«

Credo von Rosengarten

ERSTER TEIL

An dunklen Gestaden

Unerwarteter Besuch

1

Die Dämmerung kroch über den Himmel und kündigte eine lange Nacht an, die zweiunddreißig Jahre dauern würde. Tess ging über den steinigen Weg den Hang hinab, zum Obsidian, wie so oft während des fast drei Jahrzehnte langen Tages, der nun zu Ende ging und ihre Kindheit und Jugend gesehen hatte. Der Ozean – er verdankte seinen Namen dem tiefschwarzen Kolorat, einem Licht absorbierenden Mineral – schien mit dem fernen, dunkler werdenden Horizont zu verschmelzen. Noch lag er glatt wie Glas, aber ein scharfer Geruch in der Luft wies darauf hin, dass bald die Stürme beginnen würden, wie zu Beginn jeder langen Nacht.

Ein letztes Lied, dachte Tess. Ein letzter Gesang, um Abschied zu nehmen von den Oktopoden und ihrer Welt.

Am Ufer blieb sie stehen, bei den kleinen runden Steinen, wie stets seit ihrer Kindheit. Einige Meter hinter ihr setzte sich Sinclair auf einen Felsen und wartete stumm – dies war allein ihr Moment. Schon als Kinder hatten sie diesen besonderen Ort gemeinsam besucht. Tess erinnerte sich an sein Staunen, mit großen Augen und offenem Mund, als er zum ersten Mal ihren Gesang gehört hatte. Damals, zu Beginn des jetzt zu Ende gehenden langen Tages, war etwas zwischen ihnen entstanden und über die Jahre gewachsen, erst eine zarte Verbindung, dann eine feste Brücke und schließlich ein Wir. Es war ein großes Wir, groß genug für Opferbereitschaft und Selbstlosigkeit.

Sinclair hatte beschlossen, seinen Vertrag als Hyperschiffpilot vorzeitig zu kündigen, um Tess nach Harmonie im Ophiuchus-Sektor zu begleiten. Die Einladung von der Musikakademie lag bereits vor. Als Kind hatte er sich nichts sehnlicher gewünscht, als eines Tages Raumschiffe durchs All zu steuern, erst interplanetare Lichtschiffe innerhalb von Sonnensystemen, dann Hyperschiffe, die den von Kartografen und Einrichtern erforschten Gleisen des Hyperons folgten und viele Lichtjahre innerhalb weniger Tage oder Wochen zurücklegten. Sein größter Wunsch war in Erfüllung gegangen, doch er war bereit, darauf zu verzichten, damit sie zusammenbleiben konnten.

Einige Sekunden stand Tess reglos, nahm die Stille in sich auf und spürte, wie sie tief in ihrem Innern zu einer Art Resonanzboden wurde. Erste Sterne funkelten – die heranrückende lange Nacht würde noch viel mehr von ihnen an den Himmel bringen. Ein mehrmaliges Flackern wies auf die Position der Hyperon-Station hin – vielleicht stammte es von dem Schiff, mit dem Anita kam.

Tess lächelte bei diesem Gedanken. Ihre Schwester hatte sich angekündigt, kurz nach der Einladung nach Harmonie. Interkosmika hatte ihren Antrag auf eine Dienstpause genehmigt, damit sie hier auf Rosengarten feiern und Abschied nehmen konnten.

Die Stille schien sich auszudehnen, weit über das Obsidian hinweg. Die Dämmerung schwieg und wartete.

Tess holte tief Luft und begann zu singen.

Sie sang in der alten Sprache, die sie von ihrer Mutter gelernt hatte, vom Tag und von der Nacht, die einander abwechselten, von Wäldern, grün wie Smaragd, und Meeren, blau wie Opal. Sie sang von Leben, Hoffnung und Freude, und wie immer fühlte sie, wie sie dabei wuchs und ihre Stimme in allem Lebendigen widerhallte, das sie umgab.

Erste Oktopoden erschienen. Das Obsidian war nicht mehr glatt und unbewegt. Die schwarze Oberfläche kräuselte sich, kleine Wellen entstanden, und rundliche Geschöpfe mit langen Fangarmen stiegen auf, blickten mit verblüffend menschenähnlichen Augen zum Ufer, erst einige wenige, dann Dutzende, schließlich Hunderte. Rostbraun und dunkelgrau, je nach Alter und Geschlecht, ragten sie aus dem Wasser und neigten sich langsam von einer Seite zur anderen. So war es immer, wenn Tess sang, obwohl die Oktopoden angeblich gar keine Ohren hatten.

Tess beobachtete den Tanz im Meer, weiterhin singend, bis eine kurze Vibration des Signalbands an ihrem Handgelenk darauf hinwies, dass es Zeit wurde – die Familie rief sie.

Das Ende des Gesangs beendete auch den Tanz. Die Oktopoden verschwanden im schwarzen Ozean, einer nach dem anderen.

Sinclair näherte sich. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass du jemals noch besser singen wirst.«

»An der Musikakademie auf Harmonie werde ich viel lernen.«

»Vielleicht haben sie dich eingeladen, damit du anderen das Singen beibringst.«

Tess lächelte und nahm seine Hand. »Wir werden sehen, wir werden sehen. Komm, die Familie hat gerufen.«

2

Als sich die Familie Velazca vor mehr als vierhundert Jahren auf Rosengarten im Joumis-System niedergelassen hatte – im Sagittarius-Sektor, mehr als tausend Lichtjahre von der Erde entfernt –, war sie reich und mächtig gewesen. An diesen früheren Status erinnerte das Haupthaus auf dem Hügelplateau: die grauen Mauern dick und wuchtig bis hinauf zu den Zinnen, die allein ästhetischen Zwecken dienten; die runden Türme hoch, als wollten sie den dunkler werdenden Himmel erreichen; die Dächer steil, als erwarteten sie Schnee; in der Mitte die goldene Kuppel des alten Observatoriums mit den Familienarchiven und dem Hyperskop, eingerichtet vom Kartografen, der Rosengarten – damals noch ein Planet ohne Namen, nur mit der Bezeichnung NSK1284-B – ans Netz angeschlossen hatte, ans Hyperon. Über dem wie eine Burg oder Festung wirkenden Hauptgebäude leuchtete hell und bunt das holografische Symbol der Velazca: eine offene Hand, über deren Handfläche die Erde schwebte.

Zwei Bedienstete in blauen Livreen standen beim offenen Tor, aber wenige Meter vor ihnen wandte sich Tess nach links. Es gab noch etwas anderes, auf das sie einen letzten Blick werfen wollte, bevor sie die Reise nach Harmonie antrat.

»Wohin?«, fragte Sinclair hinter ihr. »Wohin willst du?«

Tess lief, als wollte sie den Wind spüren, den jene Nacht brachte, die sie nicht mehr miterleben würde. Sie schlüpfte durch die Lücke zwischen den Nebenhäusern, deren Fenster bereits hell erleuchtet waren, und als sie den großen Werkzeugpavillon an der Ecke des Gartens erreichte, bemerkte sie die Lichter in der Ebene hinter den Hügeln am Rand des Obsidians. Dort bereitete sich die Stadt auf die Nacht vor – die Dormitorien für all jene, die die kommenden zweiunddreißig Jahre im sicheren Schlaf verbringen wollten, waren bereits geöffnet.

Hinter dem Haupthaus erstreckte sich jener Rosengarten, dem der Planet seinen Namen verdankte: ein weiter Park mit Erde von der Erde, großen, alten Eichen und Buchen und zahlreichen Rosen in allen Farben, einige von ihnen fast so schwarz wie das Obsidian.

Das Signalband vibrierte erneut, aber Tess beschloss, sich noch etwas mehr Zeit zu nehmen. Dies war wichtig, sie wusste nicht, wann – in wie vielen Jahren oder vielleicht sogar Jahrzehnten – sie Gelegenheit bekommen würde, den Park erneut zu besuchen.

Hinter den beiden größten Eichen, die eine Art Portal bildeten, lag der Friedhof der Familie Velazca. Tess ging langsam an den Gräbern vorbei, las die Inschriften, dachte an vergangenen Ruhm und fragte sich, ob auch sie irgendwann hier liegen würde.

»Wir waren einmal mächtig«, sagte sie und blieb am Grab ihres Großvaters stehen. Auf einer Marmorplatte weiß wie Schnee stand sein Name in goldenen Buchstaben: Frederik Ibrahim Velazca, Letzter der terranischen Velazca-Dynastie.

»Ihr seid noch immer sehr angesehen«, sagte Sinclair. Er stand neben Tess, schlank und feingliedrig, das dunkle Haar kurz, die Brauen geschwungen. Aus dem Jungen von damals war ein Mann geworden, aber es gab ihn noch, den staunenden Knaben. Sie sah ihn in seinem Gesicht, in seinen Augen.

»Wir leben von vergangenem Ruhm, das weißt du«, erwiderte Tess. »Mit dem Tod von Großvater Frederik begann unser Niedergang. Er war nicht nur der Letzte der terranischen Dynastie, er hat sich auch Interkosmika gegenüber behaupten können. Inzwischen haben wir fast alle unsere Niederlassungen an Interkosmika verloren. Es ist uns kaum mehr geblieben als dieses Haupthaus. Wir sind längst keine Gouverneure und Administratoren mehr, nur noch einfache Bürger.«

»Mir ist gleich, wer ihr seid, ob reich oder arm, ob groß oder klein.« Sinclair sprach in seiner ruhigen, gelassenen Art. »Du bist du. Nur das ist wichtig.«

Tess belohnte seine Worte mit einem Lächeln. »Und wir sind wir. Wir stehen am Anfang unseres Weges. Wer weiß, wohin er uns führen wird.«

»Zweifellos zu Glanz und Glorie. Du wirst die beste Sängerin in der bekannten Galaxis werden, da bin ich mir sicher.«

»Und du?«

»Oh, vielleicht werde ich der Vater deiner Kinder.«

Tess lächelte erneut, aber nur kurz. »Du solltest Raumschiffpilot sein. Das hast du dir immer gewünscht. Ich weiß noch, wie wir dort unten auf den Steinen gesessen haben, die Sonne noch nicht ganz im Zenit, und du von fernen Sternen und Galaxien erzählt hast. Du wolltest durchs Hyperon reisen, weiter als alle anderen vor dir. Du wolltest neue Welten entdecken.«

»Ja«, sagte Sinclair. »Und dann habe ich dich entdeckt.« Er fügte hinzu: »Wir haben Zeit, Tess, wir sind jung. Erst kommt deine Ausbildung auf Harmonie. Eine Einladung der Musikakademie schlägt man nicht aus. Und wenn du dort fertig und zur besten Sängerin in der Milchstraße geworden bist … Dann werde ich wieder Pilot, und wir gehen gemeinsam auf Reisen.«

Wir haben Zeit, wir sind jung. Es klang gut und richtig, und trotzdem fröstelte Tess plötzlich. Es lag nicht an der sinkenden Temperatur. Etwas Bedrohliches ragte auf, dunkel wie die kommende Nacht, etwas, das einen tiefen Schatten warf auf Sinclair und sie. Ein Missklang in einer ansonsten perfekten Melodie. Doch die Vision – wenn es wirklich eine Vision gewesen war, geschaffen vielleicht von ihrem Esprit – verschwand sofort wieder.

»Ich bedauere, die Nacht nicht zu erleben«, sagte sie, um sich abzulenken.

»Ich glaube, wir können froh sein, dass wir sie nicht erleben müssen.« Etwas in Sinclairs sanftem Gesicht verriet: Er hatte gemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber er stellte keine Fragen. »Meine Eltern haben mir davon erzählt. Die letzte Nacht muss sehr schlimm gewesen sein. Die Stürme wollten kein Ende nehmen, und es wurde so kalt, dass das Obsidian gefror.«

Tess deutete auf die Rosen, die aus fruchtbarem Boden von der Erde wuchsen. »Ich hoffe, sie überstehen die Nacht.«

»Eure Gärtner werden Lampen aufstellen, damit die Pflanzen genug Licht bekommen, und Schilde werden sie vor Kälte und Wind schützen.«

Das Signalband an Tess’ Handgelenk vibrierte zum dritten Mal, länger als die beiden Male zuvor.

»Meine Familie wird ungeduldig.« Tess seufzte, ergriff Sinclairs Hand und ging mit ihm über den Weg, vorbei an Rosen, Eichen und Buchen. »Wie auch immer der Wind weht …«, zitierte sie das Credo von Rosengarten.

»Wie auch immer der Wind weht, wir lassen uns nicht beirren.«

3

Als Tess den Großen Saal mit den Ahnenporträts an den hohen Wänden betrat, begriff sie, dass sie tatsächlich eine Vision vom Esprit empfangen hatte – die Präsenz des Mannes in der schiefergrauen Uniform von Interkosmika war Beweis genug.

Begleitet von Sinclair ging sie am langen Tisch vorbei, und mit jedem Schritt verstärkte sich ihr Unbehagen.

Das Gesicht des Mannes von Interkosmika verriet nichts, es war steinern, eine Maske. Seine Augen blickten streng und abschätzend. Unbehagen war darin nicht auszumachen, obwohl ihm klar sein musste, dass er hier, an diesem Ort, bei den Velazca, auf Ablehnung stieß.

Die beiden jüngeren Brüder von Tess, Asgard und Trenkor – beide einen halben Tag alt, vierzehn und sechzehn Normjahre –, standen vorn neben ihrer Mutter, die im Helfer saß, dem mobilen Ektoskelett, das sie bewegte und trug. Mutter Amandea, einen vollen Tag-Nacht-Zyklus von Rosengarten alt – vierundsechzig Jahre –, verdankte ihre Lähmung einer Drehwurm-Infektion. Die zu späte Diagnose und die dadurch ebenfalls zu späte Behandlung der Krankheit waren eine direkte Folge der Verarmung der Familie gewesen.

Vater Solomar, siebenundsechzig Jahre, stand dürr und hoch aufgerichtet neben Amandeas Ekto. Sein gebräuntes Gesicht, das in der kommenden Nacht die Farbe verlieren würde, wirkte fast so steinern wie die Miene des Interkosmika-Mannes.

»Wo ist Anita?«, fragte Tess, ohne einen Gruß an den Mann in der dunkelgrauen Uniform zu richten. »Ich habe ein Hyperschiff kommen sehen.«

»Anita ist nicht da.« Trenkor warf dem Uniformierten einen finsteren Blick zu.

Tess war stehen geblieben. »Sie hat sich angekündigt. Wir haben ihre Nachricht erhalten. Was ist geschehen?«

Die Ekto-Motoren summten leise. Amandeas Lippen zitterten, und eine synthetische Stimme erklang: »Es tut mir leid, Tochter.«

»Was tut dir leid?« Als Tess keine Antwort bekam, wandte sie sich an ihren Vater. »Wo ist Anita? Und was macht dieser … Mann hier?«

Der Gesandte von Interkosmika trat vor. »Mein Name ist Tirell Wayfare. Ich bin als Exekutor hier.«

»Was wollen Sie noch von uns?«, fragte Tess scharf.

»Es geht um Ihre Schwester Anita«, sagte Wayfare. »Und es geht um Sie.«

»Was ist mit Anita?«

»Glauben Sie bloß nicht, Sie könnten uns Tess einfach so wegnehmen, wie Sie es mit Anita gemacht haben!«, zischte der impulsive, manchmal jähzornige Asgard.

Vater Solomar räusperte sich. »Trenkor, Asgard …«, mahnte er.

Die beiden Jungen, einer von ihnen fast schon ein Mann, senkten die Köpfe.

Tess fröstelte wie zuvor beim Rosengarten. Da war sie wieder, die Präsenz von etwas Bedrohlichem. »Anitas Antrag auf eine Dienstpause wurde von Interkosmika genehmigt«, sagte sie. »Sie wollte herkommen, vor meiner Abreise nach Harmonie Ophiuchus.«

»Ihre Schwester hat die genehmigte Dienstpause genutzt, um abtrünnig zu werden«, entgegnete Wayfare, und Tess fühlte sich von seinem Blick wie durchbohrt. »Mit anderen Worten: Sie hat sich davongemacht.«

Davongemacht, dachte Tess. Und hier bin ich.

»Interkosmika nimmt Sie in Regress, so wie es die Vereinbarungen vorsehen«, fuhr Wayfare fort. »Sie werden den Vertrag erfüllen, den Ihre Schwester unterschrieben hat.«

Ihr Hals schien plötzlich in einer Schlinge zu stecken. Tess brachte keinen Ton mehr hervor.

»Ich werde nicht zulassen, dass Sie Tess mitnehmen!«, rief Sinclair. Er stand so dicht neben ihr, dass sie seine Körperwärme fühlte.

Der Mann von Interkosmika richtete den Blick auf ihn. »Wer sind Sie?«

»Sinclair Van Groote. Meine Familie gehört zu den Unabhängigen und ist schuldenfrei.«

Für zwei oder drei Sekunden erweckte Wayfare den Eindruck, einer inneren Stimme zu lauschen, vielleicht dem Datenflüstern eines Implantats, dann sagte er völlig emotionslos: »Ich empfehle Ihnen, sich nicht in Dinge einzumischen, die Sie nichts angehen, Van Groote.«

»Das hier geht mich sehr wohl etwas an«, entgegnete Sinclair in einem herausfordernden Ton. »Tess und ich …« Er zögerte, und Tess bemerkte, wie er kurz zu ihren Eltern blickte. »Wir sind … gebunden.«

»Gebunden?«, wiederholte Amandea in ihrem Ekto. Solomar stand steif, gerade und stumm, sein Gesicht ohne sichtbare Veränderung.

»Die Schulden der Familie Velazca betreffen nicht Sie, Van Groote.« Wayfare ging zum Tisch, legte einen kleinen Holoprojektor auf das alte Holz und schaltete ihn ein. Eine Interkosmika-Bilanz erschien, eine Debit-Kredit-Waage mit roten und schwarzen Zahlen. »Ich stelle fest: Die Familie Velazca ist mit vierzig Millionen Debitpunkten bei Interkosmika verschuldet«, verkündete der Uniformierte mit offiziell klingender Stimme. »Ich stelle fest: Anita Velazca hat sich bereit erklärt, für zwanzig Jahre in die Dienste von Interkosmika zu treten, ein Jahr für jeweils zwei Millionen Debitpunkte. Ich stelle fest: Anita Velazca hat ihren Dienstbereich verlassen und ist abtrünnig geworden.« Wayfare legte eine Pause ein und musterte die Versammelten der Reihe nach. »Ich stelle fest: Das Obligat bestimmt Tess Velazca zur Vertragsnachfolgerin. Sie muss die Verpflichtungen von Anita Velazca übernehmen.«

»Zwanzig Normjahre?«, fragte Tess tonlos.

»Achtzehneinhalb Jahre sind von der ursprünglichen Verpflichtung übrig«, erklärte Tirell Wayfare. »Doch für Abtrünnigkeit ist eine Vertragsstrafe von zehn Millionen Debitpunkten vorgesehen.« Er zeigte auf die betreffende Stelle im Hologramm. »Das entspricht sechs weiteren Jahren. Die Laufzeit des Vertrages beträgt also vierundzwanzigeinhalb Jahre.«

»Ich habe eine Einladung erhalten«, sagte Tess mühsam. »Von der Musikakademie auf Harmonie Ophiuchus. Sie verliert ihre Gültigkeit, wenn ich sie nicht innerhalb von drei Normmonaten annehme.«

Der Mann von Interkosmika deutete erneut ins Hologramm, das über dem Holz des alten Tisches schwebte. »Dies ist die Situation. Dies sind Ihre Pflichten. Sie werden mit mir kommen, Tess Velazca.«

»Wann?«, ächzte Tess.

»Jetzt sofort.« Wayfare deaktivierte das Holo, nahm den kleinen Projektor vom Tisch und steckte ihn ein.

Amandeas Lippen zitterten wieder. Speichel rann ihr aus den Mundwinkeln. In Solomars Augen lag tiefe Trauer.

»Das können Sie nicht tun!«, platzte es aus Sinclair hervor.

Wayfare hob Brauen, so grau wie seine Uniform. »Ich bin Exekutor. Ich habe die Befugnis.« Er sah Tess an. »Wenn Sie nicht mit mir kommen, wenn Sie sich weigern, wird das Obligat Ihrer Familie neu bewertet. Dann gehen auch die restlichen Ländereien auf Rosengarten Sagittarius sowie dieses Haupthaus mit allen Nebengebäuden ins Eigentum von Interkosmika über.«

»Es wäre unser endgültiger Ruin«, sagte Solomar leise.

Tess begriff, dass es um mehr ging als ihre eigene Zukunft. »Ich komme mit.«

4

Der Orbiter kletterte in die Höhe, und unter ihm wurde Rosengarten zu einer Kugel, die eine Hälfte, das Obsidian, schwarz wie der Weltraum, die andere braun, grün und grau wie die Uniform des Mannes von Interkosmika.

»Wohin bringen Sie mich?«, fragte Tess.

»Wohin bringen Sie uns?«, korrigierte Sinclair. Er hatte darauf bestanden, Tess zu begleiten.

»Kommt darauf an.« Tirell Wayfare saß zurückgelehnt in einem Sessel weiß wie Schnee. Hinter ihm steuerte der Pilot – ein jüngerer Mann, dessen Uniform ein helleres Grau zeigte als die des Exekutors – den Orbiter zur großen Raumstation, die Rosengarten in einer Höhe von zweitausend Kilometern umkreiste. Der Zylinder des Hyperon-Rezeptors, Teil der Station, ragte als zwei Kilometer langer Dorn ins All.

»Worauf?«, fragte Tess.

»Darauf, wie Sie sich entscheiden.«

»Hat sie eine Wahl?«, fragte Sinclair scharf.

Wayfare seufzte leise. »Ja, die hat sie durchaus.« Er beugte sich vor, sah Sinclair direkt ins Gesicht. »Sie aber … Sie sollten nicht hier sein. Sie sollten nicht hier vor mir sitzen, an Bord dieses kleinen Schiffes. Denn Ihre Wahl ist größer als die von Tess Velazca, die von jetzt an Tess Rosengarten Sagittarius sein wird, bis sie hierher zurückkehrt, in vierundzwanzigeinhalb Jahren.«

Sinclair holte tief Luft. »Wie auch immer der Wind weht, wir bleiben zusammen.«

Er streckte die Hand aus, aber Tess ergriff sie nicht und schüttelte den Kopf.

»Nein, nein«, sagte sie matt, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, dass er bei ihr blieb, und dem Wissen, dass er einen großen Fehler machte.

Sie blickte durchs Fenster und beobachtete die Welt, auf der sie geboren war. Die Grenze zwischen Tag und Nacht ließ sich deutlich erkennen: die eine Seite hell und warm, die andere kalt und dunkel. Weiße Wirbel deuteten auf Stürme hin, die sich dort bildeten, wo die Temperaturunterschiede starke Luftströmungen verursachten. Sie dachte an den Rosengarten hinter dem Haupthaus ihrer Familie und hoffte, dass die wärmenden Lampen und Schilde rechtzeitig installiert wurden.

»Welche Entscheidung muss ich treffen?«, fragte Tess. Sinclair sah sie an, das fühlte sie, sein Blick war heiß in ihrem kalten Gesicht. »Zwischen was muss ich wählen?«

»Nicht hier«, wehrte Wayfare ab. »Sie werden Ihre Wahl an Bord des Cruisers treffen, des Hyperschiffs, mit dem ich gekommen bin. In der Gegenwart von zwei Notaren, die als juristische Zeugen alles aufzeichnen. Wie es das Gesetz verlangt.«

Das Gesetz von Interkosmika, dachte Tess.

Noch immer mied sie Sinclairs Blick. Das nahe Fenster zeigte ihr die Raumstation über Rosengarten, zusammengesetzt aus zahlreichen kantigen Modulen und den Oktaedern von insgesamt drei Reaktoren. Tess zählte siebzehn interplanetare Lichtschiffe an den Auslegern und Gravitationsankern. Zwei von ihnen legten gerade ab und fuhren ihre Segel aus, was ihnen das Erscheinungsbild von Lilien oder Orchideen gab. Auf der anderen Seite, beim langen Dorn des Rezeptors, schwebte ein Hyperschiff an einem rubinroten Gravanker: das Schiff, mit dem Wayfare gekommen war, ein silberner Keil, der Bug spitz, das Heck breit und mit den kerbenartigen Öffnungen der Transtatoren, die es dem Schiff ermöglichten, dem Verlauf eines Hyperon-Gleises zu folgen, mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit.

»Sie machen einen großen Fehler«, sagte Sinclair.

Wayfare reagierte nicht darauf. Er hatte sich wieder zurücksinken lassen, saß stumm da und musterte Tess, die weiterhin aus dem Fenster sah.

»Sie nehmen der Galaxis eine begnadete Sängerin«, fügte Sinclair hinzu.

Wayfare hob die Brauen. »Höre ich da die Stimme eines verliebten jungen Mannes?« Ein dünnes Lächeln erschien kurz auf seinen Lippen und verschwand sofort wieder.

Tess wandte den Blick vom Fenster ab.

»Welche Arbeit haben Sie Anita gegeben?«, fragte sie. »Wozu haben Sie sie gezwungen? Warum ist sie abtrünnig geworden?«

»Wir zwingen niemanden«, entgegnete Wayfare. »Jeder kann sich frei entscheiden. Jeder hat die Wahl. Auch Sie werden entscheiden und wählen können. Gleich.«

Ein kleiner, kaum merklicher Ruck ging durch den Orbiter. Wayfare nickte dem Piloten zu und stand auf.

»Wir sind da. Kommen Sie, mein Schiff wartet auf uns.«

 

Der Raum an Bord des Cruisers sah aus wie eine kleine Version der Gerichtssäle, die Tess in den holografischen Aufzeichnungen ihrer Familie gesehen hatte und in denen über die Geschicke der Velazca entschieden worden war: vorn ein breiter Tisch auf einem Podest, mit dem Exekutor Wayfare wie als Richter dahinter; zu beiden Seiten und etwas tiefer kleinere Tische mit den Notaren, die ihre holografischen Protokollanten bereits eingeschaltet hatten; und schließlich, hinter einem trennenden Geländer, ein niedriger Tisch mit zwei Stühlen, auf denen Tess und Sinclair saßen.

Die beiden Notare – offiziell Repräsentanten der terranischen Gerichtsbarkeit, in Wirklichkeit aber in Diensten von Interkosmika – trugen anthrazitfarbene Uniformen und waren jung, kaum älter als Sinclair, der Tess zuflüsterte: »Es wird alles gut.«

Nein, das waren dumme Worte, es wurde nicht alles gut, sie spürte es deutlich. Der Esprit teilte es ihr mit. Hier, an diesem Ort, gab es keine Hoffnung.

Tirell Wayfare beugte sich vor und legte beide Hände auf den Richtertisch. »Sind die Zeugen bereit?«

»Wir sind bereit«, meldeten die beiden Notare. »Wir sehen und hören.«

»Gut.« Wayfare betätigte einen verborgenen Schalter. »Ich stelle fest: Tess Rosengarten Sagittarius, geborene Velazca, wird in Regress genommen für Schuldenflucht und Abtrünnigkeit ihrer Schwester Anita. Es sind zu tilgen: siebenundvierzig Millionen Debitpunkte, davon zehn Millionen Strafe wegen Abtrünnigkeit. Ich stelle fest: Daraus folgt eine Dienstverpflichtung von vierundzwanzigeinhalb Jahren.«

Die beiden Notare nickten. »Zur Kenntnis genommen.«

Tess hob die Hand.

Wayfare richtete einen fragenden Blick auf sie.

»Wäre es möglich, die Dienstverpflichtung auf später zu verschieben? Auf die Zeit nach meinem Studium an der Musikakademie von Harmonie?«

»Ich stelle fest: Die Dienstverpflichtung beginnt sofort, hier und jetzt.«

Ein Hologramm erschien vor Tess und Sinclair. Unter dem Zeichen von Interkosmika – den stilisierten Buchstaben I und K vor dem Hintergrund der Milchstraße – zeigte sich eine Auflistung von Tätigkeiten.

»Tess ist Sängerin«, betonte Sinclair. »Wie soll sie als Lichtschiff-Ingenieurin oder Botanikerin in einer hydroponischen Anlage arbeiten?«

»Man kann alles lernen«, meinte Wayfare ungerührt.

Tess las die Liste, die vor allem aus technischen Berufen bestand. Hinter den meisten Einträgen war die Dienstzeit mit vierundzwanzigeinhalb Jahren angegeben. Nur ganz unten, am Ende der Liste, gab es Auswahlmöglichkeiten mit reduzierter Anzahl von Dienstjahren: zwanzig, siebzehn und fünfzehn.

»Sanitäterin bei den Koloniekonflikten im Eridanus-Sektor«, las sie laut, »zwanzig Jahre. Infanteristin bei den Koloniekonflikten im Eridanus-Sektor, Einsatzbeschränkung auf einen Planeten, Urlas oder Wunca, siebzehn Jahre.« Und der letzte Eintrag: »Infanteristin bei den Koloniekonflikten im Eridanus-Sektor, ohne Einsatzbeschränkung auf einen Planeten, fünfzehn Jahre.«

»Achteinhalb Jahre weniger«, sagte Wayfare.

»Tess soll für Sie in den Krieg ziehen?«, fragte Sinclair voller Unglauben.

»Das wäre eine der Möglichkeiten. Es gibt noch eine andere, die nicht auf der Liste steht.«

»Welche?«, fragte Tess sofort.

Die beiden Notare warteten, ihre Datenstifte und Protokollanten bereit.

Wayfare lehnte sich langsam zurück. Seine Hände blieben auf dem Tisch.

»Es ist eine Möglichkeit, die es uns erlaubt, Ihre Dienstverpflichtung von vierundzwanzigeinhalb Jahren auf nur zehn Jahre zu verkürzen«, erklärte er.

Tess hörte ein tiefes Brummen, das vermutlich von den Gravitationsmotoren stammte. Es gab keine Fenster, die einen Blick ins All gestatteten, aber sie stellte sich vor, wie sich der silberne Keil des kleinen Hyperschiffs vom Dorn des Rezeptors entfernte und für den Hyperon-Transit beschleunigte.

»Wieso steht sie nicht auf der Liste?«, fragte Sinclair argwöhnisch.

»Weil es sich um ein besonderes Angebot handelt«, antwortete Wayfare ohne besondere Betonung. »Um eine Geste des guten Willens.«

»Des guten Willens«, murmelte Tess. Sie vermied es noch immer, Sinclair anzusehen. »Ein großzügiges Angebot, ja? Bitte nennen Sie es.«

»Sie könnten Kartografin und Einrichterin werden«, schlug Wayfare vor, die Hände noch immer auf dem Tisch.

»Auf keinen Fall!« Sinclair sprang auf. »Ich bin Pilot gewesen, bevor ich meinen Vertrag gelöst habe. Ich habe mit Hyperon-Kartografen gesprochen. Das Risiko …«

»Setzen Sie sich«, sagte Wayfare.

»… ist enorm hoch. Zwanzig Prozent aller Kartografen überleben nicht einmal das erste Dienstjahr!«

»Sie sollen sich setzen!«, wiederholte Wayfare scharf.

Sinclair sank zurück auf seinen Stuhl. Diesmal wandte Tess den Kopf und sah ihn an. Hör auf!, rief sie ihm stumm zu. Verlass diesen Raum! Verlass dieses Schiff, bevor es mit seiner Reise beginnt, wohin auch immer sie führt!

Es wären vernünftige Worte gewesen, doch Tess schaffte es nicht, sie auszusprechen.

»Mit wem auch immer Sie gesprochen haben, das Risiko wird oft übertrieben.« Wayfares Blick kehrte zu Tess zurück. »Die Arbeit von Kartografen und Einrichtern ist sehr, sehr wichtig. Ja, auch gefährlich, das will ich nicht leugnen. Sie erweitern das für uns zugängliche Hyperon. Sie errichten Gegenstationen an Orten, die noch nicht von unseren Schiffen erreicht werden können. Ja, damit sind Gefahren verbunden, denn Kartografen stoßen in neue, zumeist völlig unbekannte Gebiete vor. Sie leisten Pionierarbeit.« Wayfare legte eine kurze Pause ein. »Dreizehneinhalb Jahre weniger, Tess Rosengarten. Als Gegenleistung für einen großen Dienst, den Sie der ganzen Menschheit erbringen.«

»Nein!«, stieß Sinclair hervor.

»Einverstanden«, sagte Tess, ohne lange zu überlegen. Zehn Jahre waren besser als vierundzwanzig. In zehn Jahren war sie noch jung genug für ein Studium an der Musikakademie von Harmonie.

Wayfare lächelte. »Was ist mit Ihnen, Sinclair Van Groote? Sie haben darauf bestanden, Tess Rosengarten bis hierher zu begleiten, zu dem Ort der Entscheidung, und Sie haben gehört, wie sie sich entschieden hat. Möchten Sie mein Schiff verlassen, bevor es mit dem Hyperon-Flug beginnt? Oder möchten Sie sich ebenfalls verpflichten?«

»Nein!« Diesmal war es Tess, die das Wort rief.

Wayfare hob eine Hand vom Tisch und hielt sie hoch. »Ich nehme an, Sie möchten bei Ihrer Partnerin bleiben.«

Tess hörte ein nachdrückliches »Ja!« von Sinclair.

Der Exekutor von Interkosmika lächelte erneut, und diesmal blieb das Lächeln etwas länger auf seinen Lippen. »Ich habe einen Vorschlag für Sie. Für Sie beide. Sinclair Van Groote, wenn Sie bereit sind, an den Kartografierungsmissionen von Tess Rosengarten teilzunehmen, wenn Sie sich ebenfalls als Kartograf und Einrichter bei Interkosmika verpflichten, reduziere ich die Dienstzeit um weitere Jahre.«

Tess wollte nicht, dass sich Sinclair in Abhängigkeit von Interkosmika begab. Dennoch regte sich zarte Hoffnung in ihr.

Sinclair suchte erneut ihre Hand, und diesmal griff sie danach.

»Um wie viele Jahre?«, fragte er.

»Fünf«, sagte Wayfare. »Fünf Jahre für Sie und Tess Rosengarten.«

Tess öffnete den Mund, aber Sinclair kam ihr zuvor. »Garantieren Sie ausnahmslos gemeinsame Einsätze?«

Wayfare blickte nach rechts und links zu den Notaren. Sie nickten.

»Ich bin als Exekutor befugt und bestätige hiermit: fünf gemeinsame Jahre als Hyperon-Kartografen.«

»Danach sind die Schulden getilgt?«, vergewisserte sich Tess. »Danach ist das Obligat meiner Familie gelöscht?«

»Für die beiden Protokollanten: Ich bestätige die Tilgung der Schulden und die Löschung des Familienobligats mit Abschluss der fünfjährigen Dienstzeit von Tess Rosengarten Sagittarius und Sinclair Van Groote, der mit dieser Vereinbarung zu Sinclair Rosengarten Sagittarius wird!«

Die Notare nickten erneut.

Sinclair sprach schnell, vielleicht weil er Widerspruch von Tess befürchtete. »Ich bin einverstanden!«

Tess räusperte sich. »Ich bin es ebenfalls«, sagte sie mühsam.

Tirell Wayfare stand auf. »Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Entscheidung und heiße Sie bei Interkosmika willkommen. Wir fliegen zur Erde. Dort, beim aktuellen Knotenpunkt des Hyperons, wird Ihr Dienst beginnen.«

Fünf Jahre

5

Die Erde, Wiege der Menschheit, Herz und Hirn von Interkosmika. Eine Kugel, blau und weiß im All, wie ein glänzendes Juwel auf schwarzem Samt. Der Rezeptor einer großen Orbitalstation empfing Wayfares Cruiser aus dem Hyperon, und Tess dachte daran, dass vielleicht Menschen unten auf der Erde das Flackern des Energiefelds sahen.

»Wasser«, sagte sie. »So viel Wasser. Eine Ozeanwelt. Und Tag und Nacht dauern jeweils nur zwölf Stunden, nicht zweiunddreißig Jahre.«

Sinclair trat neben sie ans Fenster ihrer Kabine. »Die Rotation der Erde hat sich verlangsamt. Sie dreht sich nicht mehr in vierundzwanzig Stunden um die eigene Achse, sondern in vierundzwanzigeinhalb.«

»Vierundzwanzigeinhalb«, murmelte Tess. »Ein seltsamer Zufall.«

»Es sind fünf Jahre«, sagte Sinclair. »Nur fünf. Das schaffen wir.« Er rang sich ein Lächeln ab.

»In fünf Jahren wäre ich mit dem Studium an der Musikakademie von Harmonie fertig gewesen. Fünf Jahre sind viel Zeit. In fünf Jahren kann viel geschehen.« Tess sah wieder aus dem Fenster. »So viel Wasser, und es ist blau, nicht schwarz. Hier hat sich unsere Spezies entwickelt, nicht wahr? Auf der Erde. Aber warum heißt dieser Planet ›Erde‹? Sollte man ihn nicht ›Wasser‹ nennen?« Sie sprach und sprach, ein Wort folgte dem anderen, schnell, um bohrende Gedanken zu vertreiben.

»Ich bin schon einmal hier gewesen.« Sinclair stand so dicht bei ihr, dass Tess seinen Geruch wahrnahm, den sie immer gemocht hatte und der sie an Rosengarten erinnerte, an den Wind, das Obsidian und die Felsen in der Brandung. »Als Pilot eines Kurierschiffs. Früher hat es Kontinente auf der Erde gegeben, fünf oder sechs, aber dann stieg der Meeresspiegel, die Große Flut kam, und sie war wirklich groß, so groß wie die Flut, die in einer alten religiösen Geschichtensammlung beschrieben ist. Die Kontinente verschwanden in den Meeren, kein Damm war hoch genug. Übrig blieben die Bergspitzen. Die vielen Archipele erinnern daran.«

»Was ist aus den damaligen Menschen geworden?«, fragte Tess, aber eigentlich wollte sie fragen: Was wird aus uns?

»Sie siedelten auf dem Erdenmond und auf dem Mars.« Sinclair sprach ruhig. Während des Hyperon-Flugs schien er sich mit allem abgefunden zu haben. So konnte er sein: manchmal so impulsiv und fast so jähzornig wie Tess’ jüngerer Bruder Asgard, aber auch sanft und bereit, sich mit Gegebenheiten abzufinden, die er nicht ändern konnte. Er hatte seine Entscheidung getroffen und beschlossen, mit den Konsequenzen zu leben. »Oder sie ließen sich in Rotationshabitaten nieder, in künstlichen Welten, die Millionen von ihnen Platz boten.«

Er legte eine nachdenkliche Pause ein.

»Andere legten sich schlafen«, fügte er hinzu. »Sie zogen sich in die Hibernation zurück, in der Hoffnung auf eine bessere Welt bei ihrem Erwachen.«

»Und?« Tess betrachtete eine grünblaue Inselgruppe, eingebettet ins Blau eines globalen Ozeans. »Haben sie eine bessere Welt gefunden, als sie erwacht sind?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Sinclair. »Vielleicht schlafen sie noch.«

Ein Rufsignal erklang, gefolgt von einer Stimme. »Tess und Sinclair Rosengarten, Sie werden gebeten, die Luftschleuse aufzusuchen.«

Sie nahmen ihre Habseligkeiten – zwei kleine Taschen genügten dafür – und verließen die Kabine. Ein glatter, gerader Korridor erwartete sie, nicht die Gerüste und engen Schächte, die Tess von Rosengartens Lichtschiffen kannte. Als sie die Luftschleuse erreichten, wartete Tirell Wayfare auf sie, wieder in einer schiefergrauen Uniform mit dem Emblem von Interkosmika an den Schultern.

Er deutete auf die Taschen. »Das bleibt hier«, sagte er statt einer Begrüßung. »Sie bekommen von uns, was Sie brauchen.«

Tess dachte an die holografischen Bilder, die sie mitgenommen hatte. Sie zeigten ihre Familie, das Obsidian und die Oktopoden, die ihrem Gesang lauschten. »Ich habe einige Erinnerungsstücke darin, die …«

»Das Zeitfenster schließt sich bald«, unterbrach sie der Exekutor. »Wir müssen uns beeilen.«

Ein Bot nahm die Taschen entgegen und trug sie fort.

Innen- und Außenschott waren geöffnet, der Cruiser hatte bereits angedockt. Sie verließen das Hyperschiff, betraten die Orbitalstation und damit eine lautere, lebendigere Welt. Maschinen summten, Aggregat-Cluster brummten, mobile Bots surrten. Hinzu kamen Dutzende menschliche Stimmen.

»Welches Zeitfenster meinen Sie?«, fragte Tess und sah sich um. Der Weg, dem sie folgten, führte mitten durch ein Rotationselement der Station, eine kleine Welt mit Wäldern, Seen und pastellfarbenen Gebäuden in einer hügeligen, parkartigen Landschaft, die sich um sie herum drehte. Das Habitat schien alt und stammte vielleicht aus der Anfangszeit des Orbitalkomplexes, als es noch keine Gravitationsmotoren gegeben hatte und Schwerkraft mithilfe von Rotation simuliert worden war.

Mehrere Uniformierte kamen ihnen entgegen, Männer und Frauen mittleren Alters, keine Angehörigen von Interkosmika, sondern hochrangige Offiziere von Protektor, dem terranischen Militär. Selbst sie grüßten den Exekutor respektvoll, bemerkte Tess.

»Ihre Frage weist auf ein Problem hin.« Wayfare ging mit geradem Rücken und hoch erhobenem Kopf. Bei einem anderen Menschen hätte das steif gewirkt, aber bei ihm war jede Bewegung geschmeidig. »Sie wissen nicht Bescheid. Deshalb erhalten Sie beide ein Memex.«

Aus dem Augenwinkel sah Tess, wie Sinclair das Gesicht verzog.

»Was ist das?«, fragte sie mit etwas Unbehagen.

»Ein Datenimplantat«, erklärte Sinclair. »Eine Art künstliches Gedächtnis mit gespeichertem Wissen.« Und er fügte mit wenig Begeisterung hinzu: »Interkosmika will uns eine Stimme in den Kopf pflanzen.«

Tess blieb erschrocken stehen. »Was?«

»Es ist ein routinemäßiger Eingriff, der nur wenige Minuten dauert«, sagte Wayfare. »Und er ist notwendig für die Einsatzeffizienz und erspart eine langwierige Ausbildung. Für Sie bedeutet das: Sie können sofort beginnen, Ihre fünf Jahre abzuarbeiten. Oder wäre es Ihnen lieber, wenn noch einige zusätzliche Monate Grundausbildung hinzukämen?«

Tess schwieg.

Wenige Minuten später verließen sie das Habitat, schritten durch einen perlweißen Flur mit weniger Menschen und erreichten einen medizinischen Bereich. Die Männer und Frauen hier trugen cremefarbene Kittel, wie Wayfares Uniform mit dem Interkosmika-Symbol. Schließlich betraten sie einen runden weißen Raum mit grünen Liegen an den Wänden und Geräte- und Instrumentenblöcken in der Mitte. Medizinische Bots mit dünnen, flexiblen Greifarmen und Sensorbündeln standen neben zwei dieser Liegen.

Wayfare streckte den Arm aus. »Wenn ich bitten darf …«

Tess zögerte.

»Ich darf Ihnen versichern, dass keinerlei Unannehmlichkeiten damit verbunden sind«, erklärte der Exekutor. »Sie erhalten das Wissen, das Sie brauchen, um Ihre Aufgabe als Kartografen und Einrichter zu erfüllen, und es dauert nur wenige Minuten.«

»Als Pilot habe ich auf so ein Ding verzichtet und mich lieber Schlafschulungen unterzogen«, sagte Sinclair.

Wayfare maß ihn mit einem strengen Blick. »Schlafschulungen reichen in diesem Fall nicht aus. Sie sollen keine Piloten werden, sondern Kartografen. Sie sollen das Unerforschte erforschen, und dazu müssen Sie auf alles vorbereitet sein. Also …« Er wiederholte die Geste in Richtung der beiden Liegen.

Tess dachte daran, dass jeder Tag, den sie verlor, ein Tag zu viel war. Sie ging zu den beiden Liegen und legte sich auf eine davon.

Die Hände von Bots, ausgestattet mit Werkzeugen und Sensoren, berührten sie sanft. Sie schloss die Augen und hörte, wie sich Sinclair auf der Liege neben ihr ausstreckte. Etwas zischte, etwas Kühles berührte sie am Nacken und verursachte ein kurzes Frösteln.

Vor der Leinwand ihrer Lider sah sie das Haupthaus der Familie, den Hügel und die Klippen vor dem endlosen Obsidian, dem schwarzen Meer. Die lange Nacht, dachte sie. In fünf Jahren kann ich sie sehen. In fünf Jahren kehre ich heim und kann den Rest des Windes und die große Kälte erleben.

Nach einer Weile öffnete sie die Augen. »Wann beginnt der Eingriff?«

»Er hat bereits stattgefunden«, antwortete einer der Bots. »Sie können aufstehen.«

Tess schwang die Beine über den Rand der Liege. Als sie stand, spürte sie eine Veränderung und sah, wie sich Sinclair, der seine Liege ebenfalls verlassen hatte, den Nacken rieb.

Wayfare nickte zufrieden. »Ich stelle fest: Sie sind bereit. Das Zeitfenster ist noch offen. Lassen Sie es uns nutzen.«

6

Das Zeitfenster. Erinnerungen, die nicht ihre eigenen waren, erzählten Tess, was es damit auf sich hatte.

Das Hyperon, von Interkosmika entdeckt und mit Transtatoren zugänglich gemacht, bestand aus zahllosen energetischen Strängen, die man »Gleise« nannte, weil Raumschiffe – Hyperschiffe – über sie hinwegglitten wie Schwebezüge über Magnetschienen. Die Stränge reichten durch eine dem normalen Raum-Zeit-Kontinuum übergeordnete Dimension, die Interkosmika »Hyperraum« nannte, und ermöglichten Reisen mit einem Vielfachen der Lichtgeschwindigkeit. Selbst Hunderte oder Tausende von Lichtjahren entfernte Sterne konnten mit dem Hyperon innerhalb weniger Stunden oder Tage erreicht werden.

Es gab nur einen kleinen Haken: Reisen entlang der Hyperon-Gleise führten nur dann sicher zum Ziel, wenn es am Bestimmungsort des Hyperschiffs eine Empfangsstation gab. Ein Gleis ohne einen fest eingerichteten und synchronisierten Rezeptor führte ins Nichts; ein Hyperschiffpilot, der sich auf einen solchen Flug einließ, strandete schließlich im Irgendwo, ohne die Möglichkeit zur Rückkehr. Mit den Transtatoren konnte er ins Hyperon zurück, aber ohne Orientierung, sodass er nicht wusste, ob ihn der nächste Flug näher zur Erde und an eine ihrer Kolonien brachte oder noch weiter weg, vielleicht in die große Leere zwischen den Galaxien.

Deshalb brauchte Interkosmika Kartografen und Einrichter: Menschen, die die Reise ins Ungewisse wagten, um die Stränge des Hyperons zu erforschen und Empfangsstationen einzurichten. Sie brachen mit Forschungskapseln auf, mit »Explorern«, ohne genau zu wissen, wo der Flug endete. Das Ziel konnte nur grob bestimmt werden, anhand eines »Zeitfensters«, in dem bis dahin unerforschte Bereiche des Hyperons für Interkosmikas Scanner, deren Technologie strenger Geheimhaltung unterlag, sichtbar wurden. Diese Sichtbarkeit erlaubte es, Explorer möglichst nahe zu gewünschten Zielen zu bringen.

Doch die Kartografen und Einrichter wussten nie, was sie erwartete, wenn sie schließlich aus dem Hyperraum zurückkehrten, vielleicht in gefährlicher Nähe zu einer Sonne, zu dicht über einem Planeten, im Strahlensturm eines Gammablitzes, am Ereignishorizont eines Schwarzen Lochs oder in der intergalaktischen Leere. Es gab viel, das schiefgehen konnte. Kartografen und Einrichter gingen ein hohes Risiko ein, und deshalb wurden sie von Interkosmika gut bezahlt. Wer überlebte, durfte sich über ein üppig mit Kreditpunkten gefülltes IK-Konto freuen, auf das er oder sie überall Zugriff hatte, abgesehen von den Welten, die an den Koloniekonflikten beteiligt waren.

Die Verlustliste war lang und wurde immer länger. Jeder Tote bekam von Interkosmika eine posthume Prämie von zehn Millionen Kreditpunkten, die seinen Erben zur Verfügung stand, und ein Ehrenmal auf der Erde, auf einem der zur Insel gewordenen Berggipfel.

An all das »erinnerte« sich Tess und an noch viel mehr, auch an den alten Horace, der sie im Transitraum in Empfang nehmen sollte. Das Datenimplantat erzählte ihr, dass er mit seinen achtundneunzig Jahren einer der ältesten Kartografen war, was das Lebensalter betraf. Wenn man die Dienstjahre als Maßstab nahm, war er tatsächlich der älteste: Seit siebenundsiebzig Jahren erforschte und kartografierte er das Hyperon und hielt mit fünfundsechzig eingerichteten Empfangsstationen den Rekord. Dreimal war er im Hyperon verschollen gewesen, und einmal hatte man ihn sogar für tot erklärt.

Tess fragte sich, ob es ein gutes Omen war, dass Interkosmika ausgerechnet ihn zu ihrem Einweiser bestimmt hatte.

7

Horace war groß, dürr und klapprig. Wenn er sich bewegte, konnte man hören, wie seine Knochen knackten, wie es in seinen alten Gelenken knirschte, und sein Atem zischte wie der sterbende Wind von Rosengarten. Manchmal schnappte er ohne erkennbaren Grund nach Luft und blickte sich wie nach etwas um, das nur für ihn existierte.

Etwas Wirres lag in seinen wässrigen blauen Augen, aber auch eine Schärfe wie im Blick eines Adlers. Sein schmales, hohlwangiges Gesicht war eine Landschaft aus Narben und Falten, die Nase darin ein kleiner zerklüfteter Berg.

Als Tirell Wayfare sie in den Transitraum führte, hantierte der alte Horace mit Werkzeugen und Instrumenten, umgeben von Kisten, Ausrüstungsbehältern und Geräteblöcken mit bunten holografischen Anzeigen. Weiter hinten öffnete sich gerade das Außenschott des Hangars; der dünne energetische Vorhang eines Atmosphärenschilds verhinderte, dass die Luft ins All entwich. Davor stand ein kleines Schiff, nicht glatt und elegant wie Wayfares Cruiser, sondern voller Ecken und Kanten, wie eine Ansammlung von Würfeln, Quadern und Stangen, die jemand aufs Geratewohl zusammengesetzt hatte, um anschließend einige Transtatorkerben hinzuzufügen. Die Einstiegsluke war geöffnet, Licht fiel aus dem Innern, und ein Gravitationsmotor brummte tief und leise.

»Sind sie das?«, fragte Horace mit kehliger, rauer Stimme.

»Tess und Sinclair Rosengarten Sagittarius, wie angekündigt«, sagte Wayfare. »Wie weit sind Sie? Das Zeitfenster schließt sich in …« Er neigte den Kopf ein wenig zur Seite und lauschte. »… zehn Minuten.«

»Ein Fenster klappt zu, ein anderes klappt auf.« Horace zuckte mit den Schultern, wobei sein Blick Sinclair streifte, um dann bei Tess zu verweilen.

Wayfare seufzte leise. »Dieses Fenster ist wichtig.«

Horace verzog das narbige und faltige Gesicht. »Alle Fenster sind wichtig, nicht wahr? Jedes auf seine Weise.«

»Dieses führt in den Orion-Tunnel. Damit ist es besonders wichtig.«

»Aber sicher doch. Eine Empfangsstation im Orion-Tunnel wäre eine Abkürzung für Protektor zu den aufständischen Kolonien. Eine Möglichkeit, ihnen in den Rücken zu fallen.«

Tess hörte, wie Wayfare erneut seufzte. »Ein Weg ins Herz der Galaxis und darüber hinaus, zur anderen Seite der Milchstraße. Ein neuer Hauptstrang, der das uns bekannte Hyperon um zehn oder sogar zwanzig Prozent erweitern könnte. Sie wissen das alles, Horace. Wir haben Sie informiert.«

Der dürre Alte schnaubte. »Wir können gleich los. Ich brauche nur noch … dies und dies …«

Zwei kleine Bots nahmen die Objekte, auf die Horace gezeigt hatte – mehrere Behälter mit Energiepatronen und teuren Transtatorkomponenten, die ein Printer nur mit hohem Energie- und Zeitaufwand produzieren konnte.

Tess blickte sich erstaunt im Hangar um. »Hier soll sich der Knotenpunkt des Hyperons befinden?«

Dann erinnerte sie sich auch daran: Der Knotenpunkt – eine Verbindungsstelle von zahlreichen Gleisen – wanderte wie die magnetischen Pole der Erde. Das Implantat nannte ihr die aktuellen Daten: In einigen Jahren würde sich der Knotenpunkt im Mare Imbrium auf dem Mond befinden, unweit des großen Kopernikuskraters. Er strich durch das Sonnensystem der Erde wie der Wind über das Obsidian von Rosengarten.

»Was ist mit unserer Ausrüstung?«, hörte sie Sinclair fragen und dachte sofort an die kartografischen Instrumente, an die Scanner, Sensoren und Programmmodule für den Printer, der nicht nur Kleidung und Proviant herstellen würde, sondern auch Rezeptoren für die zu errichtende Empfangsstation. Sie wusste, wo sich was befand und wie man damit umging.

Für einen Moment wankte sie, wie von den neuen Erinnerungen aus dem Gleichgewicht gebracht. Sie fühlten sich nicht fremd an, sie waren ein Teil von ihr, ein Teil von etwas Neuem, das es zu erkunden galt und sie zu einer anderen Person machte. Die Welt in ihrem Kopf, das mentale Universum namens Tess Velazca, war größer geworden. Eine neue Person wartete dort darauf, entdeckt zu werden.

»Noch acht Minuten«, sagte Tirell Wayfare.

Horace schnaubte erneut und winkte. »Kommt her. Kommt zu mir.«

Tess und Sinclair gingen zu ihm.

»Macht euch nichts vor«, brummte der alte Kartograf. »Die Implantate erinnern sich für euch, aber ihr habt trotzdem keine Ahnung, was euch erwartet. Seht ihr das hier?« Er hob die Hand zum Gesicht. »Sind mehr als vierzig Jahre alt, diese Narben. Damals war ich schon seit vielen Jahren in den unerforschten Bereichen des Hyperons unterwegs und hab geglaubt, alles zu wissen, alles zu kennen. Es hat mich unvorsichtig gemacht, und unvorsichtige Hyperon-Kartografen überleben für gewöhnlich nicht lange.«

Wayfare stand mit auf den Rücken gelegten Händen da und räusperte sich demonstrativ.

»Oh, die Technik war kein Problem, die wurde immer besser, immer leistungsfähiger. Mit einem Explorer ins Unbekannte zu fliegen, im Zielsektor einen Printer aufzubauen, damit er eine Empfangsstation mit allem Drum und Dran druckt … Alles Routine, alles kein Problem. Ich habe auch immer auf jederzeit einsatzbereite Notausrüstung geachtet.«

»Horace Addison Eridanus …«, begann der Exekutor von Interkosmika in einem strengen, mahnenden Ton.

Der dürre Alte achtete nicht auf ihn. »Ich bin bei den Riffen des Neungestirns im Herakia-Sektor gewesen – und nichts und niemand hat mich darauf vorbereitet, wie gefährlich die sind.« Horace hatte die Schultern gestrafft und den Kopf hoch erhoben. »Die Daten des Memex, das ich zu jener Zeit benutzt hab, waren nicht vollständig, was ich aber erst später erfuhr. Pech. Und ich habe mich zu sicher gefühlt. Ein großer Fehler, der mich fast das Leben gekostet hätte. Ich bin beim Neungestirn zwischen den beiden Roten Riesen aus dem Hyperraum gekommen, zu nahe an der Materiebrücke. Die Energieriffe hätten meinen Explorer fast zerrissen und hinterließen mir diese Andenken, übrigens nicht nur im Gesicht.«

Mit den Fingerkuppen berührte er die Narben, eine behutsame Geste, die fast zärtlich wirkte.